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Das Brunecker HR-Wunder

0,5 bzw. 1 Prozent rechnet man in neun Jahren mit einem Gap zwischen Angebot und Nachfrage im Ausmaß von 27.000 bis 46.000 Arbeitskrä en. Trotz der düsteren Aussichten gibt es auch gute Nachrichten. Das De zit an Arbeitskrä en dür e – zumindest in einigen Bereichen – teilweise von der fortschreitenden Digitalisierung ausgeglichen werden. Und: Südtirols Unternehmen sind bereit, dem Umbruch aktiv zu begegnen. Ob und wie ihnen das gelingen kann – Südtirol Panorama hat sich bei Expertinnen und Experten aus dem Bereich Personal umgehört.

REKRUTIERUNGSPROZESS: AUF AKTIVES SOURCING SETZEN

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„Personalarbeit ist ein Knochenjob“, sagt Barbara Jäger von Business Pool. Der Rekrutierungsprozess gilt dabei nach wie vor als A und O. „Leider kommt es immer noch vor, dass Unternehmen nicht oder viel zu spät auf Bewerbungen reagieren. Eine Todsünde. Denn die damit verbundene Botscha ‚kein Interesse‘ kann sich heute kein Betrieb mehr leisten“, sagt die Personalexpertin. Stattdessen rät sie: eine Datenbank für die Personalsuche au auen, in der auch Bewerberinnen und Bewerber aufgenommen werden, für die aktuell keine Stelle frei ist. „Es kommen ohnehin kaum noch Antworten auf Stellenanzeigen. Statt passiv zu warten, ob vielleicht doch was kommt, ist es doch besser aktives Sourcing zu betreiben“, sagt Jäger. Entscheidend sei außerdem: eine einfache Bedienung der Bewerbungsseite, die perfekte Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche und die Möglichkeit, sich direkt mit One-Click auf Stellenanzeigen zu bewerben.

UNTERNEHMENSKULTUR: HINSCHAUEN UND HINHÖREN

Die Mundwerbung ist, auf einem so übersichtlichen Markt wie Südtirol, nach wie vor das erfolgreichste Recruiting-Rezept. Darüber sind sich Experten wie Personalverantwortliche einig. Wenn das eigene Team positiv über sein Unternehmen spricht, braucht es keine großen Anstrengungen im Personalmarketing. Und es steigt die Chance, gute Leute länger an das Unternehmen zu binden. „Dafür braucht es ein gutes Arbeitsklima, Partizipation, Vertrauen und viel menschliche Zuwendung“, sagt Esther Ausserhofer von Human&Human. „Wir Südtiroler sind wahnsinnig eißige Menschen. Doch vor lauter Leisten und Machen wird o eine wesentliche Führungsaufgabe vergessen: Hinschauen, hinhören und fragen: Wie geht es Dir, wie können wir das gemeinsam machen, welche Inputs hast Du?“, ergänzt Ausserhofer. Ohne diesen Kulturwandel seien

INTERCABLE DAS BRUNECKER HR-WUNDER

Foto: Patrick Janach Rasant ist das richtige Wort, wenn man die Unternehmensentwicklung des Brunecker Unternehmens Intercable beschreibt. Der managementgeführte Familienbetrieb wuchs in den vergangenen Krisenjahren – trotz Pandemie und Lieferkettenproblemen – jährlich um rund 30 Prozent. Das schlägt sich im PersonalbePatrizia Blanchetti darf nieder: „Als ich im März 2017 ist seit fünf Jahren HR-Managerin des Brunecker Unternehmens angefangen habe, waren wir rund 400 Mitarbeitende. Jetzt arbeiten im Headquarter Bruneck 880 Intercable. Menschen, weitere 1.000 kommen in der Slowakei und 150 in China dazu“, sagt Patrizia Blanchetti, HR-Managerin von Intercable. Auch in den ersten Monaten dieses Jahres habe es bereits rund 100 Neuanstellungen gegeben.

