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Tiere in der Bildwelt des alten Ägypten
Laurent Gorgerat
«Alle in Ägypten lebenden Tiere gelten bei ihnen als heilig, Haustiere so gut wie wilde.»
Herodot, «Historien» 2, 65 (um 450 v. Chr.)
Innerhalb der Kulturen des Altertums nimmt das alte Ägypten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mensch und Tier einen besonderen Stellenwert ein. Auch wenn das Zitat des griechischen Geschichtsschreibers Herodot nicht die letzte Wahrheit widerspiegelt, so zeugt es doch von der hohen Wertschätzung Tieren gegenüber, die die Ägypter bei ausländischen Besuchern hinterliessen. Diese auf den ersten Blick eher positive Feststellung sollte aber rasch in eine klischeehafte Beurteilung münden.
Seit den klassischen Autoren der Antike galt die pharaonische Kultur Ägyptens aufgrund der zahlreichen Tierdarstellungen und -mumien in der westlichen Wahrnehmung als eine auf Zoolatrie beruhende Geisteswelt. Erst mit der Entzifferung der Hieroglyphen im frühen 19. Jahrhundert, die das Lesen der altägyptischen Texte ermöglichte, mit dem Ausklingen der «Aegyptomania»› und der damit einhergehenden Geburt der modernen Ägyptologie wurden die Grundlagen für das Erfassen und Verstehen der vielfältigen Tierwelt und ihrer Bedeutung gelegt. Auch wenn die Erklärungen für die Vorliebe von Tierdarstellungen im alten Ägypten vielschichtiger sind, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag, so bleibt es eine Tatsache, dass sie sehr prominent sind: Auch heute noch bestechen die altägyptischen Tierdarstellungen auf Reliefs und Papyri oder in Form von Hieroglyphen, Statuetten oder Amuletten durch ihre Vielfalt, die Qualität ihrer Ausführung und den hohen Grad an Detailreichtum.
Abb. 6 ▷
Ein typischer Vertreter der altägyptischen Fauna ist das Nilpferd, das sowohl gejagt als auch verehrt wurde.
Statuette aus gebranntem Ton, spätes 4. Jt. v. Chr., Ägypten | Inv. BSAe 1053 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin
Die Omnipräsenz von Tieren in der ägyptischen Kunst und Kultur mag zunächst vordergründig in der Tatsache begründet sein, dass die Fauna Ägyptens damals sehr vielfältig war. Aufgrund der Topografie des Niltals war ein Zusammenleben von Menschen und Tieren auf verhältnismässig engem Raum per se gegeben. Gekoppelt mit der offensichtlich aussergewöhnlichen Beobachtungsgabe der Menschen und ihrem Bestreben, ihre Welt und Umwelt zu erklären und zu verstehen, führte diese Tatsache zum hohen Bedeutungsgrad der Tierwelt im kollektiven Bewusstsein und in den religiösen Vorstellungen der altägyptischen Gesellschaft. Tierische Metaphern boten ideale Erklärungsformen, um mysteriöse, unsichtbare oder gar göttliche Phänomene zu deuten. Es wäre indes sicherlich falsch, in jedem Tier eine Gottheit zu sehen, wie dies Herodot in dem Zitat tut.
Grundlegend für das Verständnis der Tiere im alten Ägypten war zunächst die Annahme, dass Mensch und Tier aus dem umfassenden Wirken des Schöpfergottes entstanden sind, also von Anfang an in gewissem Sinne gleichgestellt waren. Im Gegensatz zu anderen antiken Kulturen verstanden die Ägypter ihr Verhältnis zum Tier nicht als Herrschaft, sondern als Partnerschaft.
