BIORAMA Wien–Berlin

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KOSTENLOS — ABER ABONNIERBAR

P.b.b. — 11Z038861 M — 1040 Wien

ausgabe Wien–Berlin — September 2020. www.biorama.eu

Spezialausgabe: wien–Berlin

Wir Le ben jetzt Bewuss t

PLATZ FÜR DIE BEWOHNERiNNEN

FußgängerInnen- und Radfahrinitiativen können die Prioritäten einer Stadt umkehren. Komfortabel: Der Nachtzug lässt den Weg zwischen den Metropolen im Schlaf vergehen. Preiswert: Sind Biolebensmittel zum Privileg der BesserverdienerInnen verdammt? Gut sortiert: Ein Mallkonzept in Berlin haucht dem Kaufhaus und alten Sachen neues Leben ein.

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ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG

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B io r ama W i e n –B e rl i n

Edito r ia l , Im p r e ssu m

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Editorial

L

ebendiges, internationales, offenes Berlin der Mög­ lichkeiten, das permanent zwischen nonchalanter Unkompliziertheit und exklusiver Gentrifizierung changiert. Behäbiges Wien, wo alles Geschichte atmet, während darauf aufbauend stetig Modernisierung statt­ findet – die funktioniert. Von diesen Images und den manchmal auch hilfreichen Klischees können und wollen sich die beiden Hauptstädte nicht ganz trennen. Sie sind Anziehungspunkte für den in­ ternationalen Zuzug, beeinflussen als urbane Räume aber vor allem ihr Umland weit über die Stadtgrenzen – und eben auch Staatsgrenzen – hinaus. Manche wechseln ihren Lebensmittelpunkt ein Mal, andere öfter zwischen diesen beiden Städten, andere leben dauer­ haft dazwischen; die Strahlkraft der Stadtbilder wirkt aber auch aus der und in die Ferne.

Bild  christoph adamek, Mi chael Mickl

Cov erB ild Istock.co m/sp4rk, Istock.com/A lextype

Diese Schwerpunktausgabe soll, unserem üblichen An­ spruch folgend, kleine Einblicke in vorbildliche Beispie­ le beinhalten: Solche, in denen Berlin und Wien sich gern noch ein wenig aneinander annähern können – ohne dabei ihre Identität und ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Von der Organisation des öffentlichen Verkehrs über Radfahri­ nitiativen und Grünraumerweiterung bis hin zu Anreizen und Kooperationsangeboten für Wirtschaftstreibende, die ganz eigenen Ideen zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Stadt zu verfolgen. Versucht man, in ihre Nachhaltigkeitskonzepte, einzelne Initiativen und Labore einzutauchen, erstaunen – noch mehr als die Parallelen und Unterschiede – die Hebel wie auch Detaillösungen, die auch der anderen Stadt gut stehen würden. Wir wünschen gute Lektüre!

Martin Mühl, Chefredakteur muehl@biorama.eu

Thomas Weber, Herausgeber weber@biorama.eu @th_weber

impressum HERAUSGEBER Thomas Weber CHEFREDAKTEUR Martin Mühl AUTORINNEN Martin Mühl, Jürgen Schmücking, Sascha Walz, Thomas Weber, Irina Zelewitz GESTALTUNG Michael Mickl Lektorat Manuel Fronhofer COVER­MONTAGE Michael Mickl ANZEIGENVERKAUF Micky Klemsch, Thomas Weber, Bernadette Schmatzer DRUCK Walstead NP Druck GmbH, Gutenbergstraße 12, 3100 St. Pölten PRODUKTION & MEDIENINHABERIN Biorama GmbH, Wohllebengasse 16 / 6, 1040 Wien GESCHÄFTSFÜHRUNG Martin Mühl KONTAKT Biorama GmbH, Wohl­ lebengasse 16 / 6, 1040 Wien; www.biorama.eu, redaktion@biorama.eu BANKVERBINDUNG Biorama GmbH, Bank Austria, IBAN AT44 12000 10005177968, BIC BKAUATWW ABONNEMENT siehe Website: www.biorama.eu ERSCHEINUNGSWEISE Unregelmäßig ER­SCHEINUNGSORT Wien. BLATTLINIE biorama ist ein unabhängiges, kritisches Magazin, das sich einem nachhaltigen Lebensstil verschreibt. Die Reportagen, Interviews, Essays und Kolumnen sind in Deutschland, Österreich und der ganzen Welt angesiedelt. Sie zeigen Möglichkeiten für ein Leben mit Qualität für den Menschen und den Planeten Erde. Ohne dabei den Zeigefinger zu erheben. biorama erscheint sechs Mal im Jahr.


Au f ta kt

B io r ama W i e n –B e rl i n

Inhalt

03 Editorial 06 Meine Stadt Wien 08 Meine Stadt Berlin 10 Radverkehr –

das sichtbare Zeichen einer lebenswerten Stadt 16 Copenhagenize Me Städte im Rad-Ranking 18 Was Danubien von Spree­

bewohnerInnen lernen kann Gastbeitrag von Alec Hager

19 Mehr als von »Von A nach B« Öffentlicher Verkehr 22 Offen für Ideen Wie kann eine Stadt nachhaltigere Unternehmen fördern 26 Fisch und Gemüse

in Koproduktion

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Stadtfisch

Biogastronomie

Aquaponikfarmen in Wien und Berlin

Biolebensmittel spielen in der Gastro­ nomie immer noch eine Nebenrolle.

MODAL SPLIT: - 2010 Entwicklung der Verkehrsmittelwahl in Wien 2010 bis 2019

- 2019 -

38%

36% 5%

7%

28%

30%

31%

10

Quelle: Wiener Linien. Modal Split 2019

Anteil der mit dem jeweiligen Verkehrsmittel zurückgelegten Wege

25%

Wien

- 2013 -

ÖFFIS

Entwicklung der Verkehrsmittelwahl in Berlin 2013 bis 2018

ÖFFIS

13%

18%

FAHRRAD

31%

PKW

30%

Argumente«

Interview mit Markus Hanzer 43 Friedhof Was verraten die Friedhöfe darüber, welche Rolle der Tod im Leben der Stadt spielt?

ist leistbar

27%

ZU-FUß-GEHEN

40 »Symbole sind keine

48 Nachhaltige Ernährung

- 2018 -

27%

FAHRRAD

38 Zeichen der Zeit Ampelmann, -frau und -pärchen

Sophia Hoffmann im Interview 52 Wir müssen reden! Ein Biobauer sucht das Gespräch mit der Gastronomie

30%

ZU-FUß-GEHEN

56 Clean Berlin Biogastronomie in Berlin

26%

PKW

58 Große Bandbreite,

Berlin Angabe in Prozent, Werte gerundet. Werte über 100 rundungsbedingt.

Radverkehr – das sichtbare Zeichen einer lebenswerten Stadt Die beiden Hauptstädte arbeiten daran FußgängerInnen und RadfahrerInnen mehr Platz einzuräumen.

kleine Auswahl

Biogastronomie in Wien 59 Nochmall Reuse-Objekte und Upgecyceltes 64 Vier Dicke Bs für Genuss:

Bestes Biobier Berlin Biobier aus Berlin

65 Update für die

Heurigenkultur Weinstadt Wien

66 Aus dem Verlag

Bild B lue n G mbH, Livi n Farms, POV. at , Sas cha Wa lz

26

Aquaponik in Berlin und Wien 32 Nur noch einmal schlafen Im Nachtzug von Wien nach Berlin


Gerechtigkeit lässt nicht nach. Besonders in Krisenzeiten braucht es jemanden, der darauf schaut, dass es gerecht zugeht. Jetzt geht es darum, Österreich neu zu starten und die Menschen, die täglich daran mitarbeiten, zu stärken. Für sie setzt sich die Arbeiterkammer mit aller Kraft ein. Vor der Krise, während der Krise und auch nach der Krise.

ARBEITERKAMMER.AT/NEUSTARTEN

#FÜRIMMER


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Me ine Sta dt

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MEINE STADT:

Wien

Lieblingsplätze und Eco-Hotspots Text

Katrin Vohland

Katrin Vohland ist seit Juni 2020 General­direktorin und wissenschaftliche Geschäfts­ führerin des Natur­historischen Museums Wien. Die studierte Biologin hat sich zuletzt in ihrer Forschungstätig­ keit im Museum für Naturkunde Berlin einen Namen als CitizenScience-Expertin und in der Bio­ diversitätsforschung gemacht. Die gebürtige Hamburgerin lebte zuletzt in Potsdam und konnte in Wien in nur drei Monaten einige Lieblings­plätze­für sich ausfindig machen.

1. Ampelfrei an den Arbeitsplatz

Die historischen Mauerbögen der alten Stadtbahn des Jahrhundertwende-­ Architekten Otto Wagner, ein Verkehrsbauwerk und selbstverständlicher Bestandteil des Wiener Alltagslebens, dessen Einzigartigkeit man sich im­ mer wieder in Erinnerung rufen muss, haben eine neue, noch klimafreund­ lichere Nutzung als Radweg Spittelau gefunden. Mit dem Fahrrad kommt man vom 18. Bezirk gemütlich und recht ampelfrei an den Donaukanal, vor­ bei an der Müllverbrennungsanlage, gestaltet vom Menschenfreund Frie­ densreich Hundertwasser, der sich sein ganzes Leben lang intensiv mit na­ turverbundenem, menschengerechterem Bauen und Wohnen beschäftigte. Am rechten Flusslauf entlang radelt man quer durch die City bis zur Wiener Ringstraße und erreicht rasch das Naturhistorische Museum Wien.

»Asien beginnt im Südosten Wiens«, soll Fürst Metternich, Staatsmann im Dienste der HabsburgerInnen­behauptet haben. Im Orientsaal des Welt­museums spiegeln Alltagsge­ genstände die handelspolitische und kulturelle Ausrichtung Wiens auf den unmittelbar angren­ zenden Orient wider. Erinnerungsstücke und Lebensgeschichten erzählen von den facetten­ reichen Begegnungen zwischen Wien und dem Morgenland, vom Biedermeier bis zum Anbruch des 20. Jahrhunderts. Da kann man einfach sitzen und denken! weltmuseum.at

dokumentat ion IRINA KU BADINOW

2. Weltmuseum zwischen Abend- und Morgenland


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3. Rauf zur Rieglerhütte

Mitten im Wienerwald gelegen ist die Rieglerhütte, seit 1850 ein Ausflugslokal für WienerInnen und hat in Potsdam schon durch meine Vorbereitung auf Wien mit den »Vorstadt­weibern« Bekannt­ heit erlangt. Erreichbar über einen zwei Kilometer langen Fuß­ weg von der Karl-Bekehrty-Straße im 14. Bezirk, erwartet einen ein schöner Gastgarten mit Kinderspielplatz, ein Fußballplatz und ein Reitstall zum Ponyreiten nebenan. Im einzigartigen Gasthaus, seit fünf Generation im Besitz der Familie Prilisauer, werden lokale Spezialitäten wie Hütteldorfer Bräu und hauseigene Limonaden serviert. Nicht bio-zertifiziert. rieglerhuette.at

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Bild Katrin Vohland, KHM Mus eums verband, Wie ne r Tafel, i stock.co m/Ra i ner Lesn iewski , NH M W ien, Ch. Rittmannsperger

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4. Wiener Tafel rettet Lebensmittel

Neu ist das Große Tafelhaus der Wiener Tafel am Großmarkt Wien. Die Organisation setzt ein starkes Zeichen gegen Armut, Hunger und Lebensmittelverschwendung. Sie versorgt rund 19.000 Menschen mit noch genusstauglichen Lebensmitteln. Die Coronakrise hat gezeigt, wie schnell Menschen in Not ge­ raten können. Daher kann garnicht stark genug betont werden, wie wichtig der Einsatz von Organisationen wie der Wiener Tafel ist, die sich tagtäglich um sozial benachteiligte Menschen kümmert und dabei auch noch tonnenweise Lebensmittel rettet. wienertafel.at Den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung widmet das nhm Wien die Ausstellung »Ablaufdatum. Wenn aus Lebensmitteln Müll wird« (von 19. 11. 2020 bis 4. 6. 2021).


Me ine Sta dt

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MEINE STADT:

Berlin

Lieblingsplätze und Eco-Hotspots Text

Benjamin Sterbenz

1. Supermarché

Mittlerweile hat fast jede Modekette nachhaltige Kleidung im Sortiment. Trotzdem radle ich weiterhin regelmäßig nach Kreuzberg, um mich im Supermarché mit T-Shirts, Hosen, Badehosen, Socken und Pullis einzu­ decken. Die Sachen kommen aus nachhaltiger Produktion, das Personal ist besonders freundlich. Statt Überfluss gibt es ein gut ausgewähltes Sorti­ ment. Praktisch: Gleich nebenan, gibt’s mit Original Unverpackt einen Lebensmittelshop, der Heimweh nach der Wiener Maß-Greislerei weckt.

3. Fähre F24

Ein Ruderboot als Öffi: Ökologischer und persön­ licher geht Nahverkehr nicht. Bei Rahnsdorf löst man eine Kurzstrecke und wird vom bvg-Fährmann über die Müggelspree gerudert. Ob Fahrräder mit­ genommen werden dürfen, entscheidet die Berliner Schnauze je nach Laune – ich durfte. Das Vergnügen dauert kaum fünf Minuten und ist sinnbildlich für das widersprüchliche Großstadtdorf Berlin.

Bild Istock.co m/Ma xge r

Benjamin Sterbenz Geboren und aufgewachsen in Wien, arbeitet Benjamin Sterbenz seit 7,5 Jahren in Berlin. Er ist Journalist und für den Job als Chefredakteur und Geschäftsführer zu Golem.de in die deutsche Hauptstadt gewechselt. Er isst vegetarisch, sehr oft vegan und schätzt auf Nachhaltigkeit und Fairness ausgelegte Produkte und Systeme.


2. Prinzessinnengärten

Als unser Büro noch um die Ecke lag, war im Sommer einmal pro Woche Mittag in den Prinzessinnengärten angesagt. Es gibt eine Speise, deren Zutaten oft aus dem Gemeinschaftsgarten stammen. Personal und Kundschaft sind so, wie man sich ein alternatives Berlin vorstellt, weshalb sich vermehrt TouristInnen druntermi­ schen. Der entspannten Atmosphäre tut das aber keinen Abbruch.

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Bild  Gab Kies s, Flickr/Ingol f, FlickR rosa lux-stiftung , Von Bo onekamp - Eig en es Werk , CC BY 3.0

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4. Nord-Süd-Weg

Berlin kann man sehr gut zu Fuß erschließen: 20 grüne Hauptwege sind von der Stadt ausgeschildert und bieten teils sehr lange Routen durch alle Ecken der Stadt. Ich bin nahezu alle davon abgegangen, einige haben es ins Wochenend­spaziergangRepertoire geschafft. Wem das nicht nach­ haltig genug ist, sei im Speziellen Weg Num­ mer fünf empfohlen: Auf dem Nord-Süd-Weg kommt man bei Mariendorf an einer riesigen Solaranlage vorbei, deren Fläche von Schafen in Stand gehalten wird. Idyllisch.

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Ra dve r keh r

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Radverkehr –

das sichtbare Zeichen einer lebenswerten Stadt Text Martin Mühl

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und 1,25 Millionen Radfahrende wur­ den im Juli 2020 vom vcö – Mobilität mit Zukunft an den 13 Radverkehrszähl­ stellen in Wien gemessen, um rund 17,9 Prozent mehr als im Juli des Vorjahres. Zehn der 13 Zählstellen erreichten dabei den jeweils höchsten Juli-Wert seit Beginn der Zählungen. Keine Frage: Radfahren ist in der Stadt ein Thema – und hat im letzten halben Jahr durch Corona noch mehr Aufmerksam­ keit bekommen. Immer mehr meiden, wenn möglich, den öffentlichen Verkehr und stei­ gen auf das Rad um. Außerdem wird in Wien Anfang Oktober gewählt und es gibt allerlei Vorschläge und Versprechen für verschiede­ ne Zielgruppen, so eben auch für die Radfah­ rerInnen. Die Strategien der Parteien sind nur teilweise eindeutig und es kann schon mal vorkommen, dass die Forderungen einer

Radfahrinitiative sich wenig verändert im Programm einer Partei wiederfinden, wäh­ rend es sich dieselbe Partei nicht erlauben kann, die AutofahrerInnen komplett zu ver­ grämen. Umweltschutz und damit auch Rad­ fahren bekommen in diesem Wahlkampf eine erwartbar größere Rolle zugeschrieben. Die­ se Aufmerksamkeit nutzen auch Radfahr- und Umweltinitiativen.

Nachrang für den Autoverkehr Ein beachtenswerter Erfolg ist in den letzten Jahren der Radfahrlobby in Berlin gelungen: Im Mobilitätsgesetz der Stadt aus dem Jahr 2018 wurde dem jahrelangen Drängen von Ak­ tivistInnen nachgegeben und festgelegt, dass Verkehrsentscheidungen und Maßnahmen künftig den öffentlichen Verkehr, Fußgänger­ Innen und RadfahrerInnen gegenüber dem

Bild  Platz fü r Wie n/Pet er Provaznik; Mobili täts age ntur Wi en/Regi na Hügli

Wer in eine fremde Stadt kommt, entwickelt innerhalb kürzester Zeit ein erstes Gefühl für die Umgebung. Gibt es viele RadfahrerInnen, so fühlt sich diese moderner, offener und lebenswerter an – auch für Nicht-Radfahrende. Wien und Berlin arbeiten daran.


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Eine von »Platz für Wien« organisierte Kreuzungssperre weist auf unsichere Stellen für den Fuß- und Radverkehr hin.

Autoverkehr zu bevorzugen haben. Die Wei­ terentwicklung soll ein stadt-, umwelt-, sozi­ al- sowie klimaverträglich ausgestaltetes, si­ cheres und barrierefreies Verkehrssystem er­ möglichen. Festgeschrieben sind damit unter anderem der Aufbau eines Radwegenetzes und von Radschnellwegen sowie der Bau von zusätzlichen Fahrradabstellplätzen. Das Mo­ bilitätsgesetz wurde ursprünglich durch die Initiative »Volksentscheid Fahrrad« des Netz­ werks Lebenswerte Stadt e. V. gefordert – aus der Initiative ging in der Zwischenzeit der Verein Changing Cities hervor, der eine men­ schenfreundliche Stadt in den Mittelpunkt rückt. 600 Millionen Euro will Berlin bis 2030 insgesamt in den Ausbau der Radinfrastruktur und die Förderung des Radverkehrs stecken.

Ein Ziel: Keine Verkehrstoten Ragnhild Sørensen, Pressesprecherin von Changing Cities, nennt drei Kernpunkte des Gesetzes: »Erstens: der Vorrang des Fuß-, Radund öffentlichen Nahverkehr. Der stellt bishe­ rige Mobilitätsplanungen auf den Kopf – der motorisierte Individualverkehr ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Zweitens: Das Ziel Vision Zero – also null Verkehrstote und Schwerver­ letzte – muss höher priorisiert werden. Und drittens: ein stadtweites Netz für Radfahren­ de mit geschützten Radwegen an Hauptstra­ ßen, ein zusammenhängendes Radnetz auf den Nebenstraßen sowie 100 km Radschnell­ verbindungen, die PendlerInnen zügig in die

Stadt bringen. Für Radfahrende soll es – wie es das ja bereits für den Kfz-Verkehr gibt – ein durchgängiges, sicheres Wegenetz geben.« Wenngleich es aktuell in Berlin auch Kritik an der Stadtregierung gibt, dass die Umset­ zung des Mobilitätsgesetzes zu lange dauere, ist der Schritt, dieses Gesetz so zu beschlie­ ßen, aber einzigartig und motiviert Plattfor­ men und Netzwerke in anderen Städten, eben­ falls einen neuen Fokus in der Stadtplanung zu fordern. Im Juni 2020 wurden übrigens auch in Berlin neue Rekordwerte gemessen: Mehr als 2,3 Millionen RadfahrerInnen haben die 17 automatischen Dauerzählstellen in Berlin in diesem Monat erfasst – ein Zuwachs des Rad­ verkehrs um mehr als 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. »Platz für Wien« nennt sich eine aktuell wichtige Initiative in Wien, die sich in fünf Themenbereichen und mit 18 konkreten For­ derungen »für eine klimagerechte, verkehrs­ sichere Stadt mit hoher Lebensqualität« ein­

»Viele der Forderungen von Platz für Wien decken sich mit politisch beschlos­ senen Zielen der Stadt.« — Martin Blum, Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien und Geschäftsführer der Mobilitätsagentur Wien


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Ra dve r keh r

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»Wäre zumindest eines der von Magistraten erarbeiteten Konzepte ernsthaft angegan­ gen worden, würde Wien im internationalen Vergleich viel besser dastehen.«

— Tomé Hauser, Sprecher zum Thema Radverkehr bei »Platz für Wien«

te Verkehrsinitiative. Zu den Forderungen ge­ hören unter anderem eine durchgängige und sichere Radinfrastruktur mit mehr Radwegen, Fahrradstraßen, Radschnellverbindungen und Radabstellplätzen. Tomé Hauser über die Si­ tuation in Wien: »Wien hat im internationa­ len Vergleich sehr starke Kompetenzen in den Magistraten. Diese haben schon viele gute Strategien und Konzepte erarbeitet und der Politik vorgelegt. Wäre zumindest eines der Konzepte – etwa das Fachkonzept Mobilität – ernsthaft angegangen, sprich mit Zahlen und Fristen hinterlegt worden, würde Wien im in­ ternationalen Vergleich viel besser dastehen.« Stattdessen sieht Hauser einen »Fleckerltep­ pich an Insellösungen, wo jeder Bezirk sich selbst profiliert. Die Politik hat stets aufge­ schoben und auf den guten öffentlichen Ver­ kehr vertröstet. Dieser ist international hoch angesehen und wird von der Politik als Kom­ pensation zur aktiven Mobilität gesehen. Dem ist aber nicht so. Für eine klimagerechte Stadt muss man im multimodalen Umweltverbund – FußgeherInnen, Radverkehr und öffentlicher Verkehr – denken und handeln.« Martin Blum ist Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien und Geschäftsführer der Mobilitätsagentur Wien, deren Aufgabe es ist, die Themen Zu-Fuß-Gehen und Radfah­ ren voranzutreiben. Er sieht die Initiative von

Mahnwachen für bei Unfällen zu Tode gekommene RadfahrerInnen und FußgängerInnen sind Teil der von Changing Cities organsierten Veranstaltungen.

