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Am besten alle. Jeden Abend“ Die Wiener Staatsoper streamt

AM BESTEN ALLE. JEDEN ABEND!

So Dominique Meyer auf meine Frage, Anfang 2013, welche Opern und Ballette wir denn auf unserer neuen Livestreaming-Plattform übertragen wollen. Und jetzt ist es so weit: Seit 15. März, seit wir unsere Türen schließen mussten, und bis auf weiteres spielen wir jeden Abend dennoch – allabendlich auf unserer digitalen Bühne, fast durchgehend unserem ursprünglich geplanten Spielplan folgend. Unmittelbare Folge dieser ersten Entscheidung –„Alle!“ – war: Wir müssen uns ganz unabhängig machen, in Produktion und Distribution. Unabhängig auch von aufwendiger Technik, wie sie die traditionelle Fernsehproduktion braucht: Bemannte Kameras, gesperrte Logen, „Fernseh-Licht“, das für unsere Gäste in der Oper selbst das Erlebnis empflindlich beeinflusst. Also eingebaute, unsichtbare und unhörbare Kameras, eigene Audio- und Video-Studios – und vor allem: Die Menschen, Teams,

die auf höchstem künstlerischen und technischen Niveau Premium-Content produzieren können. Und wo sollen unsere Übertragungen zu sehen sein? „Zu Hause, im Internet – nicht im Kino! Wir wollen alle Menschen erreichen, weltweit, unabhängig davon, ob ein Kino mit diesem Programm in der Nähe liegt.“ Das bedeutete die Einrichtung der gesamten Infrastruktur für die Erzeugung und Auslieferung von Livestreams – denn zu diesem Zeitpunkt 2013 gab es noch viel weniger als heute, da die ersten solchen Versuche unternommen werden, größere Plattformen, die wir hätten nützen oder denen wir uns hätten anschließen können. Gut, wenn im Internet, dann also über eine Gratis-Plattform wie YouTube! „Nein, YouTube ist nicht gratis: Man bezahlt mit dem Wertvollsten, das man hat – den Inhalten und den Nutzerdaten! Wir wollen eine europäische Lösung, unsere Daten und unseren Content selbst kontrollieren.“ Gegen Kino sprachen (und sprechen auch heute noch) für uns weitere Gründe: die dort verlangte Hollywood-Ästhetik; die ungeheuer aufwendige und teure Technik macht abhängig von Ketten und Distributoren, die dann das Programm diktieren; der massive Eingriff in die Vorstellungen im Haus – und schließlich auch die geringe Frequenz des möglichen Angebots. Wir wollten ja gerade unabhängig bleiben, auch unseren eigenen, Wiener Bild-Stil entwickeln, abwechslungsreich, aber ohne ganz enge Nahaufnahmen, musikalisch und vor allem treu der Vorstellung im Haus: Für uns findet die Kunst auf der Bühne statt, nicht im Video-Studio. Wir wollen den Menschen zu Hause ein möglichst getreues Bild davon vermitteln, was sie im Haus erleben würden – mit dem Mehrwert, immer am allerbesten Platz zu sitzen. Und sollen wir unsere Übertragungen gratis senden? „Natürlich kostenpflichtig. Kunst hat Wert, auch im Internet!“ Diese dritte Grundentscheidung hat bedeutet, dass wir von Anfang an mehr bieten wollten als „Klicke auf unserer Website auf PLAY und schau zu.“ Full HD Bildqualität (bald auch UHD), erstklassiger Ton, zunächst 24, bald 72 Stunden Verfügbarkeit, zwei Kanäle (ein Gesamtblick auf die Bühne und der live geschnittene Opernfilm), und Untertitel in zunächst drei (heute acht ) Sprachen, dazu ein Vor- und Pausenprogramm – besonders die Untertitel haben uns extrem herausgefordert. Wir wollten sie auf keinen Fall, was einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre, ins Bild einbrennen, sondern den Zuseherinnen und Zusehern zu Hause die Entscheidung überlassen, ob sie Text einblenden wollen oder nicht. Wie aber findet man all die Menschen, die es braucht, um ein solches Programm zu betreiben? Dominique Meyers einfache Antwort lautete: „Die Staatsoper hat fast 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Da werden Sie finden, was Sie brauchen!“ Und tatsächlich haben Kolleginnen und Kollegen in allen Abteilungen sofort nicht nur Verständnis, sondern große Bereitschaft zur Mitarbeit gezeigt, viele hatten sich selbst schon Gedanken gemacht, wie sie ihr Haus auf digitalen Plattformen präsentieren würden und waren begeistert und mit Feuer und Flamme dabei – oft trotz beträchtlicher Mehrarbeit.

