Impulse 2020-4

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für ansteckenden Glauben

Unter Druck: Grenzerfahrungen

Das Leben versteht man nur im Rückblick

An Grenzen stoßen

Grenzerfahrung: schwierige Eltern


Aktuelles aus dem

CAMP MORIA Sie haben es in den Nachrichten gehört: Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos existiert nicht mehr. Das heißt, es wird vieles anders sein, wenn Sie diese Impulse in den Händen halten. Wir wissen es jetzt noch nicht ... Aber Sie können trotzdem am Ball bleiben. Unsere Mitarbeiterin Andrea Wegener gibt regelmäßig Informationen weiter. Sie finden sie bei Facebook: facebook.com/campusfuerchristus.deutschland oder rückblickend in ihrem Blog: rand-europas.de

inhalt An Grenzen stoßen 6 Thema

Familienterror 10

Danke, wenn Sie sich informieren und beten!

Das Leben versteht man nur im Rückblick 18

Immer noch aktuell ist auch ihr Buch zum Thema: "Wo die Welt schreit". Erhältlich in jeder Buchhandlung und direkt bei Campus für Christus: https://shop.campus-d.de

KUNSTKALENDER Wenn wir von GAiN Menschen helfen, erzählen sie uns ihre Geschichte. Nicht immer mit Worten. Oft mit Blicken, die ins Herz gehen. Aus Bildern, Collagen und Zitaten solcher Begegnungen hat GAiN einen anspruchsvollen Kunst-Kalender gestaltet, der seinesgleichen sucht. Gönnen Sie sich etwas für Herz und Augen, das Sie jeden Monat neu mit Freude anschauen können. Mit dem Kauf des Kalenders tun Sie sich und anderen Gutes. Preis: 20 € plus Versandkosten Maße: 41 x 50cm Bestellungen: Info@GAiN-Germany.org, Tel. 0641-975 18-50 Einblick in den Kalender: GAiN-Germany.org/downloads Ab September erhältlich. Der Erlös kommt der humanitären Arbeit des Hilfswerkes GAiN zugute.

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Editorial 3 Dies & Das 4 Geheilt 9 Am Abgrund 13 Mutter werden – Mutter sein 14 Wenn mein Glaube sich verändert 15 Es geht nicht um dich 16 Planlos, pleite und dennoch versorgt 16 Den Enkel auf die Welt gebetet 17 Leitgedanken 21 Die Schwierigkeit anzukommen 22 Impressum 23


editorial An die Grenze

F O T O : C L A U D I A D E WA L D

Wissen Sie, was eine Grenzmethode ist? Nein, es ist keine Möglichkeit, um festzustellen, wo die Grenze zwischen Hessen und Thüringen verläuft. Vielmehr ist es ein Messverfahren aus der Psychophysik, um sogenannte „absolute Schwellen“ zu bestimmen. Dabei wird ein Proband einem Reiz ausgesetzt und gibt an, wann er diesen gerade eben wahrnimmt (aufsteigende Messung) bzw. gerade eben nicht mehr (absteigende Messung). Hört sich sehr theoretisch an, ich weiß. Aber vielleicht haben Sie auch schon beim Augenarzt in die dunkle Halbkugel geschaut und jeweils auf einen Knopf gedrückt, wenn irgendwo ein winziger Leuchtpunkt erschien – so wird das Gesichtsfeld gemessen. Ein Hörtest funktioniert ähnlich. Da muss ich noch entscheiden, ob der Reiz bzw. das Geräusch von links oder von rechts kommt. Für so ein Verfahren kann man sich interessieren – muss man aber nicht. Ich saß allerdings mal mit Mittelohrentzündung und fürchterlichen Schmerzen nachts um drei in der Notaufnahme beim Ohrenarzt, um so einen Test zu machen. Glauben Sie mir: Die nette Grafik, die dabei als Ergebnis herauskam, war mir in diesem Moment so egal! Denn ich war gerade in jeder Beziehung an meiner Grenze! Willkommen bei unserem Thema! Natürlich sind Grenzerfahrungen bis zu einem gewissen Grad messbar, doch sie können auch jede Menge Glück erzeugen oder extrem schmerzhaft sein. Jedenfalls sind sie meistens sehr individuell. Deshalb schauen wir in dieser Impulse nur kurz darauf, was Grenzerfahrungen eigentlich ausmacht (Seite 6). Anschließend begegnen Sie Menschen, die trotz oder wegen ihres Lebens mit Gott Grenzerfahrungen machen. Sei es im Umgang mit den eigenen Eltern (Seite 10), bei einer Geburt (Seiten 14 und 17) oder durch Flucht (Seite 22). Nie sind sie dabei „Probanden“ in einem Versuchsumfeld. Oft scheint es für sie auch nicht darum zu gehen, was sie gerade schon wahrnehmen, sondern was sie maximal aushalten können. Aber immer spielt es eine wichtige Rolle für sie, wie sie Gott dabei erleben. Ich wünsche Ihnen grenzwertige Impulse mit dieser Impulse,

Hauke Burgarth, Impulse-Redaktion

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1.025.572

2019 in

So viele Menschen kamen 2019 mit einer unserer Ministrys und damit mit Gott in Kontakt

144.000

So viele Stunden haben Campus-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter gearbeitet, um Jesus mit Wort und Tat bekanntzumachen.

FDK – Für die Kunst

Fortschritte im Hub-Bau

Neue Ministrys Wieder eine neue Abkürzung? Ja. Und sie ist eine Möglichkeit zum Helfen. Zu denen, die am stärksten unter den Corona-Einschränkungen leiden, gehören Künstler. Also haben sich ein paar Künstler aus dem Campus-Umfeld zusammengetan und die Initiative FDK gegründet: Für die Kunst. Wer mitmachen möchte, kann dazu wertige und coole Shirts kaufen und mit dem Erlös Künstler unterstützen. Und wer als Künstler am Rande seiner Existenz angekommen ist, kann sich melden und diese Unterstützung beantragen. Das Ganze kommt zusammen auf: fuerdiekunst.de.

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Wenn Sie diese Impulse in der Hand halten, gibt es bei Campus für Christus ein paar neue Ministrys bzw. Arbeitsbereiche, die wieder aktiv wurden: Die „School of Novice“ in Berlin, Leipzig und Wien bietet eine 10-monatige Jüngerschafts- und Leiterschulung an (schoolofnovice.com). Bei „Central Arts“ und „Crescendo“ arbeiten Künstler unter Künstlern und bieten ihnen Workshops, Masterclasses und Begegnung auf Augenhöhe (centralarts.de). Und „Won“ hat Sportler als Zielgruppe. In den nächsten Impulse-Ausgaben berichten wir ausführlicher.

Wir haben sie Ihnen schon vorgestellt: die Campus-Hubs in Berlin, Fürth, Gießen und Leipzig. Dort soll die Zusammenarbeit der verschiedenen Ministrys bei Campus auf ein neues Level kommen und die Vernetzung mit den Menschen vor Ort einen geeigneten Raum finden. Apropos Raum: So etwas geschieht ja nicht im luftleeren Raum. Damit die Idee konkret werden kann, fanden diesen Sommer in jedem Hub Bauarbeiten statt. So richtig fertig sind die meisten noch nicht, doch das Ganze nimmt schon langsam Gestalt an. Schauen Sie mal:


1.200

So viele Liter Kaffee trank der Hub Gießen im Jahr 2019.

Zahlen

778

Kursteilnehmer bei Familylife

103,5

So laut wurde es kurzzeitig beim SHINE-Festival 2019. Mit dieser Phon-Zahl ist SHINE definitiv unsere lauteste Ministry.

Focus Berufung

Die SHINE-Academy ist gestartet Velkommen til Danmark Diesen Sommer hat Julia Abraham zwei neue Flaggen in ihrem Büro aufgehängt. Sie ist bei Campus für Christus für die Auslandseinsätze und Gruppenreisen zuständig. Die Reisen und Einsätze mussten wegen Corona sämtlich abgesagt werden, aber im Sommer sind Artur Graf nach Spanien sowie Barbara und Stuart Jackson nach Dänemark ausgereist. Das junge Ehepaar hat fünf Jahre lang bei Campus Connect mitgearbeitet, der Studierendenbewegung von Campus für Christus. Jetzt wollen sie dabei helfen, in Kopenhagen eine neue Campusarbeit aufzubauen.

