07 Das Stadtmagazin für Jena & Region, Ausgabe 125, November 2020

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September November 2020 2012

| INTERVIEW | THORSTEN NAGELSCHMIDT ALIAS »NAGEL« ist vielen bekannt als Sän-

ger, Texter und Gitarrist der Band »Muff Potter«. Vier Bücher hat er bereits veröffentlicht - sein Erstling von 2007 trägt den Titel »Wo die wilden Maden graben«. Der Wahlberliner widmet sich in seinem fünften Roman, der den schlichten Titel »Arbeit« trägt, dem Nachtleben der Weltstadt und eben jenen Menschen die, wenn andere Party machen, ihren Job erledigen. Wir sprachen mit ihm …

THORSTEN NAGELSCHMIDT

»Es gibt Tage, da hasse ich diese Stadt …« die Figuren in meinem Buch ihre Tätigkeiten nicht als Bullshit jobs nach Definition Graebers. Denn egal, ob Sanitäterin oder Pfandsammlerin, ob Drogendealer oder Polizist — diese Menschen fühlen sich gebraucht, ihre Dienstleistungen werden nachgefragt und sie übernehmen THORSTEN NAGELSCHMIDT: zusätzlich oft noch sozialarbeiterIch mag sie alle. Wirklich. Gerade ähnliche Aufgaben, wenn sie das auch die, die mir aufgrund biograGefühl haben, sich nebenbei um defischer Merkmale vielleicht erstmal »ARBEIT« ist im ren Zipperlein kümmern zu müssen. S. Fischer-Verlag nicht so nahe erscheinen. Inter- erschienen Thematisiert werden diese Wideressanterweise machen sich diese sprüche bei der Figur Anna, die als Merkmale für mich aber nicht nur an Alter, eine Art Klassenflüchtling nach unten ihren Herkunft und Geschlecht fest. Mich in eine gutbezahlten Job in einer Agentur gekündigt 25-jährige Essensauslieferin aus Kolumbi- hat, um einen Späti aufzumachen, weil sie en hineinzuversetzen fiel mir sogar leichter, lieber bis an ihr Lebensende Bier und Kippen als der Gedankenwelt eines 55-jährigen Ta- verkauft, als Menschen Dinge anzudrehen, xifahrers aus Ostberlin gerecht zu werden — die sie gar nicht brauchen. obwohl der doch wie ich deutsch, weiß und männlich ist. Ich glaube, dass den momen- Ein Kapitel handelt auch von einer arabitanen identitätspolitisch geprägten Debatten schen Großfamilie. Wir erleben Berlin aus oftmals eine schwierige und kontraprodukti- der Sicht eines arabischen Jungen. Wie ve Denkweise zugrunde liegt, weil dabei Ka- bekommt man Zugang zu dieser Sichtweise? tegorien der Rechten übernommen werden. NAGELSCHMIDT: Man muss hinschauDie Hauptunterschiede bestehen meiner Mei- en, zuhören, mit Menschen reden und viel nung nach nicht in Merkmalen von Herkunft lesen. Und dann schauen, wie man Klischees oder Geschlecht, sondern in sozialen Fragen vermeidet oder, noch besser, sich Klischees wie denen von Milieu- und Klassenzugehö- bewusst wird und mit ihnen spielt. Bei dem rigkeit und der darauf beruhenden Ausgren- angesprochenen Kapitel habe ich es schließzung. lich mit einer Art Kunstsprache probiert, einem selbst erfunden Slang à la »Clockwork Im September starb David Graeber, Autor orange«, weil alles andere, selbst wenn es des Buches »Bullshit Jobs«. Seine These: noch so korrekt oder authentisch war, immer bis zu 40 Prozent der Arbeit, die heute in wie recherchiert oder im Moment des Niederden westlichen Industriegesellschaften schreibens schon von gestern klang. getan wird, sei überflüssig, also: Bullshit. Spielen solche Überlegungen auch in »ArDu schreibst immer direkt aus der Perspekbeit« eine Rolle? tive deiner Protagonisten. Wie authentisch NAGELSCHMIDT: Ich habe »Bullshit Jobs« fühlst Du dich in die Charaktere ein? mit viel Gewinn gelesen und bin erschüttert NAGELSCHMIDT: Ich habe mich für die über den frühen und plötzlichen Tod Gra- sogenannte Camera-Eye-Technik entschieden. ebers. Aber auch wenn Arbeitsbedingungen Wir sehen, hören und fühlen immer nur das, und Bezahlung oft schwierig sind, empfinden was der jeweilige Protagonist sieht, hört und

fühlt. Da viele Figuren in den Kapiteln der anderen wieder auftauchen, muss man als Leser ständig sein bisheriges Urteil hinterfragen oder revidieren. Zumindest war das die Idee. Ich will, dass meine Figuren nicht nur glaubwürdig sind, sondern interessant. Dazu braucht man vielschichtige Charaktere, die Brüche haben und Spleens und einen jeweils ganz eigenen Duktus und Habitus. Und das Ding mit der Authentizität — dieses Gefühl ist für einen Roman wie »Arbeit« natürlich wichtig. Wie stehst Du selbst zu Berlin? NAGELSCHMIDT: Es gibt Tage, da hasse ich diese Stadt, oder zumindest meinen Stadtteil, Neukölln. Den Dreck, den Lärm, die Aggressionen im Straßenverkehr, die zynische Arm-aber-sexy-Konsumentenmentalität von sogenannten Hipstern und Touristen. Andererseits ist in Berlin immer noch einiges möglich, das in London, Paris oder New York schon längst nicht mehr geht. Und wo soll man denn sonst leben. Als Autor kannst Du mit einem (Recherche) Auftrag fremde Menschen kennenlernen. Bist Du als Privatperson auch so frei, auf andere Personen zuzugehen? NAGELSCHMIDT: Nein, leider nicht. Ich hätte viele der Personen, mit denen ich für diesen Roman gesprochen habe, unter normalen Umständen nie kennengelernt, obwohl wir vielleicht täglich aneinander vorbeilaufen. Von daher war die Arbeit auch für mich persönlich eine wahnsinnige Bereicherung. Ich habe viel gelernt und blicke jetzt anders auf die Stadt und auf die Welt. Danke für das Gespräch. Interview: Florian Görmar Thorsten Nagelschmidt — Lesung 10.11.2020, Franz Mehlhose, Erfurt

Foto: Verena Brüning; Cover: S. Fischer Verlage

»Arbeit« gibt einen Einblick in das Leben von 13 Hauptfiguren aus Berlin, darunter eine Notfallsanitäterin, eine Pfandsammlerin, ein Drogendealer, ein Türsteher, ein Taxifahrer und ein Hostelangestellter. Welche Figur ist dir besonders nah und warum?


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