Behörden Spiegel Juni 2022

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Kommunalpolitik

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ithilfe der Sitzungen und themenspezifischen Workshops im SCSF sollen neue Smart-Cities-Handlungsfelder identifiziert und daraus neue Standardisierungsprojekte initiiert werden. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden unter anderem in Impulspapieren der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt (siehe https://www.din.de/ de/forschung-und-innovation/ themen/smart-cities/smartcitiespublikationen). Aus den Aktivitäten des SCSF entstanden mit der DIN SPEC Reihe 913X7 zu Smart Cities (SPEC für englisch “specification”) bisher mehrere Spezifikationen, die unter anderem ein Referenzarchitekturmodell für eine offene urbane Plattform (DIN SPEC 91357), die Anforderungen an eine integrierte multifunktionale Straßenlaterne (DIN SPEC 91347) oder generell eine Übersicht zu den Handlungsfeldern von Kommunen und der digitalen Transformation (DIN SPEC 91387) beinhalten. Eine Übersicht dieser kostenfrei verfügbaren DIN SPECs steht auf der folgenden Webseite zur Verfügung: https://www.din.de/ de/forschung-und-innovation/ themen/smart-cities/normenund-standards/nationale-normen-und-standards.

Digitaler Zwilling für Städte und Kommunen Das Thema digitaler Zwilling wird auf internationaler Ebene unter anderem im ISO/IEC JTC 1/SC 41/WG 6 “Digitaler

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igitale Zwillinge bereichern die Kommunen: Sie bieten eine kleine Zeitreise in die Zukunft und visualisieren Themen, die eigentlich unsichtbar sind. Windströmungen und Klimaveränderungen lassen sich damit aufzeigen oder das Ergebnis von baulicher Aktivität. Wie sieht ein Straßenzug mit neuen Gebäuden aus? Wie verändert sich der Verkehrsfluss, wenn wir die Kreuzung umbauen? Antworten auf diese Fragen werden im digitalen Zwilling virtuelle Realität und damit zentraler Bestandteil für Beteiligung in Planungsprozessen und Grundlage politischer Entscheidungen.

Behörden Spiegel / Juni 2022

Erarbeitung der DIN SPEC 91607 Standardisierung des digitalen Zwillings für Städte und Kommunen (BS/Joachim Schonowski/René Lindner) Das Deutsche Institut für Normung (DIN) betrachtet das übergeordnete Themenfeld Smart Cities bereits seit 2013 intensiv. Die entsprechenden Normungs- und Standardisierungsaktivitäten der relevanten deutschen Normungsgremien werden im Smart City Standards Forum (SCSF) analysiert, koordiniert und teilweise initiiert. Das SCSF als Kooperation der beiden deutschen Normungsorganisationen DIN und DKE (Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik, deutsche Normungsorganisation) ist eine Informations- und Vernetzungsplattform für Akteure aus Kommunen, Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Forschung, die die digitale Transformation von Städten und Kommunen vorantreiben möchten.

Joachim Schonowski ist Principal Business Consultant bei der msg systems ag, Vorsitzender des DIN Smart City Standards Forums und Konsortialführer der DIN SPEC 91607. Foto: BS/Andreas Lander

Organisationen, darunter etwa die Hälfte Kommunen und kommunale Verbände, zusammengefunden, um bis Ende 2023 den Standard zu erstellen.

Technische Interoperabilität Verschiedene Trends und Treiber der heutigen René Lindner ist Senior-Projektmanager bei der Gruppe Zeit, wie die diForschung und Transfer bei gitale Revolution DIN und Leiter des Smart City oder der KlimaStandards Forums. wandel, erfordern eine stetige Foto: BS/René Lindner Anpassung der Lebensverhältnisse im kommunalen Zwilling” bearbeitet. Die derzeiti- Raum. Ein Kernziel der digitalen gen Aktivitäten fokussieren sich Transformation von Kommuaber nur bedingt auf Kommunen, nen soll neben einer höheren sodass die geplante DIN SPEC Lebensqualität die Reduktion 91607 diese Lücke füllen wird. des ökologischen Fußabdrucks Im Rahmen der Initiierungsphase durch einen verbesserten Resder DIN SPEC haben sich unter sourceneinsatz und geringere der Steuerung von DIN über 30 Emissionen von Schadstoffen

sein. Ein digitales Abbild einer Kommune basierend auf den verschiedenen kommunalen Daten kann bei diesem Ziel helfen. Daher sind Nutzungsszenarien und, wenn möglich, deren Gruppierung Herzstück der DIN SPEC. Die Kommune kann je nach Anforderung und mit Fokus auf Handlungsfelder (siehe DIN SPEC 91387) wie Mobilität, Energie oder Versorgung und durch Verknüpfung der verschiedenen Daten aus unterschiedlichen Blickwinkeln, z. B. Ober- oder unterirdisch, betrachtet werden. Die Visualisierung der verknüpften Daten kann nun nicht nur für eine verbesserte Quartiers- (siehe DIN SPEC 91397) oder Stadtplanung, sondern auch für viele weitere Nutzungsszenarien genutzt werden – z. B. bei der kommunalen Verwaltung oder für Simulationen unter anderem im Versorgungsbereich. Die DIN SPEC soll dabei helfen, einen ganzheitlichen Blick auf das kommunale Ökosystem – gekoppelt mit einer Darstellung für die

