Europäischer Polizeikongress
Behörden Spiegel / Juni 2022
“D
ie ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stimmt der republikanischen rechtsstaatlichen Demokratie zu”, stellte Joachim Herrmann (CSU), bayerischer Innenminister, zunächst einmal auf dem Europäischen Polizeikongress klar. Viele Radikale hätten die Corona-Politik als Aufhänger für ihre Ablehnung des Staates genommen. Besonders die sogenannten Corona-Spaziergänge, die vor allem seit dem Dezember des vergangenen Jahres Auftrieb bekommen hätten, hätten die diskutierte Impfpflicht als Punkt des Anstoßes genommen. Diese “Spaziergänge” seien eine große Herausforderung gewesen, weil diese komplett unerwartet gekommen seien, sagt der Innenminister Brandenburgs, Michael Stübgen (CDU). Nach seinen Beobachtungen seien viele Bürgerliche unter den Demonstranten gewesen. “Das letzte Mal, dass die demonstrieren waren, war wahrscheinlich 1989”, sagt Stübgen. Ausschlaggebende Gründe sieht der Brandenburger im Dauerstress durch die Corona-Maßnahmen, die seiner Meinung nach manchmal nicht nachvollziehbar waren, in den Lockdowns und der Impfpflicht. Ein derartiges Demonstrationsaufkommen könne es jederzeit wieder geben. “Es war großer Unfug, dass die Corona-Demonstrationen nur aus Rechten bestanden”, bestätigt Hermann die Beobachtungen seines Kollegen. Auch in Bayern habe es keinen monolithischen Block gegeben. Dennoch gebe es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland.
Sicherheitsbehörden im Dauerstress Umgang mit Radikalisierungen in der Gesellschaft
Verschiedene Vorstellungen Neben dieser unterschiedlichen Datenqualität erschwerten zudem die unterschiedlichen Vorstellungen, wie ein Datenhaus aufgebaut werden müsse, eine zielgerichtete Auswertung, zeigt
nicht mehr entwaffnen, weil er ein Reichsbürger ist. Wir müssen erst mal beweisen, dass er eine Gefahr ist”, kritisiert der Bayer.
Uneinigkeit über Europol
(BS/Bennet Klawon/Benjamin Hilbricht) Ob nun Corona-Pandemie, wirtschaftliche Unsicherheiten oder Ukraine-Krieg — in den vergangenen zwei Die verschiedenen sicherheitsJahren stand die Gesellschaft unter Dauerstress. Bei einigen Gruppen führte dieser Stress zu einer Radikalisierung. In der Folge stiegen und steigen politischen Herausforderungen immer noch die Anforderungen an die Sicherheitsbehörden in Deutschland. hätten gezeigt, dass eine ZusamAuch mit dem Abflachen des pandemischen Geschehens und dem Auslaufen der Corona-Schutzmaßnahmen würden diese weiter demonstrieren gehen, glaubt Herrmann. Das beherrschende Thema ändere sich derzeit stark. Im Fokus der Demonstrationen sei jetzt vor allem der Ukraine-Krieg mit all seinen Folgen.
Absichten unbekannt Kritisch gesehen wird aber von beiden Ministern, dass politische Gruppierungen und Parteien die Proteste für ihre Ideologie und Zwecke nutzen wollen. “Demonstriere ich gegen ein einzelnes Thema wie zum Beispiel die Impfpflicht? Das ist völlig legitim. Aber benutze ich das Thema nur, um eine andere Ideologie durchzusetzen, wie zum Beispiel die Reichstreue? Das ist dann ein Problem”, sagt Herrmann. Dabei stellt die Reichsbürgerszene ein besonderes Problem dar. “Ehrlich gesagt habe ich das am Anfang nicht ernst genommen. Königstreue gab es in Bayern ja immer. Das ist eher was für den Komödienstadl. Da wird ständig das Grundgesetz falsch zitiert”, so der Minister weiter. Es seien viele “Spinner” dabei und es werde auch (antisemitische) Hetze betrieben. Aber was diese
Wie sollen Polizei und Gesellschaft mit Radikalisierungen umgehen? Dazu sprachen (v.l.n.r.): Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), Uwe Proll (Moderation) und Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU). Foto: BS/Trenkel
letztlich bezwecken wollten, sei unklar. Auch Stübgen steht dem Phänomen etwas ratlos gegenüber: “Viele der Thesen, die hier wiederbelebt werden, gab es schon im Mittelalter.” Auch die Verschwörungstheorien der QAnon-Strömung, welche die Trump-Administration als Instrument zur Wählermobilisierung eingesetzt habe, zählten dazu. Die Verschwörungserzählungen haben sich während der CoronaPandemie auch in Deutschland