Das ambivalente Verhältnis, das Ägypter realiter zur Tierwelt pflegten, lässt sich exemplarisch mit dem Flusspferd (Hippopotamus amphibius) darlegen, das bereits in prähistorischer Zeit (4. Jt. v. Chr.) in der Gestalt von kleinen Tonfiguren (Abb. 6), Amuletten (Abb. 7) oder plastischen Gefässen dargestellt wurde. Das Bevölkerungswachstum, das mit der Sesshaftwerdung der Menschen im Niltal des 5. und 4. Jahrtausends v. Chr. einherging und durch das Aufkommen von Viehwirtschaft und Ackerbau ermöglicht wurde, führte zu einer Verkleinerung des Lebensraums für die Flusspferde und de facto zu einer Konkurrenzsituation zwischen Mensch und Tier. Flusspferde wurden bei ihrer nächtlichen Futtersuche zu einem gefürchteten Ernteschädling. Darüber hinaus stellten die angriffswilligen Tiere eine ernsthafte Bedrohung für Bauern und Schiffer dar. Flusspferde gelten auch heute noch zu den gefährlichsten Tiere Afrikas; jährlich werden mehr tödliche Angriffe auf Menschen durch Flusspferde als beispielsweise durch Löwen verzeichnet. Ihre Gefährlichkeit, Gefrässigkeit und zerstörerische Kraft führten zu einer negativen Konnotation, die auch in den ägyptischen religiösen Vorstellungen ihren Niederschlag fand. So ver-
△ Abb. 7
Amulett in Form eines Flusspferdes
Kalzit-Alabaster, spätes 3. Jt. v. Chr., Ägypten Inv. BSAe 1004 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin
körpert das Flusspferd beispielsweise an den Wänden des Tempels von Edfu den Götterfeind Seth, der vom Königsgott Horus gejagt und harpuniert wird. Auch dämonische Torwächter oder Ammit, die «Fresserin», die beim Jenseitsgericht als Verkörperung der Strafe die fehlbaren Verstorbenen verschlang, konnten die Züge eines Flusspferds annehmen. Parallel zu dieser Verfemung wurden dem Flusspferd auch positive Aspekte beigemessen. So galt dieses Tier seit der Vorgeschichte als wichtiger Rohstofflieferant. In erster Linie wurde es seines Fleisches wegen gejagt, aber auch das Fett, der Balg und vor allem die Zähne, aus denen unter anderem magische Messer oder Klappern geschnitzt wurden, fanden Verwendung. Ferner wurde das Flusspferd als Bewohner der lebensspendenden Nillandschaft Fruchtbarkeit- und Regenerationssymbol. Das trächtige Flusspferdweibchen und dessen Fürsorglichkeit für seine Jungtiere mag überdies dazu beigetragen haben, dass der Göttin Thoëris, deren Erscheinungsform ein Mischwesen aus Flusspferdkörper, Löwentatzen und Krokodilsrücken darstellt, der Schutz der schwangeren oder stillenden Mütter oblag. Die Himmelsgöttinnen Nut, Isis und Hathor konnten im Sinne des Fruchtbarkeitsaspekts ebenfalls als flusspferdköpfige Göttinnen in Erscheinung treten.
◁ Abb. 8
Kennzeichnend für das alte Ägypten ist die Darstellung von Gottheiten mit menschlichem Körper und Tierhaupt. Der Mondgott Thot, Götterbote und Erfinder der Schreibkunst, präsentiert sich unter anderem als Mensch mit Ibiskopf.
Statuette aus stuckiertem Holz, 7.–6. Jh. v. Chr., Ägypten Inv. BSAe 1094 © Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig / Foto: Andreas F. Voegelin
Auch wenn nach altägyptischer Vorstellung jedes Tier (ebenso wie der Mensch) vom Schöpfergott geschaffen wurde, ist sicherlich nicht jedes Tier gleichermassen als Darstellung einer bestimmten Gottheit zu verstehen. Nichtsdestotrotz wurden seit vorgeschichtlichen Zeiten göttliche Mächte mit Tieren assoziiert, deren Fähigkeiten jene des Menschen überstiegen. So lag es nahe, dass für die frühesten Götterdarstellungen Ägyptens reine Tiergestalten Verwendung fanden. Im Verlaufe dieser Entwicklung durchliefen die tiergestaltigen Mächte der Vorgeschichte einen Prozess der Vermenschlichung, indem sie menschliche Körperteile erhielten.
Eine ganz entscheidende und für das alte Ägypten charakteristische Entwicklung setzte in der Frühzeit, also seit etwa 3000 v. Chr., ein: die Verschmelzung von Menschenleib und Tierkopf. Obschon sich diese theriomorphe Darstellungsform durchsetzen und zur typischen Erscheinungsform altägyptischer Gottheiten entwickeln sollte (mit vereinzelten Ausnahmen, wie die Götter Ptah und Min, die anthropomorph dargestellt wurden), verdrängte sie die rein tierische Gestalt von Göttern nie, sondern ergänzte sie. So konnte beispielsweise der Mondgott Thot – Gott der Weisheit, der Magie und der Schreibkunst – entweder in der Gestalt eines Pavians, eines Ibis oder menschengestaltig mit Ibiskopf in Erscheinung treten (Abb. 8). Die Tatsache, dass keine dieser verschiedenen Gestalten sich endgültig durchzusetzen vermochte, mag als Hinweis dafür gedeutet werden, dass sie die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der jeweiligen Gottheit abbildeten, die je nach Bedarf Verwendung fanden. Es wurde also keine kanonische, allgemein gültige Götterdarstellung angestrebt, sondern eine Form, die der Vielfalt und Komplexität der Gottheit gerecht wurde. Auf diese Weise liessen sich komplexe theologische Vorstellungen zum Ausdruck bringen. Die Tiere, die dabei entweder als Ganzes oder als pars pro toto zum Einsatz kamen, liessen sich aber nicht auf einen einfachen Symbolwert reduzieren, sondern verkörperten vielmehr eine vielschichtige Bedeutungswelt. Im Unterschied zur klassischen Antike, in der Mischgestalten einerseits keine Gottheiten darstellten und andererseits in erster Linie das Bedrohliche symbolisierten, erschienen die mischgestaltigen Götter Ägyptens stets in erhabener Schönheit. Selbst Dämonen wie Thoëris, Bes oder die «Fresserin» wurden derart stilisiert und gebändigt dargestellt, dass sie nicht mehr abstossend wirkten.