Bild  Platz fü r Wie n/Pet er Provaznik, Changing Ci tites /No rber t Mi cha lke

setzt. Sie lehnt sich an die Volksentscheide in Deutschland an: »Dort sind diese ein recht­ liches Mittel für die Bevölkerung, um direk­ te Forderungen (mit Umsetzungspflicht) an die Politik zu stellen. Übernehmen konnten wir viel von der Vorgehensweise: von der Or­ ganisation im Hintergrund bis zum Aktio­ nismus sind viele wichtige Inputs in unsere Initiative geflossen«, so Tomé Hauser, Spre­ cher zum Thema Radverkehr bei »Platz für Wien«. Ende August 2020 wurde diese Initi­ ative von Vizebürgermeisterin Birgit Hebein, dem vcö und den öbb mit dem Mobilitätspreis 2020 ausgezeichnet. Mehr als 34.000 Men­ schen haben die Forderungen der Initiative bereits mit ihrer Unterschrift unterstützt und »Platz für Wien« ist damit Wiens bisher größ­


13 »Platz für Wien« positiv: »Viele der Forderun­ gen von ›Platz für Wien‹ decken sich mit poli­ tisch beschlossenen Zielen der Stadt. Die ak­ tuelle Platzverteilung auf vielen Straßen mit Parkspuren ist für uns so gewohnt, dass es manchmal schwerfällt, sich vorzustellen, dass es auch ganz anders möglich wäre. Mit einigen Begegnungszonen und Radwegen sind in den letzten Jahren positive Veränderungen gelun­ gen. Ich bin zuversichtlich, dass die Initiative dabei hilft, die ambitionierten Ziele der Stadt rascher zu erreichen.«

Fehlerverzeihende Infrastruktur Zu den zentralen Anliegen der RadfahrerIn­ nen aller Städte gehört ihre Sicherheit. In Wien sank die Zahl der Verkehrstoten 2019 auf elf, darunter keine RadfahrerInnen. In Berlin gab es heuer mindestens einen Ver­ kehrsunfall mit Todesfolge pro Woche, da­ runter auch RadfahrerInnen. »Die Zahl der getöteten Radfahrenden steigt. Das liegt zum einen daran, dass es mehr Radfahrende gibt, aber es gibt auch mehr Kfz-Verkehr. Was es nicht mehr gibt, ist Platz. Mehr Sicherheit für Radfahrende heißt Umverteilung des vorhan­ denen Raumes, und dies kann nur zu Lasten des Kfz-Verkehrs gehen, der im Moment etwa 60 Prozent des öffentlichen städtischen Rau­ mes beansprucht«, erklärt Ragnhild Sørensen die Forderung von Changing Cities, die auch die Initiative »Platz für Wien« teilt. Dabei gilt eine Trennung der Verkehrsarten als der bei Weitem beste Weg zu mehr Sicher­ heit. Dies gilt ganz besonders für die Kreuzun­ gen, an denen besonders viele Unfälle passie­ ren – und die nicht nur in Deutschland meist grundsätzlich den Kfz-Verkehr bevorzugen. Auch hier gibt es eine Reihe an Vorschlägen für bauliche Maßnahmen zur Verbesserung. »Platz für Wien« nennt hier fuß- und rad­ freundliche Ampelschaltungen und getrenn­ te Signale für Kfz- beziehungsweise Fuß- und Radverkehr oder auch sichere Querungs­ möglichkeiten über Hauptstraßen. Changing Cities fordert unter anderem kleine Verkehr­ sinseln, die Rad- von Autoverkehr trennen und den Kfz-Verkehr beim Abbiegen verlang­ samen, Warteräume, die Sichtbeziehungen verbessern, und Querungswege für den Radund Fußverkehr, die zurückversetzt sind: »Das Prinzip heißt fehlerverzeihende Infra­

»Mehr Sicherheit für Radfah­ rende heißt Umverteilung des vorhandenen Raumes zu Lasten des Kfz-Verkehrs.« — Ragnhild Sørensen, Pressesprecherin von Changing Cities

struktur. Menschen machen Fehler, aber die Infrastruktur ist so gebaut, dass sie Fehler wie zu hohes Tempo entschärft – etwa durch Bo­ denwellen. Auch Kreisverkehre ohne Licht­ signalanlagen nach dem holländischen Prin­ zip bieten Sicherheit, hier ist die gegenseitige Rücksichtnahme und Wahrnehmung quasi in die Infrastruktur eingebaut«, erläutert Søren­ sen die Vorschläge. »Wenn multimodal – also mehrere Mög­ lichkeiten des Verkehrs mitdenkend – ge­ plant wird, schließen sich Lücken, die sonst nur durch großen Aufwand geschlossen wer­ den können«, spricht sich Tomè Hauser für eine gemeinsame Planung aus und ergänzt zum Thema Sicherheit: »Dabei darf man nie die kleinste Einheit in einer Stadt vergessen: ein Kind. Fühlt sich ein Kind in einer Straße wohl, fühlen sich alle wohl.« Selbst begeister­ te VielradlerInnen werden in Wien vorsichtig, wenn es darum geht, dass ihre Kinder in der Stadt Rad fahren. Martin Blum ist überzeugt, dass hier auch Fortbildung hilft: »Radfahren in Wien ist eine sichere Form der Fortbewe­ gung, wie Unfalldaten zeigen. Es wird aber oft nicht so empfunden, und noch immer sind vie­ le Straßen so gestaltet, dass sie ganze Bevölke­ rungsgruppen vom Radeln fernhalten. Da gilt es anzusetzen. Mit Radkursen tragen wir dazu bei, dass sich Kinder, Frauen und SeniorInnen fit für den Straßenverkehr fühlen.«

Permanent Pop-up Sowohl Berlin als auch Wien haben im ers­ ten Halbjahr 2020, in dem der Verkehr allge­ mein durch den Aufruf, Wohnung und Arbeit nur in dringenden Fällen zu verlassen, weni­ ger wurde, sogenannte Pop-up-Radwege ins­ talliert – sie scheinen in Berlin besser ange­ nommen zu werden. Der entscheidende Vor­ teil in Berlin sei, dass die Pop-up-Radstreifen


Ra dve r keh r

MODAL SPLIT:

14 - 2010 Entwicklung der Verkehrsmittelwahl in Wien 2010 bis 2019

Anteil der mit dem jeweiligen Verkehrsmittel zurückgelegten Wege

- 2019 -

38%

36% 5%

7%

28%

30%

31%

25%

- 2013 -

ÖFFIS

Entwicklung der Verkehrsmittelwahl in Berlin 2013 bis 2018

27%

ÖFFIS

13%

18%

FAHRRAD

31% ZU-FUß-GEHEN

30%

Wien Quelle: Wiener Linien. Modal Split 2019

27%

FAHRRAD

PKW

- 2018 -

30%

ZU-FUß-GEHEN

26%

PKW

Berlin Angabe in Prozent, Werte gerundet. Werte über 100 rundungsbedingt.

nicht temporär sind, erklärt Sørensen die allgemeine Stimmung. »Sie heißen zwar so, aber das Temporäre bezieht sich nur auf die Bauart, sie werden im Laufe der Zeit verstetigt. Das Mobi­ litätsgesetz schreibt bis 2030 die Er­ richtung von geschützten Radwegen auf Hauptstraßen vor und hier wur­ den sie angelegt. Wichtig ist auch, dass sie über eine längere Strecke angeord­ net wurden: 100 Meter geben keine Si­ cherheit und überzeugen nicht Men­ schen, die sich im Verkehr unsicher fühlen.« Sørensen ergänzt: »Wichtig war auch die Anordnung von Liefer­ zonen, sodass dem Wirtschaftsver­ kehr Platz zugewiesen wurde. Paral­ lel standen wir in Kontakt zum öpnv, damit wir uns gegenseitig unterstüt­ zen konnten und nicht gegeneinander ausgespielt wurden. Die Errichtung der Pop-up-Bikelanes fand in enger Absprache zwischen Verwaltung und uns statt; auch das hat zum Erfolg bei­ getragen.« In Wien scheint die Wie­ derauflassung der Pop-up-Radwege beschlossene Sache. Sowohl für Changing Cities als auch »Platz für Wien« ist Radfahren nur ein Beispiel für Bestrebungen in Richtung einer Lebenswerten Stadt. Es geht ge­ nauso um FußgängerInnen und den öffentlichen Verkehr und letztlich um

mehr als Mobilität. Sørensen: »Das Fahrrad ist ein hervorragendes politisches Vehikel, um die Verkehrswende anzustoßen. Wir sehen, dass die BürgerInnen in den Städten sich eine an­ dere Verteilung des öffentlichen Raumes wün­ schen; sie sind der Verwaltung und der Politik in diesem Punkt oft weit voraus. Wir nennen es Verkehrswende von unten.« Auch für Martin Blum sind Investitionen in die Radinfrastruktur eine Klimaschutzmaß­ nahme: »Wir können unseren Planeten nur schützen, wenn wir die klimafreundliche Mo­ bilität stärken. Das Fahrrad ist dafür bestens ge­ eignet, es ist das Null-Emissions-Fahrzeug. In den nächsten Jahren sind wir herausgefordert, unsere Städte so zu gestalten, dass sich alle – von Kindern bis zu SeniorInnen – beim Rad­ fahren sicher fühlen. Dazu benötigt es mehr Radwege an Hauptstraßen und mehr ver­ kehrsberuhigte Städte und Dörfer als bisher.« Es sei wichtig, darauf zu achten, dass auch die künftige Generation radelt: »So wie das Schul­ schwimmen benötigt es eine noch viel stärke­ re Integration des Radfahrens in den Unter­ richt. Dafür spricht auch der enorme Gesund­ heitsnutzen des Radelns im Alltag.« Und auch wenn Mobilität ein lokales Thema ist, so tau­ schen sich die Initiativen doch aus, lernen von erfolgreichen Beispielen und unterstützen sich gegenseitig: »Der Klimawandel und die zu­ nehmende Urbanisierung machen es essenzi­ ell, dass unsere Städte lebenswerter werden«, sagt Sørensen.

Bild Changing Cit ies , Istock.co m/Bo oblgum, Istoc k.c om/Gree ns87

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UnternehmensGrün: Lobby for good Wie organisiert man die politische Stimme der nachhaltigen Wirtschaft? Und was haben die Unternehmen davon?

B e z a h lt e a n ze ig e

Wir sind überzeugt, dass Ökologie, Soziales und Ökonomie zusammen Wir haben nur diese eine Erde. Wir Wirtschaftsgehören. Wir brauchen verbündenein uns auf Ebene, damit funktioniert. wir in system, das innerhalb europäischer der planetaren Grenzen der Politik Nachhaltigkeit voranNoch aber haben wir das nicht... bringen können. Und je mehr wir sind, desto lauter können unsere Daher kämpft UnternehmensGrün, der wir Bundesverband gemeinsamen durchsetzen. der grünen Wirtschaft, seit fast 30Ziele Jahren für bessere poli-

tische Rahmenbedingungen. Gemeinsam setzt sich der parteipolitisch unabhängige Unternehmensverband mit seinen 360 Mitgliedsunternehmen für Umwelt- und Klimaschutz ein. UnternehmensGrün hat beispielhaft dazu beigetragen, ökologische und soziale Nachhaltigkeitsthemen in die politische Diskussion zu bringen, als wichtige Erfolge sind u.a. das eeg, die Agro-Gentechnik-Novelle sowie Erleichterungen für Selbständige und Startups zu nennen. Über seinen europäischen Dachverband Ecopreneur.eu bezieht UnternehmensGrün auch in Brüssel Stellung und koordiniert die Circular Economy Business Plattform. Verbündete zusammenbringen, Bewegungen organisieren – auch das leistet der Verband, zum Beispiel mit den »Entrepreneurs For Future«. Diese Initiative macht deutlich, dass

auch die innovative Wirtschaft mehr Klimaschutz von der Politik einfordert – und gleichzeitig Lösungen aufzeigen kann.

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Copenhagenize me

Alle zwei Jahre wird der Copenhagenize Index veröf­ fentlicht, der 115 Städte bezüg­ lich ihrer Fahrradfreundlich­ keit reiht. 2019 ist Wien auf Platz neun, Berlin auf Platz 15. Text Martin Mühl

Der frühere dänische Blog­ ger Mikael Colville-Andersen prägte den Begriff Copenha­ genize für eine Stadtpla­ nung, die nicht mehr auf das Auto, sondern auf das Fahrrad ausgerichtet ist.

Der Index Über 600 Städte mit min­ destens 600.000 Einwoh­ nerInnen werden alle zwei Jahre untersucht. Städte, in denen mehr als 2% der Wege mit dem Fahrrad zu­ rückgelegt wurden, werden im Details bewertet. Diese 115 Städte bekommen für 13 Kriterien jeweils zwischen 0 und 4 Punkte, sowie mög­ liche Extrapunkte in einer 14. Bonuskategorie für be­ sondere Leistungen. copenhagenizeindex.eu

C

openhagenize Design Co., das Unterneh­ men hinter dem Index, arbeitet als Agen­ tur in den Bereichen Konzept, Projektum­ setzung und Kommunikation für Regio­ nen, Kommunen oder auch Wohnbauprojekte. Der Copenhagenize Index vergibt in 13 Kate­ gorien in drei Gruppen Punkte an die Städte: »Straßenbild« und Radinfrastruktur, »Kultur« mit Punkten für Geschlechtergerechtigkeit, Sicherheit oder auch die Nutzung von Rädern für den Transport und schließlich »Ambiti­ on« mit Wertungen für Stadtplanung oder den Rückhalt aus der Stadtverwaltung. 2019 konnten sich mit Kopenhagen, Amster­ dam und Utrecht wieder drei nordeuropäische Städte die Spitzenplätze im Ranking sichern. Wien liegt auf Platz neun und Berlin auf Platz 15. Wien, das sich im Ranking verbessert hat, wird für seine Initiativen und Kampagnen, die von der Mobilitätsagentur ausgehen, gelobt, etwa für die Förderung von Lastenrädern. Es wird al­ lerdings auch klar herausgestrichen, dass es den Anschein hat, dass es sich dabei um vergleichs­ weise unkoordinierte Einzelaktionen handelt und eine weitere Verbesserung tiefgreifendere Einschnitte und bauliche Infrastruktur im gro­ ßen Stil bräuchte. Lorenz Siegel, der in Wien an der Boku studiert hat, arbeitet für Copenha­ genize an deren Standort in Montreal: »Wien macht seit einigen Jahren vieles richtig im Be­ reich Fahrradplanung, setzt nach und nach an wichtigen Achsen durchaus brauchbare Infra­

struktur ein und kommuniziert das auch groß­ artig auf fahrradwien.at. Aber es reicht nicht, in 30er-Zonen, wie auf der Neustift- oder Burggas­ se, gänzlich auf geschützte Radwege zu verzich­ ten. Das Verkehrsaufkommen mit Bussen und Taxis ist viel zu hoch. Da ist mir sogar ein 50er mit getrenntem Radweg lieber.« Sein Wunsch lautet Planung und Umsetzung eines geschlos­ senen, omnipräsenten Radwegenetzes binnen fünf Jahren. Und zwar eines solchen, das den Straßenabschnitten mit ihren jeweiligen Ver­ kehrsauslastungen und Tempolimits die geeig­ neten Radinfrastrukturen gegenüberstellt. In der Beurteilung von Berlin dominiert das neue Mobiltätsgesetz – und auch das Warten auf dessen Umsetzung. Laut Lorenz werden erst die kommenden Jahre zeigen, wie die neue Radstrategie und die Radschnellverbindungen, die vom dänischen Büro Ramboll geplant wer­ den, dann auch tatsächlich umgesetzt werden. »In Planung ist ja auch eine Fahrrad-Parkplatz­ strategie für alle S-Bahn-Bahnhöfe. Berlin hat auch in den letzten Jahren damit angefangen, mehr und mehr Kfz-Parkplätze zu entfernen – oft einzeln, damit es keiner merkt. Was ich mir wünsche, ist, dass die Radwege, die momentan als rote Streifen auf den Gehwegen verlaufen, durch tatsächlich geschützte und getrennte Infrastruktur ersetzt und nicht als schon vor­ handene Infrastruktur abgehakt werden. Gute Radinfrastruktur tut immer ein bisschen weh – danach geht’s aber allen besser.«

Bild Cope nhagenize De sig n Co .

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Stä dteRa nking


der kultüröffner

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B io r ama W i e n –B e rl i n

Ga stko m m enta r

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Was Danubien von Spree­bewohnerInnen lernen kann

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Alec Hager Die Radvokaten – Büro zur Mobilitätswende

er sich wiederholende subjektive Erstein­ druck, der sich immer wieder beim Ver­ lassen des Nachtzugs am Berliner Haupt­ bahnhof bestätigt, sobald das Faltrad sich entfaltet hat: Man findet sich zurecht. Und ei­ nige Stunden danach merkt man: Der Hintern schmerzt schneller. Das sind zwei relevante Unterschiede im Vergleich Wien–Berlin für AlltagsradlerInnen. Der dritte, relevanteste: der »Volksentscheid Fahrrad«. Um beim Hintern zu beginnen – der ist näm­ lich ein guter Sensor für eine typische Ausfüh­ rung der Berliner Radwege-Infrastruktur, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten errichtet wurde. Nämlich oft auf den Gehsteigen (aust­ riakisch) oder Bürgersteigen (germanisch), wo ja die BürgerInnen gehen sollen. Diese Steige sind in Berlin deutlich breiter als in Wien, was generell auf die Straßenquerschnitte zutrifft, sie sind aber dennoch keine geeigneten Orte für Radwege. Vor allem wenn der Radverkehr­ santeil bei 18 Prozent liegt wie in Berlin und damit fast dreimal so hoch ist wie in Wien mit 7 Prozent. Noch dazu wurden diese Wege in Berlin oft mit Ziegelpflasterung ausgeführt, und deren Befahrung sowie die dabei zu über­ windenden niedrigen Bordsteinkanten füh­ ren zum oben geschilderten Hintern-Effekt. Aber: Das Netz dieser Radwege ist aus Wie­ ner Sicht lückenloser als in der Heimatstadt – auch wenn die Berliner LeserInnen das jetzt

nicht glauben werden. Und sie sind, siehe oben, nachvollziehbarer und besser beschildert. Da stehen Ziele und Kilometerdistanzen in regel­ mäßigem Abstand auf gut lesbaren Schildern, wie es auch der Autoverkehr gewöhnt ist. Das würden wir uns in Wien auch mal wünschen! Wie Wünsche politische Wahrheit werden können, das lässt sich ebenfalls von Berlin lernen, genauer vom »Volksentscheid Fahrrad«, der erfolgreichsten Fahrradinitiative der letzten Jahrzehnte. Ziele formulieren, Radgesetz schreiben, Unterschriften sammeln, Aktionen setzen, öffentliche Meinung ändern und Politik zu einem Mobilitätsgesetz bringen, dessen Umsetzung das Radbudget verzehnfacht und unter anderem auch dazu führt, dass in Berlin die coronabedingten Pop-up-Radwege in relevantem Ausmaß errichtet und mit einem vorbildlichen Handbuch begleitet wurden – und auch als professionell geschützte Radstreifen bleiben werden. Auch das ist in Wien noch nicht denkbar. Aber nachdem auch Initiativen in vielen deutschen Städte den »Volksentscheid Fahrrad« erfolgreich blaugepaust haben, wird auch an der Donau jetzt damit reüssiert. #PlatzFürWien hat gleich noch das Klimathema dazugepackt und will den Verkehrsraum revolutionieren. Dahin ist’s auch in Berlin noch ein weiter Weg: Der Umbau geht für viele zu schleppend voran, aber er wird begonnen.

Bild  MObilität sage nt ur, Pete r Provaznik/Di e Radvo kate n

Gastkommentar von Alec Hager (Die Radvokaten – Büro zur Mobilitätswende, Wien-Koordinator der Plattform »Radkompetenz Österreich«, ehemals Sprecher von Radlobby Österreich)


Bio r ama Wien –B e rl i n

ö f f e ntl ich er ver ke h r

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Mehr als die Summe der Strecken 10 U-Bahn Linien

WIEN

– 153 Kilometer

414 Quadratkilometer Fast 1,9 Millionen Einwohner

22 Straßenbahnlinien – 300 Kilometer

Birkenwerder Oranienburg

Bernau

5 U-Bahn Linien – 83 Kilometer

197 Buslinien (am Tag)

Hennigsdorf

– 1.675 Kilometer Waidmannslust

28 Straßenbahnlinien

Wittenau

B in n

– 220 Kilometer

Wartenberg

Ahrensfelde

Pankow

Osloer Str.

127 Buslinien (inkl. Nightline) Bild  istock.c om/fo ni kum, istock.co m/Pe ace fully 7, iGnlpfth12 - Eig enes We rk, CC BY-SA 4.0 , Von S. Gollin - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

841.993 Abonnenten 2019

Alt-Tegel

Rathaus Spandau Hönow Strausberg Nord Spandau Ruhleben

er B Ber

Hauptbahnhof

1,125 Millionen Fahrgäste 2019

Alexanderplatz

Westend

urg nbur andenbu

Brandenburger Tor

Ostbahnhof Warschauer Str.

– 850 Kilometer

Westkreuz Uhlandstr. Nollendorfplatz

Südkreuz Innsbrucker Platz

852.000 Jahreskarten 2019

Hermannstr.

BERLIN

Rathaus Steglitz

Spindlersfeld

Krumme Lanke

Alt-Mariendorf

891 Quadratkilometer

Erkner

Wannsee

961 Millionen Fahrgäste 2019

n in u denb and Brran B

Fast 3,8 Millionen Einwohner

Grünau Rudow

Teltow Stadt

Potsdam Hbf.

Schönefeld

Flughafen Berlin Brandenburg

Zeuthen

Königs Wusterhausen Blankenfelde

S

owohl in Wien als auch Berlin ist der öf­ fentliche Verkehr überdurchschnittlich attraktiv – und zwar für die Bewohner­ Innen der Städte als auch für ihre Gäs­ te. Sind Wege zu lange, um zu Fuß zurückge­ legt zu werden, und Fahrräder nicht vorhan­ den oder unpraktisch, bewegt man sich ab besten mit U-Bahn, Straßenbahn oder Bus. Als Gast bekommt dabei mitunter auch noch eini­ ges von der Stadt zu sehen. Die in Berlin und Wien fahrenden S-Bahnen sind übrigens nicht Teil der städtischen Verkehrsbetriebe, sondern der jeweiligen Bundesbahnen. Dass der Ausbau des Öffentlichen Verkehrs manchmal soweit im Vordergrund steht, dass die Schaffung von

mehr Raum für FußgängerInnen und Radfah­ rerInnen zum Randthema wird, wird mittler­ weile glücklicherweise diskutiert. In beiden Städten stehen die Verkehrbetrie­ be für mehr als nur die Möglichkeit, sich rasch, vergleichsweise unkompliziert und umwelt­ schonend zu bewegen. Sie sind präsent, ihre FahrerInnen unterhalten mitunter mit ihren Ansagen und sorgen für Gesprächsstoff. Und mit ihrer klassischen Werbung, aber auch der Kommunikation auf Social-Media-Kanälen, unterstützen die Verkehrsbetriebe das Image der Stadt. Hier wird offen gegen Diskriminie­ rung aufgetreten oder auch stolz die Rechte der lgbtqi-Community ins Bild gerückt.

Text Martin Mühl


Unterwegs mit den Greener Linien Grüngleise und blühende Fassaden, natürlich gekühlte Stations­ gebäude und bemooste Öffi-Stationen zur Luftreinigung: Katharina Pucher erklärt, wie die Wiener Linien zu Greener Linien werden.

Entgeltliche Kooperation mit

biorama: Der Klimawandel sorgt in der Stadt für Hitzeinseln, dem wollen die Wiener Linien mit ihren »Greener Linien«- Maßnahmen be­gegnen. Was ist denn am effizientesten? Katharina Pucher: Das hängt total von der Situation vor Ort ab. Für urbane Hitzeinseln gilt: »Auch Kleinvieh macht Mist«, auch kleine Grünflächen sorgen für ein besseres Kleinklima. Wichtig sind auch Verdunstungsflächen. Also kombinieren wir Schattenspen­ der mit Begrünungs- und Verdun­ stungsmaßnahmen. Bei Sanierun­ gen und nötigen Umgestaltungen wird das immer mitgedacht.

Katharina Pucher Die Landschaftsar­ chitektin ist bei den Wiener Linien Objektmanagerin für alle Stationen entlang der U4 und seit 1. Juli 2020 au­ ßerdem Gesamt-Be­ auftragte für »Grüne Infrastruktur«.

