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Hanna Bervoets, Lieke Marsmann und Lize Spit
Immer forsch nach vorne!
Drei junge, risikofreudige niederlŠndischsprachige Schri!stellerinnen weisen den Weg aus der Sackgasse der Selbstbeschau
Es beginnt ganz harmlos. Eines Nachts ist Simon verschwunden. Was ihm mŸdender Details. Und auch die Sprache gerŠt au§er Kontrolle, verrennt sich in ver nicht Šhnlich sieht. Dann kommt er nach hause zu seiner Freundin Leo, wirkt eupho risch und Ÿberdreht, berichtet von dubiosen Begegnungen und Projekten fŸr eine strah lende Zukun!. In den nun folgenden Ta gen und Wochen aber ist Simon nicht wie derzuerkennen: Er ist dŸnnhŠutig, schlŠ! kaum und schlittert in den Wahn, Ÿber wacht und in seinen KarriereplŠnen ge hindert zu werden. Der vormals zarte Si mon, fŸr Leo ein Fels in der Brandung, rast ungebremst hinein in eine Psychose und schreckt auch vor Gewalt nicht zurŸck. Die Situation eskaliert. Bis Leo schlie§lich kurze elf Minuten bleiben, um eine Tragš die zu verhindern. ãIch bin nicht daÒ nennt Lize Spit ihren zweiten Roman. Die 34-jŠhrige Belgierin gilt seit Erscheinen ihres Erstlings ãUnd es schmilztÒ als Senkrechtstarterin. †ber 200.000 verkau!e Exemplare, Auszeich nungen und Ausgaben in den wichtigsten Sprachen der Welt haben sie in die Top-Li ga der ߊmischen Autorinnen katapultiert und ihren Ruf als literarische GrenzgŠnge rin gefestigt, die GefŸhle bis ins unertrŠg lich Drastische hinein auslotet.
Angesichts des Erfolgs ihres exzentri schen Erstlings lag die Latte hoch. Und vielleicht hat sich Spit gerade deshalb neu erlich zu einem hšchst dramatischen Sto" hinrei§en lassen, einem Þlmisch gestalteten Psychogramm einer Beziehung mit gefŠhr lich destruktivem Potenzial. Die Liebenden geraten in eine Horrorshow, als Simon im mer tiefer in seiner Paranoia versinkt. Leo, ohnedies eine nicht eben in sich ruhende Persšnlichkeit, deckt und beschŸtzt ihren Freund bis hin zur Einweisung in die Psy chiatrie. Nach der Therapie begleitet sie Si mon bei der RŸckkehr in den Alltag und muss zusehen, wie ihn die Krankheit ein holt Ð und sie gleich mit. Die zwei sitzen gemeinsam in der Falle. Lize Spit beherrscht ihr Handwerk, das ist offensichtlich, und sie hat in Helga van Be uningen eine souverŠne †bersetzerin ge funden. Der Roman fŠhrt so ziemlich alles auf, was in den Meisterklassen der Film hochschulen in Sachen ãSuspenseÒ gelehrt wird. Doch je weiter die Autorin ihren auf mehreren ErzŠhlebenen dahinjagenden Thriller vorantreibt, umso stŠrker entglei tet er ihr, rauscht ungebremst dahin, ufert aus und verfŠngt sich in einer Abfolge er queren Bildern. ãWir warenÒ, so Leo Ÿber die Statik ihrer Liebe, ãdie beiden schiefge sackten SŠulen, die, sobald man sie anein anderlehnte, fester stehen wŸrden als eine unversehrte, fŸr sich stehende SŠule es je kšnnte.Ò Und als Simon im Krankenhaus sediert dahinvegetiert, hei§t es Ÿber ihn, er sei ãschla" und bleich wie eine Nudel, die eine Nacht in der SpŸlmaschine ver bracht hatÒ. Na ja. Nach knapp 600 Seiten ist das furiose Finale fast schon ein Aufat men: Gescha"t! Viel gewagt, zu wenig gewonnen: Das ist diesmal der Preis fŸr den Mut zum Risiko. SeiÕs drum. Die couragiertesten Stimmen der niederlŠndisch-ߊmischen Literatur Ð und das ist in diesem Herbst gleich dreifach belegt Ð gehšren jungen Frauen. Schri!stel lerinnen wie Hanna Bervoets, 1984 gebo ren, oder Lieke Marsman, Jahrgang 1990. Sie geben Ton und Richtung vor: pfeifen auf die EmpÞndlichkeiten der Selbstbeschau, richten sich im Wildwuchs ein und werfen sich auf alles, was ihnen die gesellscha!lich brennenden Diskussionen zuspielen. Vor allem aber getrauen sie sich, Beherzt heit und Tempo vorzulegen, auf die Gefahr hin, hochkant aus der Kurve zu ßiegen. Was Hanna Bervoets in ihrem Roman ãDieser Beitrag wurde entferntÒ vorfŸhrt: ein formal und sprachlich konzentriertes, kŸhnes und zugleich subtiles Buch Ÿber den Fluch der Social Media. Auf einer der international agierenden Plattformen wachen ContentModeratoren darŸber, welche Fotos und Videos gerade noch legal sind und welche entfernt werden mŸssen. Ein di#ziles Ab wŠgen: Einem PŠdophilen den Tod zu wŸn schen ist erlaubt, bei einem Politiker hin gegen geht das nicht; Fotos aus dem KZ dŸrfen bleiben, sofern keine minderjŠhrigen unbekleideten Opfer zu sehen sind. Porno, mit oder ohne Gewalt Ð sofort lšschen. 