Seit dem 5. September hat „Berufung konkret“ einen neuen Namen: „Focus Berufung“. Bei einem Festakt in Dresden haben 100 Menschen das 20-jährige Bestehen der Ministry gefeiert. Gleichzeitig ist klar geworden: es geht genauso weiter – und doch anders. Friedemann Schwinger hat die Leitung an Götz Pecking abgegeben. Ab sofort sind deutschlandweit auch Online-Kurse möglich. Manches wird modernisiert. Das Erscheinungsbild wird angepasst. Aber immer noch geht es darum, Menschen in ihre Berufung hineinzuführen. focusberufung.com

familylife KIDS – der Elternblog Gerade als Eltern fühlt man sich manchmal entsetzlich allein. Warum haben die anderen scheinbar keine Probleme mit kurzen Nächten? Mit sagen wir mal durchsetzungsstarken Vierjährigen? Mit Pubertier-Monstern in der eigenen Wohnung? Fragen wie diese haben das Team von Familylife dazu bewegt, einen Elternblog mit jeder Menge Praxistipps und Ermutigung für den Familienalltag herauszugeben: familylife KIDS. praktisch – hilfreich – kostenlos. familylife.de/elternblog/

Nie gehört? Das sollte sich ändern … Die SHINE-Academy ist die Traum-Werkstatt von Campus für Christus, in der jeder Student Gottes Liebe erfährt und kennenlernt, Gottes Berufung für das eigene Leben entdeckt und lernt, Gottes Liebe authentisch und progressiv in die Gesellschaft zu reflektieren. Konkret heißt das, dass sich seit 13. September sechs junge Leute nach ihrem Schulabschluss in Fürth für ein Jahr in verschiedenen Streams weiterbilden: Musik, Medien, Event und Soziales. Sie leben und lernen zusammen. Sie finanzieren sich selbst. Und sie haben jede Menge Praxis. Damit in Deutschland eine Bewegung für die Liebe Gottes entsteht. shine-deutschland.de/academy

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AN

GRENZE STOSSEN

Grenzerfahrungen sind etwas typisch Menschliches. Einerseits stoßen wir an Grenzen und fühlen uns bedrängt. Andererseits brauchen wir sie. Was zum Beispiel ist das sogenannte „Dach über dem Kopf“ anderes als eine Begrenzung? Doch die Frage ist, wie wir mit diesen Grenzen in und um uns umgehen.

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THEMA

N

a ist Marc, 50. Der Bauingenieur arbeitet in der Verwaltung einer Wohnbaugenossenschaft – jedenfalls bis vor einer Weile. Plötzlich aber ging gar nichts mehr. Natürlich hatte er bemerkt, dass er zu viel arbeitete, zu wenig schlief und der Stress immer mehr wurde. Aber er war doch leistungsfähig. Jetzt muss sich Marc von Bekannten anhören, dass die Wissenschaft doch festgestellt hat, dass es in Wirklichkeit gar kein Burnout gibt. Er würde das gern glauben und einfach wieder arbeiten, doch er hat jetzt Grenzen – sehr enge –, über die er momentan nicht hinwegkommt. Da ist Karen, 37. Die Polizistin lebt nach dem Motto: Normal ist für andere. In ihrer Freizeit treibt sie gern Sport, je extremer, desto lieber: Paragliding, Rafting, Bungee-Jumping oder Downhill-Fahren. Sie hat den Eindruck, dass da immer „noch was geht“, sie ihre Grenzen noch etwas erweitern kann. Dafür geht sie hohe Risiken ein. Das sind nur zwei von unendlich vielen Grenzerfahrungen. Der eine wird gegen seinen Willen über seine Grenzen und Kräfte hinaus belastet, die andere sucht das Leben am Limit geradezu. Die Grenze oder den Umgang damit scheint es also nicht zu geben.

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Die Grenze in mir Dabei geht es zunächst noch nicht einmal um unsere persönlichen Leistungsgrenzen – dass der eine einen Marathon läuft und der andere nach fünf Treppenstufen bereits außer Atem ist. Nein, ich als Person habe Grenzen. Deshalb bin ich ich und nicht du. Ohne Abgrenzung gibt es kein Ichbewusstsein. Ohne Ichbewusstsein keine Identität. Ich kann mich letztlich nur als Person begreifen, wenn ich mich von anderen unterscheide, abgrenze. Das ist scheinbar in uns verankert. „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“, heißt es in der Schöpfungserzählung in 1. Mose 2,7. Dass der Mensch sich als Individuum wahrnahm, wird daran deutlich, dass er laut Erzählung zunächst kein passendes Gegenüber fand (V. 20). Im Sinne des Idealismus könnte man sagen: Ohne den anderen, von dem ich mich abgrenze, kann ich mich selbst nicht denken. Schöpfung zieht Grenzen Wer die ersten Kapitel der Bibel aufschlägt, erlebt dabei eine Explosion der Kreativität. Übersprudelnd entsteht unfassbar viel Neues. Es entsteht – Sie haben es sich schon gedacht – durch Abgrenzung: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.

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... Und Gott schied das Licht von der Finsternis“ (1. Mose 1,3-4). Der unendliche (grenzenlose!) Gott erschafft etwas, indem er Grenzen zieht. So hat auch mein Menschsein von Anfang an etwas mit Begrenztheit zu tun und zwar – egal wie Sie die Schöpfungserzählung der Bibel verstehen – von Anfang an. Nicht Sünde hat den Menschen zuerst begrenzt, sondern Schöpfung, denn fliegen konnten wir noch nie, genauso wenig wie uns ungeschlechtlich fortpflanzen. Dass ich auch Grenzen um mich herum habe, wird mir nicht nur im Urlaub deut-

lich, wenn ich nach meinem Pass gefragt werde, um eine Ländergrenze zu überqueren. Das beginnt schon in einem normalen Gespräch, bei dem mir mein Gegenüber immer weiter „auf die Pelle rückt“. Selbst ohne Corona liegt der Wohlfühlabstand beim Kontakt zu anderen Menschen bei 1,20 bis 2,50 Meter. Ein Vorrücken in den Bereich darunter, die persönliche Distanz, wird oft als grenzüberschreitend empfunden.

Grenzen um mich herum Dieses Bedürfnis nach Abgrenzung ist von Person zu Person unterschiedlich. Meine Nachbarn lassen ihre Rollläden Tag und

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Nacht unten, sie brauchen offensichtlich mehr Distanz – wir haben unsere Haustür fast Tag und Nacht offenstehen und suchen eher Nähe. Diese Unterschiedlichkeit gehört zum Leben dazu: das Spüren meiner Grenzen und auch das Akzeptieren der Grenzen anderer. Die christlichen Psychologen und Autoren Henry Cloud und John Townsend unterstreichen: Um als Menschen aufzublühen und seelisch und geistlich gesund zu sein, brauchen wir sowohl Nähe als auch Grenzen.

Nähe und Grenzen bei Jesus Jesus lebte Nähe wie kaum jemand sonst: Jahrelang zog er zusammen mit seinen Schülern durchs Land und zwar rund um die Uhr. Er machte sich wirklich greifbar. Und gleichzeitig setzte er Grenzen oder entzog sich. Auf den Vorwurf: „Alle suchen dich!“, antwortete er seinen Freunden nur: „Lasst uns anderswo hingehen“ (Markus 1,35ff.). Den einen war er oft zu nah (bei den Sündern), den anderen zu abgegrenzt. Und Jesus hatte weder Probleme damit noch mit der Enttäuschung, die er dadurch verursachte. Wie Jesus mit seinen Grenzen und denen anderer Menschen umging, wäre noch einmal ein Thema für sich. Auch in Bezug darauf, ob jemand, der Gottes Willen tut, dadurch überlastet werden kann. Aber wie Jesus mit seinen Grenzen umgegangen ist, ist die eine Seite, die andere Seite ist, wie er mit meinen Grenzen umgeht. In vielerlei Hinsicht respektiert er sie. In den Evangelien ist nie davon die Rede, dass Jesus Menschen bedrängte: „Entscheide dich endlich! Du musst an mich glauben …“, allerdings mutet Gott den Menschen auch so einiges zu. Das beginnt bei Petrus, der sich vor Heiden und unreinem Essen geradezu ekelte und dessen Grenzen Gott ziemlich drastisch erweiterte (Apostelgeschichte 10), und es geht bis hin zu Hiob, der so viel leiden musste, dass er den Tag seiner Geburt verfluchte. Ob die Beispiele so drastisch sind wie bei ihm oder etwas erträglicher: All diesen Menschen ist gemeinsam, dass sie zwar an Gott glaubten, aber trotzdem bis an ihre Grenzen geführt wurden – oder weit darüber hinaus. Denken Sie noch einmal an Marc und Karen. Sie hat es geradezu darauf angelegt, ihre Grenzen zu erweitern. Er fühlt sich ganz offensichtlich unfreiwillig in seine neuen Grenzen verwiesen. In diesem Spektrum findet auch mein Leben statt. Da kann es schon hilfreich sein, die positiven oder allgemeinen Seiten von Grenzen zu sehen. Und vielleicht tröstet es Sie zu hören: „Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet“ (1. Korinther 10,13) – vielleicht ärgert es Sie auch, weil Sie gerade den Eindruck haben zu zerbrechen. Die Bibel enthält zwar etliche Aufforderungen zu vertrauen, aber kein Patentrezept zum Umgang mit den eigenen Grenzen. Stattdessen erzählt sie Geschichten von Menschen wie David, Petrus, Jeremia oder Maria Magdalena. Diese Geschichten sind keine Anhängsel der wirklich wichtigen Wahrheiten. Es sind die wirklich wichtigen Wahrheiten. Deshalb hört dieser Text hier auch auf. Antworten auf die Frage, wie wir mit unseren Grenzen umgehen können, finden Sie in den Lebensberichten auf den folgenden Seiten. Hauke Burgarth


Geheilt! Grenzerfahrung Krankheit

18 Jahre lang litt ich an einer schweren Rückendeformation. Seitens der Ärzte gab es Theorien und mögliche Diagnosen, aber helfen konnte mir niemand.