Welche Schwierigkeiten sind dabei zu bewältigen? Zunächst darf der Platz für sol­ che Maßnahmen für nichts ande­ res genutzt werden. Der Druck auf die Flächen ist in der Stadt natür­ lich groß. Im Idealfall können wir Pflanzen auf bereits vorhandenem Substrat setzen und kommen auch ohne künstliche Bewässerung aus. Dann sind auch die Erhaltungskos­

ten gering. Bei Vertikalbegrünung geht es nicht ohne Bewäs­ serung. Das bedeutet: Wir brauchen Strom, einen Wasseran­ schluss und eine Nähe zum Kanal, um überschüssiges Was­ ser abzuleiten. Einige Bauwerke der Wiener Linien gehören zum kulturellen Erbe der Stadt. Wie geht man mit denkmal­ geschützten wie den Stadtbahnbögen Otto Wagners um? Die von Otto Wagner gestalteten Stadtbahnbögen werden eher nicht begrünt werden. Bei den anderen Stadtbahnbögen gibt es Überlegungen. Alles wird vom Bundesdenkmalamt begutachtet. Oft ist der fehlende Wasseranschluss ein Pro­ blem und immer stellt sich bei Trögen die Frage: Wer gießt die Blumen im Hochsommer? Was bringt die Summe all dieser Maßnahmen? Die Wiener Linien stellen ja nicht nur Mobilität zur Verfü­ gung, um möglichst viele Menschen vom Auto wegzubekom­ men. Wir steuern auch lokal der Erwärmung entgegen und kümmern uns um die weitere Verbesserung der Lebensquali­ tät. Da wollen wir der Bevölkerung auch ein Vorbild sein und sie im Privaten zu ähnlichen Maßnahmen bewegen. Wien soll die lebenswerteste Stadt bleiben. Wir investieren des­ halb viel in Innovation. Es geht um Schatten, ein angeneh­

Grüne Fassaden und Dä­ cher verbessern das Mikro­ klima, filtern Schadstoffe, verhindern die Bildung von Hitzeinseln, fördern die Bio­diversität und nehmen Regenwasser auf. Wird bei allen Neubauten und Sa­ nierungen mitgedacht.

Bild  Wie ner linie n/m. Hel me r

Entgeltliche Einschaltung

Fassadenbegrünung


mes Kleinklima, Grünraum und Flächen für Biodiversität. Grüngleise lassen sich verhältnismäßig leicht anlegen. Anderes muss erst erprobt werden. Welche Kooperationen gibt es mit der Wissenschaft? Wir investieren viel in Innovation und ha­ ben eine eigene Innovationsabteilung, die mit Start-ups und Universitäten kooperiert – von der boku bis zur TU. In Zukunft wird auch öko­ logische Bauweise eine wichtige Rolle spielen: nachhaltige Rohstoffe, Kreislaufwirtschafts­ management und das Wiederverwenden alter Materialen. Mit global beschränkten Ressour­ cen wird sich das in Zukunft nicht mehr anders ausgehen. Da sind wir auch als Wiener Linien gefordert. Es gibt viele Anfragen und wir prüfen laufend, welche Kooperationen für uns und die Stadt sinnvoll sind. Gibt es ein Projekt, auf das Sie persönlich besonders stolz sind? Mein Baby ist die Vorplatzsanierung in der Spittelau. Dort bin ich auf der Baustelle oft mit meinen Werkmeistern gestanden und hab ge­ sagt: Wenn wir das ohnehin alles sanieren und neu machen müssen, dann gleich richtig zu­ kunftsweisend. Darauf bin ich schon stolz, weil das meine erste große Initiative war und 4.300 m2 komplett saniert werden: Es gibt Elemente zur Beschattung, Begrünung, eine Sprühnebelan­ lage und auch die Photovoltaikanlage spendet Schatten und liefert autark den Strom für die Beleuchtung in der Nacht.

VORPLATZBESCHATTUNG

GrünGleise

Das U4-Stationsgebäude der Spittelau ist nicht nur vertikale Blumenwiese. Auch der Vorplatz wurde begrünt und spendet Schatten. Photo­ voltaikelemente sorgen für Schatten und Strom.

Entlang der Straßenbahnlinien O und D sorgen Grüngleise für ein angenehmes Mikroklima. Nicht versiegelter Boden nimmt Wasser auf und entlastet die Kanalisation bei Starkregen.

Haben Sie auch ein persönliches Wunsch­ projekt für die Zukunft? Eine innen begrünte U-Bahnstation wäre ein Traum. Am Bahnsteig wird das aus Sicher­ heitsgründen nicht möglich sein. Passagen oder Abgänge aber fände ich extrem interessant und innovativ.

Luftreinigung mit Moos

Das aeroSQAIR-Pilotprojekt der Wiener Linien startet im ersten Quartal 2021 am Schottenring. Dabei wird die Luft in U-Bahnstationen durch Moos gefiltert und gereinigt.

Entgeltliche Einschaltung

Wie grün sind die Greener Linien während der Wintermonate? Auch sehr grün. Wir beziehen seit jeher 100% Ökostrom. Aber Photovoltaik zum Bei­ spiel funktioniert im Winter besser als im Som­ mer. Da warten wir im Rahmen eines EU-Pro­ jekts gerade auf Testergebnisse. Im großen Stil investiert wird nur, wenn wir wissen, dass der Effekt passt.


Wir tsch a f tsf ö r der u ng

B io r ama W i e n –B e rl i n

Offen für Ideen

Die Wirtschaftsagentur Wien fördert Unternehmen, Wirtschaft und den Standort Wien. Ihr Geschäftsführer Gerhard Hirczi über die Möglichkeit, dabei nachhaltig zu agieren. Interview Martin Mühl

biorama: Wie kann man als Stadt Unternehmen mit klaren Nachhaltigkeits­ zielen fördern? Gerhard Hirczi : Ganz wichtig ist, dass die Stadt glaubwürdig bleibt, also sichtbar darauf achtet, ein nachhaltiges Lebensumfeld zu schaffen. Das tut Wien. Zum Beispiel mit der 365-Euro-Öffi-Jahreskarte oder einem Solar­ kraftwerk, an dem sich WienerInnen direkt beteiligen können. Als Standortagentur können wir durch kluge Themensetzungen bei der Vergabe von Förd­ ergeld ganz eindeutig Anreize für nachhaltige Projekte schaffen. Aktuell starten wir zum Bei­ spiel einen Lebensmittelschwerpunkt. Hier ist Nachhaltigkeit oberstes Ziel. Wir suchen nach Ideen und Projekten, wie in einer Großstadt

»Als Standortagentur können wir durch kluge Themensetzungen bei der Vergabe von Fördergeld ganz eindeutig Anreize für nachhaltige Projekte schaffen.« — Gerhard Hirczi, Geschäftsführer der Wirtschaftagentur Wien

wie Wien Lebensmittel nachhaltig produziert, verpackt und auch vertrieben werden können. Welche Ziele unterstützt die Stadt hier besonders? Es gibt mit Green Tech, Recycling, Kreislaufwirtschaft, Creative Industries verschiedene Schwerpunkte? Wien sieht das gesamthaft und hat auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit ja schon vor einigen Jahren einen Ehrgeiz entwickelt. Es wird über die Smart City nicht nur geredet, sondern die smarten Ziele haben sich in die Rahmenstrate­ gie der Stadt eingeschrieben. Wir kommen dem also gar nicht mehr aus. Das heißt auch, egal ob wir Produktionsanlagen, Wohnungen oder U-Bahnen bauen, Unternehmen fördern oder Stadtteile entwickeln, wir müssen hier nach­ haltig planen und agieren. Ein wichtiges Ziel für Wien ist die soziale Nachhaltigkeit. Und auch das unterstützen wir im unternehmerischen Umfeld, Stichwort Social Entrepreneurship. Mit den Ansiedelungen in Aspern wie der Industrie-4.0-Pilotfabrik oder Aspern Smart City Research und vielen mehr hat Wien ein Innovationszentrum. Wie können UnternehmerInnen davon profitieren? Die Seestadt Aspern bietet ihnen einzigartige Entwicklungsmöglichkeiten. Neben großen Technologieplayern wie Hoerbiger oder Atos forscht die Pilotfabrik, man trifft auf die inno­

Bild  ASCR/Voge l-AV, Pete r Rigaud, Wirts chafts agentur W ien/Ka rin Hackl

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Bild links: Die Forschungsgesellschaft Aspern Smart City Research erforscht Lösun­ gen für die Energiezukunft im urbanen Raum. Über 100 Personen aus unterschied­ lichen wissenschaftlichen Bereichen betrieben 17 Use Cases von der weiteren in­ telligenten Vernetzung von Gebäuden, Netzen und Märkten, über neue Ansätze der Gebäudeheizung und -kühlung bis zur möglichen Nutzung von E-Autos als künftige Energiespeicher.

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vative Community des European Institute of Technology und auf Technologie-Start-ups, die Großes vorhaben. In unserem Technologiezentrum finden die Unternehmen flexibel Platz – von kleinen Büros bis zu großen Produk­ tions- und Laborflächen. Die Nachfrage ist groß und wir werden daher das Technologiezentrum erweitern. Ein Fokus der Stadt sind produzierende Betriebe. Wie kann man hier auf Nachhaltigkeit setzen? Wie die meisten Städte hat Wien einen Strukturwandel in Richtung Dienstleistungen erlebt. Viele sind überrascht, wenn wir darauf hinweisen, dass in Wien 8.500 Unter­ nehmen mit 135.000 Beschäftigen im produzierenden Bereich arbeiten. Produkte made in Vienna werden in die ganze Welt exportiert. Neue technologische Entwicklun­ gen wie die additive Fertigung, Re- und Upcycling und die Automatisierung von Produktionsprozessen sind Assets für Wien. Wiener Unternehmen punkten am Markt mit hochwertigen, maßgeschneiderten, kreislauffähigen und individualisierbaren Produkten. Es gibt eigene Calls und Förderschienen, aber auch Bonuspunkte für Nachhaltigkeit in Calls mit anderem Schwerpunkt. Wie geöingt der Spagat zwischen Spezialisierung und Breite? Wenn wir Förderwettbewerbe für betriebliche Innova­ tionsprojekte machen, definieren wir einen eher breiten Fokus, sodass wir auch für Ideen offenbleiben, die wir vorher nicht antizipiert haben. Mit den Bewertungskrite­ rien können wir steuern, dass Projektideen, die besonders gut zu den Zielsetzungen der Stadt Wien passen und gleichzeitig besonders hohe Chancen haben, sich im Wettbewerb durchzusetzen. Städte werden nach wie vor immer wichtiger und sind Vorbildregionen, stehen aber auch nicht alleine. Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Bund oder auch dem Wien umgebenden Bundesland Niederös­ terreich organisiert? Mit den Wirtschafts- und Innovationsagenturen des Bundes und den Standortagenturen der anderen Bundesländer sind wir in sehr engem und gutem Aus­ tausch. Nur wenn wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, können wir Österreich zum »Innovation Leader« machen. Wien hat hier als Hauptstadt eine besondere Rolle als »Zugpferd« für die gesamte österreichische Volkswirtschaft.

»Let’s talk Lebensmittel« Die Wirtschaftsagentur Wien sucht Ideen und Projekten, wie in einer Großstadt Lebensmittel nachhaltig produziert, verpackt und auch vertrieben werden können. Nachhaltigkeit, Regionalität, Gesundheit, Versor­ gungssicherheit – alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat, emotionalisiert und ist von gesellschaftli­ cher und ökonomischer Bedeutung. Ab Herbst 2020 gibt es einen neuen Schwerpunkt in der Wirtschaf­ tagentur Wien: Lebensmittel. Sieben Millionen Euro stehen 2020/2021 als Fördersumme für in­ novative Lebensmittelprojekte aus den Bereichen Verarbeitung, Verpackung, Qualitätssicherung, Lo­ gistik, Recycling sowie innovative Gastronomie zur Verfügung. Ab 1. Oktober 2020 gibt es den Förderwettbewerb »Urban Food« für kreative Projekte, ab 10. Dezem­ ber können im Förderwettbewerb »Lebensmittel« Forschungsprojekte eingereicht werden. Darüber hinaus gibt es in sechs anderen Förderprogram­ men (Innovation, Nahversorgung Fokus, Sachgüter, Shared Facilites, Standortinitiative und Creative Pi­ oneer) Boni für Einreichungen mit Lebensmittelbe­ zug. Der Förderschwerpunkt reicht von der Unter­ stützung von Nahversorgungs- und Handwerksun­ ternehmen bis zur Förderung von Forschungs- und Innovationsideen sowie kreativwirtschaftlicher Projekte. Vorab hat die Wirtschaftsagentur mit dem White Paper »Urban Food« und dem »Technologiereport Lebensmittel«, die digital zur Verfügung stehen, umfangreiche Einblicke in die Branche und ihre Trends publiziert. wirtschaftsagentur.at/foerderungen/infos/ let-s-talk-lebensmittel


Netzausbau & Klimaschutz Mit ihren Bussen, Straßen- und U-Bahnen fahren die Wiener Linien täglich fünfmal um die Welt. Trotz neuer Linien und dichteren Intervallen werden sie bald klimapositiv unterwegs sein. Wer Öffis nutzt, schützt aktiv das Klima.

MICHELBEUERNAKH ARNE-KARLSSON-PARK Hier kann man zukünftig auf die Straßenbahnen 5, 33, 37, 38, 40, 41, 42 umsteigen.

ELTERLEINPLATZ

Das neue Linienkreuz U2µU5 ermöglicht jährlich bis zu 300 Millionen zusätzliche ÖffiNutzerInnen und spart bis zu 75.000 Tonnen CO2 pro Jahr ein. Um die gleiche Menge CO2 aufzunehmen, müssten augenblicklich 6 Millionen 30-jährige Buchen in Wien gepflanzt werden. Das entspricht einer Waldfläche so groß wie die Fläche der Bezirke 1–11 oder der gesamten Donaustadt

RATHAUS

NEUBAUGASSE Von der U2 Neubaugasse wird man in drei Minuten beim Schottentor sein dreimal so schnell wie heute.

PILGRAMGASSE

REINPRECHTSDORFER STRAßE

WIENMOBIL AUF DER LETZTEN MEILE Bereits 5 WienMobil-Stationen (Rochusmarkt, Simmering, Richard-Wagner-Platz, Amerlingstraße und Ceija-Stojka-Platz) verknüpfen öffentlichen Verkehr mit Leihangeboten für weiterführenden – und damit maximale – Mobilität. 3 weitere WienMobil-Stationen (Westbahnhof, Nordbahnhof, Spittelau) werden gerade vorbereitet. Je nach Standort finden sich z. B. Bike- und Scooter-Sharing, Car-Sharing, Lastenräder, E-Ladestationen, Radabstellboxen oder Radservicestationen.

Entgeltliche Kooperation mit

Erstmals bekommen die 55.000 BewohnerInnen Margaretens eine U-Bahn-Station direkt im Bezirk.

GUßRIEGELSTRAßE

MATZLEINSDORFER PLATZ PendlerInnen aus dem Süden Wiens können beim Matzleinsdorfer Platz von der S-Bahn direkt in die U2 einsteigen.

WIENERBERG Mit der U2-Erweiterung bis nach Wienerberg werden neue Stadtteile im Süden Wiens besser ans Zentrum angebunden.

qu elle  wi ener Linie n

Entgeltliche Einschaltung

GRÖSSTES KLIMASCHUTZPROJEKT DER STADT

FRANKHPLATZ

Von der U5-Station Elterleinplatz wird man in zehn Minuten beim Karlsplatz sein doppelt so schnell wie heute.


GroSSbaustelle Klimaschutz

Würden die WienerInnen alle Wege nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen, könnten 500 Hektar (also die Fläche von rund 700 Fußballfeldern) anders genutzt werden – etwa für Parks, Spielplätze oder andere Grünund Freiflächen.

MEHR ÖFFIS, WENIGER AUTOS Die Wiener Linien verursachen 1 % des öko­ logischen Fußabdrucks der Stadt – und das obwohl 38 % aller Wege in Wien mit den Öffis zurückgelegt werden.

Unterwegs ins postfossile Zeitalter Jedes der beschriebenen Felder beschäftigt Ossberger im Alltag, viele davon seit vielen Jahren. Seit dem massiven Streckennetz­ Markus Ossberger ausbau in den 1990ern, allerspä­ Infrastrukturtestens seit man 2010 erstmals manager der den ökologischen Fußabdruck Wiener Linien berechnete, sind die Wiener Linien mit Vollgas ins postfossile Zeitalter unterwegs. »Würden wir alle Autos, die wir durch unsere Infrastruk­ tur ersetzen, auch in unserer Rechnung mitberücksichti­ gen, dann wären wir schon jetzt klimapositiv.« Denn je­ de/r, der oder die vom Auto auf die Öffis umsteigt, spart pro Jahr bis zu 1.500 kg an CO2-Emissionen ein.

Mehr Öffi-Verkehr, mehr Lebensqualität Weniger Autos bedeuten mehr Platz für Menschen: Parks, Spielplätze, Bäume und Grünflächen – also noch mehr Lebensqualität für künftige Generationen. Genau hier setzt auch das Linienkreuz U2µU5 als größtes Klima­ schutzprojekt einer wachsenden Stadt an. Das Linien­ kreuz ermöglicht jährlich bis zu 300 Millionen zusätzli­ che Öffi-NutzerInnen und bringt Einsparungen von bis zu 75.000 Tonnen CO2 pro Jahr.

BALD 6 × TÄGLICH UM DIE WELT

Bild  wiener Li ni en

Derzeit umrunden die Wiener Linien täglich fünfmal die Welt. Bald schon werden sie es sechsmal täglich tun. Dafür sorgen Intervall­ verdichtungen, das Linienkreuz U2×U5 und zusätzliche Umland­linien der Straßenbahn.

Recycling und Kreislaufwirtschaft Allein durch die vollständige Umstellung auf erneu­ erbare Energie aus Österreich konnte der Footprint hal­ biert werden. Aktuell macht er 1 % des Fußabdrucks der Stadt aus. Mit einberechnet werden hierzu auch der Landund Materialverbrauch der Wiener Linien. »Aktuell be­ schäftigen wir uns intensiv mit Beton und Zement«, sagt Markus Ossberger. »Baustoffrecycling und sogar Recy­ cling-Zement sind unumgänglich auf dem Weg zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft.« Bleibt als letzte, be­ sondere Herausforderung: der Stahl, das Aluminium und das Kupfer, das bei Fahrtreppen, Aufzügen und der Stromversorgung der Züge zum Einsatz kommt.

Entgeltliche Einschaltung

WENIGER AUTOS, MEHR FREIRAUM (FÜR ALLE)

»Wenn das U-Bahn-Grundnetz fertig ausgebaut ist, alle Fahrzeuge elektrisch unterwegs sind und nichts Fossiles mehr verbrennen, wenn wir alle Potenziale für Photovoltaik nutzen und jede sinnvolle Möglich­ keit zur Begrünung, dann sind wir in 20 oder 25 Jah­ ren rechnerisch klimapositiv«, sagt Markus Ossber­ ger. 20, 25 Jahre: aus Sicht des Infrastrukturmanagers der Wiener Linien ist das fast schon übermorgen. Denn Infrastrukturprojekte brauchen Zeit, Weitblick und eine Vision.


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Aq ua p o nik

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Fisch und Gemüse in Co-Produktion Interviews Thomas Weber

D

ie Meere sind überfischt und im Bereich der traditionellen Teichwirtschaft geben aktuell viele kleine Betriebe auf. Damit Fisch als Nahrungsgrundlage auch künf­ tig eine große Bedeutung spielen kann, setzen Start-ups in Großstädten auf eine kombinierte Produktion von Gemüse und Fisch in Aquapo­ nikanlagen. Mit hohem technologischen Auf­ wand und ebenso hohem Energieaufwand wächst hier in einem Nährstoffkreislauf Gemü­ se, das mit den Ausscheidungen der Fische ge­

düngt wird. KritikerInnen beanstanden, dass es sich dabei um keine natürlichen Kreisläu­ fe und keine artgemäße Tierhaltung handelt. Die Betriebe kaufen Jungfische wie tierische Futtermittel zu und experimentieren damit, Fischmehl, durch Insektenmehl oder Enten­ grütze zu ersetzen. Vermarktet werden ihre Pro­ dukte unter griffigen Namen wie Wiener Wels oder Hauptstadtbarsch. Ausgeliefert und ver­ kauft wird mit Lastenrädern, auf Märkten und über Aboboxen.

Bild  Topfa rme rs GmbH

Frischer Fisch, Kräuter, Obst und Gemüse aus ultralokaler urbaner Produktion, gekoppelt in Nährstoffkreisläufen: Zwei Start-ups aus Berlin und eines aus Wien zeigen, wie es gehen könnte.


Wels und Avocado

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Die ultralokale Produktion der Berliner Stadtfarm basiert auf Aquaterraponik und baut auf Wurmhumus. biorama: Wie viele Welse und wie viel Gemü­

se gibt es denn aktuell in eurer Stadtfarm? Markus Haastert: Wir haben ganz normalen Vollbesatz. Das sind aufs Jahr umgelegt 50 Tonnen Fisch und 35 Tonnen Gemüse. Durch die Pandemie ist unser Kerngeschäft, das zu 85 Prozent die Gastronomie war, vollständig weggebrochen. Unsere Geschäftsführerin Anne-­Kathrin Kuhlemann konnte das Geschäft umdrehen – wir verkaufen derzeit fast aus­ schließlich an EndkundInnen. Der Hofladen wurde ausgebaut. Unsere ultralokale urbane Produktion kam sehr gut an. Auch die ruhige Lage in einem Land­ schaftsschutzgebiet ist in Zeiten von Corona wohl kein Nachteil … Dass unsere Stadtfarm von viel Natur umge­ ben ist und unsere Kundschaft nicht Schlange stehen musste, hat uns sicher unterstützt. Viel Gastronomie geht wohl leider gerade Pleite, aber das Bedürfnis nach frischen Lebensmitteln ist ungebrochen. Wir bieten neben Fisch nun auch Gemüseboxen im Abo an und erweitern laufend das Produktangebot. Beim Fisch fahren wir ja mit dem Afrikanischen Wels eine Ein-Fisch-Strate­ gie, das heißt wir machen aus nur einer Fischart unzählige Produkte. Neben Filet gibt es Matjes, Fischbratwürste und Hackfischbällchen. Die Stadtfarm macht Versuche mit dem Anbau von Avocado und Zitrus­früchten. Wir produzieren Bananen und Taro, Papaya und Ceylonspinat als einzelne Exoten, um zu zeigen, was möglich ist. Die tropischen Früchte gehen in die Gastronomie oder wir verarbei­ ten sie selbst. Unseren Stevia verarbeiten wir mit unseren Tomaten zu einem zuckerfreien Ketchup. Züchtet die Stadtfarm ihre Welse selbst? Dazu sind wir noch zu klein. Aber wir wach­ sen und haben die Verträge für Stadtfarmen in Hamburg und München unterschrieben. Und in Berlin wird es in der Rummelsburger Bucht

einen zweiten Standort geben. Nachdem dort täglich 30.000 Autos vorbeifahren, wird es ein Drive-in und einen 24/7-Automaten geben – und wir setzen auf. Solarenergie und Zero Emission. Ihr nennt euren Ansatz Aquaterraponik, also bewusst nicht Aquaponik. Warum? Uns war wichtig, den Wasserkreislauf zu schließen – und das geht tatsächlich nicht ohne Erde, mit der wir ein Ökosystem schaffen. Die gesetzliche Definition einer Kreislaufanlage erlaubt, bis zu 20 Prozent des Wassers täglich auszutauschen, wir hingegen führen – unse­ rer Meinung nach als einzige kommerzielle Aquaponikanlage weltweit – kein Abwasser ab. Deswegen haben wir geforscht und mit viel Aus­ probieren eine Erdzusammensetzung gefunden, die ständigen Wasserdurchfluss zulässt und gleichzeitig die Nährstoffe für unsere Pflanzen zwischenspeichert. Wir haben aber noch mehr natürliche Elemente integriert, wie z. B. einen Regenwurmfilter. Die Feststoffe des Fischkots werden dort in Humus umgewandelt, die Enzy­ me der Würmer wieder in den Wasserkreislauf geführt. Den Humus gibt es dann künftig als Produkt. Die Zusammensetzung unserer Erde ist ein Betriebsgeheimnis, und der Begriff Aqua­ terraponik deswegen als Marke geschützt. Laut EU-Bio-Verordung ist Aquaterra­ ponik nicht biozertifizierbar. Was in der Stadtfarm wäre bereits biokompatibel und wo spießt es sich? Die Grundproblematik ergibt sich aus der Fra­ ge, ob Fisch in einem Tank gehalten werden darf, also in einem nicht-natürlichen Behältnis. Das Futter und die Prozesse sind nicht das Problem. Wir verwenden im Augenblick kein Biofutter, weil wir eine eigene Mischung entwickelt haben. Wir haben ein vegetarisches Fischfutter entwi­ ckelt, das einen omnivoren Fisch zum Vegetarier macht – nachweislich bei gleicher Gesundheit und guter Wachstumsquote. Wir würden das Futter auf Bio umstellen, wenn die Stadtfarm insgesamt zertifiziert produzieren könnte.