verbreitet und bedienen ein ebenso wirres Weltbild. “Warum diesen Quatsch so viele Europäer glauben, das kann ich mir nicht erklären”, zeigt Stübgen sich ungläubig. Beide Unionspolitiker sprechen sich für eine Unvereinbarkeit des Glaubens an Verschwörungstheorien mit einer Tätigkeit im Öffentlichen Dienst aus. “Zur wehrhaften Demokratie gehört, dass wir Reichsbürger oder Ähnliche auf keinen Fall im Öffentlichen Dienst arbeiten lassen
dürfen. Wer bestreitet, dass es diesen Staat überhaupt gibt, der hat überhaupt nichts auf der Payroll des Staates zu suchen”, betont der bayerische Innenminister. Ebenso müssten solchen Personen auch die Waffenlizenzen entzogen werden. Ein Entzug sei jedoch durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerG) schwieriger geworden. “Nach diesem famosen Urteil ist ja nicht mehr ganz klar, dass dieser Reichsbürger einen Mord plant. Deswegen dürfen wir ihn
Die richtigen Fragen stellen
P
rominente Fälle, wie der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, könnten zwar erfolgreich aufgeklärt werden, doch stelle sich im Anschluss die Frage, ob sich solche Fälle nicht verhindern ließen, sagt Andreas Röhrig, Präsident des hessischen Landeskriminalamts (LKA). Viele Daten und Informationen zur Auswertung und Analyse lägen entweder schon bei den Behörden oder könnten durch andere Quellen erschlossen werden. Doch diese Daten hätten häufig unterschiedliche Formate, obwohl sie aus den eigenen Beständen stammten, was ein Zusammenführen erschwere. Oder diese Daten seien “schmutzig”, also ungeordnete Daten, die aus Ermittlungen stammten. All das erschwere eine Verknüpfung und eine automatisierte Auswertung. Derzeit nutzen die Ermittler in Nordrhhein-Westfalen Daten aus 117 Quellen. Die digitalen Spuren finden sich dabei in den Chat-Protokollen von Messangern, den E-Mail-Verläufen, den Bord-Computern von Autos, den Zugangsprotokollen bei Smart Home-Anwendungen oder in den polizeieigenen Beständen. “Es war noch nie so komplex, mit den Daten umzugehen und es wird noch komplexer”, prophezeit Sebastian Pieper, Sales Director bei Cellebrite.
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Auswertung von polizeirelevanten Daten (BS/bk) Die Digitalisierung des Alltags hat massive Folgen für die polizeiliche Arbeit. Die Datenmengen bei der Polizei — vor allem auch bei den Ermittlungen — steigen stetig. Dies kann die Polizeien vor Probleme stellen. Jedoch gibt es auch ungehobene Schätze in dem Datenkonvolut der Behörden und diese können einen Mehrwert bieten. Zum Heben braucht es jedoch eine anwendungsgeleitete Strategie. Scientist werden müsse. Zwar gebe es schon IT-Lösungen wie von Alteryx, die einen Low- und No-Code-Ansatz verfolgten. Die Sachbearbeiter sollten in die Lage versetzt werden, selbst Daten für ihre Zwecke zu nutzen, erklärt Nadine Brehm, Director Enterprise Sales von Alteryx.
Data Literacy steigern
Wie muss die Dateninfrastruktur bei den Polizeien aussehen? Dazu diskutierten (v.l.n.r.): Alexander Wolf, Andreas Röhrig, Dirk Kunze, Dr. Benjamin Karer und Nadine Brehm. Foto: BS/Klawon
sich Dirk Kunze, Leiter des Landesprojekts “Datenbankübergreifende Analyse und Recherche” (DAR) beim Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen und Leiter der Kriminalinspektion eins des Polizeipräsidiums Aachen, überzeugt. Dem kann sich Röhrig anschließen. Er sieht die Digitalisierung als einen Hausbau. In Hessen habe man schon eine gute Statik, dennoch müssten auch die weiteren Ausbauten und die Renovierungen mitgedacht werden. “Haben wir auch den Mut, zu verändern?”, fragt sich in dem Zusammenhang der hessische LKA-Präsident. Zwar gebe es immer wieder Pläne. Diese würden jedoch nur schleppend umge-
setzt werden. Am Ende müsse eine Datenstruktur stehen, die die Polizistinnen und Polizisten befähige, das Datenkonvolut zu analysieren. Geschäftsprozesse müssten dabei als Matrixorganisation gedacht werden. Selbst nach dem Aufbrechen der Silostrukturen der Behörden müssten die Daten eingesammelt werden, um sie beispielsweise den verdächtigen Personen zuzuordnen. Doch damit nicht genug, die Daten müssten aufbereitet und prozessiert werden, erklärt Jens Reumschüssel, Director of Sales DACH von Exterro. Dies bedeutet, dass zum Beispiel Sprachdateien zu Textdateien umgewandelt und Bilder auf verschiedene Elemente, wie Waffen
