7 minute read

Die blutigste Grenze Europas

Einleitung

Die blutigste Grenze Europas

Advertisement

„Eine Gebirgskette, mitten durchbrochen vom Gipfel bis zum Fuß, auf einer Strecke von vier Meilen. Die beiden Seiten bilden hohe, gerade Felswände, von sechshundert bis dreitausend Fuß aufsteigend, und dazwischen der Riesenstrom der alten Welt, der Ister, die Donau.“ So beschreibt der ungarische Schriftsteller Mor Jókai in seinem Roman „Ein Goldmensch“ eine Landschaft, die in Europa ihresgleichen sucht. Die wenigen Über- und Untertreibungen am Anfang des Romans gehen aufs Konto dichterischer Freiheit, denn tatsächlich gibt es keine 3000 Fuß hohen Felswände am Strom, der höchste Berg an der Donauenge misst 768 Meter, dafür aber ist das Ausgedient haben die Wachtürme der Grenzer am gewaltige Tal nicht vier Meilen Eisernen Tor. Foto: Hans Wersching lang, sondern volle 120 Kilometer.

Seit Jahrtausenden beflügelt diese grandiose Landschaft, die Schauplatz des Kampfes der Urgewalten Wasser gegen Fels ist, die Phantasie der Völker des südosteuropäischen Raums: von den Griechen der Antike bis zu den Ungarn, Rumänen, Deutschen und Serben. Schon Jasons Argonauten bauen ihr Schiff so, dass sie es in langen Fußmärschen auf den Schultern tragen können, weil sie auf der Suche nach der legendären Durchfahrt vom Schwarzen Meer durch die Donau zur Adria ihre treue Argo vor dem Zerschellen an den unpassierbaren Klippen des Eisernen Tors bewahren wollen. An der schmalsten Stelle ist der große Strom auch nach dem Bau eines Wasserkraftwerks noch immer keine 200 Meter breit. Hier, wo die Donau die Karpaten durchbricht, soll auch Hunnenkönig Attila begraben sein. Hier wurden nach Attila noch viele Grabhügel aufgeworfen - über Schuldbeladenen, aber bei weitem mehr über Unschuldigen. Am Donaudurchbruch, wo noch Reste einer

römischen Brücke vom Ende des ersten Jahrhunderts zu sehen sind, ist stets viel Blut geflossen, sowohl bei den Eroberungszügen der Römer als auch bei denen der Türken. Auch in jüngster Vergangenheit, mitten im Frieden, haben sich sowohl hier als auch an der grünen Grenze zu Serbien dramatische Szenen abgespielt. Hier hat es Mord und Totschlag gegeben, denn es ist nicht allein beim Vollzug des Schießbefehls geblieben. An der Westgrenze Rumäniens hat es während der kommunistischen Diktatur wahrscheinlich mehr Tote gegeben als an der innerdeutschen. Nach einem übereinstimmenden Bericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt und des katholischen Hilfswerks Kirche in Not/Ostpriesterhilfe in München von Ende Dezember 1988 hat sich die Grenze zwischen Jugoslawien und Rumänien damals zur blutigsten Europas entwickelt. Allein 1988 seien an dieser Grenze mindestens 400 Flüchtlinge aus Rumänien erschossen worden. Zusätzlich gebe es eine große Dunkelziffer, die in der Donau ertrunken seien. Am jugoslawischen Donau-Ufer gebe es außerdem zahlreiche Gräber unbekannter Flüchtlinge, die offenbar bei Fluchtversuchen getötet und am Ufer angeschwemmt worden seien. Bei illegalen Grenzübertritten machten die rumänischen Grenzwächter ohne Warnung von der Schusswaffe Gebrauch. Außerdem setzen die Grenztruppen Bluthunde ein, die den Flüchtlingen häufig schwere Bisswunden zufügen. Auch an der Grenze zu Ungarn ist 1988 nach Angaben des Hilfswerks Kirche in Not/Ostpriesterhilfe die Zahl der Soldaten und Spürhunde erhöht worden. Denn seit Ungarn keine Flüchtlinge mehr an Rumänien ausliefert, habe ein Massenexodus eingesetzt. Über die Lage an der rumänischen Grenze berichtet die Niedersächsische Zeitung am 30. Dezember 1988: „Die in München ansässige Kirche in Not/ Ostpriesterhilfe berichtete gestern, die Leichen an der rumänischen Grenze erschossener Flüchtlinge seien oft tagelang zur Abschreckung liegengelassen worden. Die Kirche in Not beruft sich auf drei 15-jährige Jungen, denen kürzlich die Flucht über die rumänische Grenze nach Ungarn gelungen sei. Viele Flüchtlinge nützten den frühen Winter zur Flucht über die Grenze nach Ungarn. Sie hüllten sich in Bettlaken und kämen so sicherer über die schneebedeckten Felder“. Nach einem Bericht der ungarischen Zeitung Magyar Hirlap haben 290 rumänische Staatsbürger 1988 versucht, durch Ungarn nach Österreich zu gelangen. Rund 4000 haben 1988 illegal die Grenze von Rumänien nach Ungarn überschritten. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 20. Dezember 1988 berichtet, haben 1988 rund 12 500 rumänische Staatsbürger, meistens Angehörige der ungarischen Minderheit in Rumänien, zeitweilige Aufenthaltsgenehmigungen in Ungarn erhalten. In einem weiteren Bericht derselben Zeitung vom 13. September 1988 heißt