Aquaponik kombiniert die Mast von Fischen in Aqua­ kultur mit der Hydrokultur von Gemüse, Obst und Kräu­ tern. In einem automatisier­ ten Nährstoffkreislauf liefern die Ausscheidungen der Fische den Pflanzen Nährstoffe. Der Nährstoff­ input von außen kommt über das Fischfutter. In der EU sind Aquaponik-Anlagen nicht biozertifizerbar, weil Pflanzen in Nährlösung statt in Erde und Fische in nicht-natürlichen Behältnis­ sen sowie intensiv in großer Stückzahl gehalten werden.

Aquaterraponik ist ein markenrechtlich geschützter Begriff, der eine Weiter­ entwicklung der Aquaponik bezeichnet. Aquaterraponik (terra = Erde) baut auf einer erdähnlichen Mischung und nutzt in Teilprozessen Wür­ mer, die Humus produzieren.

Aquaponik steht als Produk­ tionsweise im Gegensatz zur traditionellen Teichwirtschaft, die in großteils künstlich angelegten Tei­ chen Binnenfisch züchtet und mästet. Als nachhal­ tigster Teichfisch gilt als Allesfresser, der auch vege­ tarisch gefüttert werden kann, biologisch gehaltener Karpfen. Biokarpfen gibt es z. B. aus dem Waldviertel, aus Baden-Württemberg oder aus dem UNESCO-Biosphä­ renreservat Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft. Stadtfarm Berlin stadtfarm.de


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Wels aus Wien Michael Berlin ist Gemüsebauer, produziert am Rande des Nationalpark Donau-Auen Fertigrasen und betreibt mit vier Co-Gründern das Wiener Aquaponik-Start-up Blün.

Blün bluen.at

Und wie viel Gemüse kommt aus euren Glashäusern? 15 Tonnen Gemüse im Jahr – Tomaten, Gurken, Minigurken, Melanzani, Paprika und

Minipaprika. Unsere GastrokundInnen weisen stolz auf den Karten aus, dass neben dem Fisch auch das Gemüse aus Wien stammt. Züchtet Blün die Fische selbst? Noch sind wir dafür zu klein. Aber da wollen wir hin. Derzeit stammen sie aus Sigleß aus dem Burgenland. Die Fische kommen fingerna­ gelgroß zu uns und werden mit sieben Monaten mit mit ca. 2 bis 2,5 Kilogramm geschlachtet. Wieviel Input braucht eure Nährstoff-Kreislaufanlage? Für 10 Kilo Fisch brauchen wir 10 Kilo Futter und pro Kilogramm Fisch 240 Liter Wasser. Eigentlich sind wir da schon dort, wo wir sein wollen. Stört euch, dass eure Form der Lebensmit­ telproduktion nicht biozertifizierbar ist? Nein, stört uns nicht. Wir verstehen das, weil wir auf Substrat Pflanzen ziehen und Fische im Becken halten und das halt nicht mit den Biorichtlinien kompatibel ist. Derzeit. Das schadet uns geschäftlich aber nicht. Wir haben viele Führungen, zeigen das Futter, den Biofil­

Bild B lue n G mbH, Li vin Farms, POV.at

Michael Berlin Als Gemüsebauer im Marchfeld vor Wien führt Berlin sowohl einen konventionel­ len wie einen Biobe­ trieb. Außerdem ist er Co-Gründer des Wiener AquaponikStart-ups Blün.

biorama: Wie viele Wiener Welse schwim­ men denn aktuell in euren Becken? Michael Berlin: Kann ich gar nicht sagen. Wir produzieren pro Jahr derzeit 20 Tonnen Fisch, bauen aber gerade aus und ziehen einen zweiten Stock in unserer Halle ein, um die Kapazitäten und den Output auf 40 Tonnen zu verdoppeln. Unsere Arbeit begleitet ein Fischtierarzt, der regelmäßig vorbeischaut, das Marktamt sowieso, und anfangs war auch der wwf beratend involviert. Wir stammen ja alle aus dem Ackerbau, haben das Prinzip Aquapo­ nik bei ecf in Berlin gesehen und wollten erst einmal wissen, welche Fische überhaupt geeig­ net sind. Aus ökologischer Sicht gab es nur bei zwei Arten grünes Licht: beim Afrikanischen Wels und beim Tilapia, einem Buntbarsch. Wir haben 2017 mit beiden begonnen, arbeiten mittlerweile aber nur mit dem Wels, weil der stärker nachgefragt wird. Obwohl das zander­ artige Tilapia-Fleisch wirklich toll ist.


29 ter, der das Herzstück der Anlage ist. Aber wenn sich das gesetzlich ändern sollte, würden wir uns wahrscheinlich biozertifizieren lassen. Der Weg ist nicht mehr weit. Schon jetzt verwenden wir für die Jungfische Biofutter, weil es hochwertiger ist. Noch hat das Mastfutter einen Fischmehlanteil – Welse sind ja Raubfische. Aber wir begleiten gerade die Masterarbeit eines Mitarbeiters, die sich der Frage widmet, wie sich das durch Insektenmehl substi­ tuieren lässt. Und, wie sieht es damit aus? Wann wäre das realistisch möglich? Wir arbeiten da mit den Mehlwürmern von Livin Farms, einem anderen Start-up. Die Versuche waren sehr positiv. Der Geschmack des Fischs bleibt gleich, auch die Färbung ändert sich nicht. Als Zeitplan erachten wir 2023 oder 2024 als realistisch.

KRITIK AN AQUAPONIK »Im ganzheitlichen Ansatz, den Naturland für ökologische Aquakultur verfolgt, haben auch Aspekte wie Tierwohl und Naturnähe eine zentrale Bedeutung. Die ökologische Aquakultur arbeitet nicht zuletzt aus Tierwohlgründen mit reduzierten Besatzdichten, was in Kreislaufanlagen aber wirtschaftlich nicht einfach so umsetzbar wäre. Und von einem naturnahen Umfeld kann, so wie die Anlagen heute gestaltet sind, auch nicht gesprochen werden. Schon allein, was die Vorgaben der EU-Öko-Verordnung angeht, sind Kreislaufanlagen deshalb nach derzeitigem Stand nicht öko-zertifizierbar.«

Markus Fadl, Pressesprecher beim Naturland Verband

»Die Wirtschaftlichkeit von Aquaponikanlagen ist ein Problem, das der Anwendung im kommerziellen Maßstab entgegensteht. Wenn Salat oder Gemüse angebaut werden, so liegen Preis und Wertschöpfung der Produkte, die 90 Prozent der Fläche beanspruchen, typischerweise weit unter dem der Fische, die auf 10 Prozent der Fläche pro­ duziert werden. Nur wenn sehr hochpreisige Produkte wie Gewürze er­ zeugt werden, wird die Aquaponikproduktion wirtschaft­ lich attraktiv, aber die Absatzmöglichkeit für die Gewürze limitiert die Fischproduktion. Es gibt Marktnischen für Aquaponiksysteme, wenn eine typischerweise kleine Zahl von Verbrauchern bereit ist, Preise weit über dem übli­ chen Marktniveau zu zahlen. Dies lässt sich aber nicht beliebig skalieren. In Studien aus den usa und Australien wird darauf ver­ wiesen, dass sowohl Fisch als auch Gemüse aus Aquapo­ nikystemen bis zu 20 Prozent Preisaufschlag gegenüber konventioneller Produktion erzielen können, wenn sie als ›Bio‹ vermarktet werden. Die EU-Richtlinien zum Öko­ anbau verbieten aber sowohl die Produktion von Fischen in Kreislaufanlagen als auch die Pflanzenproduktion ohne Kontakt zum natürlich gewachsenen Boden, daher schei­ det diese Möglichkeit in der EU aus.«

Prof. Ulfert Focken, Aquakulturwissenschaftler am Thünen-Institut für Fischereiökologie, Bremerhaven

Zukunft der AQUAKultur

Insekten als Fischfutter: Mehlwürmer, aufgezogen in den Boxen des Start-ups Livin Farms, sollen Fischmehl als Futtermittel ersetzen.

Anfang September 2020 erschien ein Policy Brief des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfische­ rei (IGB) im Forschungsverbund Berlin e.V.. Unter dem Titel »Nachhaltige Aquakultur in Deutschland – Chancen und Herausforderungen« wird erläutert, warum Deutsch­ lands 2014 erstmals gefasster Nationaler Strategieplan für die Entwicklung der Aquakultur (NASTAQ) 2020 geschei­ tert ist. Klare Empfehlung: mehr Dialog, mehr offene Öffentlichkeitsarbeit. Verfügbar über igb-berlin.de


B io r ama W i e n –B e rl i n

Buntbarsch und Basilikum Nicolas Leschke, ceo und Gründer von ecf Farmsystems, mästet und zieht auf dem Areal der alten Malzfabrik in Berlin-Schöneberg den Hauptstadtbarsch und das Hauptstadtbasilikum. Vermarktet wird regional. Das Know-how wird mittlerweile weltweit exportiert. biorama: Wie viele Buntbarsche gibt es in Berlin-Schöneberg? Nicolas Leschke: Das weiß ich gar nicht. Soll ich mal unseren Betriebslei­ ter fragen? (ruft nach hinten) Carsten, weißt du mal, wie viele Fische wir ha­ ben? 10.000? (kurzes Murmeln) 13.000 bis 14.000? Ja, also der Fischwirt und der Betriebsleiter haben sich darauf geeinigt, dass wir derzeit zwischen 13.000 und 14.000 Fische in unseren Becken haben.

Und wie viel Basilikumtöpfe? Zum aktuellen Zeitpunkt? – (ruft wieder nach hinten) – Wie viel Basi­ likum steht denn bei uns im Haus? 32.000 Pflanzen, derzeit. Aber wir verkaufen über 400.000 Pflanzen im Jahr, mo­ mentan hauptsächlich Hauptstadtbasilikum.

ECF Farm Berlin ecf-farm.de

Stört euch, dass eure Form der Lebensmit­ telproduktion nicht biozertifizierbar wäre? Generell stört mich, dass die sehr energieef­ fizienten Kreislaufanlagen nicht zertifizierbar sind. Auch, dass Gemüse aus Hydroponik nicht bio sein kann, stört mich – weil es dem Paprika Schnuppe ist, ob er auf Substrat oder in Erde wächst. Aber unsere Erfahrung sagt uns, dass wir auch ohne Zertifizierung alles sehr erfolgreich verkaufen, teilweise zu einem höheren Preis als ein vergleichbares Biopro­ dukt, das direkt daneben steht. Wir haben also keinen Nachteil daraus, dass wir nicht bio sein können, aber insgesamt macht das keinen Sinn, denke ich. Wir verwenden auch immer wieder mal Biofutter. Derzeit gerade nicht, weil wir experimentieren und das tierische Protein

im Futter durch selbst gezogene Teichlinsen ersetzen wollen. Wie öko ist denn eure Logistik? Bei den Mengen, die wir produzieren – da brauchen wir uns nichts vormachen –, da fährt uns drei Mal die Woche der lkw an und führt das ins Zentrallager der Rewe. Sonst gibt es na­ türlich den Vor-Ort-Verkauf direkt bei uns, da kommen die allermeisten mit dem Rad vorbei. Gibt es neben Rewe noch andere Vertriebspartner? Der Hauptstadtbarsch geht auch an Edeka, Metro und an Restaurants, die ihn direkt holen – alle in Berlin und direkt drumherum. Sie vermarkten lokal, exportieren aber Ihr Know-how. Wieviele Aquaponikanla­ gen haben Sie denn bereits begleitet? Wir sind gerade beim sechsten, siebten Projekt in der Umsetzung. Wir haben aber weit über 40, vielleicht 50 Projekte bewertet. Es wird ja nicht aus jeder Planung ein Projekt.

Bil d EC F Farm Systems

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Aq ua p o nik


Waves 10.–12.9.

Dear lovely people. Hybrid Festival


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N ach tz u g

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Wien–Berlin: Nur noch einmal schlafen

Auf klimaschonende Weise von Wien nach Berlin und von Berlin nach Wien zu kommen, war eine Zeit lang gar nicht so komfortabel. Das hat sich durch den wieder eingeführten Nachtzug nun geändert.

Micky Klemsch reist gerne und oft. Allerdings nur an Orte, die leicht mit Bahn und/oder Fahrrad erreichbar sind. Wie er so nach Island oder Neuseeland kommen wird, weiss er bis heute nicht.

angebotene Nachtverbindung überhaupt ein­ gestellt. Ein Jahr darauf, Ende 2018, haben die öbb einen ihrer »Nightjets« auf die Strecke ge­ schickt. Wien ist für BerlinerInnen und Berlin für WienerInnen nun im Schlaf erreichbar.

Ein Wochenende in Berlin Immer wenn ich im Berliner Biohotel Almo­ dovar absteige, streife ich durch die Gegend, durch die vielen kleinen Bars in Friedrichshain, treffe FreundInnen und gebe mir die abendli­ che Clubkultur am raw-Gelände. Schnell ist man am Alexanderplatz und bei den anderen touristischen Attraktionen. Besonders gern klappere ich aber die zahlreichen Craft-BierBars der deutschen Hauptstadt ab. Da hat sich viel getan und für einen Wochenendausflug ist das bierige Thema schon Grund genug. Ich muss gestehen, ich hab diesen Weg auch schon einmal mit dem Flugzeug genommen. Das war irre billig, unglaublich eigentlich; und wenn

Bild öbb

I

ch habe Vorsätze. Nun gut, die hat fast je­ deR. Die meisten meiner Vorsätze haben mit nachhaltigem Lebensstil zu tun. Und ich kann schon vorausschicken: Es ist nicht im­ mer leicht, sich an diese Vorsätze zu halten. Insbesondere, wenn das dann auch noch ins Geld geht. So habe ich mir schon vor Jahren vorgenom­ men, nicht mehr in ein Flugzeug zu steigen. Auf Flugverkehr bei der Reiseplanung zu verzich­ ten, ist eigentlich die einfachste Art, den öko­ logischen Fußabdruck auf einem vernünftigen Level zu halten. Wie ich diesen Vorsatz mit meinem Lebenstraum, noch einmal Neusee­ land und Island zu sehen, verbinden kann, weiß ich noch nicht. Aber schon nach Berlin oder Hamburg zu kommen, war in den vergangenen Jahren schwer für mich. Es gab nachts keine Direktverbindung und nicht die Möglichkeit, Einzelkabinen zu buchen. Im Dezember 2017 wurde die von den ungarischen Bundesbahnen


man sein Leben nur vom schnöden Mammon be­ stimmen ließe, wohl die 1a-Variante für so einen kurzen Wochenendtrip. Autofahren kommt für so Kurztripps gar nicht in Frage – nicht nur, weil ich ja gar keinen pkw mehr besitze, sondern schon allein wegen der vielen sinn­ losen Zeit, die man konzentriert am Steuer sitzen muss. Zwischen acht und zehn Stunden muss man da schon einrechnen, das ganze mal zwei. Nein, si­ cher nicht.

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Tipp für tagsüber: Mit dem Zug via Prag, dort zwei Stunden Pause, die Beine vertreten und dann weiter. So wird schon die Reise zum Erlebnis.

Eine wunderbare Alternative ist der öbb Night­ jet, der zwischen den beiden Hauptstädten verkehrt. Vom Hauptbahnhof aus verlässt der Nachtzug Wien um 22:10 Uhr und ist morgens um 9:53 Uhr in Ber­ lin. Das sind etwas unter zwölf Stunden Fahrzeit. Der Zug wird über das tschechische Ostrava und das polnische Breslau geführt. Selbige Strecke fährt man untertags mit ice oder Railjet um vieles schneller. Die schnellste Verbin­ dung von Wien geht am Tag in acht Stunden und 32 Minuten. Dabei muss man aber zwei Mal umsteigen (in Breslau und Prag). Gerade der Stop in Prag könn­ te auch eine Tagesfahrt attraktiv machen, denn auch in der tschechischen Hauptstadt liegt der Bahnhof

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N ach tz u g

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Malmö Moskau

über Warschau

Kopenhagen 10,5 h

7h

28 h

Berlin 7h

Warschau

11,5 h

Brüssel

12,5 h

Paris Zürich

12,5 h

12 h

Komfort hat seinen Preis

11 h

14,5 h 11,5 h

14 h

Wien Budapest

11 h 20 h

Florenz 13,5 h

Rom

WIEN > BERLIN Wien Hbf

22:10

Breclav

23:50

Ostrava hl.n.

01:32

Bohumin

02:15

Chalupki

02:36

Raciborz

02:52

Kedzierzyn Kozle

03:33

Opole Glowne

04:26

Wroclaw Glowny

05:31

Glogow

06:52

Zielona Gora Gl.

07:32

Rzepin

08:23

Frankfurt(Oder) 08:47 Berlin Ostbahnhof

09:41

Berlin Hbf

09:53

Berlin-Charlottenburg 09:59

Fahrtdauer Die Länge der Linien zwischen den Städten entspricht der jeweiligen Zugfahrtdauer. 1 h 3 h Alle abgebildeten Verbindungen sind Nachtzüge die als Direktverbindung geführt werden.

Für mich aber kein Thema, mein Ziel ist Ber­ lin, und dort möchte ich ausgeschlafen ankom­ men, fit und ausgeruht für ein Wochenende. Im Nightjet bieten sich da seit jeher drei verschie­ dene Kategorien an: der Sitzwagen, der Lie­ gewagen und der Schlafwagen. Ersteres hätte man früher als die Holzklasse bezeichnet, die Reiseklasse für TramperInnen, osteuropäische ArbeitspendlerInnen und vor allem für Men­ schen, die es schaffen, auch im Sitzen entspannt zu schlafen und ausgeruht in den frischen Tag zu gehen. Ich gehöre nicht dazu. Auch wenn das Ticket mit 37,90 Euro auf der Sparschiene hier wohl mit dem Preis des Billig­ fliegers konkurrieren kann. Die Zeiten der Interrail-Bahn­ streifzüge durch halb Europa Bukarest im Low-Budget-Modus lie­ gen bei mir schon Jahrzehn­ te zurück. Noch früher, in den 1970er-Jahren, bin ich mit meinen Eltern auch einmal im Liegewagen gefahren. Sechs Menschen auf engstem Raum überein­ andergestapelt. So was muss man mögen. Ins­ besondere wenn man nicht zu sechst als Freun­ deskreis oder Familie ist und das Abteil mit fremden Menschen teilt. Auch wenn die Liege­ wägen auf unserer Strecke heute nur noch mit vier Liegen pro Abteil ausgestattet sind, greife ich da lieber etwas tiefer in die Geldtasche und leiste mir den Schlafwagen. Auch den gibt es in Varianten mit ein bis drei Betten. Das Doppel­ abteil mit Waschgelegenheit und Frühstück à la carte kostet bei Buchung etwa ein Monat im voraus 129 Euro pro Person. Das luxuriöse Ein­ zelabteil mit eigenem WC und Dusche (Sing­ le Deluxe) schlägt zu selben Konditionen mit 199 Euro pro Strecke zu Buche. Und aus Erfah­

Bild Syst em Change, not C limate Change!

Hamburg

sehr zentral. Mit zwei Stunden Pause und Wei­ terfahrt im nächsten Zug nach Berlin kann man schon einige Sightseeing-Spots in der Golde­ nen Stadt an der Moldau besuchen.


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Im April 2018 wird europaweit in der Aktionswoche Back on Track gegen die Einstellung von Nachtzugverbindungen demonstriert, Zentrum der Proteste ist Deutschland. Nachtzugreisende AktivistInnen der Protestgruppe System Change not Climate Change aus Österreich werden von ebensolchen am Berliner Hauptbahnhof empfangen – und einer Band, die den »Disappearing Night Train Blues« spielt. Im Dezember 2018 haben die Österreichischen Bundesbahnen ÖBB die Verbindung Berlin–Wien übernommen, es fahren nun wieder Nachtzüge – auf neuer Route – zwischen den beiden Städten.

rung kann ich sagen, dass dieses Abteil wirk­ lich auch sehr großen Menschen genug Kom­ fort und Platz für eine angenehme Fahrt von Hauptstadt zu Hauptstadt bietet. Dazu ist man beim Gepäck beinahe unbeschränkt – ja, man kann in beiden Städten wunderbar shoppen – und im Single-Deluxe-Abteil habe ich sogar mein Faltrad ungehindert mitnehmen können und war für das Wochenende in Berlin top-mo­ bil unterwegs. Detail am Rande: Die Verpflegung im Night­ jet ist für den Mainstream durchaus anspre­ chend, wenngleich für mich gar nichts in Bioqualiät im Angebot enthalten ist. Am Kli­ scheehaftesten: der Austria-Snack – Manner­ schnitten mit einer Dose Red Bull. Und würde man zum Billigfliegerpreis noch die Zuschläge für Gepäck, À-la-carte-Früh­ stück, Fußfreiheit und Fahrradmitnahme ad­ dieren, wäre der Preisunterschied zwischen Flieger und Bahn weg. Generell kann aber nicht oft genug gesagt werden, dass nicht die Eisenbahn zu teuer, son­ dern das Fliegen bei Weitem zu billig ist und vor allem von der Steuerbefreiung beim Flug­ kerosin profitiert.

Wohlfühloption Schlafwagen In Zeiten, in denen einzelne Zugverbindun­ gen nach dem Covid-19-Lockdown nur zaghaft wiederaufgenommen worden sind, hat man im Nightjet natürlich auch einige andere Op­ tionen. Viel leichter gelingt es, ein gesamtes Abteil für sich beziehungsweise für die Fami­ lie zu bekommen und Abstand zu anderen Rei­ senden zu halten. Natürlich rüttelt es während der Fahrt immer wieder und es wäre schönge­ redet, wenn man von einem ähnlichen Schlaf­ vergnügen wie zu Hause im eigenen Bett spre­ chen würde. Aber im Verhältnis zu einer Fahrt im Sitzabteil oder all dem Stress mit den Kont­ rollen, dem Check-in und den Flughafentrans­ fers ist der Schlafwagen eine Wohlfühloption. Und noch ein Vorteil im Vergleich zum Flug­ verkehr: Anders als die Flughäfen liegen so­ wohl der Wiener als auch der Berliner Haupt­ bahnhof (Europas größter Kreuzbahnhof ) in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum. Am Morgen in Berlin angekommen hat man vom Südportal den Blick über die Spree auf das Bundeskanzleramt und das Reichstagsgebäude. Nur ein Mal Schlafen … und schon ist man im Zentrum einer dieser beiden schönen Städte.

BERLIN > WIEN Berlin-Charlottenburg 18:22 Berlin Hbf

18:43

Berlin Ostbahnhof

18:53

Frankfurt(Oder) 19:45 Rzepin 20:06 Zielona Gora Gl.

20:52

Glogow 21:30 Lubin Gorniczy

21:55

Legnica

22:10

Wroclaw Glowny

23:12

Opole Glowne

23:53

Kedzierzyn Kozle

00:45

Raciborz

01:14

Chalupki

01:34

Wien Hbf

07:00


E n tg E lt l i c hE E i n s c ha lt u n g

Wiens 1.000 Wohnzimmer im Freien – und jährlich werden es mehr!