Ganz schlimm waren auch Anspielungen anderer, dass ich meine Gesundheit selbst in der Hand hätte. Die Ohnmacht, die solche Aussagen erzeugen, kann ich kaum in Worte fassen.

Das Leben war sehr anstrengend. Ich konnte mich nie gerade aufrichten. Gegenstände greifen, die auf einem Hängeregal stehen, mich mal schnell umdrehen, um zu sehen, ob meine Kinder noch da sind, sich mal ausgiebig räkeln – alles nicht drin. Das Schlimmste waren die Schmerzen. Ständig waren meine Muskeln verspannt; es hat unglaublich viel Kraft gekostet, mich halbwegs gerade halten zu können! Wie vermutlich viele chronisch Kranke pendelte ich hin und her zwischen meinem „normalen“ Alltag und Anflügen schierer Verzweiflung. Man darf das ja als frommer Mensch nicht laut sagen, aber es gab mehr als eine Situation, in der ich dachte, dass ich eigentlich nicht mehr leben wollte. Ganz schlimm waren auch die Anspielungen anderer, dass ich meine Gesundheit selbst in der Hand hätte und vermutlich irgendwas falsch machen würde. Die Ohnmacht, die solche Aussagen erzeugen, kann ich kaum in Worte fassen. Es gab keine unbeschwerten Tage mehr, aber letztlich funktionierte ich trotzdem noch und hatte mich arrangiert ... Ich war gläubig und ging regelmäßig in „die Stunde“, wäre allerdings nicht mehr auf den Gedanken gekommen, jemanden um Gebet oder gar Heilung zu bitten – dafür war ich zu desillusioniert. Aber eines Tages passierte genau das: Heilung!

Ein besonderer Gottesdienst Ich weiß bis heute nicht, wie es wirklich dazu kam. Wie jede Woche war ich im Gottesdienst. An diesem Tag war Jesus zu Besuch. Als er mich sah, rief er mich zu sich und heilte mich ohne großes Drumherum. Zack! Rücken gerade. Ich hatte ihn nicht explizit darum gebeten und kann mich nicht erinnern, besonders innig „geglaubt“ zu haben. Trotzdem bin ich seitdem gesund. Es ist, als würde ich wieder leben und nicht bloß existieren. Ende gut, alles gut, sollte man meinen, aber ich hatte ja keine Ahnung, was das noch für Wellen schlagen würde. Die Leiter der Gemeinschaft waren extrem ärgerlich drüber, dass Jesus mich heute – es war Ruhetag – geheilt hatte. An Ruhetagen soll man nicht arbeiten, heißt es … Also, ich hatte keinen Finger gekrümmt, und soweit ich das beurteilen kann, Jesus auch nicht. Aber wie auch immer: Es gab großen Ärger deswegen! Der Ruhetag – ich habe mir nie groß Gedanken darüber gemacht. Warum auch? Wie man den zu verbringen hat, was man darf und was nicht, ist doch seit Generationen in Stein gemeißelt.

„Wer am Sabbat arbeitet, muss sterben“, heißt es. Also lässt man lieber die Finger davon. Aber jetzt dämmert es mir, dass es so einfach nicht ist. Was ist denn Arbeit? Und wie Jesus es so treffend auf den Punkt brachte, ist es ziemlich scheinheilig, sich über meine Heilung aufzuregen, aber nicht darüber, dass man einem verunglückten Haustier am Ruhetag hilft, was andauernd passiert. Sollte ein Tier höher geachtet sein als ein Mensch? Genau so sieht es aus! Besonders wir Frauen gelten nicht viel – das hat nur nie jemand infrage gestellt. Bis jetzt. Jesus hatte den Laden an dem Tag – und seitdem noch manches Mal mehr – richtig aufgemischt. Meine Heilung hat nicht nur meine körperliche Verfassung, sondern auch meinen Glauben verändert. Mit keiner Silbe hatte Jesus an dem Tag ein anderes Gesetzt gepredigt als die geistlichen Leiter, aber er hat es so anders gelebt! Ich bin also seitdem ein wenig skeptisch, was angeblich eindeutige Regeln und Dogmen angeht. Ich frage mich heute noch, warum Jesus mich gerade am Ruhetag geheilt hat und nicht einen Tag später. Ich hätte locker noch einen Tag durchgehalten. Ihm selbst wäre eine Menge Ärger erspart geblieben. Im Nachhinein denke ich, dass Jesus nicht nur eine Botschaft für mich hatte, sondern auch – oder vielleicht gerade!? – für andere. An jenem Tag hat er etwas deutlich gemacht: Bei ihm ist Raum für neue Gedanken und Wege. Er denkt quer. Er lebt „weit“. Und er verabscheut Lieblosigkeit und Ignoranz, wie fromm die auch verpackt sein mögen. Meine Heilung war spektakulär – das Spektakulärste aber ist womöglich die Botschaft, die sich dahinter verbirgt. Die gebeugte Frau (Lukas 13), notiert von Judith Westhoff

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Familienterror Grenzerfahrung: schwierige Eltern

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Nimm dich vor deiner Stiefschwester in Acht! Sie gehört zur anderen Seite!“ Solche Warnungen hörte ich als Teenager immer wieder von meiner Mutter. Für sie gehörten nur sie und ich zur guten Seite – der Rest der Welt war böse.

J

eder Mann war für sie ein potenzieller Betrüger. Sie gab anderen Menschen die Schuld daran, was in ihrem Leben nicht funktionierte. Und wenn kein anderer da war, dann war ich schuld. Ständig brachte sie mich an meine psychischen Grenzen. Wenn ich mit ihrer einengenden, kontrollierenden Art konfrontiert wurde, dachte ich, das Problem läge bei mir. Ich gab mir die Schuld an dem, was in meiner Familie passierte. Und das war meist nichts Positives. Heute sehe ich Gottes Hand in meinem Leben: Trotz dieser Manipulationen ahnte ich, dass da irgendetwas falsch lief. Gott bewahrte meine Seele vor größerem Schaden. Mit 18 zog ich aus und versuchte, meiner Vergangenheit und Familie zu entkommen.

Meine Mutter brachte mich ständig an meine psychischen Grenzen. Mit 50 dann die Diagnose: Schizophrenie.

Endlich eine Diagnose Natürlich funktioniert das nicht. Mit Anfang 50 bekam meine Mutter eine akute Psychose und wurde das erste Mal in die Psychiatrie eingeliefert. Die Diagnose Schizophrenie überraschte mich nicht sonderlich. Ich hielt sie schon immer für krank, aber damals wurden psychische Krankheiten eher ignoriert als behandelt. Auch bei meiner Mutter. Ich sendete öfter Hilferufe an meine Lehrer und Jugendleiter. Aber wer glaubt schon einem Kind oder einem rebellischen Teenager? 2009 starb mein Stiefvater, und meine Mutter zog wieder in ihr Elternhaus im 80 km entfernten Siegen. Dort blühte sie anfangs richtig auf: Sie kaufte sich ein schickes Cabrio, ging täglich schwimmen und hatte viele Bekannte. Vor zwei Jahren kamen ihre alten Ängste zurück. Zunächst drehten sie sich nur um mich. Sie hatte Angst, dass ich nicht genug Geld, Kleidung oder Essen hatte und mit meinem Leben nicht zurechtkam. So besuchte sie mich oft unangemeldet, um „Ordnung in mein Leben zu bringen“: Sie putzte die Fenster, grub den Garten um, wusch mein Auto und nervte mich, bis ich sie schließlich rauswarf. Ihre Angstzustände steigerten sich

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Ich glaube daran, dass selbst in der größten Dunkelheit noch ein kleines Fünkchen Licht ist.

im Laufe der Monate immer mehr. Ich war ihr einziger Rettungsanker. Manchmal rief sie mich mehrmals in der Nacht an und weinte wie ein kleines Kind. Das Telefon abstellen wollte ich aber nicht, weil sie nachts schon einmal gestürzt war und ich Bedenken hatte, dass ihr etwas zustößt. Leider bin ich ihre einzige Tochter. Als sie schließlich Selbstmordgedanken äußerte, brachten mein Mann und ich sie in die Psychiatrie.

In Ängsten gefangen Als sie in der Klinik war, wurde es einfacher für mich, da sie nun „sicher“ war. Allerdings nahmen die Ängste weiter zu und Besuche und Anrufe wurden für mich zur Tyrannei: „Den roten Pulli kann ich nicht anziehen, das ist viel zu gefährlich.“ „Auf grüne Stühle setze ich mich prinzipiell nicht!“, oder: „Die Hustenpastillen sind in einer roten Dose, die esse ich nicht“. Ihr Geschenke mitzubringen, war sinnlos. Meist passte ihr die Farbe nicht, oder es machte ihr irgendetwas am Geschenk Angst. So war es auch mit einem christlichen Bildband, der eigentlich in schwierigen Zeiten Hoffnung vermitteln wollte. Nicht meiner Mutter. „Nimm das wieder mit! Gott ist nicht bei mir! Die Sprüche machen mir Angst“, sagte sie. Geschenke von ihren Bekannten stapelten sich mittlerweile in meiner Abstellkammer zu Hause. Bei einem meiner Besuche brach ein Feuer im Krankenhaus aus. Rauch waberte durch die Flure. Ich wollte gerade mit meiner Mutter einen Ausflug machen und schob sie dann Richtung Treppe. Sie aber drückte hartnäckig den Knopf am Aufzug. „Ich gehe die Treppe nicht runter. Hast du nicht gesehen? Das Treppengeländer ist grün!“ Am Ende setzte ich mich doch durch – ich brüllte sie an! – und wir verließen das Krankenhaus. Dort stand das Feuerwehrauto. Sie schaute es verwun-

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dert an. „Jetzt verstehe ich alles“, sagte sie. „Die Feuerwehr ist nur gekommen, weil du mich heute mit deinem roten Auto besucht hast.“ Diese Art von Logik brachte meinen Kopf fast zum Explodieren.

