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Titelgeschichte: „Die Gisse kimp!“

„Die Gisse kimp!“

Die Wassergefahr im Bezirk – Teil 1: Die Unwetterkatastrophe vor zehn Jahren

von Karl-Heinz Sparber

Verheerende Vermurungen im Pfitscher Hochtal

„Die Gisse kimp!“ Ein bezeichnender Satz, der die Bevölkerung des Wipptales bereits seit Jahrhunderten oder wohl schon immer verfolgte. Seit wir über Aufzeichnungen von Unwettern, Überschwemmungen, Vermurungen, Überflutungen und Hochwasserkatastrophen verfügen, stand Sterzing mit den unberechenbaren Bächen vom Brenner und Roßkopf, aus Pflersch, Pfitsch, Ridnaun, Ratschings, Mareit und Jaufental stets im Mittelpunkt der Ereignisse. Die Gefahr von Wasserüberläufen bestand seit jeher und konnte eigentlich bis heute nicht zur Gänze eingedämmt werden. Das Wipptal südlich des Sterzinger Mooses war nicht in diesem Ausmaß betroffen, da das Tal in diesem Abschnitt nicht so stark besiedelt war und das Wasser freien Lauf hatte. Der Hauptort Sterzing hingegen musste andauernd daran arbeiten, dass der Durchzugshandel gewährleistet blieb, die Verkehrswege über den Brenner befahrbar waren und die Bevölkerung einigermaßen sicher war vor der ständig drohenden Wassergefahr. Zunächst soll hier an die verheerende Unwetterkatastrophe in Pfitsch vor nunmehr zehn Jahren erinnert werden. Zwar war damals der gesamte Bezirk durch Muren und Gissen stark in Mitleidenschaft gezogen worden, sämtliche Feuerwehren standen über Tage bei den Aufräumarbeiten im Einsatz, doch Pfitsch traf es besonders hart. Vor allem gab es hier auch zwei Todesopfer zu beklagen.

„Die Bergkämme waren weiß vom Hagel“

Im Gespräch mit Altbürgermeister Johann Frei (2000 - 2015) über das Jahrhundert-Ereignis in Pfitsch

Erker: Herr Frei, Sie waren vor zehn Jahren

Bürgermeister der Gemeinde Pfitsch, als die

Gisse im Gemeindegebiet wütete. Können

Sie schildern, was damals geschah und was

Ihre ersten Anweisungen und Sofortmaßnahmen waren?

Altbürgermeister Johann Frei: Ich war an jenem Samstag (4. August 2012) unterwegs und bin am frühen Abend nach Hause gekommen. Die Bergkämme im Osten und Nordosten waren weiß vom Hagel und wenig später heulte dann auch schon die erste Sirene. Ich begab mich sofort in die Feuerwehrhalle und erfuhr von ersten Einsätzen in Wiesen und im Hochtal. Es ging darum, die Gräben an den Wiesner Köfeln, den Pfitscherbach und die Außenfraktionen zu beobachten. Ich war über die Feuerwehr Wiesen in ständigem Kontakt mit den Einsatzkräften. Nachdem es sehr stark weitergeregnet hatte und die Meldung eintraf, dass der Stausee in der Wehr wahrscheinlich seine Schleusen öffnen müsse, drohte erhöhte Gefahr entlang des Pfitscherbaches in Wiesen. In der Folge überschlugen sich die Ereignisse: Es kam zu einem großen Murenabgang in Tulfer und in Afens, die Telefon- und Funkverbindungen mit dem Hochtal waren zeitweise unterbrochen und es hieß, im Ölbergtunnel seien Personen eingeschlossen, Fußendras sei von einer Mure heimgesucht worden. Sofort wurden alle Straßen gesperrt; jenen, die nicht mehr nach Hause konnten, wurde im Haus der Dorfgemeinschaft in Wiesen und in der Dreifachturnhalle in Sterzing Verpflegung und Unterkunft geboten.

Zu den Schäden: In Fußendras wurde der Hof „Lehengasser“ von einer gewaltigen Mure verschüttet, ebenso der Steinbruch „Grünig

Natursteine“ in Stein. Sie waren mit Landeshauptmann Luis Durnwalder vor Ort.

