ROCK- & POP-SZENE
Udo Lindenberg wird 75 • Neue Film-Doku im Fernsehen Udo Lindenberg sieht aus wie einer, der Udo Lindenberg parodiert: auffällige Sonnenbrille, markante Lippen und der obligatorische Hut, unter dem das Haar strohig hervorlugt. Beim Interview im Hamburger Atlantic Hotel an der Alster vor Ausbruch der Pandemie sind die Privatperson und der Entertainer nicht auseinander zu halten. Ohne Kopfbedeckung und dunkle Brille setzt der Exzentriker keinen Schritt vor die Tür. Entwickelt sich das Gespräch aber nach seinem Gusto, kommt mit etwas Glück irgendwann etwas mehr vom Gesicht zum Vorschein. Die schwierige Frage, wie er die Kurve von einem eher jugendbetonten „Gummihosenkasper“ zu einem würdevollen Rock-Chansonier kriegen sollte, zu dem er ja dann auch wurde, raubte Lindenberg in seinen Fünfzigern fast den Verstand. Wollte er in die Rolle von großen alten Jazzern hineinwachsen oder so werden wie Yves Montand oder Charles Aznavour? „Im Rock’n’Roll tummeln sich wenige Figuren, an denen du dich orientieren kannst“, findet der Sänger mit den wohlgeformten Lippen. „Es gibt Mick Jagger, David Bowie oder noch Bob Dylan. Viele Musiker bauen im Alter entweder ab oder hören ganz auf. Aber bei mir war mit Mitte 50 kein Ende abzusehen. Wie sollte ich also in meine Sechziger oder Siebziger Jahre reinwachsen?“ Da der Sänger diesen Weg nicht nüchtern suchte, sondern in Verbindung mit Alkohol und diversen Drogen, gibt es aus dieser „Ballerzeit“ ein paar ziemlich harte Geschichten. Mit dem Alkohol begann die Tragik seines Lebens. Schon sein Vater Gustav trank zu viel. Sein Durchbruch-Konzert spielte der 28-jährige Udo weit jenseits der Promillegrenze. „An dem Abend bin ich mit 15 Doppelkorn im Kopf im Vampirgang um die Ecke geschlichen“, erzählt er im Interview. „Es ging um alles. Zuhause in Gronau war keine Knete da, mein Vater war gestorben und meine Mutter musste von 300 Mark leben. Okay, sagte ich zu ihr, ich gehe in Hamburg Kohlen holen. Ich wollte eine große Erfindung machen: Rock mit deutschen Texten. Ein Rockstar werden. Ich wollte an die Millionenschecks ran. An dem Abend ging es darum, ob die Rakete abhebt oder ob sie fehl zündet. Genau bis dahin geht der Film ‚Lindenberg! Ich mach mein Ding’. Die weiteren Entwicklungen, Krisen, Absturz und Wiederaufstieg machen wir dann im nächsten Film. Das wird auch wieder so wie beim Paten.“ In den 1970er-Jahren war Udo Lindenberg ein Seismograph jugendlicher Befindlichkeiten. Seine lockeren Sprüche gingen in den nationalen Wortschatz ein. Bei einem Ostberlin-Trip verliebte er sich unsterblich in ein Mädchen namens „Manu“ und glaubt allen Ernstes, dass es für ihn nie wieder eine andere geben könnte. „Ich hatte das vielleicht schon häufiger geglaubt. Aber nie so granitfest“. Doch die deutsch-deutsche Beziehung war nicht von Dauer, hatte aber wenigstens einen Nebeneffekt, und zwar den Hit „Sonderzug nach Pankow“ (1983). Darin äußerte Lindenberg deutlich den Wunsch, in der DDR auftreten zu dürfen („All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen…“), doch der Staatsratsvor-
Foto: © Tine Acke
sitzende Erich Honecker fühlte sich von dem frechen Westrocker verhohnepipelt. Am 25. Oktober 1983 durfte Lindenberg schließlich doch im Palast der Republik in Ost-Berlin spielen. Sein Konzert dauerte jedoch nur 15 Minuten und wurde von der Staatssicherheit akribisch observiert. 1987 kam es schließlich zu einer ziemlich angespannten Begegnung in Wuppertal. Dort überreichte Lindenberg dem verdutzten Honecker eine E-Gitarre mit den Worten „Gitarren statt Knarren“. Der Nuschler der Nation schwelgt in Erinnerungen, während seine Sonnenbrille auf der Nase wackelt. „Mit dem Ding in den Flossen machte Honecker einen sehr bedröppelten Eindruck. Ein Steiftier von der ganz weggetretenen Sorte. Honecker dachte, die Gitarre stand ihm nicht so gut und wollte sie gleich wieder weiterreichen. Ich sagte: ‚Herr Honecker, halten Sie sie doch mal für ein paar schöne Fotos!‘ Und ich fragte ihn: ‚Wann spielen wir mal wieder in der DDR?‘ Seine Antwort: ‚Die FDJ will sich drum kümmern‘. Den Rest der Story kennt man ja.“ Obwohl Lindenberg stets ein öffentliches Leben im Atlantic Hotel führte, kam seine Liaison mit dem deutschen Popstar Nena in den 1980er-Jahren erst viel später an die Öffentlichkeit. „Nena und Udo, das passte“, erinnert der Sänger sich. „Wir fanden es gut, das irgendwie geheim zu halten, immer gut getarnt, wie Geheimagenten. Das waren ganz inspirable Zeiten. Uns verbindet heute eine tolle Freundschaft.“ Während Lindenberg Anekdoten erzählt, hält Tine Acke sich im Hintergrund. Seit Ende der 1990er ist sie nun seine Lebensgefährtin, engste Komplizin und Muse. Die 44-jährige Fotografin aus Hamburg bezeichnet sich selbst als Lindenbergs härteste Kritikerin. „Immer, wenn alle anderen ihn vollschleimen, sage ich: hmm, mal überlegen. Ich glaube, ich bin von allen die Kritischste.“ Am 17. Mai wird der Kultrocker 75 Jahre alt. Das NDR Fernsehen zeichnet in dem neuen Film „Udo Lindenberg – Keine Panik und immer mittendrin“ (15.5., 20:15 Uhr, N3) das turbulente Leben des Künstlers in persönlichen Gesprächen mit engen Freunden, Wegbegleitern und Mitgliedern der „Panik-Familie“ nach. Darüber hinaus spielt Lindenberg in einer frisch abgedrehten Folge der Reihe „Tatort“ mit Maria Furtwängler sich selbst. Die Story dreht sich um Udo-Doppelgänger, die unter Mordverdacht geraten. Selbstredend lässt sich das Original nicht nehmen, eine gekonnt genuschelte Gesangseinlage zu geben. [Olaf Neumann]
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