Fast wieder gut Nach sieben Monaten in der Psychiatrie wurde sie entlassen. Ihre Ängste waren zwar nicht vollkommen verschwunden, aber sie hatte wieder Freude an Unternehmungen und begann, Alltagsdinge selber zu verrichten. Sie kehrte in ihr Haus zurück. Von ihrem schicken Cabrio verlegte sie sich nun aufs Busfahren. Sie fuhr sogar allein in die Stadt, um Einkäufe zu erledigen und sich mit Bekannten im Café zu treffen. Langsam fiel der Stress auch von mir ab. Ich zuckte nicht mehr zusammen, wenn mein Telefon klingelte, sondern sah den Anrufen meiner Mutter sogar positiv entgegen. „Meine Mutter ist richtig süß!“, sagte ich einmal zu meinem Mann. So etwas hatte ich vorher noch nie gesagt, ich konnte es selbst kaum glauben. Ich begann, sie auf eine Art und Weise kennenzulernen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Plötzlich interessierte sie sich auch für mich, hörte mir zu und bedankte sich für all das, was ich für sie getan hatte. Sie nahm meine Ratschläge ernst und setzte sie in die Tat um. Das war eine völlig neue Erfahrung. Ich erlebte sie als ganz neuen Menschen und war verwirrt: Wie war meine Mutter nun wirklich? Welcher Mensch verbarg sich da? Ich gab ihr den christlichen Bildband wieder zurück. Diesmal bewirkte er, was im Sinne des Autors war: Er gab ihr Hoffnung in Gott. Sie begann wieder, zu beten und in die Kirche zu gehen. Hier könnte die Geschichte enden. Tut sie aber nicht, denn das wirkliche Leben ist leider kein Märchen. Es begann damit, dass sie sich bei mir über den Pflegedienst beklagte. Als es ihr so schlecht ging, dass

ich ihre Antidepressiva nachsah, befand sich nur die halbe Dosis in der Schachtel. Ihr Zustand verschlimmerte sich, sodass sie Anfang des Jahres wieder in die Klinik wollte. Sie schaffte es noch kurz vor Corona. 14 Tage später verhängte die Klinik einen Aufnahmestopp. Der Alptraum begann erneut. Sie jammert am Telefon: „Geht es dir gut? Bist du glücklich?“ Sie projiziert ihre eigenen Sorgen auf mich: „Kannst du nachts gut schlafen?“ Manche ihrer Gedanken sind wie Flüche: „Dir wird morgen etwas Schlimmes passieren, eine Mutter spürt sowas!“ Es ist nicht immer einfach, diese Gedanken abzuschütteln, besonders wenn sie jeden Tag auf mich einprasseln. Seit der Coronakrise rufe ich sie täglich an. Sie tut mir leid und ich bin momentan die einzige Person in ihrem Leben. Seit Mitte März durfte sie die Psychiatrie nicht mehr verlassen. Dann kam sie erst in Kurzzeitpflege in ein Altenheim, danach in ein anderes Altenheim in Dauerpflege – jeweils mit 14 Tagen Quarantäne. Das ist schlimmer als Einzelhaft. Sie liegt nur noch im Bett. Aber was soll ein alter Mensch voller Ängste auch tun, wenn er eingesperrt ist? Ich hoffe darauf, dass sie wieder mehr am Leben teilnimmt. Vielleicht wird es noch einmal so wie vor einigen Monaten, als ich sagte: „Meine Mutter ist süß!“ Wer weiß das schon. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, versuche aber, mein Wohlbefinden nicht vom Zustand meiner Mutter abhängig zu machen. Auf dem Weg zu ihr höre ich auf der Fahrt gern ein Lied von Heinz Rudolf Kunze: „Das Licht, das in der Seele wohnt, das ist am rechten Ort, die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort.“ Ich glaube daran, dass selbst in der größten Dunkelheit noch ein kleines Fünkchen Licht ist, auch wenn man es gerade nicht sieht. Das gibt mir Kraft durchzuhalten. Claudia Dewald


ZIMZUM

das christliche Festival 2021 wird das Jahr des besonderen Festivals. Flo Stielper (Geschäftsleitung von Campus für Christus) und Johannes Hartl (Gebetshaus Augsburg) haben gemeinsam eine Vision, die nationale Aufmerksamkeit generiert, Denominationen überwindet und christlichen Lifestyle neu definiert. Beim ZIMZUM Festival werden katholische, evangelische und freikirchliche Christen in einer Breite zusammenkommen, die es so noch nie gegeben hat. Wie ein christliches Woodstock, das eine ganze Generation geprägt hat. Mit Gottes Hilfe wollen wir sehen, dass Tausende junge Menschen Jesus begegnen und eine Bewegung starten, die Gottes Liebe in alle Winkel unserer deutschsprachigen Länder trägt. Wir haben uns trotz Corona dafür entschieden, optimistisch in die Zukunft zu blicken und das Festival im August ’21 zu planen. Al-

lerdings prüfen wir ständig mit den zuständigen Behörden, in welcher Form es stattfinden kann. Wer weiß: Vielleicht sind wir das erste Festival, das ohne Corona-Auflagen stattfinden kann, weil die Pandemie unter Kontrolle oder sogar überwunden ist. Wir wollen gemeinsam darüber nachdenken, wie junges Christsein im 21. Jahrhundert aussehen kann. Menschen sollen eine lebensverändernde Begegnung mit Jesus während des Festivals haben. Und auch ohne christlichen Hintergrund Gottes Liebe zum ersten Mal erleben. Weitere Informationen und Tickets unter www.zimzumfestival.com.

Flo Stielper (Mitglied der Geschäftsleitung Campus für Christus)

EIN FESTIVAL. GROSS GENUG UM EINFLUSS ZU NEHMEN. VOLLER LEBEN UND FREIHEIT. EIN FESTIVAL. AUF DEM JUNGE MENSCHEN GOTTES LIEBE BEGEGNEN. DAS EINE GENERATION VEREINT UND BEGEISTERT. FÜR DEN EINEN. DURCH DEN EINEN. JESUS. ES KÖNNTE

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Mutter werden – Mutter sein Grenzerfahrung Geburt In meinem bisherigen Leben habe ich schon mehrere Grenzerfahrungen gemacht. Zum großen Teil waren diese unfreiwillig und von äußeren Zwängen geprägt. Die Geburten unserer beiden Kinder allerdings bilden da eine Ausnahme und sind trotzdem sehr prägende Erfahrungen.

Ich habe mich dazu entschieden, diese Erfahrungen zu machen, als wir uns als Paar für Kinder entschieden haben. Was das allerdings bedeuten würde, konnte ich mir in keiner Weise vorstellen, auch wenn ich mir die eine oder andere Geburtsgeschichte habe erzählen lassen. Auf mehreren Ebenen habe ich mit und während der Entbindungen Grenzen überschritten, von denen ich noch nicht wusste, dass sie existieren. Das Nächstliegende ist wahrscheinlich die körperliche Ebene. Man erlebt ungeahnte Schmerzen. Man lässt alle Grenzen der körperlichen Scham hinter sich und folgt den Vorgängen des Körpers, ohne sich weiter Gedanken darüber machen zu können, in welchem Zustand die anwesenden Personen, inklusive des Partners, einen zu sehen bekommen. Man verliert die Kontrolle. Auf allen anderen Ebenen bleibt eine Geburt eine Erfahrung, die wirklich schwer in Worte zu fassen ist. Da wären zum Beispiel die Emotionen: Schon bevor es wirklich losgeht, schwanken diese zwischen Ungeduld, Vorfreude, Angst, Trauer, Gereiztheit und Glück. Während der Wehen verspürte ich Widerwillen, Mut, deutlich weniger Vorfreude, mehr Entschlossenheit, Verzweiflung, teilweise Selbstmitleid und Hoffnung. Diese Emotionen gipfelten schließlich in unkontrollierbarer Euphorie. Es ist für mich unbeschreiblich, was ich empfunden habe, als ich unsere Tochter in den Arm nehmen konnte. Dann wäre da allerdings noch die Ebene der Persönlichkeit, vielleicht könnte man auch sagen die seelische Ebene. Neun Mo-