HOHER PERSONALBEDARF IN ALLEN BEREICHEN

Wie aber ist das auf einem leergefegten Arbeitsmarkt zu scha en? „O bewirken wir tatsächlich fast Wunder“, lacht Blanchetti. Vor allem, weil Intercable einen hohen Personalbedarf in all jenen Bereichen hat, die als besonders problematisch gelten: etwa bei Fachkrä en für die Fertigung, aber auch bei Fachleuten in Bereichen wie Ingenieurwesen, Maschinenbau, Mechatronik oder IT. „Doch wir müssen gegenüber unseren Kunden wie Daimler, Audi, BWW oder VW die termingerechte Lieferung der Produkte garantieren“, sagt die HR-Managerin. Wie scha man bei Intercable also solch kleine und größere Wunder?

INNOVATION UND UNTERNEHMENSKULTUR

Das wichtigste Ass, das die HR-Managerin im Ärmel hat, ist das Unternehmen selbst. Patrizia Blanchetti beschreibt es wie folgt: „Intercable ist ein Familienbetrieb, in dem Menschlichkeit und persönliche Beziehungen großgeschrieben werden. Wir haben einen sehr hohen Innovationsgrad und ein breites Tätigkeitsfeld mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten.“ Da das Unternehmen so stark wachse, hätten Mitarbeitende, die eine neue Herausforderung suchen, auch sehr viele Möglichkeiten, in einen anderen Bereich zu wechseln. „Ihnen wird Verantwortung übertragen und sie haben die Möglichkeit sich einzubringen und die Entwicklung des Unternehmens mit-

zugestalten“, meint Blanchetti. Um Menschen emotional an Intercable zu binden, kann die HR-Managerin nicht nur auf die Unternehmenskultur zählen. Auch viele Bene ts wie exible Arbeitszeiten, ein Betriebsrestaurant, ein ergänzender Gesundheitsfond und ein interessantes Welfare-Programm würden zur Mitarbeiterzufriedenheit beitragen. „Ohne ein solches Angebot würden wir es als zweiköp ge Recruiting-Mannscha nie scha en, so viele Menschen zu nden und zu halten.“

AUS- UND WEITERBILDUNG

Angesichts rückgängiger Absolventenzahlen von Fachschulen setzt man bei Intercable verstärkt auf die betriebseigene Academy. Sie hat das Ziel, Produktionsmitarbeitende zu Fachkrä en auszubilden. Zusätzlich werden auch erstmals in den operativen Bereichen Lehrlinge aufgenommen. Eine große Investition, die sich lohne, wie die HR-Managerin bestätigt. Aktuell werden fünf Lehrlinge ausgebildet, langfristig soll die Zahl gesteigert werden.

AKQUISE AUSSERHALB SÜDTIROLS

Zuletzt wurden verstärkt Fachkrä e aus anderen italienischen Provinzen angestellt. „Anfangs gab es diesbezüglich einige Skepsis, weil wir intern sehr deutschsprachig ausgelegt waren, doch der Schritt hat sich als sehr erfolgreich erwiesen“, sagt Blanchetti. Angestellte, die von auswärts kommen, werden unterstützt. Bei Bedarf stellt ihnen Intercable für die Anfangszeit eine Wohnung zur Verfügung.

WEIBLICHE BELEGSCHAFT

40 Prozent der Beschä igten bei Intercable sind Frauen. Ein erstaunlicher Wert für einen Produktionsbetrieb. „Es gilt Vorurteile loszulassen. Wir fragen uns nicht, ob eine Frau schwanger werden könnte, wenn wir sie anstellen. Wir haben auch fast wöchentlich einen Mutterscha santrag am Schreibtisch, doch wo ist das Problem? Wir sind wie eine Familie und dazu gehören auch Kinder. Und sehr viele Frauen kommen ohnehin wieder zurück, auch weil wir eine betriebseigene KiTa haben und Part-Time-Stellen anbieten“, erzählt Patrizia Blanchetti. ◀

40 Prozent der Beschäftigten bei Intercable sind Frauen. Ein beachtlicher Wert für einen Produktionsbetrieb.

Foto: Daniel Demichiel

Erfahrene Menschen über 50 wurden im Bewerbungsprozess bislang häufig als „zu alt“ ausgesondert. „Dabei wissen sie viel genauer, was sie wollen, und bleiben dem Betrieb deshalb auch eher erhalten als junge Beschäftigte“, sagt Barbara Jäger.