Einsatzvielfalt des digitalen Zwillings In Herrenberg haben Sensornetzwerke und andere digitale Werkzeuge Datensätze gesammelt, um Luftqualität, Verkehrsfluss und Fußgängerströme im digitalen Zwilling sichtbar zu

Nachhaltigkeitsraute: ökologisch, sozial, ökonomisch und technisch Der digitale Zwilling fußt auf den unterschiedlichsten kommunalen Daten wie Sensordaten der kommunalen Infrastruktur (siehe DIN SPEC 91347) einer intelligenten Kommune, Verwaltungsdaten oder Daten der verschiedenen kommunalen Handlungsfelder. Diese werden in einer offenen, Standard-basierten urbanen Datenplattform in einem System von Systemen zusammengeführt (siehe DIN SPEC 91357). Dabei soll der nationale Standard nicht nur die technische Seite einer Nachhaltigkeitsraute abbilden, sondern auch ökologische, soziale und ökonomische Themen wie die Nachhaltigkeitsziele der Ver-

Virtueller Blick in die Zukunft der Stadt Computermodelle zur Visualisierung kommunaler Entwicklungsprojekte nutzen

Wirksamkeit von Maßnahmen zu prüfen. Eine Verknüpfung mit meteorologischen Modellen zur Verifizierung ist jederzeit möglich.

Laufende Aktualisierung des (BS/Susanne Schreiber) “Was wäre, wenn…?” – diese Frage treibt viele Akteure auf kommunaler Ebene um. Stadtplaner und Gemeinderäte, Behör- digitalen Zwillings

denchefs und Bürgerinitiativen, Projektgruppen und runde Tische bringen gemeinsam Stadtentwicklung voran. Und dabei stoßen sie immer wieder Nur durch aktuelle Daten kann auf ein Problem: Zukunftspläne sind meist abstrakt und wenig anschaulich. Wie aber soll man guten Gewissens Richtungsentscheidungen für die der digitale Zwilling eine korZukunft einer Stadt treffen, von der man sich kein Bild machen kann? Der digitale Zwilling macht Planungsalternativen im virtuellen Raum greifbar rekte Abbildung der jeweiligen und hilft dabei, dieses Dilemma zu lösen. Projekte ermögli-

chen und bleibt attraktiv. Wichtig ist dafür ein Ansprechpartner in der Kommune, der sein FachwisSusanne Schreiber ist die sen einbringt und Baubürgermeisterin der Stadt Herrenberg. die erforderlichen Daten in ZusamFoto: BS/Stadt Herrenberg menarbeit mit den Fachämtern und den Schnittstellen der Uni Stuttgart Baumstandorte oder Blumen- und des Höchstleistungszentkästen Sensoren, damit diese rums ständig einpflegt und aufDaten ebenfalls für den digitalen bereitet. Zwilling zur Verfügung stehen.

Vom digitalen Zwilling profitieren Die Stadtverwaltung Herrenberg hat sich 2016 für den digitalen Zwilling entschieden, als sich größere städtebauliche Entwicklungspotenziale in der Kernstadt abzeichneten. Mit dem Höchstleistungszentrum der Uni Stuttgart (HLRS) wurden in Herrenberg durch das Forschungs- und Kooperationsprojekt verschiedene digitale Ansätze eröffnet, um die Auswirkung von stadtplanerischen Entscheidungen transparent zu machen. Drei Jahre später konnte die Bürgerschaft beim städtischen Neujahrsempfang mit einer 3D-Brille in der sogenannten Cave des HLRS – einem kleinen, abgetrennten Raum, der unglaubliche Mengen an Daten und Technik beinhaltet, aber räumlich leicht im Foyer der Stadthalle unterkommt – auf virtuelle Wanderschaft durch ein Herrenberg der Zukunft gehen. Gerade für die Jugendbeteiligung beim Thema Mobilitätsplanung brachte dieses Instrument einen spürbaren Mehrwert. Herrenberg gehört mit Stuttgart bislang zu den einzigen Modellkommunen. Weitere Referenzprojekte werden derzeit angegangen.

technische Umsetzung in Form einer auf Standards basierenden Referenzarchitektur – zu bieten. Diese technische Interoperabilität soll die Bildung eines technischen Flickenteppichs sowie System- oder Herstellerabhängigkeiten vermeiden.

