Brennpunkt – substanz goes international
Interkulturelle Kompetenz –
braucht man das?
Essay* Eine asiatische Austauschstudentin antwortet auf Fragen im Unterricht kaum. In der Prüfung schreibt sie lediglich ein, zwei Sätze pro Aufgabe und fällt durch. Der Dozent hat schon länger den Eindruck, dass asiatische Studierende kaum etwas k önnen. In der multikulturellen Projektarbeit ärgern sich die Schweizer Studierenden mehr und mehr, weil sich ihre Teamkolleginnen und -kollegen aus Spanien kaum an Termine und vereinbarte Zeiten halten. Kommen Ihnen solche Situationen bekannt vor? Was ist geschehen? Die Antwort ist überraschend einfach und gleich zeitig komplex. Einfach, weil verschiedene Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen aufeinander treffen und sich alle «so wie immer» verhalten. Komplex, weil Kultur vielschichtig und kaum fassbar ist, uns jedoch massgeblich beeinflusst.
nehmung, unsere Kommunikation und unsere Denkweise. Das gilt für alle Menschen dieser Erde, nur eben je nach Sozialisierung anders. Kultur vermittelt Bedeutung, gibt Sicher heit und Orientierung. Sie definiert unsere Komfortzone, innerhalb derer wir gemäss unserer Normalvorstellung handeln. Alles, was ausserhalb dieser Komfortzone liegt, wird als «fremd» und eher störend wahrgenommen. Jeder Mensch ist kulturell geprägt und bringt seine Art und Weise in eine Interaktion mit ein. Unbewusst wird angenommen, dass der andere gleich tickt. Das trifft aber in interkulturellen Situationen nicht zu. Daher kommt es meist zu Missverständ nissen. Arbeiten wir mit kulturell anders geprägten Personen zusammen, sind wir in unserer Komfortzone gefordert.
Kultur definiert Komfortzone
Kultur beeinflusst Wahrnehmung
Gehen wir der Sache auf den Grund und betrachten wir zunächst Kultur und ihre Auswirkung auf eine Inter aktion genauer. Kultur umfasst Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen einer Gruppe von Menschen, zum Beispiel einer Nation, einer Religion oder einer Altersgruppe. Diese beeinflussen unser Verhalten, unsere Wahr-
In den genannten Beispielen agieren alle aus ihrer eigenen kulturellen Prägung heraus, obwohl sie sich in einer kulturellen Überschneidungssituation befinden. Das ist menschlich. Für die asiatische Austauschstudentin ist es herausfordernd, direkt angesprochen zu werden. Um sich auszudrücken, braucht sie weniger Worte und zieht
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SUBSTANZ
den Kontext mit ein. Der Dozent hingegen ist es gewohnt, dass Antworten begründet werden. Er verlässt sich auf das Wort. Daher nimmt er wahr, dass asiatische Studierende weniger können würden. Für die Schweizer Studierenden ist Pünktlichkeit wesentlich. Stossen sie auf ein anderes Zeitverständnis, beginnen sie sich zu ärgern. In Spanien aber wird mit Zeit flexi bler umgegangen.
Interkulturalität als Normalfall Was diese Personen erleben, passiert tagtäglich überall auf dieser Welt und in allen Tätigkeitsgebieten. Wir leben in einer multikulturellen interdependenten, globalen und zunehmend digitalisierten Welt, in der Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung miteinander im Austausch sind. Interkulturalität ist nicht mehr das Besondere, sondern der Normalfall. Obwohl Interkulturalität an Beachtung gewonnen hat, ist die bewusste Beschäftigung damit noch keine Selbstverständlichkeit. Wer jedoch im beschriebenen Umfeld kulturübergreifend wirksam arbeiten möchte, benötigt interkulturelle Kompetenz. Sie ist die Basis für das effektive und angemessene Handeln, wenn sich kulturell unterschiedliche Menschen zielführend begegnen wollen.