FURIOS 27
leibhaftig In Religionen geht es nicht nur um den Geist und die Seele. Ob pfingstkirchlicher Gottesdienst oder hinduistische Puja: Der Körper ist mehr als nur ein Instrument religiöser Erfahrung. Ein Essay über Religion, Körper und kollektive Dynamiken.
Eigendynamik, der sich niemand entziehen konnte. Wenn Hunderte Menschen ihre Arme nach vorne streckten, welche auf eine Person im Zentrum des Raumes zuliefen, die gesegnet werden sollte. Oder alle schwiegen.
Es ist ein ungewöhnlich heißer Frühlingstag. Die Bäume am Rand der Blaschkoallee spenden kaum Schatten, die Luft steht. Hinter der rotbraunen Ziegelfassade des Neuköllner Bezirksamtes liegt der Sri-Mayurapathy-Murugan-Tempel. Mit den kunstvollen Dachverzierungen und rot-weiß gestreiften Außenwänden wirkt er wie ein Fremdkörper in dieser sonst eher tristen Gegend. Wer durch das Holztor ins Innere des hinduistischen Tempels geht, betritt eine neue Welt. Die Puja, das tägliche Ritual der Götterverehrung, ist in vollem Gange. Dazu kommen eher unerwartete Sinneseindrücke: Mir dröhnt Baulärm mit der surrenden Frequenz eines Zahnbohrers entgegen, dazu beißender Lackgestank. Die Götterstatuen des Tempels werden renoviert.
Ich werde niemals den Anblick des Mannes vergessen, der sich noch Stunden nach dem Gebet lachend auf dem Rücken wälzte. Ein Leiter sagte mir damals, er sei vom Heiligen Geist besetzt und deshalb so euphorisch gewesen. Diese Wirkung hätte ich in anderen Kontexten halluzinogenen Drogen zugeschrieben. Wer noch nie mit derartigen Ritualen in Berührung gekommen ist, muss hier wahrscheinlich schlucken.
Ein Gebet, begleitet von vielen Gesten, dazu in der hinduistischen Glaubensgemeinschaft – das wollte ich erleben. Ein völlig anderes Verständnis von Körperlichkeit, als es unser westlich, christlich geprägtes Religionsverständnis zulässt, kennenlernen. Ungeachtet des Lärms schreitet ein Brahmane von einer zur nächsten Murti. Auf seinem nackten Oberkörper glänzen weiße Farbstriche, er hat ein orangenes Tuch um die Hüften geschlungen. Barfüßig, die langen dunklen Haare zu einem Knoten gebunden, legt er Blütenblätter vor den Götterfiguren Ganeshas, Vishnus und Murugans ab, schwenkt Rauch vor den Statuen, läutet mit der anderen Hand kontinuierlich eine Glocke und singt dabei in einem tiefen Nasalton. Im Lärmteppich der Bohrmaschine geht alles unter. Bis der Handwerker seine Arbeit unterbricht.
»Auch für mich entstand ein immer größer werdender Zwiespalt zwischen diesen faszinierenden kollektiven Transzendenzerfahrungen und dem unheimlichen, ja manipulativen Sog der Masse.« Irgendwann fiel mir auf, wie sich alle Menschen im Raum intuitiv an einen Kodex hielten. Es wurde auf eine bestimmte Art gebetet, sich zur Musik bewegt, Amen gesagt; nämlich ›Amén!‹ – nicht ›Aamen‹. Wer sich nicht an die kodierten Bewegungsabläufe hielt, dem fehlte der Zugang zur Gruppenerfahrung mit Gott.
Vielleicht habe ich die Worte und das Glockengeräusch schon vorher wahrgenommen, aber erst jetzt entfalten sie ihre ganze Wirkung. Nun hallt sein Gesang in mir wie eine Stimmgabel. Ich spüre, wie er in mir summt. Etwas ist anders. Es ist, als hätte sich der Klang mit meinen Nerven, meiner Haut und meinen Muskeln, sogar mit meinen Knochen verbunden. Als würden die Glockenschläge nicht nur durch die Luft schweben, sondern in mir verankert sein.
Die wahre Macht der Rituale besteht darin, dass sie auf eine Weise dem Glaubensinhalt entsprechen können, wie Sprache es nicht kann. Denn sie erreichen uns unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Zudem kann sich der Mensch nur über seinen Körper ausdrücken – Sprechen ist bei genauerer Betrachtung auch ein physischer Vorgang. Doch schon bevor wir sprechen können, beginnt die Welt der Zwischentöne: Von Beginn an kommunizieren ein Kind und seine Mutter durch ein gestisches Hin und Her. Laut der Psychotherapeutin Bettina Alberti spürt ein Kind, wenn die Mutter die Hand auf ihren Bauch legt, und bewegt sich als Reaktion darauf zuverlässig zur jeweiligen Seite. Durch die frühe Interaktion lernen wir, Gefühle mit Bewegungen zu verbinden. Diese subtilere Art der Kommunikation durch Bewegung wird auch in Praktiken monotheistischer Religionen angewendet, um mit dem ›himmlischen Vater‹, dem Gott oder der Göttin in Dialog zu treten.
Ich kenne dieses Gefühl aus der Zeit um meine Konfirmation. Ich besuchte Gottesdienste in einer Pfingstkirche, einer freien Kirchengemeinde mit charismatischer Glaubenspraxis: Gospel statt Orgel, Hipster, kein Talar. Doch unter dem modernen Gewand verbirgt sich trotzdem der gleiche dogmatische Muff von 1000 Jahren. Lobpreise glichen dort professionellen Konzerten. Und in der Menge, die gemeinsam sang, betete und sich im Takt bewegte, entstand eine
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