Die Klimamusterstadt Wien ist nicht nur die lebenswerteste Stadt der Welt, sondern wurde heuer auch zur »Greenest City« weltweit gekürt. Denn Wien hat als Millionenmetropole einen rekordverdächtigen Grünraumanteil von 53 Prozent, rund 1.000 Parks und unzählige Grünflächen – auch entlang der 63 km freien Wasserzugänge wie an der Alten Donau. Dazu 8.000 ha Stadt-Wald, 500.000 kühlende Straßenbäume und jedes Jahr werden rund 4500 Stadtbäume neu gepflanzt und aufwändig gepflegt.

Grünraum GeGen Klimawandel-Hitze: über 137.000 m² neue »woHnzimmer im Freien« Im Kampf gegen die klimakrisenbedingte Hitze in der Stadt sind gerade die vielen Grünflächen von zentraler Bedeutung. Die Stadt Wien baut diese seit Jahren massiv aus, sodass mittlerweile über 1.000 »Wohnzimmer im Freien« zur Verfügung stehen. Wien ruht sich auf diesem hohen Niveau nicht aus, ganz im Gegenteil: So kommen in den kommenden Jahren rund 137.000 m² ganz neue oder erneuerte Park- und Grünflächen dazu. Einer dieser umgestalteten Parks wird zu Wiens erstem cooling-Park, der Esterhazypark im 6. Bezirk.

wiens erster »CoolinG-ParK« öFFnet am 1. oKtober! Derzeit laufen die Bauarbeiten auf Hochtouren aber bald ist es soweit: Am 1. Oktober wird Wiens erster Cooling-Park, der umgebaute Esterházypark beim Haus des Meeres, eröffnet! Im Zentrum steht der rund 30 m² große »Coolspot«, ein bepflanzter und beschatteter Aufenthaltsort mit Nebeldüsen,

Völlig neugestaltet wurde auch der Reumannplatz in Favoriten. Seit Anfang September gibt es damit über 78.000 Stauden und Gräser, mehr als 100 Bäume und 13 % mehr Grünfläche als zuvor im Herz Favoritens. Alle Infos zu den Wiener Parks: www.wien.gv.at/umwelt/parks und alle Infos für HobbygärtnerInnen gibt es am Gartentelefon der MA 42 –Wiener Stadtgärten unter: +43 1 4000-8042

E n tg E lt l i c hE E i n s c ha lt u n g

Bild C. Fürthner/PID, C. Fürthner

der bereits seit Mitte August in Betrieb ist. Er kühlt die Umgebungstemperatur um bis zu 6 Grad ab. Zwei »Klimabäume«, fast 3 Meter hohe Nebelduschen, kühlen die Umgebung zusätzlich mit feinem Sprühnebel. Durch großzügige Entsiegelung von Beton- und Asphaltflächen kommen zu den bestehenden Bäumen und Pflanzen neue Gräser- und Staudenbeete sowie weitere Bäume hinzu, auch sie kühlen angenehm. Der »Cooling-Park« wird zwei Jahre lang als Forschungsprojekt begleitet, bewährt sich das System, wird es auf weitere Parks in der Stadt ausgerollt. Schon bald findet man den neuen cooling-Park sowie jetzt bereits viele andere kühlende Orte Wiens auf der neuen App »Cooles Wien«.


B io r ama W i e n –B e rl i n

Sta dtz e ich en

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Zeichen der Zeit Seit jeher sind Stadtbilder von Diversität geprägt. Am Beispiel von Ampelfrau und Ampelmann, des Ampelmännchens und des Ampelmädchens zeigt sich auch der kollektive Bewusstseinswandel.

Ampelpärchen Nachdem Conchita Wurst den Song Contest als GewinnerIn nach Wien geholt hat, sind dort seit 2015 mit Herzen versehene schwule, lesbische und heterosexuelle Ampelpär­ chen im Einsatz. Kulturexport und beliebtes Fotomotiv.

D

Intelligent Design Zweitausend Jahre später ist Graffiti als Kul­ turgut anerkannt und hat es – als aus der An­ onymität geholte Street-Art – mitunter eben­ so ins Museum geschafft. Die dominanten Zei­ chen aber gibt immer noch die Obrigkeit vor: Unternehmen mit ihren Markenbotschaften,

Geschlechterstereotype auf der Klotür, dokumentiert vom Grafiker und Buchautor (»Krieg der Zeichen«) Markus Hanzer.

Bild  Markus Ha nze r, Istock.co m/I_Vale nti n

Text Thomas Weber

ie Obrigkeit ließ sich – wie Jahrtausen­ de davor und Jahrtausende danach – in Heldenstatuen verklären und an der Sei­ te von in Stein gehauenen GöttInnen ver­ ewigen. So wollte sie die Zeiten und das ge­ meine Volk überdauern. Doch als die römi­ sche Stadt Pompeji im Jahr 79 beim Ausbruch des Vesuvs in Schutt und Asche versank, wur­ de auch das Alltagsleben der PompejierInnen dokumentiert. Tausende Graffiti blieben kon­ serviert. »Es lebe jeder, der liebt! Weg mit dem, der / die Liebe nicht kennt! Und zweimal weg mit / jedem, der die Liebe verbietet.« Das fand sich zum Beispiel an die Hauswand von Lucius Caecilius Jucundus gekritzelt. Oder, in den Katakomben des Amphitheaters: »Ich staune, Wand, dass du nicht zerfallen bist, / da du so viel Blödsinn von Schreibern ertragen musst.« Zweitausend Jahre später erzählen uns solche Graffiti weit mehr vom Leben der Menschen als etwa die ebenfalls erhalten gebliebene Statue des Stadtrats Marcellus, des Schwieger­ sohns und Neffen von Kaiser Augustus.


39 die Stadtverwaltung mit ihren Geboten, Ver­ boten und behördlichen Leitsystemen. Wo­ bei die Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg verschwammen. Verkehrsverbote wurden zu Ikonen und Insignien der Popkultur; im kon­ kreten Fall auch als Zeichen von Behaglichkeit und Ostalgie. Denn das 1961 vom ddr-Zeich­ ner und Verkehrspsychologen Karl Peglau kre­ ierte Ost-Ampelmännchen – ein mit bestimm­ tem Schritt über die Straße schreitendes grünes Männchen mit Hut für Grünphasen oder ein rotes Männchen das statisch den Weg ver­ sperrt für Rotphasen – regelte spätestens nach der Wende nicht mehr bloß den FußgängerIn­ nenverkehr. Es stiftete Identität, weshalb es zu Protest führte, als es zusehends gegen den als eher charakterlosen Wessi-Ampelmann aus­ getauscht wurde. So blieb es erhalten. Mitt­ lerweile ist es weit über die Hauptstadt hinaus untrennbar mit dem wiedervereinigten Berlin assoziiert. Es gibt einen Ampelmann-Flags­ hip-Store und an fast allen für TouristInnen wichtigen Plätzen der Stadt eigene Ampel­ mann-Cafés und -Läden.

Strahlkraft und Symbolik Leuchtende Figuren in Ampelkästen haben eine besondere Bedeutung und Strahlkraft – auch im übertragenen Sinne. Um für Gleich­ berechtigung und Sichtbarkeit der Geschlech­ ter zu sorgen, entwarf 1996 der Grafiker HansJürgen Ellenberger eine Ampelfrau, bekannt auch als Ost-Ampelmädchen, weil es grafisch an die ddr-Figur angelehnt ist. Als 2015 in Wien der Eurovision Song Con­ test stattfand, nachdem ihn die Dragqueen Conchita Wurst mit ihrem Sieg in die Stadt gebracht hatte, hängen in Wien an manchen Stellen mit Herzen versehene Ampelpärchen: Heteros, aber auch schwule und lesbische. Das Medienecho war enorm, die leuchtenden Pär­ chen wurden in zahlreiche Städte exportiert. Gedacht als Symbole der Offenheit und Liebe hingen sie bald auch in Linz. Als der Posten des Verkehrsstadtrats an eine rechtspopulistische Partei fiel, sah dieser aber das Verkehrszeichen dazu missbraucht, »Gesinnungsbotschaften zu übermitteln«. Als Vertreter der Obrigkeit ließ er die Ampelpärchen abmontieren. Im alten Pompeji hätte man das womöglich mit einer Kritzelei erwidert: »Zweimal weg mit jedem, der die Liebe verbietet.«

Die Hetero-Version des Wiener Ampelpärchens und eine Korrektur an der Klotür (gesehen auf der Angewandten) verschieben die normierte Darstellung des Menschen im öffentlichen Raum.

Ampelmännchen Versinnbildlicht Fußgän­ gerInnen, ob sie stehen bleiben müssen (Rot) oder gehen dürfen (Grün). Seit 1961 gibt es in Berlin das zur Ikone gewordene, vom Verkehrspsychologen Karl Peglau kreierte Ost-Ampelmännchen. 1996 gestaltete Hans-Jürgen Ellenberger auch eine Ampelfrau, die z. B. in Köln den Verkehr regelt. ampelmann.de


B io r ama W i e n –B e rl i n

»Symbole sind keine Argumente« Stadtbilder prägen. Aber wie viel Gesinnung steckt im Berliner Ampelmann? Und wirken schwul-lesbische Ampelpärchen Vorurteilen entgegen? Der Grafiker und Stadtzeichendeuter Markus Hanzer im Gespräch.

Interview Thomas Weber

Markus Hanzer Geboren 1955, Grafiker und Illustrator (u. a. für ORF, Sat.1), Unter­ nehmer und Buchautor, im Vorstand von Design Austria, um­ fangreiche Lehrtätig­ keit (u. a. Universität für Angewandte Kunst Wien und Leiter des Fachbereichs Gestaltung an der FH Vorarlberg) stadtgespraeche.com

biorama: Seit 2015, als nach dem Erfolg von Conchita Wurst der Eurovision Song Contest in Österreich ausgetragen wur­ de, hängen in Wien mit Herzen versehene schwule, lesbische und hetero Ampelpär­ chen. Sie sind zu einem beliebten Fotomo­ tiv geworden, vor allem für TouristInnen. Aber fallen sie den in Wien Lebenden über­ haupt noch auf? Markus Hanzer: Da kann ich nur Vermutun­ gen anstellen. Viele haben sich wahrscheinlich daran gewöhnt und nehmen sie nicht mehr als Besonderheit wahr. Es mag durchaus Personen geben, denen das Thema aus unterschiedlichen Positionen heraus ein Anliegen ist und für die das Vorhandensein solcher Symbole deshalb von Bedeutung ist. Grundsätzliche Haltungen lassen sich meist nicht so einfach ändern. Re­ lativ wandelbar sind hingegen vermeintliche Bekenntnisse. Wer merkt, dass er mit seinen Ansichten ständig Schwierigkeiten bekommt, wird eventuell versuchen, diese nicht ständig zu betonen.

Die Intention der Stadtverwaltung war klar: Wien wollte ein Statement für Gleich­

berechtigung setzen. Wie ließe sich denn überprüfen, ob das ankam? Es gab eine Reihe von Medienberichten, die nach dem Sieg von Conchita Wurst beim Song Contest an patriotische Gefühle appellierten – im Sinne von: »Wir haben schon wieder die an­ deren Nationen geschlagen!« Wer wollte sich da als Feind des Patriotismus positionieren? Aber es hat dennoch mit Bestimmtheit Kreise gegeben, die den Anlass benützt haben, um sich wie gewohnt fürchterlich aufzuregen. Was bringt denn solch eine Politik der Symbole? Damit etwas wirken kann, muss es wahr­ nehmbar gemacht werden. Wem die Macht über die Zeichen zukommt, der/die bestimmt auch die Handlungsoptionen und Handlungs­ spielräume der Menschen. Führen Symbole der Offenheit bei denje­ nigen, die sich dadurch bedroht fühlen, zu mehr Offenheit? Symbole sind ja keine Argumente. Sie reprä­ sentieren lediglich eine bestimmte Position. Welche Haltung wir dazu einnehmen, wird

Bild  Pe ter Putz , Istock.co m/pre ss digi tal

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Sta dtz e ich en


— Markus Hanzer, Grafiker durch ein Symbol selbst kaum verändert. Das mas­ senhafte Auftreten eines Symbols legt jedoch den Verdacht nahe, dass hinter jenen, die in der Lage sind, diese Zeichen zu setzen, eine entsprechende Macht steht. Selbst wenn wir uns überlegen, ob wir uns einer mächtigen Bewegung fügen oder ihr wi­ derstehen, bedeutet das noch nicht, dass wir unsere Haltung geändert hätten. Das Berliner Ost-Ampelmännchen wurde zur Kultmarke und wird auf T-Shirts und Stickern, in Cafés und Shops vermarktet. Wieviel »Ge­ sinnung« erkennen Sie im Ampelmännchen? Die Gesinnung steckt nicht im Ampelmänn­ chen. Im Akt der Wahrnehmung lösen Symbole be­ stimmte Assoziationen aus. Welche das sind, ist von Mensch zu Mensch durchaus verschieden. Es lässt sich ein bestimmtes Symbol sowohl als Bestätigung als auch als Widerspruch zu den eigenen Vorstel­ lungen lesen. Symbole können allerdings von be­ stimmten Gruppen insofern in Besitz genommen werden, als sie versuchen, deren vorherrschende Lesart vorzugeben. Klassisches Bespiel ist etwa das Hakenkreuz, das – obwohl lange vor den National­ sozialisten bereits im Gebrauch – heute in Europa nur noch eine Form der Bedeutung nahelegt. Wo stößt inklusives Design, das niemanden außen vor lässt, an seine Grenzen? Es ist doch umgekehrt. Gestaltung war und ist im Kern eine Methode der Exklusion, der Ausgren­ zung, des Ausschließens, der Grenzsetzung. Ich sehe kaum Limitationen in den prinzipiellen Mög­ lichkeiten der Inklusion. Aber wer möchte das? Al­ les Branding, Corporate Design etc. zielt auf eine Definition von Zugehörigkeit und Fremdem. Von der Eheschließung (»Du gehörst zu mir und sonst niemand«) bis zur Nationenfahne (»America First«) dreht sich alles um Exklusion.

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»Gestaltung war und ist im Kern eine Methode der Exklusion. Von der Eheschließung (›Du gehörst zu mir und sonst niemand‹) bis zur Nationenfahne (›America First‹) dreht sich alles um Exklusion.«


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Bi o r ama Wie n – B e rl i n

B e stattu ng sku ltu r

Der Friedhof gehört zum Leben

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Ein Beispiel für einen Bestattungsgarten auf dem Kölner Friedhof Melaten.

Bild Norbert Fisc he r/Patric k O hl igsc hläge r, isto ck. co m/ger d HArder

Berlin und Wien haben sich in ihre Friedhofslandschaften gezeichnet. Norbert Fischer im Interview über Grabstättenkultur in Bewegung. biorama: Was verraten dem geschulten Auge die Friedhöfe über die Städte und ihre BewohnerInnen? Norbert Fischer: Die Friedhofslandschaft Wiens verrät die Zentralisierung der frühen Residenz- und Hauptstadt. Sie hat früh ihren Zentralfriedhof bekommen. An den vielen kleinen Friedhöfen Berlins kann man ablesen, dass es spät aus vielen kleinen Orten zusam­ mengewachsen ist. Wenn man über einen Friedhof im, historisch gesehen, katholisch geprägten Wien spaziert, fallen einem womöglich die reich geschmück­ ten Gräber auf. Weil es im Katholizismus stärker darum geht, wie es nach dem Leben im Jenseits noch weitergeht und was man dafür tun kann, hat sich da eine reichere Kultur und Symbolik in Bild- und Figurensprache für den Umgang mit dem Tod entwickelt. Im Protes­ tantismus legt man sehr viel mehr Wert auf das Leben im Diesseits. Gräber sind hier schlichter. Der Tod ist im Stadtbild von Berlin längst nicht so präsent wie in dem von Wien. Die Stadtgeschichte schreibt sich natür­ lich auch über die großen Namen berühmter, wohlhabender Personen und Familien in die Friedhöfe ein. Seit dem 19. Jahrhundert hat man in beiden Städten monumentale Familien­ grabstätten errichtet, wo Bürgertum und Adel ihren Reichtum und ihr Prestige zeigen.

Friedhöfe schreiben über die Gestaltung und Platzierung von Gräbern selbst Stadt­ geschichte. Wer wird hier gern vergessen? Schon was die Zugangsvoraussetzungen betrifft, waren die konfessionellen Friedhöfe exklusiv. Zur Bestattung auf einem christlichen Friedhof musste man – nebst anderen Kriteri­ en – getauft sein. Alle Leute, von denen man das nicht wusste, durften eigentlich auf einem christlichen Friedhof nicht bestattet werden. Deswegen hat man für unbekannte Leichen – etwa auch Fluss- oder Meeresleichen – auch besondere Friedhöfe angelegt. Aber auch für SelbstmörderInnen waren bis vor 200 Jahren aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlos­ sen, weil sie sich dem Willen Gottes, der uns das Leben geschenkt hat, widersetzt haben. Häufig hat man die Selbsttötung dann als Un­ fall vertuscht und die Menschen doch auf den Friedhöfen begraben; Für die anderen Leichna­ me wurden bis etwa zum Jahr 1800 gesonderte Friedhöfe angelegt oder bestimmte Ecken für diese Exkommunizierten auf den Friedhöfen. Auf dem Wiener »Friedhof der Namen­ losen« kümmert sich jemand ehrenamtlich um die Gräber von Flussleichen. Dort an der Flussbiegung der Donau am Alberner Hafen, die heute so nicht mehr exis­ tiert, wurden viele Flussleichen angeschwemmt.

Interview Irina Zelewitz

Norbert Fischer ist Professor für Volkskunde/Kultur­ anthropologie an der Universität Hamburg, 2017/18 hat er für ein Jahr an der Universität Wien unterrichtet.


B io r ama W i e n – B e rl i n

bestattu ng sku ltu r

44 In Berlin gibt es so etwas nicht, aber es gibt einen sogenannten Selbstmörderfriedhof im Grunewald, dem Berliner Stadtwald. Wo der Fluss Havel einen Knick macht, wurden be­ sonders viele Wasserleichen angeschwemmt, darunter auch SelbstmörderInnen. Was ist dran am angeblich besonderen Umgang der WienerInnen mit dem Tod? Der Zugang zum Tod ist im Katholizismus unverkrampfter, das hat Wien mit anderen Städten gemein. Im Friedhofsshop des Wiener Zentralfriedhofs finden Sie Scherzartikel wie T-Shirts und witzige Bücher, die ironisch ge­ brochen mit dem Tod spielen. Es herrscht eine Nähe zum Thema, nicht zuletzt im Stadtbild. Dort ist der Tod präsent, zum Beispiel in Form von Grüften mitten in Wien, im ersten Bezirk. In Berlin wird er wortwörtlich an den Rand geschoben. Hier ist der Tod ein pragmatisches Problem. Naturbestattung ist beliebt. Sterben die Friedhöfe aus? Es gibt einen doppelten Wandel in der Bestattungskultur: einerseits den Trend zu Gemeinschaftsgrabstätten, er ist in Wien noch nicht so stark sichtbar wie in Berlin. Doch es wird künftig da und dort vor allem pflegeleichte Gemeinschaftsgrabstätten geben. Die Gemeinsamkeit der Gemeinschaft kann in so ziemlich jedem Merkmal liegen: von Fuß­ ballclubs, die ihrer toten Mitglieder gedenken, bis hin zum Wunsch, in einem Wald bestattet zu sein, als einzige Gemeinsamkeit. Der zweite Trend ist der zur Naturbestattung, also Bestat­ tungswälder oder Flussbestattungen. Das Friedhofsbild vom Grabstein, auf dem mehreren Generationen aufgelistet sind, wird verschwinden? Wenn 50 Prozent der Haushalte Singlehaus­ halte sind, wie es derzeit in Hamburg der Fall ist, macht die Ausrichtung der Friedhöfe auf Familiengrabstätten natürlich keinen Sinn mehr. Denn sie setzen voraus, dass sie gepflegt werden und die nächste Generation insofern auch vor Ort lebt. Das entspricht häufig nicht mehr den Lebensgewohnheiten. Gleichzeitig möchten immer weniger Men­ schen auf einem Friedhof bestattet werden,

sondern etwa in einem Wald. In Deutschland existiert mittlerweile eine dreistellige Zahl von Bestattungswäldern. Auf Wiener Stadt­ gebiet gibt es den »Wald der Ewigkeit« im Mauerbachtal, aber auch in Wien kann man sich auf dem Zentralfriedhof ohne Grabstein unter einem Baum bestatten lassen. Der Name wird dann an einer zentralen Gedenkstätte verzeichnet. Wenn man Wünsche zur eigenen Bestattungsform hat, sollte man sich also idealerweise auch überlegen, wo man stirbt? Ja, das wäre hilfreich. Vor allem für die Hinterbliebenen, denn die sind verpflichtet, einen letzten Wunsch zum Ort der Bestattung zu beachten. In den Bundesländern Wien und Berlin ist das freie Verstreuen der Asche in einem See oder einem Fluss verboten, Bestattungswälder sind erlaubt. In Niederösterreich ist Flussbe­ stattung aber etwa schon erlaubt. In Deutsch­ land gibt es nur ein Bundesland, die Großstadt Bremen, die das freie Verstreuen der Asche erlaubt – im Fluss oder auch im Stadtpark. Was bedeutet denn diese rechtliche Situation für das Transportaufkommen von Leichen über Landes- und Staatsgren­ zen hinweg? Der Export zum ausländischen Krematori­ um ist ein eigener Wirtschaftszweig geworden. Die Bestattungsgesetze sind in Deutschland und Österreich noch verhältnismäßig restriktiv, viele lassen sich daher von einem Bestattungs­ unternehmen in ein Krematorium in Tschechi­ en oder in den Niederlanden überstellen. Das stellt allerdings, abhängig vom Bundesland, eine Ordnungswidrigkeit dar. Wenn Sie das machen lassen, wird Ihre Asche in einer Urne wieder ausgehändigt und die kann sich jemand legal ins Wohnzimmer stellen. Was bedeutet der Trend zur Bestattung, die keinen Gedenkort hinterlässt, für künftige Stadtbilder? Es gibt diesen Trend, gleichzeitig gibt es aber auch noch neue Orte für Trauer und Erinne­ rung, während die klassischen an Bedeutung verlieren. Ein Beispiel für neue Entwicklungen


sind Erinnerungsorte für Opfer des Straßen­ verkehrs oder politischer Gewalttaten. Ist die Stadtplanung gefordert, künftig anderen Platz für Tod und Erinnerung und neue Bestattungsformen zu schaffen? Die StadtplanerInnen werden den Wün­ schen nach Naturbestattung Rechnung tragen müssen. Idealerweise bietet jede Stadt eine Möglichkeit zur Naturbestattung an, auch auf Friedhöfen.