Natürlich aber gab es auch Bereiche, in denen klar war, dass wir die nötige Kompetenz nicht im Haus finden würden. Beginnen konnten wir mit den jungen Menschen, die schon einige Jahre lang die fast 100 übertragenen Opern- und Ballettvorstellungen live für die schöne Initiative „Oper Live am Platz“ produziert hatten: und da war nicht viel Überzeugungsarbeit nötig. In einem nächsten Schritt fragte ich mich in der international angesehenen Wiener Filmakademie zu einem sehr freundlichen Professor durch, der dort „Multikameratechnik“ unterrichtet: „Wir sind gerade dabei, in der Wiener Staatsoper neue Audio- und Videostudios und eine Anlage aus 8 ferngesteuerten Kameras zu installieren, möchten sie am Beginn der Saison in Betrieb nehmen und bald eine große Anzahl von Livestreams produzieren. Wir haben jeden Tag zwei Opern auf der Bühne, am Vormittag zur Probe und abends zur Vorstellung. Wäre das interessant für Sie und Ihre Studentinnen und Studenten?“ Lange Pause. „Hallo? Sind Sie noch da?“ – und dann die Antwort: „Wirklich!?“

So begann eine enge Zusammenarbeit mit einer wachsenden Gruppe von Regisseurinnen und Regisseuren, Kameraleuten, Regie- und Partiturassis-

tenten, ein Kern ist heute noch dabei, mit inzwischen international absolut einmaliger Erfahrung in dieser Art von Produktion. Bildtechnik und Sendekontrolle lag zunächst in den Händen der Kollegen in der Audio/Videoabteilung, die sich mit unglaublichem Elan ebenso in die Audio-Produktion eingearbeitet hatten: In einem Opernhaus geht es ja normalerweise um Video- und Audio-Zuspielung, nicht um Aufzeichnung, schon gar auf einem international konkurrenzfähigen Niveau. Mit steigender Schlagzahl und wachsenden Anforderungen haben wir diese Abteilung dann ein wenig verstärkt, es ist aber nach wie vor kaum zu glauben, was hier geleistet wird. Eine Oper, einen Ballettabend fernsehfähig in Bilder zu übersetzen – in viele Hundert, manchmal 1.000 Schnitte „aufzulösen“, wie der Fachbegriff heißt – dazu braucht es professionelle Anleitung. Der neue Leiter unserer Audio/Video-Abteilung, Athanasios Rovakis, lud mich ein, ihn bei einem Besuch von Freunden in der Berliner Philharmonie und ihrer Digital Concert Hall zu begleiten: Damals wie heute die einzige Benchmark einer Kulturinstitution, die unabhängig auf einer eigenen Plattform bezahlpflichtig live in hoher Qualität und Frequenz streamt.