oder Nummernschilder, durchsucht und diese mit Schlagwörtern versehen werden müssen. Dies brauche enorme Rechenleistung, sagt Serdar Günal Rütsche. Er ist Chef Cyber Crime bei der Kantonspolizei Zürich sowie Leiter des Netzwerks Digitale Ermittlungsunterstützung Internetkriminalität (NEDIK) der Schweizer Polizei. Die Neuerungen müssten zudem auch von der Belegschaft mitgetragen werden. Man brauche Personal, das die Daten auswerten und die Analysetools nutzen könne, sagt Kunze. Dafür müsse das Personal geschult und fortgebildet werden. Dies heiße aber nicht, dass jeder Sachbearbeiter im Polizeidienst Data
Nichtdestotrotz müsse auch die Datenaffinität aller Sachbearbeiter gesteigert werden, fordert Kunze. Ebenso sieht er die heutigen Führungskräfte in der Pflicht, sich in diesem Themenbereich unbedingt weiterzubilden, da die Kompetenz im Bereich der Datenauswertung im bisherigen Karriereweg nicht ausreichend vermittelt werde. Auch Dr. Benjamin Karer, Senior Consultant bei CGI Deutschland, sieht Bedarf zur Steigerung der “Data Literacy”. “Die Polizisten müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen”, sagt Karer. Wenn das nicht passiere, würden auch die besten Daten nicht helfen. Er sieht zudem noch viel Potenzial bei der Datenauswertung durch Streifenpolizisten. Bisher seien die Analyse und die Auswertung von Daten hauptsächlich von den Kriminalpolizeien getrieben. Aber dank Mobile Policing ergäben sich weitere Möglichkeiten. Die Beamtinnen und Beamten könnten durch eine automati-
menarbeit auf europäischer Ebene nötig sei. “Generell gilt: Wir brauchen in vielen Bereichen noch mehr internationale Zusammenarbeit, zum Beispiel im Bereich Kinderpornografie”, sagt Herrmann. Nur über die Konsequenz, die aus dieser Feststellung erwächst, herrscht Uneinigkeit. “In der Tat bin ich nicht dafür, Europol zu einer Art europäischem FBI mit umfangreichen Befugnissen auszubauen.” Man habe in Deutschland ja schon das Bundeskriminalamt (BKA). Er sieht es skeptisch, eine weitere übergeordnete Ebene zu installieren. Europol mit Exekutivbefugnissen auszustatten, sei der falsche Weg. Sein Kollege aus Potsdam hätte damit weniger Probleme. “Da exekutive Befugnisse zu haben, da sehe ich überhaupt kein Problem”, so Stübgen. Bei der Zusammenarbeit mit dem BKA gebe es ja schon Befugnisse. Dabei verweist er auf die Rolle der Behörde bei der Entschlüsselung von Enchrochat. “Nichts von dem würden wir ohne die Beteiligung von Europol hinbekommen. Ich habe mir vorgenommen, das bei Erfolgen immer mit zu nennen, damit die Leute mitbekommen, wie wichtig Europol bei der Verfolgung grenzüberschreitender Kriminalität jetzt schon ist”, erklärt Stübgen.
sierte Abfrage von verfügbaren Datensätzen schon auf der Einsatzfahrt informiert werden und dadurch gegebenenfalls bessere Taktiken einsetzen. Eine bessere Planung auf Grundlage von Datenauswertung verspricht sich auch Alexander Wolf, Senior Berater bei der Disy Informationssysteme GmbH. Gerade viele vorhandene Daten bei den Behörden hätten einen räumlichen und zeitlichen Bezug. Daraus ließe sich eine interaktive und aktuelle Lagedarstellung kreieren. Durch die Aktualität ergebe sich eine bessere Einsatzplanung als aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). “Es gibt heutzutage so viele Möglichkeiten, wie noch nie”, sagt Röhrig. Sie müssten nur effektiv genutzt werden.
Beamte an der Front entlasten Zur Entlastung der polizeilichen IT-Labore könnte ein dezentraler Ansatz beitragen. Durch eine sogenannte “Frontline Forensics” verspricht sich Jörg Majerhofer, Area Sales Manager Germany von MSAB HQ, Abhilfe für die Spezialistinnen und Spezialisten. Die Idee dahinter ist folgende: Mit einer IT-Lösung, die bei kleinen Straftaten zum Einsatz kommt, sollen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort etwa Mobiltelefone auslesen können und nur die Daten sichern, die gebraucht werden. “Wir müssen selektiv rangehen. Wir brauche nicht immer alle Daten “, sagt Majerhofer. Dafür brauche es vordefinierte Fälle und zielgerichtete Vorgaben, wann Frontline Forensics eingesetzt werden könne.