Foto: Cottonbro/Pexels

vor allem junge Menschen nicht mehr zu halten. Denn für sie stehen die Unternehmenskultur, die Selbstverwirklichung und der Spaß an der Arbeit ganz oben in der Prioritätenliste – meist noch vor dem Gehalt. „Die Generation Z ist keineswegs so leistungsunwillig, wie o behauptet wird“, sagt Ausserhofer. „Doch sie wollen ernst genommen werden, mitbestimmen und verstehen, warum sie etwas machen sollen.“

ENTLOHNUNG: AUFHOLBEDARF

Das Gehalt mag bei jüngeren Semestern in der Priorität nicht mehr ganz oben stehen. Dennoch hat der Wirtscha sstandort Südtirol in Sachen Entlohnung eine o ene Flanke. Das belegte erst das AFI-Barometer vom Frühjahr 2022: Nur 45 Prozent der Südtiroler Beschäftigten zeigten sich demnach mit ihrem Gehalt zufrieden. „Das hat nicht nur mit den aktuellen Preisexplosionen bei Energie und anderen Kosten zu tun“, versichert Stefan Perini, Direktor des Arbeitsförderungsinstituts A . „Südtirols Arbeitgeber meiden Lohnerhöhungen wie der Teufel das Weihwasser. Es scheint einfach nie die richtige Zeit für Lohnerhöhungen zu sein“, sagt der AFI-Direktor. Dazu komme, dass man sich beim Lohnniveau zu sehr am gesamtstaatlichen Niveau orientiere. Viel eher sollte man über regionale oder betriebliche Zusatzabkommen einen autonomen Weg gehen. Laut Perini liegen die Löhne in Südtirol nur 7 Prozent über dem italienischen Durchschnitt, zugleich hat unsere Provinz um 20 Prozent höhere Lebenshaltungskosten. Im Hinblick auf den Brain Drain und im mitteleuropäischen Wettbewerb um die besten Köpfe hat Südtirol an dieser Front einen klaren Nachteil, warnt der AFI-Direktor. „Denn bei Arbeitgebern im deutschsprachigen Ausland ist die Bereitscha für faire Löhne wesentlich stärker ausgeprägt, als wir es hier in Südtirol beobachten.“

KANDIDATENSUCHE: 50 IST NICHT ALT!

Viel Potenzial gibt es auch, wenn es Arbeitgebern gelingt, an ihrem Bild vom idealen Kandidaten zu arbeiten. Wer bei der Suche weiterhin auf „männlich, dynamisch, mit drei Jahren Berufserfahrung“ setzt, scht mit extrem viel Konkurrenz in einem Pool, dessen Bestand rückgängig ist. Warum ihn also nicht erweitern? Zum Beispiel um erfahrene Menschen über 50, die bislang häu g als „zu alt“ ausgesondert wurden. Oder um hoch quali zierte Mütter, die Südtirols Arbeitsmarkt immer noch viel zu o abhandenkommen? „Menschen um die 50 sind keineswegs alt, haben viel Erfahrung, wissen viel genauer, was sie wollen, und bleiben dem Betrieb deshalb auch eher erhalten als junge Beschä igte“, sagt Barbara Jäger von Business Pool. Sie ortet in dieser unberechtigten Abwertung ein „Riesenthema“ – erst recht vor dem Hintergrund der Bevölkerungspyramide und des steigenden Pensionsalters. Immerhin stellen Beschä igte über 50 bereits jetzt ein gutes Drittel des Arbeitsmarktes, Tendenz steigend.

VEREINBARKEIT: FAMILIENVÄTER FÜR TEILZEIT GEWINNEN

Nach wie vor verliert Südtirols Arbeitsmarkt viele Frauen nach ihrer Familiengründung. „Damit geht unseren Unternehmen großes Potenzial verloren“, meint Esther Ausserhofer von Human&Human. Mit einer entsprechenden Job- und Arbeitszeitgestaltung könnten Unternehmen einen extrem wichtigen Beitrag leisten, um Frauen auch nach der Familiengründung ans Unternehmen zu binden. Modelle und Technologien dafür seien bereits vorhanden. Was fehlt, ist der kulturelle Ruck. „Wenn es uns gelingt Familienväter für Teilzeit zu gewinnen, könnten beide Eltern zu 80 Prozent arbeiten. Das wäre sowohl für Familien als auch für den Arbeitsmarkt ideal“, meint die dreifache Mutter und Personalexpertin.

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