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nate lang prägen einen Hormone, körperliche Veränderungen und die teilweise absurde Vorstellung, dass da ein neuer Mensch in einem heranwächst. Die Reaktionen und die Aufmerksamkeit des sozialen Umfeldes verändern sich schlagartig, sobald der Babybauch sichtbar wird, und damit verändern sich Beziehungen und Freundschaften. Irgendwann dämmert es einem dann, dass man sich nicht nur körperlich, sondern auch in der Identität verändert. Das und die körperlichen Vorgänge während der Geburt habe ich als die stärkste Grenzerfahrung erlebt. Auf dem Instagram Account einer australischen Fotografin (first_glance_ photography) fand ich folgenden Kommentar: „When a woman gives birth, she has to reach down inside herself and give more than she thought she had. The limits of her existence are stretched. There is a moment when every woman thinks, ’I can’t do this.’ If she is lucky, she has a midwife, a doula or her mom to whisper in her ear, ‘You are doing it.’ As she does it, she becomes someone new: a mother.” Besser könnte ich diese Verwandlung nicht in Worte fassen! Mutter zu werden ist eine Grenzerfahrung. Man betritt ein neues, unbekanntes Land und lässt das bisher gekannte hinter sich. Eine Erfahrung, die sich auf vielen Ebenen vollzieht und zu der man sich im besten Fall freiwillig entschieden hat. Eine, die sehr viel Freude und Schönes auslösen kann. Die aber, auch wenn so viele Frauen eine Geburt erlebt haben, in ihrer Einzigartigkeit auch einsam machen kann. Tabitha Funck


Wenn mein Glaube sich verändert Grenzerfahrung: unterschiedliches Wachstum In der Regel jubelt die ganze Gemeinde, wenn man sich vorne hinstellt und sagt: „Ich habe mich bekehrt.“ Danach kommt die Phase des Wachstums. Und wieder freut sich die Gemeinde, wenn man erzählt, was Gott im eigenen Leben an Veränderungen bewirkt. Doch was passiert, wenn man sich im Glauben und Denken verändert und sich entwickelt – die Gemeinde aber nicht? Oder in eine andere Richtung? Der Jubel bleibt jedenfalls aus. Ich bin mit 16 Jahren in einer Gemeinde zum Glauben gekommen, die in ihrer Prägung sehr eng war. Zusammenarbeit mit anderen Christen fand dort praktisch nicht statt, weil wir die einzigen wahren Christen auf der Landkarte waren. Jedenfalls nach unserer eigenen Wahrnehmung. Damals war das für mich völlig nachvollziehbar. Ich kannte nichts anderes. Nachdem ich eine Bibelschule besucht und geheiratet hatte, zogen meine Frau und ich um und engagierten uns in einer anderen Gemeinde. Die Christen dort waren – und sind! – extrem herzlich, aber Glaube wurde dort noch enger gelebt.

„Ihr tut uns gut“ Zehn Jahre lang habe ich mich mit Herzblut und viel Zeit in diese Gemeindearbeit eingebracht. Das Feedback war immer wieder: „Ihr bereichert uns und tut uns als Gemeinde gut.“ Was nicht bedeutete, dass wir in der Gemeinde irgendetwas bewegen konnten. Ich fühlte mich oft als Paradiesvogel, dessen Kreativität zwar gern gesehen war, aber dessen Flügel regelmäßig beschnitten wurden. Mein eigener Glaube hatte sich verändert und war längst weiter geworden. Nach dem Ende meines Studiums bewarb ich mich bei Campus für Christus und wir zogen als Familie mit unseren Kindern nach Gießen. Für die Gemeinde waren wir damit nicht in eine missionarische Aufgabe hineingegangen, sondern „in die Welt“. Gerade diese Einstellung zeigte uns, dass eine Veränderung dringend nötig war – nicht zuletzt unserer Kinder wegen. Heilung und doch wieder Veränderung In der neuen Umgebung schlossen wir uns einer Freikirche bei uns im Dorf an – und ich lernte dort, wieder frei zu atmen. In dieser Gemeinde fanden wir ein echtes Zuhause

und sind auch nach 20 Jahren noch dort. Dummerweise habe ich allerdings nicht aufgehört, mich zu verändern. Die Zeit der klaren Antworten auf alles und jedes war bei mir schon länger vorbei. Doch dann kamen Zweifel, die noch tiefer gingen. In meiner Herkunftsfamilie kam sexueller Missbrauch ans Tageslicht. Was hier in wenigen Worten nur angedeutet ist, atomisierte meinen bisherigen Glauben. Das Wort dafür – Dekonstruktion – mag sich ja noch interessant anhören, aber es fühlte sich nicht gut an, über eine längere Zeit in solch einem Zustand zu leben. Erschwerend kam hinzu, dass ich als Missionar in einem Missionswerk arbeitete und Ältester in unserer Gemeinde war.

„Wenn die wüssten“ Ich habe nicht jedem alles erzählt, was mich gerade bewegt, aber auch nie ein Geheimnis aus meinen Fragen gemacht. Inzwischen geht mir das Messer in der Hosentasche auf, wenn jemand im Gottesdienst behauptet: „Wir glauben doch alle …“, und dann seine persönliche Meinung folgt, die oft nicht meine ist. Manchmal denke ich dann: „Wenn die lieben Geschwister neben mir wüssten, wie ich manche Glaubens- und Lebensfragen heute denke, wäre ich bei ihnen unten durch.“ Manchmal stellt sich auch ein gewisser Hochmut ein: „Ich bin da eben schon weiter …“, aber das hält zum Glück nie lange. Und manchmal habe ich den Wunsch, wieder zurückzufinden in mein einfaches System der klaren Antworten von früher. Aber nicht ernsthaft. Denn was ich einmal gedacht habe, kann ich nicht mehr zurückdenken. Und bei allen Fragezeichen genieße ich die neue Freiheit meines veränderten Glaubens. Ich bin gespannt, wohin er mich noch führt. Hauke Burgarth

Die Zeit der klaren Antworten auf alles und jedes war vorbei.

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„Es geht nicht um dich“

Planlos, pleite und den

Grenzerfahrung: Anfang mit Jesus

Grenzerfahrung Abenteuerreise

A

ls ich 2015 ein christliches Buch aufschlug, dessen Einleitung mit diesem Satz begann, fühlte ich mich direkt ertappt. Ich studierte Tontechnik, stand kurz vor meinem Abschluss und wusste nicht, ob ich für diesen Beruf geeignet war. Die Unsicherheit löste Fragen aus: Welches Ziel verfolge ich mit meinem Leben? Was gibt mir Halt? Spielt Gott in meinem Leben eigentlich eine Rolle? Tatsächlich begleitete mich schon immer ein kindlicher Glaube. Der hatte aber keine Auswirkungen auf mein Leben. Wie so viele Leute dachte ich, dass ein Leben mit Gott meine Freiheit einschränkt. Also machte ich mein eigenes Ding. Schon zu Beginn meines Studiums rauchte ich ab und zu Marihuana. Zuerst rechtfertigte ich es noch damit, dass ich mit Freunden eine gute Zeit haben wollte. Mittlerweile muss ich jedoch zugeben, dass ich mit meinem inzwischen regelmäßigen Konsum nur vor der Realität floh.

Start mit Jesus Ich saß also mit besagtem Buch in der Hand draußen am See. In einem Kapitel war die Rede davon, dass man das eigene Leben in die Hände Jesu geben könne. Ich betete das abgedruckte Gebet und fügte noch den selbst formulierten Wunsch an, dass ich Leute kennenlernen möchte, die Jesus nachfolgen. Innerhalb der nächsten Wochen erlebte ich tiefgreifende Veränderungen. Ich beendete jeglichen Alkohol- und Drogenkonsum. Ich begegnete Menschen, die einen lebendigen Glauben lebten, was gleichzeitig meine persönliche Gebetserhörung war. Und ich durchlebte einen inneren Wandel. Früher suchte ich nur Selbstverwirklichung, lief aber gleichzeitig vor der Verantwortung für mein Leben davon. Jetzt wurde es mir wichtig, mich für andere einzusetzen. Nach dem Studium reiste ich 2017 mit OM nach Ungarn, um dort in der Mission mitzuarbeiten. Gott wusste ich an meiner Seite, denn es fügte sich alles so gut ineinander – meine erfolgreiche Initiativbewerbung, die gelungene Unterstützersuche und die tolle Zeit in Osteuropa, in der ich Beziehungen bauen und von meinem Glauben erzählen durfte. Ich habe nicht einfach nur Antworten auf meine Fragen nach der Zukunft gefunden. Gott hat mich erfahren lassen, dass er einen guten Plan hat und ich mich jederzeit an ihn wenden kann. Ich weiß jetzt: In meinem Leben geht es nicht um mich, sondern allein um Jesus. Hendrik Kettwig, protokolliert von Nathalie Steinhauer

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E

s ist möglichweise bezeichnend für meine Generation, dass wir uns nicht mehr viele Gedanken über Landesgrenzen machen. Das Internet und die Freizügigkeit als EU-Bürger lassen sie für uns nahezu verschwinden. Und so war es überhaupt keine Frage für mich, der Einladung einer Freundin nach Brighton zu folgen, während ich gerade in Frankreich lebte. Zack, Busverbindung rausgesucht, Rucksack geschnürt, und los geht’s. Heute muss ich über meine damalige Arglosigkeit schmunzeln. Aber der 19-jährigen Julia wurde erst beim Vorzeigen des Ausweises und der Zollkontrolle klar: Hoppla, ich übertrete ja gerade eine Landesgrenze! Dieses Sich-über-Grenzen-treiben-Lassen und irgendwie auch durch’s Leben fühlte sich sehr gut an. Bis zur Rückreise und dem: „Mais pas pour toi“, mit dem mich der Busfahrer noch anschnauzte, „aber nicht für dich!“. Sprach's, schloss die Bustür, aus der ich mich gerade noch rückwärts retten konnte, und war weg. Und so stand ich fassungslos da und blickte dem Bus Richtung Frankreich nach, wie er aus der Victoria Station in London fuhr. Ohne mich. Warum? Weil ich in meiner Planlosigkeit nicht bedacht hatte, dass man bei einer internationalen Busreise schon eine Stunde früher da sein muss.