Der Lokalaugenschein mit Landeshauptmann Durnwalder, Abteilungsdirektor Rudolf Pollinger und Vertretern der Bezirksleitstelle fand am nächsten Tag in der Früh statt. Dabei machte man sich ein erstes Bild entlang des Eisacks an der westlichen Gemeindegrenze und fuhr bis vor Afens. Der Tunnel war geräumt, aber nachher gab es kein Weiterkommen mehr. Kanalisierung und Trinkwasserleitung waren dort auf weite Strecken herausgerissen, Brücken fehlten ... Es wurde vereinbart, eine grobe Kostenschätzung vornehmen zu lassen und diese dann am Nachmittag bei der Sitzung der Bezirksleitstelle vorzulegen. Zudem wurde zugesichert, Arbeiten aufgrund der Notsituation ohne die sonst übliche Bürokratie in Auftrag geben zu können.

Das Pfitscher Hochtal war von der Außenwelt abgeschlossen. Welche Maßnahmen hatte die Gemeinde getroffen, um die Bevölkerung trotzdem zu versorgen und vor weiteren Schäden zu sichern?

Altbürgermeister Johann Frei: „Die Ereignisse überschlugen sich“

Wir ließen ein Camp der Jungfeuerwehr von Tutzing (Partnerwehr der FF Wiesen) am nahen Flussufer in Wiesen räumen und brachten die Jugendlichen im Haus der Dorfgemeinschaft unter, informierten die Anwohner im Angerweg und Geirweg und ersuchten sie, die oberen Stockwerke aufzusuchen bzw. sich in das Haus der Dorfgemeinschaft zu begeben. Wir forderten Bagger an, um den südseitigen Damm des Pfitscherbaches im Südwesten des Dorfes zu öffnen, um so ein Überlaufen im Dorfbereich zu verhindern. Allerdings staute sich dann an der dortigen Brücke wegen der mitgeführten Holzstämme das Wasser, der Bach trat über die Ufer und suchte sich ein neues Bett. Weiters wurde ein Notweg über Tulfer (Obertulfer) eingerichtet, um ins Hochtal zu gelangen und unerlässliche Dienste aufrechtzuerhalten. Auch ein Shuttledienst wurde eingerichtet.

Die Aufräumarbeiten verliefen damals reibungslos; Gemeinde, Landeszivilschutz, Taucher, Feuerwehr, Militär, Bergretter und das

Land arbeiteten eng zusammen.

Ja, die Aufräumarbeiten liefen wirklich vorbildlich ab. Alle, die konnten – vom Ort und von auswärts – halfen mit und zwar viele Tage und Wochen lang. In den Feuerwehrhallen wurde vom Zivildienst eine Küche eingerichtet und alle wurden versorgt. Auch gab es mehrere Sitzungen zwischen Gemeindeverwaltung, Wildbachverbauung, Forst, Bauernbund und Straßendienst, um den Arbeitsablauf zu ko-

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ordinieren und festzulegen, wer welche Arbeiten in Eigenregie durchführt bzw. in Auftrag gibt und was Vorrang hat. Ebenso gab es tägliche Sitzungen der Gemeindeleitstelle und anfangs auch der Bezirksleitstelle, um die Arbeit der vielen Freiwilligen zu koordinieren.

Kann man heute, zehn Jahre später, das ungefähre

Schadensausmaß genauer beziffern? Wie viele Pfitscher

Haushalte waren direkt vom Unwetter betroffen? Wie hoch belasteten die verschiedenen Einsätze den Haushalt der Gemeinde. Gab es Beiträge vom Land?

Das gesamte Schadensausmaß kann ich natürlich nicht beziffern, da vor allem auch Private in Tulfer, Afens und Fußendras betroffen waren. Die Schäden an Infrastrukturen der Gemeinde beliefen sich auf etwa 1,8 Millionen Euro. Wie viele Haushalte insgesamt betroffen waren, kann ich leider nicht sagen. Ich weiß aber, dass sich alle Betroffenen in der Gemeinde melden konnten mit Angabe der Schäden, die sie erlitten hatten (abgesehen von den großen Zerstörungen), um dann bei der Verteilung der Spendengelder, die auf den Spendenkonten der Banken eingegangen waren, entsprechend berücksichtigt zu werden. Die Beiträge des Landes an die Gemeinde beliefen sich auf rund 1,3 Millionen Euro.

Seit wann gibt es einen Gefahrenzonenplan für Pfitsch?