Dort, im berühmten Scharoun-Bau, lief eine Probe, der Regisseur drehte sich kurz ein wenig irritiert zu uns Eindringlingen um, ein Blick: Das ist der richtige! Und weniger als einen Monat später saß Robert Gummlich mit einer ersten Gruppe aus unserer Oper live am Platz-Kerntruppe und Studentinnen und Studenten der Filmakademie in Wien zusammen, um einerseits wichtige Grundlagen der Videoproduktion von klassischer Musik zu lehren, und andererseits mit uns gemeinsam den „Wiener Bildstil“ der Opernproduktion zu entwickeln, von dem Dominique Meyer schon in unseren ersten Gesprächen eine ganz klare Vorstellung skizziert hatte. Daneben haben wir von Beginn an mit möglichst schlanken und effizienten Workflows gearbeitet, und sie über die Jahre perfektioniert: Weniger aus Kostengründen, sondern um die schon in der zweiten Saison erreichte Zahl von 45 Live-Übertragungen pro Saison überhaupt möglich zu machen. Alle an einer unserer Liveproduktionen Beteiligten, ob in Video oder Audio, ob in Technik oder Organisation, brauchen eine ganz erstaunliche und alles andere als alltägliche Mischung an Voraussetzungen und Kompetenzen: Nicht nur intime Kenntnis von Opern, sondern wirkliche Begeisterung, nicht nur keine Angst vor Technik, sondern echtes Verständnis, nicht nur zeitliche Beweglichkeit, sondern die Bereitschaft, viele Spät- und Überstunden zu machen (Opern sind tendenziell ein langes Vergnügen), nicht nur der Wunsch, Menschen diese Kunstform nach Hause zu bringen, sondern die Leidenschaft, dann auch mit ihnen täglich in unerschöpflicher Geduld zu kommunizieren. Auch heute noch ist das durchaus nicht leicht, aber 2013 war es eine enorme Herausforderung, eine OTT („Over the top“)-bezahlpflichtige Internet-Plattform für weltweites Live- und On-Demand-Streaming in höchster Qualität aufzubauen. Die großen Anbieter – spezialisiert z.B. auf Online-Distribution und TV-Theken von großen Fernsehsendern – kamen aus Kostengründen nicht in Frage, also haben wir uns mit einem jungen österreichischen Unternehmen mit einem eigenen Entwicklerteam in San Francisco zusammengetan, und in nur fünf Monaten staatsoperlive.com nicht nur von Grund auf entwickelt, sondern gemeinsam mit unserer IT-Abteilung in alle Prozesse der Staatsoper integriert. Ohne die rückhaltlose Unterstützung und das kreative Mitdenken von Oliver Zenner und seiner IT-Kollegen würde unser Programm noch heute keine Woche lang laufen. Über den Sommer 2013 erfolgte dann (nach Abstimmung mit dem Bundesdenkmalamt) der Einbau der gemeinsam mit Robert Gummlich entworfenen neuen Technik: 9 brandneue, ferngesteuerte, nahezu unsichtbare und unhörbare Full-HDKameras, ein völlig neues Videostudio, ein neues Audio-Mischpult auf höchstem Industrie-Standard, und die gesamte Internet-Streaming-Infrastruktur, alles verbunden durch einige tausend Meter Kabel. Während die Kolleginnen und Kollegen die ersten Übertragungen für „Oper Live am Platz“ produzierten, wurde unter dem Tisch noch eifrig an den letzten Kontakten gelötet … Unser Vorhaben, die Grenzen des Zuschauerraums zu sprengen, Oper und Ballett mit modernster Technologie Menschen auf der ganzen Welt ins Wohnzimmer zu bringen und neues Publikum auf jenen digitalen Plattformen anzusprechen, auf denen sich vor allem Jüngere massiv bewegen, bot perfekte

Anknüpfungsmöglichkeiten für Sponsoren. So ist es gelungen, die gesamte Investition in Hard- und Software ohne einen einzigen Euro aus dem laufenden Budget der Oper zu decken, was zudem ermöglichte, allen Mitwirkenden von Beginn an eine faire Beteiligung an den Einnahmen anzubieten.