Kein Cent im Portmonee Mein letztes Geld hatte ich für dieses überteuerte Londoner Taxi hingelegt, um rechtzeitig zu kommen. Und jetzt war ich tatsächlich vollständig blank. Nichts mehr im Geldbeutel, nichts mehr auf dem Konto. Kein Guthaben mehr auf dem Handy, um Mama anzurufen, geschweige denn die Mittel, um ein neues Busfahrticket zu kaufen. Mit Reisebudgets oder kontrolliertem Ausgeben hatte ich es damals nicht so … Am Ende wurde aber alles gut. Ziemlich gut sogar. Ich habe meine Wuttränen abgewischt, meinen hingeknallten Rucksack vom Bordstein aufgehoben, einen lustigen Belgier kennengelernt und ihm seine Pommes weg-


noch versorgt

Den Enkel auf die Welt gebetet Grenzerfahrung Gebet

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gegessen. Ich habe erfolgreich am Ticketschalter verhandelt, mit dem nächsten Nachtbus mitfahren zu dürfen. Auf der Fähre nach Calais traf ich eine ältere Dame. Ich erinnere mich, dass ich ihr zur Untermalung meiner dramatischen Geschichte meinen vollständig leeren Geldbeutel unter die Nase gehalten habe. Aus Freundlichkeit (oder Mitleid) hat sie mich dann zum Frühstück eingeladen. All diese Erfahrungen und Begegnungen hätte ich nie planen können und sie wären nie passiert, wäre ich vorher nicht naiv gestrandet. Sie sind mir auch deswegen so gut in Erinnerung, weil ich in den Jahren darauf nur noch sehr selten solche „wilden“ Erlebnisse hatte. Unbewusst habe ich damals offensichtlich noch eine ganz andere Grenze überschritten: die Grenze von Jugendlichkeit zum Erwachsenensein. Von der Planlosigkeit zur Kontrolle. Als gehöre es dazu, das süße Privileg der Jugend – nichtsahnend, frei und unkontrolliert zu reisen – für mehr Vernunft abzustreifen. Das Wilde einzugrenzen. Alle meine folgenden Reisen liefen viel vorausschauender, geplanter und definitiv entspannter ab. Dass man damit auch das Abenteuer abstreift, wird mir jetzt erst klar. Schade eigentlich. Julia Spanka

ei der Geburt unseres ersten Kindes gab es Komplikationen. Am Tag, als die Wehen einsetzten, gingen mein Mann und ich zur Mittagszeit ins Krankenhaus. Wir informierten meine Eltern und baten sie um Gebetsunterstützung. Sie waren leidenschaftliche Beter, und so wusste ich mich sehr getragen. Bis zum Mittag des nächsten Tages hatte ich nach wie vor starke Kontraktionen, aber ansonsten tat sich nicht viel. Ich lag am Wehenschreiber, damit die Wehen und die Herztöne des Babys beobachtet werden konnten. Da die Geburt nur langsam vorwärtsging, wurden wir während dieser Zeit weitestgehend alleingelassen. Irgendwann merkte mein Mann, dass sich die Herztöne unseres Kindes extrem verschlechtert hatten. Er hat damals sofort reagiert und einen Arzt gesucht. Jetzt ging alles sehr schnell! Unser Kind musste ohne weiteren Zeitverlust geboren werden! Für einen Kaiserschnitt war es aber bereits zu spät, dafür war das Kind schon zu weit im Geburtskanal. Man entschied sich deswegen für eine Saugglockengeburt. Am Nachmittag war unser Sohn endlich geboren – mit einem Knoten in der Nabelschnur. Die Ärzte meinten, es sei ein Wunder, dass unser Kind überlebt hatte!

Die andere Seite der Medaille Das ist der eine Teil der Geschichte ... Zeitgleich geschah im Haus meiner Eltern Folgendes: In den endlosen Stunden, in denen sie von uns keine Nachricht bekommen hatten (wir reden von der Zeit vor dem Handy!), gingen ihnen natürlich viele Gedanken durch den Kopf. Aber etwa 24 Stunden, nachdem ich ins Krankenhaus gefahren war, bekam mein Vater auf einmal den Eindruck, dass etwas ganz und gar nicht stimmte und unser Kind in Lebensgefahr sei. Er beschrieb später, dass er spüren konnte, wie Satan verhindern wollte, dass unser Baby lebend zur Welt kommt. Er hat sich dann buchstäblich auf die Knie geworfen und im Gebet um unser Kind gerungen. Ich weiß nicht genau, wie lange dieser Kampf ging, definitiv war es aber eine lange Zeit. Dann auf einmal wusste mein Vater, dass der Kampf gewonnen war. Wie sich später herausstellte, war das die Uhrzeit, zu der unser Kind lebend auf die Welt kam. Christiane Spanka F O T O S V O N L I . : C L A U D I A D E W A L D / P R I VAT / C L A U D I A D E W A L D

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Das Leben versteht man nur im Rückblick! Grenzerfahrung: Krankheit und Not Ursula Lochas hat ihren Mann verloren und wird – nach menschlichem Ermessen – auch ihre Tochter verlieren. Eine Mutter erzählt über ihr Leben, ihre an MS erkrankte Tochter und das, was ihr trotzdem Halt gibt.

Foto links: Sylvia Lochas (42) ist seit ihrer Kindheit MS-krank. Selbstständig kann sie nur noch atmen und die Augen öffnen, alles andere ist nicht mehr möglich. Fünf Pflegekräfte und ihre Mutter versorgen sie rund um die Uhr in ihrem Zuhause.

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Fotos von oben nach unten: Sylvia war eine gute Turnerin und wollte für Olympia trainieren. Kurz vor der Wende: damit die Kinder eine „Zirkusvorstellung" für die Nachbarn geben konnten, brauchte es eine behördliche Erlaubnis. Regelmäßig hält Ursula Lochas mit ihrer Tochter Andacht, hört den Evangeliumsrundfunk oder singt ihr Lieder vor. Was man auf diesem Foto nicht sieht: Diese Augenblicke gehören zu den wenigen, in denen Sylvia überhaut noch die Augen öffnet.

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ch bin in der DDR aufgewachsen und wurde christlich erzogen. Ich habe drei Kinder. Meine älteste Tochter musste als Baby ins Krankenhaus, weil sie keine Nahrung bei sich behalten konnte. Sie hatte während der Geburt Fruchtwasser geschluckt und sich dadurch eine Lungenentzündung zugezogen. Sie musste sofort in eine Kinderklinik unter ein Sauerstoffzelt. Dass sie groß geworden ist, ist ein Wunder. Ich durfte nicht bei ihr im Krankenhaus bleiben. Ich konnte sie manchmal durch die Glasscheibe sehen. Von August bis Ende November waren wir getrennt, das war ganz, ganz furchtbar. Ich habe die Milch abgepumpt, und mein Mann hat sie jemandem mitgegeben, der sie dann ins Krankenhaus zu meiner Tochter gebracht hat. Ich habe mir vorgestellt, dass ich durch die Milch mit meinem Kind verbunden bin. Auf eigenes Risiko haben wir sie dann aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen. Als die Oma meines Mannes das dünne Baby sah, meinte sie: „Ach wenn’s doch gleich gestorben wäre.“ Sie mochte pummelige Kinder lieber. Das hat mich sehr gekränkt. Etwas über ein Jahr später war schon unser zweites Kind da, ein Sohn. Im Nachhinein weiß ich, dass ich mit dem zweiten Kind überfordert war. Ich mag meine Kinder, aber es war schwierig für mich, die beiden großzuziehen. Wir wohnten damals in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung ohne eigene Küche. Ich hatte einen Gaskocher besorgt, um in dem Zimmer jeden Tag die Windeln auszukochen. Das Wasser musste ich jedes Mal aus dem Bad holen und das Abwasser wieder dorthin zurücktragen. Sylvia, unser drittes Kind, war ein Nachzügler und mein Wunschkind. Mein Mann war gegen eine erneute Schwangerschaft, aber ich hatte mich durchgesetzt. Damals war ich 34. Mit Sylvia war es so einfach. Sie war die ersten drei Jahre nie krank! Die erste Krankheit war dann eine Augenmuskellähmung. Das könnte der erste MS-Schub gewesen sein. (Anmerkung der Redaktion: Multiple Sklerose oder MS ist eine Erkrankung des Zentralen Nervensystems.) Man sagt, MS-Leute sind sehr ehrgeizig. Auf Sylvia trifft das zu. Sie hat mir mal vorgeworfen, ich hätte sie nie gelobt. Ich habe das nicht gespürt. Ich weiß aber noch, dass ich dachte: „Die ist überall so gut, wenn ich ihr das auch noch ständig sage, wird sie vielleicht überheblich."