Einen genehmigten Gefahrenzonenplan hat die Gemeinde Pfitsch seit Ende 2021. Was ich noch kurz erwähnen möchte: Unmittelbar nach dem Katastrophenereignis kam eine Vertretung der Nordtiroler Gemeinde Kappl (Bezirk Landeck) im Rathaus vorbei und überreichte mir einen Scheck in Höhe von 20.000 Euro an Spenden, die dort aus Solidarität eingegangen sind, nachdem auch ihre Gemeinde im Jahr 2005 eine ähnliche Katastrophe erlebt hatte. Eine sehr schöne und unerwartete Geste! Auch die Partnergemeinde Altdorf ließ uns Spenden zukommen. Zum Schluss vielleicht noch eine Bemerkung: Im Spätherbst des Jahres 2012 kamen zwei Vertreter des nationalen Zivilschutzes zu einem Lokalaugenschein und konnten es nicht glauben, dass nur drei Monate nach dem verheerenden Unwetter von den vielen Schäden fast nichts mehr zu sehen war. Eine Fotodokumentation im Saal der Feuerwehr konnte sie aber von den Ausmaßen der Zerstörung überzeugen. Ihr Gutachten war nämlich notwendig, um als Notstandsgebiet eingestuft zu werden und mehr Anrecht auf Förderung zu haben. Alles wäre verkraftbar gewesen, nur die zwei Todesopfer nicht!

© Martin Schaller

Der vergisste Windischhof in Afens am Morgen des 5. August 2012

Heuer jährt sich zum 10. Mal die verheerende Unwetterkatastrophe von Pfitsch. In der Nacht vom 4. auf den 5. August 2012 sind – hervorgerufen durch starke Regengüsse (87 Liter pro m²) und heftigen Hagelschlag – in beinahe jedem Graben Muren abgegangen. Bäche traten über die Ufer und zerstörten zwischen 50 bis 100 Hektar Kulturgrund. Im Gemeindegebiet von Pfitsch hatten 35 Höfe große Schäden zu beklagen. In Sterzing und Umgebung wurden 40 Gebäude in Mitleidenschaft gezogen. Über 30 Bäche im Bezirk Wipptal sind ausgebrochen und haben an die 100.000 m³ Geröll, Schlamm und Bäume verfrachtet. Allein im Bachbett des Pfitscherbaches sammelten sich 35.000 m³ Material an.

Für zwei Frauen kam jede Hilfe zu spät

Im Windischhof neben der Pension Graushof in Afens kam Irma Graus geb. Hofer (geboren am 27. September 1928) am 4. August 2012 ums Leben. Sie wurde von den Schlammmassen in die Küche gedrückt und verstarb grauenvoll. Sie wohnte im Erdgeschoss unterhalb einer Ferienwohnung. Ihr Sohn Werner Graus kam um 23.00 Uhr zum Windischhof, als die riesige Mure gerade herunterdonnerte. Er konnte seine Frau noch mit bloßen Händen aus dem Schlamm befreien und aus dem Haus bringen. Für seine Mutter kam jedoch jede Hilfe zu spät. Der gesamte erste Stock war bereits vermurt.

Hedwig Markart Witwe Auckenthaler (geboren am 5. Juni 1923) befand sich zum Zeitpunkt der Katastrophe im Saxlhof, auch Wendlhof genannt (benannt nach dem Großvater Wendelin ihres verstorbenen Ehemannes Leopold Auckentha ler). Die Höfe Saxl und Weber wurden urkundlich bereits 1612 als Tulferhof genannt. Sie liegen eng nebeneinander. Die 89-jährige Frau wohnte bis zum Unglückstag am 4. August 2012 allein in diesem Haus. Die Gisse drang in jener Unglücksnacht durch den Hof hindurch und riss die alleinstehende Frau samt dem halben Erdgeschoss mit. Auch der Weberhof wurde teilweise vergisst. Hier vermutete die Feuerwehr zunächst die verschollene Frau. Markart konnte erst am nächsten Tag gegen 9.00 Uhr 200 Meter weiter südlich in den Schlammmassen tot geborgen werden.

