Amnesty Journal März/April 2022

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INTERNATIONALES RECHT

Zeit für eine Bewertung Im November 2021 wurde der Iraker Taha Al-J. in Frankfurt am Main zu lebenslanger Haft verurteilt. Er war Anhänger der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS). Das Urteil gilt als historisch. Die Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Völkerstrafrecht hat das Verfahren begleitet. Von Teresa Quadt und Jamil Balga-Koch Der Fall Taha Al-J., Anhänger der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS), hat, wie das Gericht feststellte, im Jahr 2015 eine jesidische Frau und deren fünfjährige Tochter gekauft und beide gemeinsam mit seiner damaligen deutschen Ehefrau als Sklavinnen gehalten. Das Mädchen starb, nachdem Taha Al-J. es in sengender Hitze ankettete. Die Bundesanwaltschaft hatte den Iraker wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt.

Internationale Strafverfahren vor nationalen Gerichten Anders als oft angenommen sind nationale Gerichte für die internationale Strafverfolgung zuständig. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wird nur tätig, wenn Staaten unfähig oder unwillig sind. Folglich werden Völkerrechtsverbrechen wie Völkermord vorrangig auf nationaler Ebene verfolgt. Das Weltrechtsprinzip (siehe Amnesty Journal 03/2021) ermöglicht die Verfolgung von Täter_innen und Taten selbst ohne Inlandsbezug. Auf dieser Grundlage wurde auch der Frankfurter Prozess gegen Taha Al-J. geführt. Im Gegensatz zu klassischen Strafverfahren werden bei sogenannten Strukturermittlungsverfahren ganze Konfliktsitu-

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ationen anstelle einzelner Taten oder Personen untersucht. Die Anklage gegen Al-J. resultierte aus solch einem Verfahren zur Situation im Nordirak. Al-J. wurde als ein mutmaßlicher Täter identifiziert, von der Generalbundesanwaltschaft angeklagt, in Griechenland verhaftet und nach Deutschland überstellt. Das Hauptverfahren gegen ihn begann im April 2020 am Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt. Das Urteil erfolgte am 30. November 2021, ist jedoch noch nicht rechtskräftig, da die Verteidigung Revision eingelegt hat. Internationale Verfahren bergen mitunter komplexe Probleme. Es braucht Sprachmittlung und Übersetzung für jede Vernehmung und Beweisaufnahme. Im hiesigen Verfahren sprachen weder der Angeklagte noch Zeug_innen die Prozesssprache. Während der Prozess auf Deutsch geführt wurde, sprach der Angeklagte selbst nur Arabisch, die Betroffenengemeinschaft der Jesid_innen überwiegend nur den Dialekt Kurmanji und einige Verfahrensbeteiligte und Interessierte nur Englisch. Außerdem wird bei internationalen Verfahren überwiegend im Ausland ermittelt, die Verfahren sind zeitaufwändig und kostspielig.

Lob und Kritik am Verfahren Das OLG verdient für zwei Besonderheiten Anerkennung. Erstmals wurde das Weltrechtsprinzip in seiner absoluten Form angewandt und hierdurch bestätigt.

Zudem nimmt Deutschland eine weltweite Vorbildfunktion ein, was die Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen ohne Inlandsbezug betrifft. Das Gericht hat außerdem die Verbrechen als Völkermord an den Jesid_innen eingestuft. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung dieser Bewertung folgt. Allerdings steht das Verfahren auch stellvertretend für folgende strukturelle Mängel, die zukünftig behoben werden müssen. Geschlechts- und religionsspezifische Dimension nicht berücksichtigt Hauptkritikpunkt ist die Nichtberücksichtigung der geschlechts- und religionsspezifischen Verfolgung der Taten in Anklage und Urteil. Sachverhalt und Sachverständigenaussagen legten nahe, dass Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zum jesidischen Glauben ausgewählt und Opfer des Völkermordes sowie von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden. Zudem wurden nur Frauen und Mädchen – wie Nora B. und ihre Tochter – verkauft und versklavt. Die Nebenklage beantragte im November 2020 die Erweiterung der An-

Das Gericht hat die Verbrechen als Völkermord an den Jesid_innen eingestuft.


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