Als erste Live-Übertragung auf unserer neuen Plattform hatten wir uns für einen Rosenkavalier entschieden, unter Adam Fischer, mit Renée Fleming – bestens erfahren von vielen Kino-Produktionen der Met in New York. Zu spät ist uns klar geworden, welche Steilvorlage wir da errichtet hatten: Ein Sonntag nach einem Feiertag, eine wirklich sehr lange Oper, und ein Star, zwar Kamera-erfahren, aber auch dementsprechend fordernd: Zum Nachsehen war dies am Donnerstag, 16. April. Aber alles ist gut verlaufen, und nach einer Test-Saison 2013/2014 mit 14 Livestreams, aus der zahllose Erfahrungen in eine grundlegende Weiterentwicklung über den Sommer 2014 flossen, konnten wir im Herbst 2014 das erste volle „Wiener Staatsoper Live@Home“ Programm mit 45 Übertragungen präsentieren. Schon im Mai 2015 folgte der Start des ersten weltweiten regelmäßigen Livestreaming-Programms in UHD, für das wir mit unserem Partner SAMSUNG einen der rennomiertesten Preise der TV-Industrie erhielten: Dominique Meyer hat den „Special Award for Innovation“ der IBC in Amsterdam gemeinsam mit dem Präsidenten der FIFA persönlich übernommen.

Sehr schnell sprach sich in der Musik- und Medienwelt herum, was die Wiener Staatsoper da auf die Beine gestellt hat, das waren doch gänzlich andere und innovative Formate von Produktion, Distribution und Verwertung, die da entstanden sind. Wir haben unsere Workflows, die Technik, organisatorischen und rechtlichen Modelle inzwischen auf zahlreichen internationalen Konferenzen, in Konservatorien und Hochschulen präsentiert und weitergegeben, viele Kulturinstitutionen sind inzwischen unserem Beispiel oft bis ins Detail gefolgt, und die Wiener Staatsoper ist mittlerweile weltweites Vorzeigebeispiel für die Digitalisierung in der Kulturwelt. Schon bald haben wir auch dem ORF Kooperation angeboten, dort musste man jedoch erst langsam Vertrauen in die Qualität unserer unabhängigen Produktionen gewinnen – 2018 aber konnten wir eine umfangreiche Zusammenarbeit starten, mit 15 unserer Produktionen auf ORFIII und zwei für ORFII, und besonders aufregend für uns sogar mit Live-Übernahmen direkt aus unserem Studio auf die TV-Schirme in ganz Österreich.

Manche wichtige Märkte sind von uns aus sowohl aus technischen wie auch aus Gründen einer kaum überwindbaren Sprachbarriere nur schwer erreichbar, deshalb haben wir uns entschieden, dort mit Partnern zusammenzuarbeiten, die in eigenen Fenstern auf ihren Plattformen das Online-Programm der Wiener Staatsoper anbieten. Auf kuke.cn haben wir in China seither über 250.000 (zahlende) Zuseherinnen und Zuseher in Musikschulen, Konservatorien und Universitäten erreicht, das führende japanische Klassikradio OTTAVA hat mit unseren Livestreams einen Video-Streaming-Dienst gestartet, und seit Anfang 2020 läuft staatsoperlive.com in einem Fenster auf dem größten Klassik-OnlinePortal Chinas, dem Tencent Arts Channel.

Am 11. März 2020 musste die Wiener Staatsoper schließen, wie so viele andere Häuser auf der ganzen Welt, und noch ist nicht absehbar, wann wir wieder Vorstellungen auf unseren Bühnen zeigen werden. Es hat aber nur ein paar Tage gedauert, bis wir am 15. März wieder spielen konnten: Digital, weltweit zugänglich, gratis. Wir haben unser Archiv von rund 350 Livestreams geöffnet, Kostbarkeiten aus Oper und Ballett, mehrere Besetzungen stehen zum unmittelbaren Vergleich, manchmal sogar verschiedene Produktionen ein und desselben Werkes . In wenigen Wochen haben sich 160.000 Menschen neu registriert, im Schnitt senden wir 18.000 Streams über unsere eigenen Plattformen, dazu 30.000 in China und Japan. So bleiben wir in schwieriger Zeit unserem Publikum verbunden und halten die Wiener Staatsoper und ihr Programm auch medial präsent: damit wir nach diesem tiefen Einschnitt in unser aller Lebenswelt hoffentlich wieder an das vertraute Bild einer vollen, lebendigen und von Oper und Ballett vibrierenden Oper anschließen können. Christopher Widauer

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