einten Nationen, Planungsprozesse mit Bürgerbeteiligung oder Betreiber- und Geschäftsmodelle im Sinne einer nachhaltigen Kreislauflogik und Wirksamkeit integrieren. Ein Reifegradmodell soll unter Berücksichtigung verschiedener Parameter und der Gruppierung von Nutzungsszenarien entwickelt werden, um anderen Städten und Kommunen bei der Entwicklung ihrer digitalen Zwillinge als Orientierungshilfe zu dienen. Technologisch soll dies in eine Art modularen Baukasten überführt werden. Die geplante DIN SPEC 91607 beschreibt damit eine übergreifende Architektur für den digitalen Zwilling für Städte und Kommunen und soll auch international nutzbar sein. Ein Abgleich mit dem Stand der oben genannten europäischen und internationalen Standardisierungsaktivitäten zum digitalen Zwilling findet parallel zur Erstellung der DIN SPEC statt. Die geplante englischsprachige Übersetzung kann daher auch international verwendet werden. Initiiert wurde der geplante nationale Standard durch das BMI-geförderte Projekt “Connected Urban Twins” der Städte Hamburg, Leipzig, München und die msg systems ag. Mehr Informationen zur DIN SPEC 91607 sind unter dem folgenden Link verfügbar: https:// www.din.de/de/forschung-undinnovation/themen/smart-cities/ aktuelles/der-digitale-zwillingfuer-staedte-und-kommunenkommt--859000 .

Digitale Datenströme in Herrenberg

Foto: BS/HLRS

So sieht es innerhalb der Cave des HLRS mit der Präsentation von Herrenberg aus.

Foto: BS/HLRS

machen. Auch die Ausbreitung von Emissionen lässt sich im dreidimensionalen Raum, also im Stadtraum, erstellen. Das Höchstleistungszentrum Stuttgart hat hierfür eine App entwickelt, die von Jugendlichen mit

sämtlichen Daten befüllt wurde. Die Jugendlichen konnten mit der App Daten sammeln, ihre Stimmungen an unterschiedlichen Plätzen beschreiben und mitteilen, wie sie die Situation empfunden haben. Zusätzlich

konnte die App mit Geräuschen oder Bildmaterial befüllt werden. Diese Informationen wurden über den digitalen Zwilling anschaulich und verständlich dargestellt. Kontinuierlich erhalten die Herrenberger Mülleimer,

Anstehende Projekte

Wichtiges Instrument für Partizipation

Der digitale Zwilling soll insbesondere bei der Überarbeitung der Gestaltungsrichtlinie im Rahmen des vom Bund geförderten Rahmenkonzepts Altstadt eingesetzt werden. Bei diesem Projekt können beispielsweise die Visualisierungen der veränderten Fassaden oder eine potenzielle PV-Pflicht auf Dächern der Bürgerschaft dargestellt werden. Der digitale Zwilling ist für die Stadt Herrenberg auch ein wichtiges Hilfsmittel zur Planung von Klimaanpassungsmaßnahmen und für das vorausschauende Warnmanagement bzgl. signifikanter Wetterereignisse wie Hitzebelastung oder Flutereignissen. Mit Referenzwetterstationen lässt sich ein 3D-Abbild der Hitze- und Kältebelastung, der Luftfeuchtigkeit und weiterer Parameter wie Wind oder Regenmengen im Kernstadtbereich erstellen. Die Information kann zur Planung von Grünflächen, Bäumen, Wasserflächen und Brunnen oder zur Warnung der Bevölkerung genutzt werden. Das Konzept ist beliebig skalierbar, das Messnetz soll mittelfristig in weitere Bereiche der Stadt Herrenberg ausgedehnt werten. Das Messnetz erlaubt es, die

Für die Mitmachstadt Herrenberg bietet der digitale Zwilling in Sachen Beteiligung einen echten Mehrwert. Die Visualisierung trägt dazu bei, komplexe Sachverhalte überschaubar darzustellen und abstrakte Konzepte greifbar zu machen. Viele Planungsprozesse erleben das sogenannte Beteiligungsparadoxon. Das Interesse an Beteiligung wird demnach immer größer, je weiter die Planungen vorangeschritten sind und je konkreter und anschaulicher die Themen werden. Leider ist zu diesem Zeitpunkt aber auch der Gestaltungs- und Einflussspielraum am geringsten und es kommt zu Widerständen. Die Stärken einer digitalen Mitmachstadt, die Instrumente wie den digitalen Zwilling einsetzt, liegen genau hier: in der Unterstützung frühzeitiger und informeller Beteiligungsformate, die im besten Fall für Transparenz und Akzeptanz sorgen. Lassen Sie sich vom digitalen Zwilling inspirieren und nutzen Sie die Chance der digitalen Weiterentwicklung in ihren Kommunen. Dazu möchte ich Sie ermutigen und stehe als Gesprächspartnerin für interessierte Kommunen gerne zur Verfügung.


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