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Bietet dies eine Möglichkeit, Inseln für Naherholung und Biodiversität in oft stark verbautem Gebiet zu schaffen? Ja, denn hinzukommt, dass die Zahlen der Feuerbestattung in beiden Städten derzeit an­ steigen, in Berlin noch stärker als in Wien. Ein Aschengrab benötigt nur ein Achtel der Fläche eines Erdgrabs. Dadurch werden Flächen ge­ wonnen. Es gibt den kulturhistorischen Ansatz, eine Art Freilichtmuseum für historisch wert­ volle Grabmäler einzurichten. Es gibt aber auch den ökologischen Zugang, Friedhöfe teilweise gezielt verwildern zu lassen und so der Natur zu überlassen. Auf den großen Friedhöfen bei­ der Städte wird Biodiversität jetzt schon gezielt gefördert, es wird insektenfreundlich gestaltet, es wird etwa auch geimkert. Und man kann beide Ansätze verbinden und auch Erholungs- und Freizeitflächen draus machen. Da verweise ich gerne auf den Park der Ruhe und Kraft im Wiener Zentralfriedhof, in dem Kunstwerke aufgestellt werden. Welchen Friedhof würden Sie zur Besichtigung in Wien empfehlen? Den Friedhof der Namenlosen an der Do­ nau. Bei studentischen Exkursionen zeigte sich, dass dies ein sehr besonderer Ort in einer Großstadt ist. Und welcher Friedhof ist besonders sehenswert in Berlin? Da würde ich Ihnen den »Selbstmörder­ friedhof« im Grunewalder Forst empfehlen. Er liegt landschaftlich sehr schön und beherbergt auch das Grab der Sängerin der in den späten 1960er-Jahren erfolgreichen Band The Velvet Underground, Nico.

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Wiener Schmäh und Street Credibility Mit flotten Sprüchen und durchdachtem Infotainment haben es die Wiener Linien im Netz zum Kult gebracht. Für Toleranz und Offenheit steht auch ihre Fan-Community ein.

Der Bundespräsident in der Bim – das gibt’s nicht alle Tage, beziehungsweise nur in Wien. Als Alexander Van der Bel­ len im Frühjahr in der Straßenbahn unterwegs war, vor­ bildlich mit Mund-Nasen-Maske im Gesicht, aber trotz­ dem unverkennbar, und das Social-Media-Team des Staats­ oberhaupts das auch dokumentierte, reagierten die Wiener Linien binnen Minuten. Die vorbildliche Aktion Van der Bel­ lens war zwar nicht mit den Öffis abgesprochen, aber mehr als prestigeträchtig.

Entgeltliche Einschaltung

RElevanz und resonanz durch Popkultur Lisa Schmid erkannte sofort, dass die Bimfahrt des Bundes­ präsidenten eine Riesenchance war, für den richtigen Ge­ brauch der Corona-Masken zu werben und gleichzeitig zu zeigen, dass die Öffis in Wien wirklich von allen genutzt wer­ den. Und, nicht zuletzt: dass die Wiener Linien ihren Be­ trieb auch in Krisenzeiten aufrecht erhalten. »Ihr benehmt euch eh, oder?«, fragte Schmidt auf der Facebook-Page lau­ nig und teilte den Beitrag auch auf Instagram. »Alexander Van der Bel­ len fährt mit.« Das Foto ging in Folge um die Welt, auch via Twitter. »Wir hatten viel internationale Resonanz und sogar Tweets auf Türkisch, Spa­ nisch und Chinesisch«, erinnert Lisa Schmid sich die Social-Media-Verantwortli­ che der Wiener Linien. »Der Tenor war eindeutig: Schaut mal, was in Österreich möglich ist! Dort fährt der Bundespräsident Straßenbahn.« Anders als in anderen Städten ist das in Wien tatsächlich alltäglich Christoph und das Staatsoberhaupt »einer von Heshmatpour uns«: In den Öffis sind Bauarbeiter Sind seit zwei bzw. genauso unterwegs wie Manage­ drei Jahren bei den rInnen und die Spitzen der Politik. Wiener Linien Am Beispiel des Bundespräsiden­ für Social Media ten zeigt sich aber auch mustergül­ zuständig.

tig wie die Wiener Linien mit ihren Fahrgästen und Fans kommunizieren: fundiert, faktenbasiert, gerne auch reaktiv, also schnell – und wann immer möglich mit Fun-Faktor, au­ genzwinkernd und salopp im Ton. Wenn es um sozialpolitisch Relevantes geht, beziehen die Wiener Linien auch eindeutig Stellung: für Offenheit, für Vielfalt. Viel Feedback gab es auf das »Wet Ass Bus«-Pos­ ting von Schmids Kollegen Christoph Heshmatpour – eine Anspielung auf die Rap-Hymne »Wet Ass Pussy« der US-Rapperinnen Cardi B und Megan Thee Stallion, die als selbstbewusstes Statement der Frauenemanzipation für Auf­ regung sorgte. Der »Wet Ass Bus« der Wiener Linien wurde auf Instagram mit mehr als 5.000 Likes gefeiert. Auf Face­

Ein Bundespräsident in der Bim, das gibt es nur in Wien. Der Re-Post des Staatsoberhaupts als maskentragender Fahrgast der Wiener Linien ging um die Welt.

Bild  Wie ner Linie n, Faceboo k, Instagram

Entgeltliche Kooperation mit


book war unter anderem »Ein shout out an die WL Abtei­ lung für die vorzüglichen Updates« zu hören. Unmissverständliche Postings gab es auch zu Black Lives Matter oder wenn die Straßenbahnen mit Regenbogenfah­ nen beflaggt durch die Stadt fahren. Klar, dass das nicht alle begeistert. »Wir löschen kriti­ sche Kommentare aber nicht und diskutieren auch mit Ha­ tern. Respekt, Toleranz, Vielfalt – das leben wir«, sagt Lisa Schmid. »Das Schöne ist, dass wir mittlerweile eine große Fan-Base haben, die uns wirklich verteidigt. Wir haben na­ türlich immer Argumente in petto, aber meistens regelt das die Community selbst. Das haben wir uns erarbeitet.«

Das belegen auch Zahlen und Auszeichnungen: Punkto Engagement sind die Wiener Linien klar die Social-Me­ dia-Nummer-1 der Stadt. Im ersten Halbjahr 2020 erreichte man auf Basis der 100.000+ Facebook-Fans allein über diesen Kanal 1,8 Millionen Kontakte. Theoretisch also fast jede/n WienerIn. Wachsende Bedeutung kommt auch Instagram

Die Wiener Linien leben Toleranz, Vielfalt, Respekt und Offen­ heit. Kritische Postings werden nicht gelöscht. Auch Hatern be­ gegnet das Social-Media-Team mit Augenzwinkern. Unterstüt­ zung kommt aus der Community.

Öffi-Kult im Netz: Die Berliner BVG wie die Wiener Linien rei­ men mitunter, vermitteln spielerisch nötiges Wissen, haben lei­ denschaftliche Fans und inspirieren einander gegenseitig – mit Wiener Schmäh und Berliner Schnauze.

zu, »vor allem bei der Fridays-for-Future-Generation, wo unser Greener-Linen-Klimaschutzprogramm besonders gut ankommt«, sagt Christoph Heshmatpour. Twitter ist für die JournalistInnen-Bubble relevant, Hintergründiges wird unter blog.wienerlinien.at ausgebreitet, Linked-In nutzt man für Employer Branding und einige der aufwen­ digen YouTube-­Videos wurden mit Werbepreisen bedacht. Zuletzt schaffte es das Remake eines Minisex-Songs gar zu Airplay auf Radio FM4. Ganz im Sinne des Unterneh­ mensauftrags wurde Minisex’ Klassiker »Ich fahre mit dem Auto« mit neuem Text und Titel zurück in die Gegenwart ge­ holt: »Wir fahren mit der U-Bahn (Lass dein Auto stehen)«.

Begeisterte auf Instagram und brachte den Wiener Linien dort 500 neue Fans: das feministische »Wet Ass Pussy«-Rap-Zitat.

Entgeltliche Einschaltung

Instagram und Fridays for Future


B io r ama w i e n –B e rl i n

Nachhaltige Ernährung ist leistbar Die Berliner Köchin und Aktivistin Sophia Hoffmann über die Rolle der Gastronomie für eine Veränderung hin zu nachhaltiger Ernährung und schwierige Diskussionen rund um »Besseresser«.

Interview Martin Mühl

biorama: Österreich hat in vielen Berei­ chen einen höheren Bioanteil als Deutsch­ land, gerade in der Gastronomie ist Bio aber nach wie vor auch hier ein vernach­ lässigtes Thema. Wie schätzt du die Situa­ tion in Berlin ein? Sophia Hoffmann: Tatsächlich sind die infra­ strukturellen Voraussetzungen in Deutschland anders. Zum Glück ist Biolandwirtschaft auch hier ein zwar immer noch geringer, aber ste­ tig wachsender Bereich, aber im Vergleich zu Österreich mit 24 Prozent aller Agrarbetriebe liegen wir hierzulande laut Statistischem Bun­ desamt mit 7 Prozent noch deutlich darunter. Das heißt nach aktueller Verfügbarkeit wäre es für eine große Zahl gastronomischer Betriebe in Berlin noch nicht möglich sich hauptsäch­ lich regional bio zu versorgen. Aber die Vorrei­ terInnen auf diesem Gebiet helfen, dies zu än­ dern, indem sie die Beziehungen zu und den Direktbezug von LandwirtInnen ausbauen. Eine Schlüsselrolle spielt hier für mich »Die Gemeinschaft«, ein von GastronomInnen ge­ gründetes Netzwerk, um diese Beziehungen zu stärken. Bio ist hier ein Teil der dna.

Wie ist die Kennzeichnung in Deutsch­ land gesetzlich geregelt? Wer darf sich Bio­ restaurant nennen? Das Bio-Siegel ist ein markengeschütztes Zeichen. Jedes Produkt und jedes Unterneh­ men, das mit dem Bio-Siegel beworben oder ge­ kennzeichnet wird, muss somit vor Deklaration bei der Informationsstelle Bio-Siegel angemel­ det werden. Auch die Begriffe »Bio« und »Öko« sind gesetzlich geschützte Begriffe. Im gastro­ nomischen Bereich gilt: Wer kommunizieren möchte, dass er Bio- oder Ökolebensmittel ver­ arbeitet und anbietet, muss als Betrieb vorab am Kontrollverfahren nach der EG-Öko-Ver­ ordnung teilnehmen. Dies gilt sowohl für die Verwendung der Begriffe auf der Speisekarte, der Tafel im Gastraum, der Website sowie in jeglicher anderen werblichen Form. Hierbei ist es ganz egal, wie hoch der eingesetzte Bioanteil ist oder ob sich die Auslobung nur auf einzel­ ne Produkte oder komplette Gerichte bezieht. Wer also die Formulierung »Rührei aus Bioei­ ern« auf seine Karte nehmen möchte, benötigt hierfür eine Biozertifizierung. Vom Kontroll­ verfahren ausgenommen sind nur verpackte

Bild  Annabell S ie ve rt

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Die Ga str o no m ie a l s We g ber e ite r


Lebensmittel, die nicht weiterverarbeitet, son­ dern lediglich »weiterverkauft« werden wie bei­ spielsweise Getränke in Flaschen (Biolimo). Aber die Realität in Berlin sieht anders aus: Erstens werden diese Auflagen kaum kontrol­ liert und zweitens sind sich viele Gastrono­ mInnen überhaupt nicht bewusst, dass es nicht zulässig ist, ohne Zertifizierung mit »Bio« zu werben. Viele, die ich kenne, sind bei diesem Hinweis meinerseits aus allen Wolken gefal­ len und hatten noch nie davon gehört. Es be­ darf meiner Meinung nach noch viel Aufklärung zum Thema. Etwa wissen viele auch nicht, dass es die Option einer nicht hundertprozentigen Zertifizierung gibt, die es ermöglicht trotzdem Produkte von ProduzentInnen des Vertrauens zu verwenden, die etwa aus Rentabilitätsgrün­ den keine Zertifizierung haben. Für uns ist Bio eine Grundlage, es gibt in der Nachhaltigkeit, aber noch mehr Themen … … it’s complicated. Im gleichen Atemzug in dem Berlin für eine internationale, diverse und innovative Food-Szene steht, steht die Stadt auch für besonders billiges Essen. Und die, die versuchen Bio und fairen Handel als Teil ihrer Gastrokonzepte umzusetzen – wie etwa mein aktueller Arbeitsplatz Isla Coffee, ein Café, das nach dem Kreislaufprinzip arbeitet – werden als böse Gentrifizierer beschimpft. In der kom­ plexen Debatte um die Markthalle Neun, wahr­ scheinlich mit der wichtigste Standort kulina­ rischer Wertschätzungskultur in Berlin, wird dann auf einmal der Begriff »BesseresserInnen« zu einem Schimpfwort. Alt-Linke und junge Autonome verteidigen Konzerne wie Aldi und beschimpfen Produzen­ tInnen und GastronomInnen als Snobs, ohne sich tiefer damit auseinanderzusetzen, war­ um der Status quo der Lebensmittelerzeugung postkolonial rassistisch ist und Menschen, Tie­ re sowie Umwelt gleichermaßen ausbeutet. Der Kaffee, der über 2,50 Euro kostet, und der Baris­ ta, der eine nachhaltige Produktphilosophie hat, werden zum Feindbild und nicht der Konzern, der durch Monopolstellung Lebensmittelpreise künstlich niedrig halten kann. Das ist vollkom­ men absurd. Ich kann nicht für mehr Gerech­ tigkeit auf die Straße gehen und dann guten Ge­

»Es bedarf positiver Bildungs und Über­ zeugungsarbeit, politischer Unterstüt­ zung für Wertschätzungsmehrung und höherer Sozialleistungen für die marginalisierten Bevölkerungsgruppen.« — Sophia Hoffmann wissens für 1,99-Euro-Billigfleisch von Tönnies bei Aldi einkaufen – das geht nicht zusammen. Zudem gebe ich zu bedenken, dass Menschen wie ich, die sich für Veränderung einsetzen, meist genau das Gegenteil von Großverdiener­ Innen sind und zum Großteil aus Überzeugung und Idealismus handeln. Für sie stellt der Kon­ sum hochwertiger Lebensmittel eine Priorität dar, dafür sparen sie in anderen Bereichen. Das hat natürlich viel mit Privileg, Bildung und So­ zialisierung zu tun, deshalb ist es im Umkehr­ schluss verkehrt, Menschen mit niedrigem Ein­ kommen zu verurteilen, wenn sie billiges, stark verarbeitetes Essen konsumieren. Es bedarf po­ sitiver Bildungs- und Überzeugungsarbeit, poli­ tischer Unterstützung für Wertschätzungsmeh­ rung und höherer Sozialleistungen für die mar­ ginalisierten Bevölkerungsgruppen. Aber in Berlin passiert auch viel Innovatives: Wir haben eine riesige vegane Food-Community und Zero-Waste-/Low-Waste-Konzepte, die Vorbildwirkung haben. Es gibt Genossenschaf­ ten und Initiativen, die neue Wege aufzeigen. Aber mehr geht immer noch! Gerade in Sachen Kulinarik ist es ein Thema, dass man sich Nachhaltigkeit leis­ ten können muss. Sowohl bei Bio als auch bei der Theorie, Gourmets könnten für ein Umdenken sorgen und Interesse an nicht industriell verarbeitetem Essen und besse­ rer Qualität in die Breite tragen, spielt der Preis eine Rolle. Du bist aber der Meinung, dass auch nachhaltige Ernährung für alle leistbar sein kann? Ja, absolut. Allerdings beinhaltet die Umset­ zung eine größtenteils pflanzliche saisonale Ernährung und die frische Zubereitung in der eigenen Küche. Leider gibt es viele Menschen aus allen Einkommens- und Bildungsschich­ ten, die seit Generationen nicht mehr richtig zu Hause kochen. Da hat ein enormer Wis­

Sophia Hoffmann ist eine Berliner Köchin, Autorin und Aktivistin. Sie hat lan­ ge in Österreich gelebt, sich 2011 der Ernäh­ rung verschrieben und setzt sich ebenso für Feminismus und sozi­ ale Gerechtigkeit ein. Für 2021 plant sie die Eröffnung ihres eigenen Lokals namens Happa. sophiahoffmann.com

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Die Ga str o no m ie a l s We g ber e ite r

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»In der komplexen Debatte um die Markthalle Neun, wahrscheinlich mit der wichtigste Standort kulinarischer Wertschät­ zungskultur in Berlin, wird dann auf einmal der Begriff BesseresserInnen zu einem Schimpfwort.«

»Zero Waste Küche« Sophia hat drei Kochbücher veröffentlicht, ihr aktuelles Buch »Zero Waste Küche« widmet sich den Themen Lebensmittelverschwendung beziehungsweise -wertschät­ zung. 2019, ZS Verlag

sensverlust stattgefunden, der mit Fertig- und Halbfertigprodukten und To-go-Speisen kom­ pensiert wird. Die Zahlen sprechen für sich: In Deutschland landen laut Greenpeace 18 Millio­ nen Tonnen Lebensmittel jährlich im Müll, 40 Prozent davon in Privathaushalten. Auch wenn das viele nicht gerne hören: Es ist ein Luxus­ problem, so viel Essen wegwerfen zu können. Wir geben in Deutschland 12 Prozent unseres Einkommens für Lebensmittel aus, in Nigeria sind es 56 Prozent. Ich mache zu fast 100 Prozent die Lebens­ mittelindustrie für diese Entwicklung verant­ wortlich, die den »Geiz ist geil«-Slogan in die Köpfe der VerbraucherInnen gepflanzt hat, sodass Deutsche heute mehr Geld für Motoröl ausgeben als für ein hochwertiges Speiseöl. Wir sind komplett sozialisiert und manipuliert von einer Werbeindustrie, die dafür jährlich Mil­ lionen ausgibt, und leben in dem Fehlglauben, frei zu entscheiden. Die Politik trägt daran eine enorme Mitschuld, wie man an unserer aktuel­ len Agrarministerin Julia Klöckner gut sehen kann, die als Marionette des Lobbyismus nicht ernst zu nehmen ist.

Die Gastronomie ist oft eine Wegberei­ terin, die Themen setzen kann. Siehst du eine Chance, dass über die Gastronomie das Bewusstsein für Nachhaltigkeit in der Kulinarik gesteigert werden kann? Absolut. Das ist für mich auch einer der Gründe, selbst ein Restaurant zu eröffnen – ich habe den Start von Happa aufgrund von Corona auf 2021 verschoben. Mit meiner Geschäftspartnerin ist es unser Ziel, neue Wege zu gehen, das Thema Biozertifizie­ rung vom angestaubten 1980er-Grünkern­ laibchen-Image zu befreien und modern und lecker als Qualitätsmerkmale für unsere Gäste zu präsentieren. Zudem rückt sozia­ le Nachhaltigkeit zum Glück immer mehr in den Fokus. So planen wir eine Vier-Tage-Woche, die wirtschaftlich durch eine Mehrfachnutzung der Location ermöglicht werden soll. Wir wollen weg von gesundheitsschädlichen Ar­ beitsbedingungen für Gastropersonal und vertreten die Meinung, man solle nie den Sta­ tus quo akzeptieren, nur weil irgendjemand behauptet, es ginge nicht anders.

Bild  Annabell S ie ve rt

— Sophia Hoffmann


Wir schauen aufs Ganze. Die Biobäuerinnen & Biobauern www.bio-austria.at

Bio-Genuss und Bio-Information findest du online auf bio-austria.at und biomaps.at

© Shutterstock/asife

Bio. Gut für uns. Gut fürs Klima!


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Öko l a ndbau f ü r die Ga str o no m ie

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Wir müssen reden! Wie Johannes Erz mit Kürbissen und Linsen eine Brücke zwischen dem Ökolandbau und der Gastrobranche bauen will.

W

ir befinden uns in Alt Tucheband, ei­ nem Ort unweit der polnischen Grenze, südlich von Golzow. Hier liegt der Hof von Johannes Erz, einem jungen Öko­ landwirt voller Leidenschaft. Und wenn man den öffentlichen Stimmen folgt, spiegelt sein Werdegang genau den aktuellen Zeitgeist der Landwirtschaftsbranche wider. Johannes hat in der konventionellen Landwirtschaft gelernt, wo er allerdings schon nach einiger Zeit fest­ stellte, dass ihm die Mechanismen und die Art der Bodenbewirtschaftung nicht wirklich zusa­ gen. Also beschloss der gebürtige Baden-Würt­ temberger, seinen Job zu kündigen und in Eberswalde die ökologischen Möglichkeiten der Landwirtschaft zu studieren. Von dort war es nur noch ein Katzensprung ins östliche Bran­ denburg, wo er 2016 zusammen mit seiner Frau Hanna den Hof mit den angrenzenden zehn Hektar Land kaufte. Seitdem wird selbst ange­ baut. Ökologisch. Kürbis, Kartoffeln, Zucchini.

Hühner im Klee, die Pferde produzieren fleißig Naturdünger und die Bienen arbeiten sich von Zucchiniblüte zu Distel und weiter zur Kürbis­ blüte. Mitten im grünen Dickicht erkennen wir leuchtend orangefarbene Kürbisse, die zur Ern­ te bereit sind. »Dass wir Hokkaido-Kürbisse an­ bauen, hat unterschiedliche Beweggründe«, ver­ rät uns Johannes. »Zum einen ist es ein Gemüse, bei dem der Aufwand ganz gut allein realisier­ bar ist und man die Lohnkosten so gering wie möglich halten kann. Zum anderen haben wir in den letzten Jahren schon viel Erfahrung da­ mit sammeln und die Prozesse optimieren kön­ nen, sodass es heute einfach Spaß macht, den Früchten beim Wachsen zuzusehen.« Die rei­ fen Feldfrüchte verkauft Johannes unter ande­ rem an größere verarbeitende Betriebe, einzel­ ne LebensmittelhändlerInnen, die Gastronomie und über seinen eigenen kleinen Hofladen. Der Absatz in der Gastronomie gestaltet sich dabei noch etwas schwierig.

Optimierte Prozesse

Die Tiere helfen mit

Wir schlendern über den Hof und sehen wilde Natur. In der prallen Mittagssonne picken die

Für Johannes gibt es kein Zurück mehr vom Ökolandbau. Dass dieser viele Vorteile hat, zeig­

Bild Sascha Walz

Text Sascha Walz


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»Wenn LandwirtInnen wissen, was sie in einem Jahr sicher verkaufen können, dann pflanzen sie gern Kürbis, Kartoffel und Zucchini an und sind auch bereit für Experimente.« — Johannes Erz

te sich besonders in diesem Jahr. Die nachhal­ tige Landwirtschaft ist meist klimaresilienter als der konventionelle Bereich, da nachweislich nur kleinere Schwankungen im Ertrag zu ver­ zeichnen sind, wenn es beispielsweise weniger regnet. Lieferengpässe gibt es in der Regel also kaum, es sei denn die Ware ist aufgebraucht. Von VerbraucherInnenseite ist auch der bessere Ge­ schmack von Bioobst und Biogemüse ein häufi­ ges Argument. Essenziell für Johannes ist aber die natürliche, nachhaltige und gemeinschaft­ liche Art der Landwirtschaft. Für den studier­ ten Landwirt besteht der Ökolandbau nicht nur aus Sähen und Ernten. Vielmehr ist es ein in sich stimmiges System, bei dem die Tiere mit­ helfen, egal ob im Bereich der Düngung, Boden­ bearbeitung oder Belieferung des Hofladens mit Bioeiern. »Wir produzieren Lebensmittel, dafür sind wir da. Und unsere Grundlage ist der Bo­ den. Deshalb muss alles versucht werden, da­ mit dieser noch viele Generationen lang frucht­ bar und lebendig bleibt. Und so wird eben nicht künstlich gedüngt oder weggespritzt, was über­ all weggespritzt wird. Das Unkraut wird mit Pflug und Maschine bearbeitet und der Rest ist Bodenarbeit, Fruchtfolge, Geschick und Na­ tur. Das macht Spaß. Da muss man noch nach­ denken. Die konventionelle Landwirtschaft ist Grundschule dagegen«, meint Johannes lachend.

Szenenwechsel. Der Fotograf steht mit kur­ zer Hose im Kürbisfeld. Johannes zeigt vollen Körpereinsatz und die Kamera klickt im Sekun­ dentakt. Die Schienbeine brennen. Ebenso die Sonne. Um der erbarmungslosen Mittagshit­ ze zu entkommen, flüchten wir an den kühlen Küchentisch. Es ist Zeit, die ernsten Themen anzusprechen: Wie läuft denn das nun mit der Gastronomie und der Ökolandwirtschaft? Geht das gut zusammen? Gerade mit Berlin vor der Hoftür?

