FRAUENRECHTE FEMIZIDE IN MEXIKO
Wo auf Wandgemälden nach vermissten Frauen gesucht wird: Ciudad Juárez.
Das Risiko, eine Frau zu sein In Mexiko führt Ciudad Juárez die Liste der Städte mit den meisten Frauenmorden an. Drogen und Musik in voller Lautstärke tragen zur Gewalt gegen Frauen bei. Von Kathrin Zeiske (Text) und Carolina Rosas Heimpel (Fotos)
I
n der fahlen Wintersonne reihen sich entlang von Feldern die winzigen Häuser von Riveras del Bravo. Man kann von hier aus die rostroten Stelen der Mauer zu den USA sehen. Das Stadtviertel von Ciudad Juárez ist eine Schlafstadt für die Arbeiter_innen der Montageindustrie an der Grenze, die Produkte für den Weltmarkt herstellt. Riveras del Bravo hat zwei Gesichter: Während der Fabrikschichten wirkt das Viertel, in dem viele Familien auf engstem Raum zusammenleben, still und verlassen. Am Wochenende dröhnt jedoch Lärm aus den Vorhöfen, wenn Lautsprecherboxen neben den Grill gestellt werden. »Alkohol, Crystal Meth und Dezibel bis zum Anschlag – das ist eine unheilvolle Mischung am Feierabend«, sagt Verónica Corchado, die Leiterin des städtischen Fraueninstituts (IMM). Kommunikation in den Familien sei dann nur noch durch
24 AMNESTY JOURNAL | 02/2022
angestrengtes Schreien möglich. »Und Gewalttaten werden nicht einmal von den Nachbarn gehört.« Corchado parkt ihren Wagen vor dem Gemeindezentrum von Riveras del Bravo, dem Sitz des Fraueninstituts. Es befindet sich im Süden von Ciudad Juárez, wo die Bevölkerungsdichte hoch ist. »Seit Jahrzehnten kommen Menschen aus dem Süden Mexikos hierher, um Arbeit zu finden«, erklärt Corchado. Sie siedelten sich zunächst dort an, wo Ciudad Juárez endet und die Wüste beginnt und zimmerten sich dort eine Unterkunft aus Paletten und Fabrikabfällen zusammen. »Der Alltagsstress der Frauen ist groß, denn die Häuser lassen sich nicht abschließen, es gibt kein fließendes Wasser und keinen Supermarkt, weder Straßenbeleuchtung noch öffentliche Verkehrsmittel. Das bedeutet einen horrenden Mehraufwand an reproduktiver Arbeit – aber auch ein Leben in ständiger Angst und Ungewissheit.« Corchado weiß, wovon sie spricht. Die hochgewachsene Frau
mit den roten Locken ist unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen. Sie erinnert sich gut daran, obwohl sie kürzlich einen Ehrendoktortitel für ihr Engagement erhalten hat und zum ersten Mal im Leben gut verdient. »In Ciudad Juárez ist es ein Risiko, eine Frau zu sein«, sagt Corchado. Der von Akademikerinnen aus Südafrika und den USA geprägte Begriff »Femizid« erlangte in der Industriemetropole traurige Berühmtheit, seit Anfang der 1990er Jahre systematisch Fabrikarbeiterinnen verschleppt, vergewaltigt und zu Tode gefoltert wurden. Diese Verbrechen von Unternehmern und Emporkömmlingen des Juárez-Kartells wurden vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht, der den Staat Mexiko im Jahr 2009 wegen Vereitelung der Aufklärung der Taten verurteilte. Im Jahr 2021 führte Ciudad Juárez erneut die Liste der Städte mit den meisten Frauenmorden in Mexiko an. Im August 2021 wurde dort wie für diverse Kommunen in 22 weiteren mexikanischen Bun-