500 BeitrŠge tŠglich, das ist die Marke, die es zu erreichen gilt, fŸr jeden einzelnen Be schŠ!igten. Da muss man sich ranhalten. Ein andauernder Angri" auf die Psyche. Kaum jemand verkra!et es auf Dauer, mit den verstšrenden Bildern klarzukommen. Alkohol und Drogen werden dagegen aufge boten oder exzessives Masturbieren wie bei der Ich-ErzŠhlerin Kayleigh. Sie hat Schul den, der Job ist gut entlohnt. Wie teuer sie dafŸr bezahlt, will sie lange nicht wahrha ben. Zumal sie in jener Gruppe, der sie zu geordnet ist, Sigrid kennenlernt. Die zwei werden ein Paar. Doch unmerklich stellen sich bei Sigrid und den Freunden aus dem Team VerŠnderungen ein: ein Hang zu Eso terik und Heilslehren, gefolgt von hšchst dubiosen politischen Aussagen. Der schmale Band, eigentlich ein Brief an einen Anwalt, schildert packend, wie das Denken in seltsame Richtungen ab biegt Ð bis die Erde zur Scheibe gewor den ist und die CIA uns wie Statisten in einer gigantischen Hollywood-Kulisse hin und her schiebt. Und der Holocaust ist ein MŠrchen. Hanna Bervoets beschreibt, wie subtil sich die Manipulationen der Sozia len Medien entfalten. Und selbst jene, die das Internet zensieren, verlieren jedes Ma§ fŸr richtig und falsch. Womit das ohne -
ÈLize Spit: Ich bin nicht da. Roman. Aus dem NiederlŠndischen von Helga van Be uningen. S. Fischer, Spit, Bervoets und Mars - 571 S., " 27,50 mann werfen sich auf alles, was ihnen die gesellscha!lich brennenden Diskussionen zuspielen Hanna Bervoets: Dieser Beitrag wurde entfernt. Roman. Aus dem NiederlŠndischen von Rainer Kersten. Hanser Berlin, 110 S., " 21,50 Lieke Marsman: Das Gegenteil eines Menschen. Roman. Aus dem NiederlŠndischen von Christiane Burkhardt und Stefanie Ochel. Kle# Co#a, 185 S., " 23,50 hin schon fragile gesellscha!liche Werte system noch zerbrechlicher wird. Ein gro §es Thema, gebŸndelt in einem verhaltenen und gerade dadurch aufwŸhlenden StŸck Literatur.
Um brŸchige Wertesysteme kreist auch Lie ke Marsmans Roman ãDas Gegenteil eines MenschenÒ. Es ist die Geschichte einer jun gen Klimatologin, die ihren Platz sucht in Zeiten, da die Menschheit auf den Abgrund zutaumelt. Zwischen Angst und Ho"nung bestehe kein Unterschied, so Ida: Beide ha ben mit Zukun! zu tun, und die bekom me man selten zu fassen. An guten Tagen glaubt sie mit ihren Daten und Tabellen mithelfen zu kšnnen, um einen Weg aus der drohenden Natur- und Nuklearkatastro phe zu Þnden, an schlechten steckt sie den Kopf in den Sand und schiebt die Schuld fŸr ihren Fatalismus auf ihre Elterngenera tion, die die Welt in jenen Zustand manš vriert hat, an dem Ida so schwer trŠgt. Ret tung ist keine in Sicht, die Politik versagt. Ida scheint jede Perspektive, die ihr unter kommt, ãein bisschen so wie das Wetter: heute ziemlich entscheidend fŸr meine tŠg lichen AktivitŠten [É], morgen egalÒ.
Zwischen den Polen von Au$ruch und Resignation dri!et die Ich-ErzŠhlerin da hin, gefangen in den Zweifeln ob ihrer se xuellen IdentitŠt. Der Roman zeichnet diese Orientierungslosigkeit in kurzen Sequenzen und mit stŠndig neuen Wendungen nach. Der Text wirkt kursorisch, manchmal un fertig und vorlŠuÞg. Was Idas desperatem Denken und Tun entspricht. Ihr Schreiben avanciert zur Selbstanalyse. DafŸr durch forstet sie das Netz und plŸndert Biblio theken, schwingt sich zu philosophischen Diskursen auf, lŠsst Zitate, Gedichte und Tagebuchnotate einßie§en. Es geht dabei kreuz und quer durch Wissenscha!, Litera tur und Poesie, in einem breiten Bogen von Robert Creeley und Naomi Klein bis hin zu Blaise Pascal oder Anne Carson.
Das Konvolut an Schnipseln ist wild in den Text montiert, bricht ihn auf und bil det so die Ratlosigkeit der heute 20- und 30-JŠhrigen ab, die nicht wissen, woran sie sich halten sollen. ãI am ßuidÒ, wie Joni Mitchell sagt, ãEverything I am, IÕm not.Ò Und selbst die Liebe ist kein sicherer Hafen, wenn das LebensgefŸhl im Vagen wurzelt. Was sich zuspitzt, als Ida von ihrer Freun din verlassen wird. ãBin eine GurkeÒ, so ihr Mantra als kleines MŠdchen: wŠchst, aber empÞndet nichts. Eine Form der Kapitula tion schon in jungen Jahren.
Marsman nimmt abgehobene Sujets eigen- und hintersinnig auf und holt sie auf den Boden. Ihr schmaler Band, den Christiane Burkhardt und Stefanie Ochel fein Ÿbersetzt haben, hat seine prŠtentiš se Seiten. Doch er ist ein Versprechen, weil er forsch nach vorne sprintet, vieles aus probiert und sich den Bedrohungen durch Untergangsszenarien auf originelle Weise annŠhert.
Lieke Marsman, Lize Spit und Han na Bervoets riskieren einiges, jede auf ihre Weise. Sie beweisen Mut und liefern da mit etwas, was gerade in Tagen wie diesen nottut und Ÿberzeugt: eine Literatur, die sich exponiert.