Gefangen im Tunnel

Vier Personen waren im 380 Meter langen Ölbergtunnel südlich von Afens (2006 neu gebaut) eingesperrt und mussten dort die Nacht verbringen: Marialuise Knollenberger war mit ihrer 17-jährigen Tochter Sarah gegen 21.30 Uhr auf dem Weg von Sterzing nach Pfitsch, als sie mit ihrem VW Polo durch den Ölbergtunnel südlich von Afens fuhr. Mitten im Tunnel kamen den beiden Frauen Schlamm und Was-

Die Höfe Weber und Saxl (Wendl) am Tag nach der großen Gisse. Der Saxlhof wurde Ende Juni 2022 abgerissen.

ser entgegen. Vor ihnen hatte bereits ein Lieferwagen, in dem der Kastelruther Unternehmer Wolfgang Oberfrank saß, angehalten. Zudem war ein Slowake mit seinem Motorrad (Yamaha 1000) im Schlamm im Tunnel steckengeblieben. Beide Portale wurden mit Material zugeschüttet. Der Slowa-

ke hatte als einziger eine Netzverbindung und verständigte sofort seine Verwandten in Deutschland. Diese informierten daraufhin die Feuerwehr. Die vier Eingeschlossenen ließen sich überreden, im Tunnel in relativer Sicherheit zu verbleiben. Nach sieben Stunden wurden sie schließlich von den Baggern befreit. Steinbruch unter Wasser

Verschüttet wurde auch der 30 Meter tiefe Steinbruch des Unternehmens „Natursteine Grünig“ in Stein in Innerpfitsch. Das 80.000 m² große Betriebsgelände mit Betriebshalle und Maschinen wurde gänzlich vermurt und überflutet. Die 35 Mitarbeiter mussten über längere Zeit die Produktion einstellen. Nicht nur die Maschinen und Büros waren beschädigt worden, die Gisse hatte auch einen Großteil der Silberquarzit-Vorräte fortgespült, sodass die Firma bereits bestellte Waren nicht mehr liefern konnte. Im September gab es dann erste Entwarnungen: Der Betrieb konnte wieder Das Südportal des Ölbergtunnels ist am 5. August 2012 wieder aufgenommen offen, das Nordportal noch meterhoch vermurt. werden, die Maschinen waren teilweise repariert worden, die Büros wurden in Container übersiedelt. Die Firmenleitung schätzte damals den Schaden auf mehr als 800.000 Euro. Auch die Fischzucht vor dem Biotop Kircherau an der orographisch linken Seite des Pfitscherbaches wurde stark vergisst und musste gänzlich wiederhergestellt werden. Drei Tage lang war ein Bagger am Werk. Eine Pumpe spritzte Sand und Geröll fort.

480 Rettungskräfte standen tagelang im Einsatz. Die Aufräumarbeiten besorgten 30 Bagger, LKW und Maschinen, welche die Schlamm-

und Geröllmassen sowie Treibholz in kürzester Zeit beseitigten. Koordiniert wurden die Arbeiten vom Landeszivilschutz in der Bezirksleitstelle in Sterzing. An die 150 Menschen wurden vorübergehend in der Sterzinger Dreifach-Turnhalle einquartiert. Sie wurden noch in der Nacht aufgefordert, die Häuser in Bachnähe zu verlassen. Im Haus der Dorfgemeinschaft kamen 25 Jugendliche und vier Betreuer der Jungfeuerwehr aus Tutzing/Starnberg unter, die am Samstag unterhalb des Ölbergtunnels am Flussufer ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Sie wurden gegen 1.00 Uhr nachts von der Feuerwehr evakuiert und konnten am Sonntagvormittag zu ihren durchnässten Zelten zurückkehren. Da die Eisenbahnstrecke durch die enormen Unwetter unterspült worden war, blieb die Strecke Brenner-Sterzing für zwei Wochen gesperrt. Im Jänner 2013 nahmen zwei Staatsbeamte des Zivilschutzes in Rom einen Lokalaugenschein in Pfitsch vor. Sie verfassten einen Bericht für den Ministerrat, damit

Das riesige Areal des Grünig-Steinbruchs im Jahr 2022

das Unwettergebiet Pfitsch als Notstandsgebiet eingestuft werden konnte. Damit wurden die Kosten der Sofortmaßnahmen nicht nur zu 80 Prozent, sondern zu 100 Prozent von Rom rückerstattet. Die Gesamtschäden beliefen sich nach Angaben von Landeshauptmann Luis Durnwalder auf 18 Millionen Euro.

Lesen Sie in der September-Ausgabe des Erker Teil 2 der Reportage „Die Gisse kimp!“. Darin geht es um Katastrophen und Ereignisse, die im Laufe der Geschichte die Entwicklung des Wipptales geprägt und beeinflusst haben.

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