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Inzwischen habe ich verstanden: Mein Mann musste gehen, damit ich Sylvia nach Hause holen konnte ... Ich hätte nie gedacht, dass sie so lange mitmacht.

1995 wurde bei ihr MS festgestellt; da war sie 17. Das will man einfach nicht wahrhaben. Das will nicht in den Kopf rein, dass ein so gesundes, begabtes Kind so eine Krankheit haben soll. Der Arzt hat gesagt: Sie kann alles werden außer Pianistin. Sie gehörte zu den drei besten ihres Abi-Jahrgangs. Aber zur Zeit ihrer Abschlussfeier war ihre Sprache schon retardiert. Sie redete sehr schleppend und hat die Wörter so langgezogen. Mehrmals dachten die Leute im Saal, sie wäre fertig mit ihrer Rede und fingen an zu klatschen, aber Sylvia setzte immer wieder an und hat die Sätze oft wiederholt. Sie hörte einfach nicht auf. Es ist sehr schwer, da zuzuhören. Gott war da für mich weit weg. Wie konnte er das Mädel so bloßstellen? Aber ich habe mich auch über Sylvia geärgert: „Merkst du das nicht? Hör endlich auf zu reden!“ Wer hätte denn gedacht, dass es noch schlimmer werden würde? Damals habe ich mich fast geschämt. Jetzt würde ich diese Sätze so gerne noch mal von ihr hören. Ich habe nichts, nur die Erinnerung. Sie hat mal zu mir gesagt: „Mutti, mir hilft keiner.“ Da war sie gestürzt und niemand kam zum Helfen, weil alle dachten, sie wäre betrunken oder hätte Drogen genommen. Was das Mädel aushalten musste, kann man sich nicht vorstellen. Sie wollte sich aber auch oft nicht helfen lassen. Als sie einen Stock bekommen sollte, wollte sie den nicht. Sie hat so gekämpft! Es war auch ein Kampf, als wir das erste Mal einen Rollstuhl brauchten. „Dann setz ich mich eben rein“, hab ich da gesagt. Ich brauchte in dieser Phase viel Geduld und Zeit für Gespräche, Gespräche und nochmals Gespräche. In dieser Zeit war Sylvia depressiv, und auch ich war oft traurig. Sylvia war als Kind ein echter Bewegungsakrobat. Sie wollte Bodenturnerin werden und für Olympia trainieren. Das war in der dritten Klasse. Aber am Schwebebalken hatte sie schon leichte Gleichgewichtsstörungen. Man hat ihr dann gesagt, dass sie deswegen nicht ins Olympia-Kader kommen könne, sondern in den „normalen“ Sportverein müsse.

Mit dem Zirkus vor der Polizei In den Winterferien haben wir als Familie oft Zirkusvorstellungen gegeben. Unsere Katze war der Tiger. Sylvia hat sich ihre Sachen selber genäht, und zusammen haben die Kinder Plakate gemalt und in den Läden ausgehängt. Im Februar '89 sollten auch wieder Vorstellungen sein. Eines Tages waren die selbstgemachten Plakate aus den Geschäften weg. Dann kam auf einmal Hauptmann Wunderlich zu uns, um uns zu informieren, dass die Veranstaltung unrechtmäßig sei und nicht stattfinden könne. Da musste ich erst mal die Kinder beruhigen und habe

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dann die anderen Eltern informiert. Die sind zur Polizei und haben sich beschwert. Da haben sie dann auch die Plakate entdeckt. Die Polizei hatte ernsthaft gedacht, dass die Plakate verschlüsselte Nachrichten seien und bei uns ein geheimer Treff wäre. Das war kurz vor der Wende. Aber die Eltern haben sich durchgesetzt: Wir haben dann eine echte Genehmigung von den Behörden für unsere Aufführung bekommen – als wäre es Zirkus Aeros. (Anmerkung der Redaktion: Aeros ist ein Leipziger Zirkus, der 1961 in den Staatszirkus der DDR eingegliedert wurde) Wahnsinn! Das war ein Kampf. Gott sei Dank ist das vorbei. Die Freunde von damals – da kommt keiner mehr. Sie kommen nicht damit klar, dass Sylvia so schlimm dran ist. Das tut mir auch weh, denn unsere Familie war immer für die anderen da.

Mein Mann „musste“ gehen Dann kam das mit meinem Mann: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es stand für mich aber fest: Der kommt durch. Ich habe immer gebetet, dass Sylvia vor uns heimgeht. Aber dann ist er doch gestorben. Da hab ich eine ganz große Wut gehabt. „Was soll denn das?! Du siehst doch, was wir hier alles um die Ohren haben!“ Inzwischen habe ich verstanden: Mein Mann musste gehen, damit ich Sylvia nach Hause holen konnte. Sie war nämlich vorher eine Zeit in einem Pflegeheim – mein Mann hatte das mit Sylvia nicht so verkraftet und hatte es irgendwann nicht mehr gut ausgehalten, sie zu Hause zu haben. Nachdem mein Mann tot war, habe ich sofort das Gartenhaus für Sylvia umbauen lassen. Jetzt kann sie in ihrem Bett in den Garten gefahren werden. Ich hätte nie gedacht, dass sie so lange mitmacht … Ich habe mich manchmal von meinem Mann verlassen gefühlt. Ich war oft hin- und hergerissen, weil ich es ihm recht machen wollte und Sylvia. Dadurch, dass es immer um sie ging, war mein Mann vielleicht ein bisschen eifersüchtig. Ich war sehr enttäuscht, dass er nur für die Firma da war. Ich glaube, er hat sich in seine Arbeit gestürzt, weil er das mit Sylvia nicht gut bewältigen konnte. Ich war auch nicht glücklich, in das neue Haus zu ziehen. Da sollte ich entscheiden, wo die Steckdosen hinkommen sollen und so was – das war mir alles zu viel. Einmal wollte ich mich von meinem Mann trennen. Gott sei Dank habe ich das nicht gemacht. Irgendwann ging ich in psychologische Behandlung. Ich musste das alles verkraften. Die Therapeuten haben damals gesagt: „Dann trennen Sie sich doch, Frau Lochas.“ Aber ich habe das nicht gemacht. Das ist gut. Es war für uns beide schwer, aber wir sind zusammengeblieben. Jetzt bin ich jeden Tag dankbar, dass ich im neuen Haus die Stufen zu meiner Tochter gehen kann. Das habe ich meinem Mann zu verdanken. Er hat’s gut


LE I T G E DA N KE N

Orte für Wunder

gemacht! Das Leben kann man erst verstehen, wenn man rückwärts schaut. Die Therapie hat mir schon auch geholfen, aber so richtig geholfen hat mir eine Wiedergeburt und dass ich so ein Erlebnis hatte, dass Jesus bei mir war. 2017 war Sylvia sehr krank. Ihre Lunge war kollabiert und ich weiß-nicht-was-noch. Da hat sie schon nicht mehr gesprochen und war Vollpflegefall. Der Arzt hat mir gesagt, dass sie nichts mehr machen werden und sie sterben lassen wollen. Ich wollte aber auf keinen Fall, dass sie im Krankenhaus stirbt. Sie sollte zu Hause in ihrem Schlösschen einschlafen. Seit damals sind drei Jahre vergangen. Abends bin ich immer bei Sylvia und wir haben Andacht. Mich fasziniert, dass sie dann ganz wach ist, besonders wenn wir Lobpreis machen. Sie will leben! Das ist schön, dass ich das sehen darf. Jetzt kann sie aber nicht mal mehr „Amen“ sagen. Es ist immer weniger geworden mit ihr. Sie redet mit den Augen. Große Augen bedeuten immer „ja“. Ich habe bei mir im Flur einen Spruch hängen: „Im Ja zum Willen Gottes verliert das Leiden seine Macht.“ Das habe ich am eigenen Leib gespürt. Es hat keinen Zweck, sich dagegen aufzubäumen: „Du mutest mir das zu, Gott, nun gib mir auch die Kraft, das alles auszuhalten." Und er gibt’s! Ursula Lochas (76), Leipzig – protokolliert von Judith Westhoff

