FURIOS 27
»Das ist der stumme Zwang des Marktes« Kontrolliert, optimiert und leistungsgetrieben. Was Selftracking mit dem Körper macht und welche Rolle der Kapitalismus dabei spielt, erklärt Simon Schaupp im Interview.
©Bild: Universität Basel
Herr Schaupp, Gesundheitsapps und Fitnessarmbänder haben in den letzten Jahren an Beliebtheit gewonnen. Heute lässt sich nahezu alles tracken: Puls, Schritte, Schlaf. Gibt es auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene Auslöser für diesen Trend? Das muss man im Kontext der Selbstoptimierung sehen, die älter ist als die Digitalisierung selbst. Vorläufer wie Selbstmanagementratgeber bilden eine Traditionslinie mit Selftracking. Der Unterschied ist, dass Selftracking direkt auf die tägliche Lebensführung reagiert. Es beruht auf einem kybernetischen Kontrollmodell. Das heißt, man soll das eigene Handeln auf Grundlage unmittelbarer Feedbacks selbst optimieren. Gesellschaftliche Ursachen der Selbstoptimierung liegen in den Anforderungen postfordistischer Arbeitsmärkte*. Über technische Fähigkeiten hinaus muss man Unternehmen die gesamte Persönlichkeit zur Verfügung stellen. Deshalb erscheint es notwendig, permanent an sich selbst zu arbeiten – auch an Fähigkeiten, die nichts mit der unmittelbaren Arbeit zu tun haben. Zum Beispiel ist es wichtig, gut auszusehen, sportlich fit zu sein und gut ›socializen‹ zu können. Positive Ausstrahlung und ›Happiness‹ verfolgen keinen Selbstzweck, sondern sind Teil einer Selbstvermarktungsstrategie.
Simon Schaupp ist Soziologe an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel. Er forscht unter anderem zur Transformation der Arbeitswelt und der Digitalisierung. 2016 ist sein Buch Digitale Selbstüberwachung: Selftracking im kybernetischen Kapitalismus im Verlag Graswurzelrevolution erschienen.
Krankenkassen belohnen Selftracking von Versicherten und die Zusendung von Gesundheitsdaten mit Bonuspunkten. Halten Sie das für sinnvoll? Wie schätzen Sie den Einfluss dieser Entwicklung auf die Zukunft unseres Gesundheitssystems ein? Das ist eine schwierige Entwicklung, weil es die Verantwortung für die eigene Gesundheit radikal individualisiert und weggeht von dem klassischen Wohlfahrtsgedanken des Versicherungssystems. Es ist eine Art Rückschritt, da man für jede Krankheit tendenziell selbst verantwortlich gemacht wird. Anhand von Daten kann eine entsprechende Lebensführung identifiziert werden, die beispielsweise dazu beigetragen hat, dass ich einen Herzinfarkt bekomme. Das ist nicht nur ein moralischer Druck, sondern schlägt sich auch in Versicherungsprämien nieder. Es gibt also Konfliktpotenzial, weil dieses System letztlich zum finanziellen Nachteil derjenigen wird, die Selftracking nicht betreiben.
Das kann man aber schon als impliziten Zwang bezeichnen, oder? Das ist eben die Frage des stummen Zwangs des Marktes: Kann man etwas als Freiwilligkeit bezeichnen, wenn es direkte Auswirkungen auf den Geldbeutel und damit auch auf die Lebenschancen hat? Was macht Selbstvermessung mit der Beziehung zum eigenen Körper, also dem Körpergefühl und der Wahrnehmung? Es gibt positive und negative Beispiele. Leute erzählen mir, dass sie durch das Tracken des Stresslevels ein besseres Körpergefühl entwickelt haben. Sie können dann bestimmte Atemtechniken einsetzen und sich in ihrem Alltag wohler fühlen. Ich habe aber auch mit Leuten gesprochen, bei denen so etwas im Berufskontext eingesetzt wurde und die eine Art Selbstentfremdung beschreiben. Diese Apps produzieren immer auch Feedbacks, die ein bestimmtes Verhalten hervorrufen sollen. Das hat dazu geführt, dass Menschen sich in ihrem eigenen Verhalten nicht mehr wiedererkannt haben. Es gibt hier also einerseits ein instrumentelles und daher bewusstes Verhältnis zum eigenen Körper, andererseits ist dieses Verhältnis oft auch unbewusst – wie ein Automatismus.
Ist es denn vorstellbar, dass wir als Krankenversicherte irgendwann alle zum Selftracking verpflichtet werden? Das Lustige ist, dass es ja keine Verpflichtung gibt, sondern auf Freiwilligkeit beruht. Sie zahlen nur mehr, wenn Sie es nicht machen. *Anm. d. Red.: Der Postfordismus zeichnet sich durch die Individualisierung der Massenproduktion auf spezifische Kund*innenbedürfnisse sowie lange Lieferketten aus und beschreibt eine neue, von Flexibilität geprägte Produktionsweise
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