Es liegt nicht am Preis »Das Gros der Gastronomie will mit Öko nichts zu tun haben. Zumindest höre ich das immer wieder von den GastronomInnen und Kolle­ gInnen«, beginnt Johannes. Das überrascht uns, wo doch der allgemeine Trend immer mehr in Richtung bio, öko, regional und lokal geht. Woran liegt es, dass die ProtagonistInnen der Gastrobranche nicht um Partnerschaften mit LandwirtInnen wie Johannes wetteifern? »Am Preis zumindest kann es nicht immer lie­ gen, besonders wenn man einige regionale Ge­ müse- und Obstangebote aus dem konventio­ nellen Anbau vergleicht. Das können wir mit Öko genauso. Das weiß nur niemand.« Für ihn ist einer der Hauptgründe der Problematik die mangelnde Kommunikation zwischen Abneh­ merInnen und ErzeugerInnen. Auf der einen Seite kennen die GastronomInnen die Mög­ lichkeiten nicht gut genug, und auf der anderen Seite können die LandwirtInnen nicht lang­ fristig planen, da sich Wünsche und Absatz schlecht einschätzen lassen.

Bauernhof Erz Ziemlich genau 85 Kilometer östlich von Berlin nahe der polnischen Grenze liegt der Ökohof von Johannes Erz. Dort gibt es neben Bio­ kartoffeln und Kürbissen eine Kükenaufzucht und Jungpflanzenzucht, geplant sind auflockernde Hecken und Streuobstbäume.


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Öko l a ndbau f ü r die Ga str o no m ie

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Die Linse mit Gesicht Im Frühjahr 2020 hat Johannes Erz ein Crowd­ funding-Projekt erfolgreich abgeschlossen, um künftig auch Linsen anbauen zu können. Auf Linsen setzt er um jene, die auf tierisches Eiweiß verzichten wollen, zu unterstützen. Und weil Linsen als Hüslenfrüchte durch die Symbiose mit Bakterien Luftstickstoff im Boden speichern.

Wenn es nach Johannes geht, sollten sich LandwirtInnen und KöchInnen regelmäßig zu­ sammen an einen Tisch setzen und die grundle­ genden Dinge besprechen. Er hat sich deshalb über die Kooperation mit dem Händler Trans­ gourmet gefreut, der ihm für die Erntesai­ son 2020 eine feste Menge Kürbisse abnimmt. Die Kürbisse werden bei einem Verarbeiter in Brandenburg vorgeschnitten, damit sie dann unkompliziert in den Berliner Großküchen ein­ gesetzt werden können. Wer also gern Kürbisse, Kartoffeln, Zucchini, Linsen oder sogar bald Erdnüsse aus Branden­ burg von einem engagierten Ökolandwirten kaufen möchte: Johannes freut sich über einen Anruf, eine E-Mail oder im besten Fall ein per­ sönliches Gespräch auf seinem Acker. Kommu­ nikation ist eben alles. Im Leben, wie in der Liebe. Und im Geschäft.

Bild Sascha Walz

Planung und Kommunikation Die Einschätzung von Johannes: »Die Ursache mag darin liegen, dass sich die Landwirtschaft und die VerbraucherInnen, darunter auch die Gastronomie, in den letzten Jahrzehnten von­ einander entfernt haben. Dadurch, dass jede Ware von überall immer verfügbar ist, hat sich die Landschaft homogenisiert. In allen Betrieben wird das Gleiche mit dem Ziel des größtmöglichen Ertrags angebaut. Mais, Raps, Getreide. Das System ist kaputt. Es gibt keinen Platz mehr für Klein-Klein und Vielfalt.« Er schlägt deswegen vor, wieder intensiver mit­ einander zu sprechen und den Lebensmitteln ihre Wertigkeit zurückzugeben: »Wenn Land­ wirtInnen wissen, was sie in einem Jahr sicher verkaufen können, dann pflanzen sie gern Kür­ bis, Kartoffel und Zucchini an und sind auch bereit für Experimente.« Bei ungewissen Aus­ sichten fällt es schwerer, riskante Entscheidun­ gen zu treffen und zu investieren: »Entspre­ chend grau sieht dann auch die Auswahl und Verfügbarkeit für die Gastronomie aus.« Gera­ de eine langfristige Planung ist nur durch bes­ sere Kommunikation möglich. Ein Landwirt wie Johannes muss ein Jahr im Voraus ent­ scheiden, was er im nächsten Jahr anpflanzt, ohne zu wissen, ob die entsprechende Nach­ frage zur Erntezeit vorhanden sein wird. Johannes sieht eine mögliche Lösung darin, eine konkrete Abnahmegarantie und Planungs­ sicherheit seitens der HändlerInnen und Gast­ ronomie einzuführen. Je besser in den Küchen und Kantinen vorgeplant und der Warenbe­ darf an die ErzeugerInnen kommuniziert wird, desto sicherer kann auch im Landbau geplant werden. Und desto mehr Zeit bleibt, um zwi­ schendurch mal etwas Neues auszuprobieren, wie beispielsweise den Anbau von Linsen. »Wir können nur einmal im Jahr alles richtig oder alles falsch machen. Zurückrudern oder um­ schwenken innerhalb des Jahres ist einfach nicht möglich. Wir arbeiten mit der Natur zu­ sammen, und diese Zusammenarbeit braucht Zeit.« Doch bei einer durchdachten und bes­ tenfalls mehrjährigen Planung kann man auch im Ökoanbau stabilere Erträge und Ergebnis­ se zu guten Preisen erreichen – noch dazu mit meist besserer Produktqualität.


Foto: Johannes Zinner

Olivia, Architektin und VHS Kursleiterin für Architektur und Multimedia

Bernhard, Yogatrainer und VHS Kursleiter für Hatha Yoga

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Clean Berlin Text Jürgen Schmücking

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illy Wagner vom Nobelhart & Schmutzig ist ein streitbarer Geist. Vor ein paar Jahren ließ er Sticker anfertigen. Die Logos der be­ kannten Restaurantführer blieben erkenn­ bar, den Test änderte er: Aus Gault & Millau wur­ de Faux Millau, Tripadvisor zu Shitadvisor und der Guide Michelin blieb zwar der Guide Miche­ lin, bekam aber vier Sterne statt drei. Ein Affront. Viele Gastronomen fühlten sich verstanden, fan­ den es lustig und klebten die Sticker auf ihre Ein­ gangstore. Die Leute vom Michelin fanden die Aktion nicht ganz so witzig und ließen ihre An­ wälte ein paar Drohgebärden machen. Auf Ins­ tagram kann man Billy Wagner vom Nobelhart & Schmutzig in Berlin dabei zusehen, wie er den Sticker von der Glastür kletztelt. 10.000-mal ge­ sehen, jede Menge Likes, jede Menge Häme für den humorlosen Guide Michelin. Die Botschaft ist angekommen.

Verlässlich nachhaltig? 2019 ging der Clinch zwischen Billy und dem Guide Michelin in die zweite Runde. In einer versöhnlichen Geste zeichnete der renommier­ te Gastroguide das Nobelhart & Schmutzig mit einem neuen Symbol aus. Zusätzlich zum klassi­ schen Stern vergab der Michelin auch eine Aus­

»Seid ihr sicher, dass wir im Nobelhart & Schmutzig nicht tonnenweise Müll produzieren?« —  Billy Wagner, Nobelhart & Schmutzig

zeichnung für besonders nachhaltige Restaurants. Weil bio, vegan, nachhaltig und regional Trends sind, an denen auch der – eigentlich stockkon­ servative – Guide Michelin nicht vorbeikommt. Also wurde der Stern grün und bekam einen klei­ nen Stängel verpasst – und sieht jetzt aus wie ein fünfblättriges Kleeblatt. Billy Wagner, dessen Lo­ kal übrigens nicht biozertifiziert ist, bekam so ein Blattl aufs Aug’ gedrückt und seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Es mangelt ihm an Transparenz und nachvollziehbaren Kriterien. »Seid ihr euch sicher, dass wir im Nobelhart & Schmutzig nicht tonnenweise Müll produzieren? Wisst ihr eigentlich, ob wir nicht doch den dre­ ckigsten, billigsten CO2-Schleuder-Stromvertrag haben? Und kann es nicht sein, dass ich Groß­ maul nicht einfach nur erzähle, wie toll nachhal­ tig wir doch sind? Habt ihr es denn nachgeprüft? Belohnt ihr uns nicht vielleicht einfach für fein grünes Marketing?«, wetterte der Gastronom in einem Video in Richtung der Tester. Billy Wagner trifft damit den Kern der Sache. In der öffentli­ chen Wahrnehmung verschwimmen die Begrif­ fe. »Regional« wird im günstigen Fall mit »bio« gleichgesetzt, im ungünstigen ist es »das bessere Bio«. Der »Nachhaltigkeit« fehlt es ohnehin an ei­ ner gemeinsamen Definition (und damit auch an überprüfbaren Kriterien). Und bewertet werden die Geschichten, die GastronomInnen erzählen und nicht, was TesterInnen testen. Dabei wäre gerade Berlin ein solides Pflaster für bio-affine Genießer. Das fängt bei den Wit­ ty’s Bio-Currywurstbuden in der Friedrichstra­ ße und am Wittenbergplatz an und hört bei hip­ pen Läden, wie dem Momos in der Chausseestra­ ße oder dem Bistro Bardot in Friedrichshain auf. Und natürlich kann sich auch alles sehen lassen,

B ild  Marko Seife rt, markose ifert. com, Momos

In Berlin finden sich unter den biozertifizierten Restaurants ein paar echte Highlights. Interessante Meinungen und humorvolle Einzelaktionen gibt es auch darüber hinaus.


was dazwischen liegt. Also Restaurants, die bei Biobauern einkaufen, ohne das an die große Glo­ cke zu hängen. Restaurants wie das genannte No­ belhart & Schmutzig, die Weinbar Rutz oder das relativ neue Otto am Prenzlauer Berg.

Vegan und international Richtig – also zertifiziert – bio sind das Momos, das Bistro Bardot, Wilhelm & Medne, der Viet­ namese Cát Tu ò ng und das Mandelbaum in Ber­ lin-Weißensee. Unter anderem. Aber diese Betrie­ be lohnt es, genauer zu betrachten. Das Momos ist ein Teigtaschenparadies und ein innovatives Biorestaurant, das auf Qualität und nachhalti­ ge, bewusste Esskultur setzt. Die Spezialität des Hauses sind Dumplings: hausgemachte, gefüllte Teigtaschen, inspiriert von den himalayischen Momos. Bei der Zubereitung hat man die Wahl zwischen – ganz klassisch – gedämpft oder in der Pfanne gebraten. Die Momos haben dabei fetzige Namen wie green sheep (Schafkäse), champ lover (Champignons) oder Bro-Shi-To (Brokkoli, Shiita­ ke, Tofu). Wobei Letztere echte Burner sind. Das Bistro Bardot ist – ebenso wie das Momos – ein vegetarisch-veganes Lokal. Eigentlich hätten wir damit beginnen müssen, denn es ist ein sensa­ tionell gutes Frühstücks-Deli mit Brunch-Option. Das Bardot gehört zum beziehungsweise liegt im legendären Almodóvar-Hotel in der Boxhagener Straße. Über die Grenzen der Hood hinaus be­ kannt sind die veganen Frühstücksklassiker. Also das Rührei. Oder die vegane Currywurst. Die Tel­ ler im Bardot wirken üppig, sind es aber nicht.

Permakulturgarten beim Italiener Ein Lokal, an dem man keinesfalls vorbeikommt, wenn es um Berliner Bioempfehlungen geht, ist das Café Botanico in Neukölln. Und zwar des­ halb, weil es einen eigenen biozertifizierten Per­ makulturgarten hat. Das ist einigermaßen einzig­ artig und war auch in Österreich eine lange Dis­ kussion in der Biogastronomie. Immerhin macht es einen beachtlichen Unterschied, ob neben der Verarbeitung (der Küche) auch der Anbau (ei­ gentlich Landwirtschaft) von der Kontrollstelle erfasst und überprüft wird. Im Botanico haben sie das jedenfalls gut auf die Reihe bekommen und verarbeiten die Biopflanzerl zu köstlichem Wildkräutersalat, einem sensationellen Garteno­ melette, herrlich sämigem Risotto oder Pasta. Ah, ja – das Café Botanico ist eigentlich ein Italiener. Wer auf Fleisch steht – bitte den Botanico-Burger probieren. Gezupftes Lamm, Fenchelmayo und

eben die Wildkräuter aus dem Permakulturgar­ ten. Unvergleichlich. Cát Tu ò ng ist ein vietnamesisches Res­ taurant in der Kastanienallee am Prenzlau­ er Berg. Die Location erhöht die Wahrschein­ lichkeit, dass hier vegetarische/vegane Küche angeboten wird, enorm. Überhaupt treten bio und vegan in Berlin wesentlich öfter im Dop­ pelpack auf, als in anderen Städten. Bei Cát Tu ò ng wird jedenfalls klassisch vietnamesisch gewokt und dem Tofu eine breite Bühne gebo­ ten. Also viel Tofu, viel gebratenes Gemüse und Saucen wie die großartige Mango-LimettenSauce sorgen für gesunde Abwechslung und scharfen Gaumenkick. Last not least zu erwähnen: Wilhelm & Med­ ne, ein Biobistro mit ausgesprochen guten Qui­ ches, Gratins, Suppen und Salaten sowie das Mandelbaum. Dieses Restaurant gilt als Pionier der Biogastronomie und bietet ein breites Spekt­ rum deutscher und internationaler Gerichte. Wo­ bei das Signature Dish des Mandelbaum eher ein Klassiker der österreichischen Wirtshausküche ist: Wiener Schnitzel vom Kalb. Allerdings leicht germanisiert. Mit Preiselbeer-Meerrettich-Dip.

Entscheidende Lieferanten Die Bioszene in Berlin ist dynamisch, innovativ und reitet flott auf der Welle der Nachhaltigkeit und des grünen Lifestyles. Die Wahrscheinlich­ keit, auch in nicht-zertifzierten Restaurants Biooder gar Demeter-Ware zu bekommen, ist enorm hoch. Das gilt auch – oder vor allem – für Betriebe in der Spitzengastronomie. Also für das neue Otto, für Dylan Watson-Brawns schräges Ernst oder für das eingangs genannte Nobelhart & Schmut­ zig. Betriebe, die ihre LieferantInnen besser ken­ nen, als die eigene Familie. Und diese Lieferan­ tInnen sind in den meisten Fällen Biobäuerinnen und Biobauern.

Da Momos ist ein biozertifiziertes Teigtaschenparadies.

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B io r ama W i e n –B e rl i n

B io r estau r a nts in Wie n

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GroSSe Bandbreite, kleine Auswahl Würstelstand, Wiener Küche, Pizza, Indisch und bald auch Kebab gibt es in Wien biozertifiziert. Die Anzahl der Betriebe ist aber extrem gering.

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enn wir uns – wie für dieses Heft – mit GastronomInnen und Generell-an-Es­ sen-Interessierten in Deutschland unterhalten, können diese es immer wieder kaum glauben: Die EU-Regelung für die Biogastronomie hat in Österreich noch im­ mer keinen Gesetzesstatus und kann damit re­ lativ einfach umgangen werden. Und so findet man in Österreich vom Betrieb, der ohne es zu kommunizieren Biolebensmittel und -zutaten einsetzt, über das vollzertifizierte Lokal bis zur Nutzung des Begriffs Bio in der Eigenwerbung komplett ohne Zertifizierung viele Varianten. Auch außerhalb Wiens gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten biozertifiziert zu essen. Nicht zuletzt in Biohotels, vor allem aber auch in biozertifizierten landwirtschaftlichen Betrie­ ben, die auch Zimmer, Frühstück und teilweise Gastronomie anbieten. In Wien ist das Angebot klein, aber breit.

Wiener Klassik Einen Sonderstatus hat das Weinhaus Arlt in der Hernalser Vorstadt: Hier gibt es klassische Wie­ ner Wirtshausküche. Die Portionen sind tendenziell groß, es gibt vier klassische Hauptspeisen (etwa

Gulasch und Beuschel), vier Positionen Geba­ ckenes (Wiener Schnitzel, Backhendl, …) und vier vegetarische Gerichte. Dazu eine wech­ selnde Saisonkarte und eine Weinkarte mit 150 Weinen. Im Weinhaus Arlt findet man die Verbindung von Bio mit jener Küche, die man mit Wien assoziiert. Seit einiger Zeit ist auch Kolariks Luftburg im Wiener Prater biozertif­ ziert. Hier isst man in erster Linie Stelze (Eis­ bein), Ribs und Wiener Küche. Bier wird bio und konventionell angeboten, die Weinkarte mit österreichischen Klassikern ist fast aus­ schließlich bio. Mit der Bio-Pizzeria Vero hat auch Wien seine biozertifizierte Pizzeria. Hier gibt es klassisch in erster Linie Pasta und Pizza – auf Wunsch auch glutenfrei oder mit Dinkelteig. Biofrische ist mit mittlerweile drei Standorten ein Anbieter, bei dem man in erster Linie Es­ sen bestellt – und zwar indisch. Auch bei Eat Bio bestellt man indische Küche zertifiziert bio. Das Deli Bluem ist ein Bistro mit vegetarischem und veganem Angebot in der Nähe des Praters.

Würstelstand und Kebab Abgerundet wird das biogastronomische An­ gebot in Wien seit Kurzem durch die Biozerti­ fizierung des Wiener Würstelstand im Bezirk Josefstadt. Da die Betreiber teilweise ein Nahe­ verhältnis zu Salzburg haben, gibt es hier auch Bosna. Und bald, da soll in Wien das erste bio­ zertifizierte Kebablokal öffnen.

Bild  Martin Mühl

Text Martin Mühl


B io r ama Wi e n – B e rl i n

Sh o p p ing

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Eine Mall geht noch Das gute alte Kaufhaus bietet in Berlin nun auch Altwaren feil, aber statt Tand gibt es hier Reuse-Objekte und Upgecyceltes. Es heißt jetzt Mall und bringt vielleicht das Beste aus zwei Welten.

Bild BSR

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er die Wertstoffsammlung einer Großstadt organisiert, bestimmt über das Ende der Dinge. Diese Machtpo­ sition über den Produktzyklus ist den 48ern, wie die Wiener Magistratsabteilung für Abfallwirtschaft, Straßenreinigung und Fuhr­ park sich selbst liebevoll nennt, schon seit Langem bewusst, und sie machen auch was draus. Seit 1989 zum Beispiel den 48er-Tand­ ler – ein städtisch organisiertes Altwaren­ kaufhaus für »alte, aber noch verwendbare Gegenstände«, die auf den Mistplätzen (das Wiener Pendant zu dem, was die Mehrheit der deutschsprachigen Welt inzwischen Recy­ clinghof nennt) der Stadt gezielt gesammelt werden. Einen Trödler im noch größeren Stil gibt es nun endlich auch in Berlin, entstaubt und auf 2000 Quadratmetern umgesetzt hat das Konzept niemand Geringerer als die Ber­ liner Stadtreinigung bsr – eine der Maßnah­ men zur Umsetzung des Abfallwirtschaftsge­ setzes des Landes Berlin für die Jahre 2020 bis 2030. Mit der Namenswahl Nochmall klingt schon eine Ansage durch: Dem verbreiteten Glauben, dass nachhaltige Einkaufsstrukturen nur im Kleinen möglich sind, hängt man hier nicht an. »Ob Mall oder kleiner Laden, das ist aus unserer Sicht keine Kondition für Nach­ haltigkeit. Es kommt auf das Sortiment an und das sind bei uns eben Dinge, denen wir und die ehemaligen Besitzenden ein zweites Leben ge­ ben wollen«, stellt Frieder Söling, Geschäfts­ führer der Nochmall GmbH, klar.

Nach einem offenbar erfolgreichen Pilotver­ such im Jahr 2018, der durch Verkauf von Pro­ dukten aus den Recyclinghöfen über einzelne Secondhandläden das Marktpotenzial auslo­ ten sollte, wurde im Sommer 2020 die Kombi­ nation aus Secondhandkaufhaus und Nachhal­ tigkeitszentrum mit interaktivem Programm eröffnet. Derzeit wird hier nur verkauft, was auf den Sammelstellen von zwei der 15 Recy­ clinghöfe gesammelt wird. Doch »weitere sol­ len – wo Platz dafür ist – dazu kommen. Seit der Eröffnung der Nochmall Anfang August kom­ men aber auch immer mehr Menschen direkt zur Nochmall, um ihre nicht mehr benutzten Dinge dort abzugeben«, freut sich Söling. Ge­ fragt, was die Nochmall, abgesehen von ih­ rem Veranstaltungs- und Kursprogramm, vom Wiener 48er-Tandler unterscheidet, antwor­ tet Söling: »Vieles ist so wie im Tandler auch, aber wir wollen unseren KundInnen das Ge­ fühl geben, in einem ganz normalen Kaufhaus einzukaufen, eben nur: alles außer neu. Das heißt für uns: Alles ist sauber und übersicht­ lich angeordnet, das Kaufhaus ist hell und die Regale sind nicht vollgestopft. Außerdem sind für uns die MitarbeiterInnen der Noch­ mall wichtig, die den KundInnen mit Rat und Tat freundlich zur Seite stehen.« Man hat sich bei der Konzeptentwicklung mit der Stadt Wien ausgetauscht und einen Lokalau­ genschein im 48er-Tandler durchgeführt. Gut möglich, dass man dort gerade neugierig in die Nochmall schielt.

Text Irina Zelewitz


B io r a m a W i e n –Be rl i n

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E r l en d Lo r em ip su m

»Fett ist rehabilitiert« Wohin weisen Food-Trends? Welche sind passé? Warum kommen diese Trends aus der Großstadt? Martina Hörmer, langjährige Geschäftsführerin von Ja! Natürlich, im Gespräch

Entgeltliche Kooperation mit

biorama: Vor mehr als 25 Jahren ist Ja! Natürlich mit dem Anspruch »Bio für alle« angetreten. Mittlerweile gibt es in den rewe-Regalen von Billa, Merkur und Sutterlüty mehr als 1.100 Bioprodukte und nirgend­ wo auf der Welt so viele Biobäuerinnen und Biobauern und so viel ökologisch bewirtschaftete Äcker und Felder wie in Österreich. Was denken Sie sich denn dabei, wenn sie heute hören, Bioprodukte wären nur etwas für Wohlabende und Besserverdienende? martina hörmer : Bio ist nicht vorrangig eine Frage des Sich-Leisten-Könnens. Viele Menschen haben über die Jah­ re realisiert, dass ein gutes Leben ohne eine gesunde Ernäh­ rung unmöglich ist. Und hier bietet Bio viele Mehrwerte, die einen etwas höheren Preis rechtfertigen. Diese Gleichung wird immer mehr Menschen klar. Bio ist meines Erachtens eine Frage des Wissens und des Wollens, also der persönli­ chen Prioritäten, und weniger eine Frage des Wohlstands. Was in Lebensmitteln enthalten ist, woher sie stammen, wie und auf wessen Kosten sie hergestellt wurden, darauf ach­ ten immer mehr Menschen. Ja! Natürlich ist bewusst im­ mer über Bio und Genuss hinausgegangen: Umweltaspekte, Tierschutz – all das spielt mit hinein. Hier schaffen unsere Lebensmittel Vertrauen und wir sehen, dass unsere Klien­ tel immer stärker sagt: »Ich will mir das leisten, weil es mir guttut und auch niemand anderer dadurch Schaden nimmt.