Meine Kinder haben das Klettern in der Halle entdeckt. Als Papa steh ich dabei unten, versuche, mit Tipps zu helfen, wenn sie irgendwo nicht weiterkommen, und ermutige sie, wenn sie der Mut verlässt. Dank der Sicherungen konnte ich kürzlich selbst auch mal wieder in der Wand hängen. Überrascht nahm ich wahr, dass es mir alles andere als leicht fiel, die 13 Meter hohe Wand bis zum Ende zu klettern. Oben angekommen, ließen mich all meine Selbstüberwindungsstrategien im Stich, mit denen ich mich dazu bewegen wollte, den Griff loszulassen und mich ins Seil zu werfen. Plötzlich waren die Rollen vertauscht, und meine Mädchen riefen mir von unten ermutigende „Du schaffst das, Papa!“Parolen zu. Erst als ich innerlich die Bereitschaft zum Andreas Boppart, Leiter von Sterben erreichte, schaffte ich es schließlich loszulasCampus für Christus sen. Klingt übertrieben. Hat sich aber genauso angefühlt. Während mein jüngeres Ich noch eine ActionCamp-Woche für Adrenalinjunkies veranstaltete, reicht mir heute schon der ganz normale Alltag, um Grenzerfahrungen zu durchleben. Die Anforderungen aus meinen verschiedenen Lebensbereichen lassen sich nicht immer reibungslos verzahnen, prallen oft auch unmissverständlich hart aufeinander. Dabei bringen mich Fragen und Situationen immer wieder an meine Grenzen – meiner Weisheit, Geduld, Gelassenheit, Leichtigkeit, meines Glaubens, meiner Hoffnung, meines Weitblicks … Es kann sehr ernüchternd sein zu realisieren, wie viele Begrenzungen ich tatsächlich habe. Das Leben ist oft eine Aneinanderreihung von kleinen und größeren Grenzerfahrungen. Mein großes Learning der letzten Jahre gerade im Bereich Leiterschaft war, dass ich meine Limitationen keineswegs verstecken muss. Je offensichtlicher sie sind, desto einfacher fällt es meinen Mitmenschen, meiner Familie und meinem Team, mir in diesen Bereichen unterstützend zur Seite zu stehen und mich zu ergänzen. So sind diese für mich zu angstfreien Zonen geworden und haben sich heimlich zu Lieblingsorten gemausert. Sie zeigen mir mein Wachstumspotential und füllen Bibelstellen wie „Erweitere mein Gebiet!“ (1. Chronik 4,10) und „Mache den Raum deines Zeltes weit“ (Jesaja 54,2) mit Leben. Das über die Jahre erkämpfte „ich muss gar nicht“ wirkt heilsam und macht erst Raum für ein mutiges „ich darf“. Die Grenzorte zeigen mir meine gesunde Abhängigkeit von Mitmenschen, vor allem aber von Gott. Sein Zutun ist grenzensprengend. So gesehen ist der Ort, wo man die eigene Grenze erreicht, der wunderbarste Aussichtspunkt, die beste Andockstelle für Gottes Wunder – und immer wieder der Beginn des Staunens, wenn man über sich selbst hinausgewachsen ist. Andreas Boppart

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Die Schwierigkeit anzukommen Grenzerfahrung Flüchtlingsschicksal

Seit drei Jahren leben Masud und Jala (Namen geändert) als Asylanten in Deutschland. Sie sprechen die Sprache bereits ganz gut – allerdings nicht so fließend wie ihre beiden Kinder. Und sie fühlen sich zu Hause. Aber eigentlich wollten sie den Iran gar nicht verlassen. Jala erzählt ...

Irgendwann bekamen die beiden einen Anruf: Kommt heute lieber nicht zur Kirche, die Polizei war da.

Masud hatte einen guten Job als Moderator bei Radio und Fernsehen, und ich arbeitete in der iranischen Ausländerbehörde. Wir verdienten gut, hatten viele Freunde und waren angesehen. „Natürlich“ waren wir Muslime – wir kannten es nicht anders. Doch eines Tages bekam ich im Büro Besuch von einem Christen, der ausreisen wollte, aber nicht durfte. Das beleidigte mein Gerechtigkeitsempfinden. Wieso sollte dieser Mann nicht ausreisen dürfen? Nur weil er Christ geworden war? Ich wandte mich an meinen Vorgesetzten, doch der machte mir sehr deutlich, dass jedes Entgegenkommen für den Christen Konsequenzen für die ganze Abteilung, aber vor allem für mich persönlich haben würde. Fast täglich kam der Mann vorbei – und ich sprach lange mit ihm und einer Frau, die ihn oft begleitete, über den Glauben. Die Frau lud mich schließlich zu einer Art Hauskirche ein, die ich gern besuchte. Ich hatte zwar Angst, selbst eine Bibel zu besitzen, aber dort las ich viel darin. Und nach einer Weile wollte ich mit Jesus Christus leben. Als ich dem Antragsteller eigenmächtig die Ausreise genehmigte, wurde ich von meinem Chef entlassen.

Scheidung, Gefängnis oder Flucht? Masud bekam das Ganze zunächst nur aus der zweiten Reihe mit. Und nach meiner Entlassung rieten ihm seine Eltern dazu: „Lass dich von ihr scheiden." Doch das kam für ihn überhaupt nicht infrage. Er wollte stattdessen mehr von diesem Jesus wissen, der mein Leben so verändert hatte. Auch Masud besuchte die Hauskirche. Irgendwann bekamen wir einen Anruf: „Kommt heute lieber nicht zur Kirche, die Polizei war da.„ Wir wurden also schon beobachtet, und als einige Christen in unserer Umgebung verhaftet 22 !mpulse 4/20

wurden, entschlossen wir uns zu fliehen. Wir tauchten mit den Kindern in Teheran unter, und dort entschied sich dann auch Masud für ein Leben mit Jesus. Einen Monat später flogen wir mit falschen Papieren in die Türkei und von dort mit unseren richtigen Ausweisen nach Deutschland, weil wir dort bereits Verwandte hatten. Wir hatten das Glück, dass man uns hier den Wechsel zum christlichen Glauben abnahm, so wurde unser Asylantrag relativ schnell anerkannt. Unser Glaube war uns auch in der neuen Umgebung wichtig. Direkt nach der Flucht – Sonntag nachts um zwei waren wir in Köln gelandet – besuchten wir vormittags bereits einen Gottesdienst. Bald ließen wir uns taufen, auch wenn das Stress in der Flüchtlingsunterkunft bedeutete: Man kann nicht aufhören, Muslim zu sein, war die dort herrschende Meinung. Das wurde uns auch immer wieder gesagt und handgreiflich unterstrichen. Heute wohnen wir in der Nähe von Gießen. Wir besuchen eine Freikirche und engagieren uns dort in der Jungschararbeit. Die Kinder gehen zur Schule und haben Freunde gefunden. Masud versucht gerade, seinen Bachelor anerkennen zu lassen, um eine Arbeit zu finden, und ich träume davon, ehrenamtlich anderen zu helfen, die nur Farsi sprechen. Wir haben unseren Weg nach Deutschland nicht ganz freiwillig gesucht. Und es tut uns weh, dass zum Beispiel Masuds Filmbeiträge bei Youtube gelöscht werden, weil er Christ geworden ist, dass der Kontakt zu Familie und Freunden schwer oder unmöglich geworden ist und wir nicht wieder in unsere Heimat zurückkönnen. Aber so langsam kommen wir innerlich in Deutschland an. Protokolliert von Hauke Burgarth


IMPRESSUM Herausgeber: Campus für ­Christus e.V. Postfach 10 02 62 D-35332 Gießen Telefon: 0641 97518-0 Fax: 0641 97518-40, E-Mail: impulse@­campus-d.de Internet: campus-d.de Redaktion: Hauke Burgarth, Julia Spanka, ­Nathalie Steinhauer, ­ Judith W ­ esthoff, Barbara Wernicke (Lektorat) Gestaltung: Nathalie Steinhauer, Judith Westhoff Druck: Welpdruck, Wiehl, ­gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Erscheinungsweise: ­vierteljährlich Konto: Campus für Christus, Volksbank Mittel­hessen IBAN DE30 5139 0000 0050 1688 08, BIC VBMHDE5FXXX Anzeigenverwaltung: René Adam Tel. 06439 2 299 078 campus@rene-adam.com Vertrieb: Campus für ­Christus Abdruck: Abdruck bzw. ­auszugsweise ­Wiedergabe von Textbeiträgen, ­Illustra­tionen und Fotos nur mit Genehmigung des ­Herausgebers ­gestattet. Bildnachweis: Cover: Istock Bildnachweis am Foto. Ansonsten privat oder Campus-für-Christus-Archiv. Campus für Christus versteht sich als Missions­bewegung mit den Schwerpunkten Evangelisation, ­Anleitung zu Jüngerschaft und Gebet. GAiN gGmbH ist der Partner von ­Campus für Christus für ­humanitäre ­Hilfe. ­ orstand: V Andreas Boppart, Kurt Burgherr, Andreas Fürbringer, Raphael Funck, Florian Stielper Campus für Christus ist der ­deutsche Zweig von ­Agape Europe. Ein Hinweis für ­unsere ­Bezieher: Die Deutsche Post AG geht davon aus, dass Sie mit ­einer Mitteilung Ihrer Adress­änderung an uns einverstanden sind, wenn Sie nicht bei uns ­schriflich ­Ihren Widerspruch anmelden. Wir werden Ihren Wider­spruch an die zuständigen Zustellpost­ ämter ­weiterleiten. Datenschutz: Unsere aktuelle Datenschutzerklärung finden Sie unter www.campus-d.de/ datenschutz

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Postfach 10 02 62 35332 GieĂ&#x;en www.campus-d.de

F O T O : C L A U D I A D E WA L D

Ester Penner hat gerade ihr Studium abgeschlossen und baut zurzeit ihren Spenderkreis auf. Sie will bei Global Aid Network die Auslandsprojekte koordinieren. Auf dem Foto legt sie Hand an bei der Hub-Umgestaltung in GieĂ&#x;en.


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