Amnesty Journal März/April 2022

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Gefangen zwischen Moschee und Kaserne Die Graphic Novel »Erdoğan« zeichnet das Leben des türkischen Präsidenten nach. Sie zeigt aber auch das Dilemma von Gesellschaften wie der türkischen auf, die zwischen politischem Islam und Militärregime zu pendeln scheinen. Von Hannah El-Hitami Eine Analyse in Bildern: Das Buch erklärt das System Erdoğan. Abb.: Correctiv-Verlag

A

n welchem Punkt der Geschichte Recep Tayyip Erdoğan vom standhaften politischen Widerstandskämpfer zum skrupellosen Machtmenschen wird, ist im Nachhinein nicht mehr klar erkennbar. Fest steht, dass der türkische Präsident am Anfang der Graphic Novel »Erdoğan« ein bemitleidenswertes Kind aus gewalttätigem Elternhaus ist, das davon träumt, Profifußballer zu werden – und am Ende ein manipulativer, fundamentalistischer Staatsmann auf einem mit allen Mitteln erkämpften Thron. Erzählt wird diese Geschichte von dem türkischen Journalisten Can Dündar und dem ägyptischen Comiczeichner Mohamed Anwar. Beide mussten ihre jeweilige Heimat aus politischen Gründen verlassen und leben im Exil in Berlin. In ihrer Graphic Novel zeichnen sie das Leben des türkischen Präsidenten von seiner Geburt bis zu seinem politischen Aufstieg und Erfolg Anfang der 2000er Jahre nach. Das mehr als 300 Seiten starke Werk ist jedoch nicht nur die Biografie eines einflussreichen Politikers. Es analysiert den Aufstieg eines Despoten und offenbart zugleich die Hindernisse für demokrati-

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sche Systeme weltweit: Militärs können gewählte Regierungen entfernen, Religiöse mit absoluter Minderheit regieren, westliche Mächte aus Opportunismus die eine oder andere Seite unterstützen. Die Geschichte beginnt im Jahr 1954 mit der Geburt Erdoğans in Istanbul. Sie schildert sein armes Elternhaus, seine religiöse Ausbildung und seine ersten Berührungspunkte mit der Lokalpolitik als 20-Jähriger. Das Buch zeigt ihn als einen, der lernen musste, zu kämpfen: gegen den Vater, der ihm die Chance verbaut, Profifußballer zu werden, gegen die eigene Partei, die ihn kleinhalten will, und gegen das politische Establishment, das ihn nach jahrelanger Unterdrückung schließlich ins Gefängnis steckt und ihm ein Politikverbot erteilt. Beinahe könnte bei den Leser_innen Mitleid aufkommen oder zumindest Verständnis für den autokratischen Herrscher, der heute eher dafür bekannt ist, Journalist_innen zu inhaftieren und den Krieg in Syrien voranzutreiben. In einem gezeichneten Vorwort der Graphic Novel spricht eine Figur den Autoren Can Dündar auf eben diese Problematik an: »Diese Szenen stellen ihn als Opfer dar, sie wecken Sympathie.« Worauf Comic-Dündar erwidert: »Mich muss das interessieren,

was war, nicht, welche Wirkung es haben wird.« Ihre kritische Wirkung verfehlt die Graphic Novel ohnehin nicht. Und sie zeigt nicht nur den Wandel Erdoğans zum Despoten, sondern beleuchtet auch den Aufstieg des politischen Islams in Westasien und Nordafrika seit den 1950er Jahren – ein Grund, warum der Comiczeichner Mohamed Anwar der perfekte Partner für Dündar war. Auch er kommt aus einem Land, in dem »das Pendel zwischen Moschee und Kaserne« hin- und herschwingt, wie es im Buch heißt. »Das Dilemma der demokratischen, zivilgesellschaftlichen Bewegungen ist, dass sie zwischen Islamisten und der Armee gefangen sind«, sagt Anwar. Der politische Islam nutze demokratische Mittel aus, um an die Macht zu kommen. Die Autokraten des Militärs hingegen profitierten vom Versagen der Islamisten. »Die säkulare Zivilgesellschaft wird es schwer haben, ihren eigenen Weg zu finden«, meint der Zeichner. ◆ Can Dündar, Mohamed Anwar (Zeichnungen): Erdoğan. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Correctiv Verlag, Essen 2021, 320 Seiten, 25 Euro


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