Das ist es mir wert.« Aber ja: Bio ist immer noch teurer und das geht auch nicht anders, weil es Folgeschäden und Folge­ kosten nicht auf andere abwälzt. Ja! Natürlich wurde von Anfang an als LifestyleMarke positioniert, die unterschiedliche Food-Trends geschickt aufgegriffen hat. Gibt es Trends, die sich als sehr kurzlebig herausgestellt haben und über die Sie heute lachen? Der Trend zur Fettreduktion ist verschwunden. Vor 15 Jahren hieß es immer: Fett ist schlecht, Produkte müssen fettreduziert sein. Als ich vor mehr als 18 Jahren zu Ja! Natürlich gekommen bin, gab es Milch in allen Fettstufen: von Vollfettmilch mit mehr als 4 Prozent und eine ganz magere, ich glaub, es waren sechs Sorten mit verschiedenen Fettstu­ fen. Das ist gänzlich vorbei. Wir haben gelernt, dass weni­ ger Fett nicht unbedingt weniger Kalorien bedeutet, dass Fett ein guter Geschmacksträger ist und dass man nicht automatisch schlank wird, wenn man Fett durch andere Inhaltsstoffe ersetzt. Fett ist rehabilitiert, weil wir wissen, dass es ganz unterschiedliche Qualitäten an Fetten gibt und dass auch gegen ein gutes Schweineschmalz, so es von ei­ nem Bioschwein stammt, nichts einzuwenden ist. Und was ich auch nicht mehr sehe, sind probiotische Produkte. Die sind verschwunden.

Bild Christian Duse k/Ja ! Nat ürlich

Entgeltliche Einschaltung

Regional und innovativ: Im Vorjahr präsentierte Martina Hörmer erstmals Bio-Erdnüsse aus dem Weinviertel.


— Martina Hörmer, Ja! Natürlich

Aber lebt das Gesundheitsversprechen, das hinter Probiotischem stand, nicht durchs Fermentieren in der Do-it-yourself-Bewegung weiter? Richtig, mir fallen insgesamt mehr Trends ein, die dazu­ gekommen sind, als solche, die verschwunden wären. Aus meiner Perspektive ist einer der stärksten Trends jener hin zu mehr Vielfalt. Vor zwanzig Jahren gab es im Supermarkt und im Bewusstsein zwei Kartoffelsorten – die Speckigen und die Mehligen. Heute gibt es vielfältige Sorten – auch bei Paprika, Chilis. Milch differenziert sich nicht mehr über Fettstufen, sondern wir bieten Kuhmilch, Schafmilch, Ziegenmilch und – als wichtige Bewegung hin zu weniger tierischem Eiweiß – pflanzlichen Milchersatz: von Soja­ drinks über Hafer- bis zu Mandeldrinks. Trends beginnen oft in Nischen, Lebensstile sind mitunter widersprüchlich – wenn wir etwa an Veganis­ mus und bewussten, auf Tierwohl bedachten Fleisch­ konsum denken. Wie geht man denn mit dieser Wider­ sprüchlichkeit um, wenn man sie als Marke alle glaub­ würdig vereinen und mittragen muss? Wichtig ist, dass sich nicht widerspricht, was unter einem Markendach passiert. Tierschutz und Veganismus sind ja nicht unbedingt widersprüchlich. Der Grundgedanke der biologischen Landwirtschaft ist ja der Kreislauf: Das Tier düngt den Boden, der Boden gibt die Früchte, die er wieder an das Tier zurückgibt. Das passt also gut unter ein Dach. Ja! Natürlich ist keine vegane Marke, aber wir haben sehr, sehr viele Produkte, die wir natürlich auch VeganerInnen anbie­ ten. Auf der anderen Seite »verkaufen« wir Fleisch und ha­ ben über die Jahre Tierschutz immer größer geschrieben. Wir sind davon überzeugt: Es ist besser, weniger Fleisch zu essen, dafür besseres Fleisch. Uns ist wichtig, den Leuten be­ wusst zu machen, dass hinter jedem Stück Fleisch ein Tier, ein Lebewesen steht und dass es ganz wichtig ist, wie es ge­ halten und gefüttert wurde. Veganes und Tierisches – beides passt gut unter unser Wertedach.

Food-Trends Große Mega-Trends – Neo-Ökologie und Ge­ sundheit als »Achtsamkeit nach innen und nach außen« – und sieben zukunftsweisende Bioprodukte

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Plant Based Food

Nicht die Imitation von tierischen Produkten, son­ dern die Gesundheit und Fit­ ness – und zunehmend auch der Geschmack – stehen im Vordergrund. Statt um strengen Veganismus geht es hier um pflanzliche Lebensmittel als Basis. Weil Pflanze aber nicht Pflanze ist, setzt Ja! Natürlich z. B. seit Langem auf ein palmölfreies Sortiment. Produkte: Hanfmehl, Mandelmus, Hummus, Milchalternativen

Food / 2 Clean Free From & Vegan

Die Lebensweisen und Vorlieben sind individuell und ausdifferen­ ziert. Sowohl Unverträglichkeiten (Gluten, Laktose) als auch ethische Überzeugungen (vegan) speisen diese vielschichtige Entwicklung. Im Fokus stehen »Ungredients«, also: was in einem Lebensmittel nicht enthalten ist. Produkte: Milchalternativen, Hanfmehl, Mandelmus, Leinsaat, Chia

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Regional / Local Food

Bei Ja! Natürlich gehen der Bio­ gedanke und Regionalität seit jeher zusammen. Transparenz, alte Sorten, traditionelle Zubereitungs­ weisen und lokale Innovation – etwa Reisanbau im Burgenland – spielen hier zusammen. Produkte: Sonnen-Ura, Waldviertler Speckige, Esterhazy Baguette, Seewinkler Reis (saisonal), Chia, Buchweizen, Tellerlinsen und Leinsaat aus Österreich

Entgeltliche Einschaltung

»Österreich ist nicht nur BioWeltmeister, sondern auch Welt­ meister im Betonieren. Unsere Landschaft wird verbraucht, das Verbleibende immer inten­ siver genutzt. Deshalb gibt es keine Blumenwiesen mehr.«


Wer gesund leben will, redu­ ziert nicht nur Salz, sondern auch Zucker. Neben Honig helfen dabei süße Alternativen zu raffiniertem Zucker. Produkte: Ahornsirup, Datteln, Apfelmus (z. B. Apfel-Mango), Beerenporridge

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Protein-Alternativen

Wir essen alle zu viel Fleisch. In Europa 67 Kilogramm pro Per­ son und Jahr. An einer Trendwen­ de führt kein Weg vorbei. Regionale Superfoods wie Linsen, aber auch importierte Ideen – wie der traditio­ nelle isländische Skyr oder der regionale Anbau von Bio-Chia – weisen den Weg. Produkte: Skyr, Hanfmehl, Chia, Tellerlinsen, Leinsaat und Kürbiskerne

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Beyond Plastic

Auf dem Plastic Planet unterwegs zur Circular Eco­ nomy: Ja! Natürlich als Vor­ reiter reduziert seit Jahren Abfall und setzt auf Mehr­ weg. Die EU-Plastikverord­ nung verstärkt den Trend. Produkte und Ansätze: Senf und Mayonnaise im Glas; Zellulosefolien, Graspapier, Papierver­ packungen bei Teigwaren, loser Verkauf und Milch-Mehrwegflaschen

Entgeltliche Einschaltung

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Snackification

Ob in der Schule, in der Freizeit oder beruflich unterwegs: Snacks zwischen­ durch sind nicht mehr wegzudenken, Gesundheit ist für viele gleichwertig wie Genuss. Produkte: Reiswaffeln, IngwerApfel-Shot, Müsliriegel

Welches Produkt würde denn gar nicht zu Ja! Natür­ lich passen? Bio-Cola. Das hätte ich nie gemacht. Wir setzen Grenzen im Sortiment als auch beim Verarbeitungsgrad und bei den Zusatzstoffen. Diesbezüglich ist unsere Überzeugung im­ mer »clean label« zu arbeiten – also so, wie man ein Produkt selbst zu Hause zubereiten würde. Das zeigt natürlich Gren­ zen auf – auch bei Fertigprodukten. Je mehr Zutaten, desto schwieriger ist die Rückverfolgbarkeit und desto größer ist die Skepsis mündiger KonsumentInnen. Denen ist mehrheitlich wichtiger, dass das, was sie essen, regional ist, als dass es nach klaren Ökokriterien kontrolliert wird. Das hat auch die Corona­krise noch einmal verstärkt. Ja! Natürlich setzt schon seit Jahren auf Bio und Regionalität. Wie glaubwürdig kann ein Supermarktsystem, das auf komplexer Logistik und überregionalen Warenströmen basiert, Regionalität propagieren? Ja! Natürlich wurde von Anbeginn mit der Überzeugung, dass Bio allein nicht genug ist, als Bio und regional positi­ oniert. Ohne Herkunftskonzept wäre der ökologische Ge­ danke schwer vermittelbar. Uns ist es gelungen, dass wir un­ sere Warenströme innerhalb eines komplexen Universums so wählen, dass Bio und regional zusammengehen. Was die Idee der Regionalität betrifft war Ja! Natürlich sicher in vielen Bereichen Vorreiter, weil wir unsere Kreisläufe genau kontrollieren und bei all unseren Produkten genau wissen, woher sie stammen. Wir bieten auch ganz bewusst nicht »Bio aus aller Welt« an. Diesen Ansatz gäbe es ja auch. Bio allein ist nicht genug und Regionalität allein garantiert nichts außer Nähe. Deshalb ist Ja! Natürlich ganz bewusst Bio und regional. Mittlerweile behauptet jede/r und alles, naturnah oder nachhaltig zu sein. Verstehen Sie, dass die Konsu­ mentInnen mitunter verwirrt sind? Ja, das verstehe ich total. Die Fülle an Begriffen wird für die KundInnen undurchsichtig, wohin sollen sie grei­ fen. Viele Versprechen sind ja nicht geschützt. »Naturna­ her Anbau« bedeutet noch nichts, ist nicht geregelt, nicht kontrolliert. Herbst ist Apfelzeit. Ein Gedankenexperiment: Sie sind für ein längeres Wochenende in Berlin, haben Lust auf einen Apfel. Bioäpfel aus Brandenburg sind gerade keine verfügbar. Greifen Sie zum regionalen Apfel aus Brandenburg oder zum Bioapfel aus der Steiermark? Der Apfel ist eine der meistgespritzten Obstsorten. Ein Apfelbaum wird vom Stamm bis In die Krone bis zu 31 Mal im Jahr gespritzt, weil er anfällig ist und nicht nur wir Men­ schen Äpfel lieben, sondern auch alle möglichen Raupen,

Bild Christian Duse k/Ja ! Nat ürlich

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Sugar & Salt Reduced Food


»Bio allein ist nicht genug und Regionalität allein garantiert nichts außer Nähe. Deshalb ist Ja! Natürlich ganz bewusst Bio und regional.«

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— Martina Hörmer, Ja! Natürlich Würmer und Insekten. Er ist anfällig für Pilzkrankheiten, eine sensible Kultur also. Die konventionelle Landwirtschaft hilft sich da mit Agrarchemie. Diese essen wir mit. Des­ halb würde ich immer zu Bio greifen. In Berlin zum steiri­ schen Bioapfel und in Wien zum Bioapfel aus Brandenburg. Regional allein bedeutet ja nur: aus der Nähe. Auf Nummer sicher gehe ich nur mit Bio.

Wie sehr kommen denn Trends insgesamt aus den Ballungsräumen? Ein Großteil entwickelt sich natürlich in den Städten auf­ grund einer großen Vielfalt an Menschen – Gedanken, beflü­ gelt durch Zuwanderung. Die Auseinandersetzung mit Fra­ gen der Ernährung ist generell hoch. Auch wenn Veganismus bis in die Antike zurückreicht, bildete sich das heutige Un­ rechtsbewusstsein, dass bei unserem Umgang mit Tieren – für mich der größte Sündenfall unserer Gesellschaft – vieles komplett verkehrt läuft, zuerst im urbanen Bereich aus. Auch den Trend zu Milchersatzprodukten sah man zu­ erst in der Stadt. Andererseits wachsen unsere Lebens­ mittel am Land und das Experimentieren der Biobäu­ erinnen und Biobauern schafft Trends und viel Neues. Etwa unsere Erdnüsse, erstmals 2019 in begrenzter Men­ ge, saisonal aus dem Weinviertel, oder Reis aus dem Bur­ genland. Beides verdanken wir dem Engagement unserer Biobauern. Darauf sind sie zurecht sehr stolz. Gibt es bei Ja! Natürlich auch Produkte, die direkt aus Wien stammen? Heuer wird uns das hoffentlich das erste Mal gelingen – mit Wiener Weizen. Wir träumen schon viele Jahre davon, ein Wiener Kipferl zu machen. Vielleicht gelingt uns das heuer. Die Ernte war gut. Und ein Wiener Kipferl wäre sehr schön.

Schritt für Schritt zur Kreislaufwirtschaft: Anfangs im Einweg-Test erfolgreich verhalf Ja! Natürlich in Folge auch der Mehrweg-Milchglasflasche zu einem Comeback.

Wer sich mit Lebensmitteln und Landwirtschaft beschäftigt, sieht die Landschaft mit anderen Augen. Welche Gedanken haben Sie, wenn Sie über Land unterwegs sind? Man sieht eine sich verändernde Landschaft, die unglaub­ lich schön, vielfältig und abwechslungsreich ist, aber auch mehr und mehr unter Druck kommt. Österreich ist nicht nur Bio-Weltmeister, sondern auch Weltmeister im Betonieren. Unsere Landschaft wird verbraucht, das Verbleibende immer intensiver genutzt. Deshalb gibt es keine Blumenwiesen mehr. Es ist zwar vielerorts alles grün – aber grüne Wüste, weil zu viele Tiere gehalten werden und die Bauern bis zu fünf Mal im Jahr die Wiesen mähen. Da können Blumen gar nicht mehr blühen und Samen ausbilden. Sie verschwinden. Wo könnte man denn noch Wiesenblumen pflücken gehen? Leider dominieren auch Fichtenmonokulturen statt Mischwälder viele Landstriche. Das stimmt einen schon sehr nachdenklich. Zum Abschluss eine Prognose: Ja! Natürlich im Jahr 2044. Ich glaube nicht an das, was ich als Studentin gelernt habe: dass Marken einem Markenzyklus folgen, wo es zuerst berg­ auf und dann bergab geht. Erfolgreiche Marken haben ein langes Leben. Ich hoffe, dass Ja! Natürlich weiter so wächst, weiter mit der Zeit geht und den Biomarkt dominiert. Bio hat noch lange nicht seinen Zenit erreicht. Da ist noch viel drin­ nen. Auch die Marke Coca-Cola gibt’s ja schon seit mehr als hundert Jahren.

Entgeltliche Einschaltung

Kommen wir zurück zu den Trends. Gibt es eigentlich große Strömungen, die dem Biogedanken entgegenarbeiten? Vielleicht der Trend zu billig. Das ist nach wie vor ein Thema und wird ja auch propagiert. Gerade hab ich wieder gehört, dass von einem großen Möbelhaus für ein Schnitzel um 2,50 Euro geworben wird. Das würde Bio natürlich nie hinbekommen. Aber jeder Trend fordert einen Gegen­ trend heraus.


B io r ama W i e n –B e rl i n

Vier Dicke Bs für Genuss: bestes BioBier Berlin In Berlin wurde immer schon gerne und viel Bier getrunken. Zuletzt auch immer mehr in Bioqualität aus handwerklicher Produktion. Text Micky Klemsch

Der »Glühbock« ist eines von acht Biobieren unter dem Markennamen Bär von Schoppe Bräu Berlin.

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ie Bierszene hat sich in den letzten Jah­ ren stark verändert. Die Wertschätzung für handwerklich gefertigte Bier ist im Zuge der Craft-Bier-Revolution stark gestiegen. In Deutschland startete diese Be­ wegung im Norden; Hamburg und Berlin wa­ ren die ersten Hotspots. Anders als im Sü­ den von Deutschland oder in Österreich war die Bierszene dort recht ausgedünnt und das Angebot nur noch von den sogenannten »Fern­ sehbier«-Marken dominiert. Was in den Vereinigten Staaten schon in den 1980ern begann, kocht in Berlin seit etwa 15 Jahren. Zuerst auf kleiner Flamme, in den letzten sieben Jahren dann aber – angetrie­ ben von diversen Bierfestivals und der Vernet­ zung der kreativen Szene – deutlich merkba­ rer. Die legendäre Veranstaltungsreihe »Wurst & Bier« in der Kreuzberger Markthalle Neun (in der auch die Brauerei Heidenpeters ein­ quartiert ist) oder das Braufest Berlin am ehe­ maligen raw-Gelände ließen das zarte Pflänz­ chen Craft-Bier enorm wachsen und schaff­ ten eine Öffentlichkeit für handwerkliches Bier, die man zuvor nur aus den kleinen Knei­ pen in Friedrichshain, Moabit, Kreuzberg oder Wedding kannte. Eine zentrale Figur war von Beginn an Thorsten Schoppe. Seit 2001 beschäftigt er sich mit Craft-Bier. Er braute schon in diver­ sen Gasthausbrauereien und hatte eigene Gast­ roprojekte am Start. Seit zwei Jahren ist er auch mit der Biobiermarke Bär am Markt, bei der

er Sortenvielfalt mit biologisch zertifizierten Grundstoffen verbindet. Mittlerweile kann man von klassischen Biersorten wie Helles, Pils oder Weizen bis hin zu Spezialbieren wie ipa, Porter oder Glühbock schon eine Vielfalt an handwerkli­ chen Bieren von Schoppes Bär in den Rega­ len der Biomärkte finden. Wenngleich Thors­ ten Schoppe möglicherweise der erfolgreichs­ te Brauer von Biobier im Großraum Berlin ist, war er mit Bestimmtheit nicht der erste. Schon seit 2007 ist die Braumanufaktur Pots­ dam biozertifiziert und nennt sich daher die erste Biobrauerei im Land Brandenburg und Berlin. Als Naturland-Betrieb gehen ihre bio­ logischen Standards auch weit über das klas­ sische Biosiegel hinaus. Etwas holprig war der Weg für die Biobrauer von Brewbaker im letzten Jahr. Jule und Micha Schwab produzieren seit 2005 Bio­biere. Nach einem Zerwürfnis mit ihrer Partnerbrauerei, bei der sie bis Mitte 2019 produzierten, arbei­ ten sie zur Zeit als Gypsy-Brauer: Sie suchen spontan für jeden Sud eine neue Produktions­ stätte. Bis die beiden wieder ihren eigenen Produktionsstandort haben, können die Brew­ baker-Biere, etwa das süffige Bellevue Pils, lei­ der nicht biozertifiziert werden. Da brlo, einer der bekanntesten Craft-BierBetriebe Berlins, seine Limonadenmarke Hequa auch in Bioqualität herstellt, bleibt die Hoffnung, dass noch viele Biere dem Biotrend folgen werden.

Bild Sc ho ppe Bräu

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B io bier


B io r ama W i e n – B e rl i n

We insta dt Wien

update für die Heurigenkultur

Mit einer Anbaufläche von rund 637 Hektar ist Wien die einzige Hauptstadt Europas mit nennenswerter Weinproduktion. Immer mehr davon biologisch.

Bild Karin Nussbaume r

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ien steht heute kulturell für eine Gleichzeitigkeit von Tradition in der Klassik und modernsten Kunst- und Kulturtechniken. Da sind nostalgi­ sche Weinseligkeit, teilweise eher unbewegli­ che Heurigenkultur und ihre dazugehörigen Lieder nur mehr Randnotizen. Doch so wie sich das Wienerlied immer wieder neu erfindet und sich neue Zielgruppen erschließt, hat sich in den letzten Jahrzehnten auch viel im Wiener Weinbau getan. Der tritt nicht nur moderner auf und hat sein Marketing und seine Kommu­ nikation professionalisiert, sondern produziert international angesehene Weine und Wien ist auch eines der dac-Gebiete Österreichs. Dieses System betont die Herkunft eines Weines und seiner dort typischen Merkmale. Das bringt Nachteile für experimentierfreudige und ei­ genständige WinzerInnen, sorgt aber dafür, dass es eine kohärente Vorstellung vom Wie­ ner Wein gibt. Und das ist per Definition ein Wiener Gemischter Satz dac – ein Weißwein, bei dem im Weingarten mindestens drei Reb­ sorten gemeinsam ausgepflanzt sind, die auch gemeinsam geerntet und zu Wein verarbeitet werden. Man vermutet, dass diese Rebsorten­ vielfalt früher eine Form der Absicherung ge­ gen Umweltrisiken war. Der Wiener Gemisch­ te Satz wurde bereits 2008 in die Reihe der ös­ terreichischen Produkte der Slow Food Arche des Geschmacks aufgenommen, 2013 erhielt er

dac-Status. Und es gibt ihn natürlich auch bio.

Text Martin Mühl

Bio und PiWi Mit einer Anbaufläche von rund 60 Hektar ist eines der größten Weingüter auf Stadtgebiet das Weingut Cobenzl – und dieses ist seit 1907 auch gleich im Besitz der Stadt. 2020 hat das Weingut nach einer bereits längeren Beschäf­ tigung mit nachhaltigem Weinbau offiziell die dreijährige Umstellung auf Bioweinbau und die Zertifizierung begonnen. Eine weitere Neue­ rung ist der Anbau von PiWi-Sorten, also von pilzwiderstandsfähigen Rebsorten, die weni­ ger Pflege und Pflanzenschutzmittel benötigen. 2020 wurden 2.500 Rebpflanzen der PiWi-Sor­ te Blütenmuskateller auf der Ried Wagenspaer in Grinzing gesetzt. Aber auch andere, teil­ weise sehr große Betriebe bauen mittlerweile auf bio. Dazu gehören die Güter Edlmoser (ab Ernte 2020), Zahel oder auch Fritz Wieninger – Letzterer ist auch Mitglied bei Respekt, einer europäischen Vereinigung biodynamisch arbei­ tender WinzerInnen. Beide schließen neben dem Weinbau mit ihren Gastronomiebetrieben unternehmerisch an die Heurigentradition an und erweitern diese um teilweise innovative Konzepte. Wien ohne Wein und Heurigen – an diese Vorstellung muss man sich also nicht ge­ wöhnen. Aber mittlerweile gibt es beim Heuri­ gen manchmal auch modernere Musik und oft hochqualitativen Wein, mitunter Biowein.

Landwirtschaft in Wien Mit 637 Hektar AnbauFläche sind über 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in Wien (rund 5.700 Hektar) dem Wein gewidmet.

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Gebäude, Energie 76,8 MIO. TONNEN* und Industrie, Abfallwirtschaft biorama –Das Magazin für nachhaltigen Lebensstil und Landwirtschaft widmet sich dem Arbeitsstil. Seit der Erstausgabe 2005 steht biorama für redaktionelle Kompetenz basierend auf ökolo­ MILLIONEN gisch-sozialen Werten. 2020 folgt nun die Line Extension biorama TONNEN business. Nachhaltigkeit betrifft uns nicht nur als Konsu­ mentInnen und als WählerInnen, sondern auch in unse­ rem Berufsleben. biorama business zeigt, was nachhaltiges Wirtschaften bedeuten kann.

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biorama – Magazin für nachhaltigen Lebensstil – erzählt von seiner Welt und reflektiert basierend auf einfachen, grundsoliden Werten.

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biorama ist kein Reißbrettprodukt, sondern ein An­ liegen. Gemacht von der Zielgruppe für die Ziel­ gruppe. Grundsätzlich ist biorama ein Magazin. Ein Forum für gute Ideen und ein Leitfaden im schnell wachsenden Markt des bewussten Konsums.

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Die CO2-Emissionen des Verkehrs sind in Österreich im Vor­ jahr zum fünften Mal in Folge gestiegen, auf 24,2 Millionen Tonnen. Es geht auch ganz anders. biorama Business #1 er­ scheint Ende 2020 zum Schwerpunkt Mobilität.

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