es: „Obwohl immer noch viele Angehörige der ungarischen Minderheit Rumäniens ihr Heil in der Flucht suchen und dabei ihr Leben riskieren, lässt der Ansturm rumänischer Flüchtlinge auf ungarische Gemeinden nach.“ Das katholische Hilfswerk Kirche in Not/Ostpriesterhilfe führt diese Entwicklung auf wachsende Brutalität zurück, mit der die rumänischen Behörden gegen Flüchtende vorgingen. Es werde alles getan, um Flucht zu vereiteln: Bauern im Grenzgebiet dürften keine Heuhaufen zum Trocknen auf den Weiden lassen; Hütten, die bisher Hirten als Unterstand dienten, seien abgerissen, Spezialkommandos der Polizei aus dem Landesinnern in rumänische Grenzdörfer kommandiert, die Grenzsoldaten durch Spürhund-Patrouillen verstärkt worden. Für die Einreise in grenznahe Dörfer werde eine Sondergenehmigung benötigt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schildert in ihrem Bericht einen Grenzzwischenfall von besonderer Brutalität. Wie Augenzeugen berichteten, haben elf Schülerinnen aus Großwardein bei Valea lui Mihai einen Fluchtversuch gewagt, weil ihnen nach bestandenem Abitur als Angehörige der ungarischen Minderheit die Möglichkeit zum Studium verwehrt worden sei und sie die Schikanen der Behörden nicht mehr ertragen wollten. Grenzsoldaten hätten den Mädchen die Kleider vom Leib gerissen, sie vergewaltigt und anschließend ausgepeitscht. Nachdem die Opfer ins Krankenhaus von Großwardein eingeliefert worden waren, habe sich die Nachricht über das Verbrechen verbreitet. Aufgebrachte Bürger seien losgezogen, um die Soldaten zu steinigen; sie seien allerdings angesichts der Übermacht der Militärs entmutigt umgekehrt. Die Untaten der rumänischen Grenztruppen sind heute noch weitgehend unbekannt, denn wer hätte darüber berichten sollen, war doch Rumänien zum Unterschied zur DDR ausschließlich von kommunistischen Staaten umgeben. Selbst im etwas liberaleren Jugoslawien musste die Presse unter Tito Rücksicht auf die Nachbarn und ihre Befindlichkeiten nehmen. Hier gab es keine Westjournalisten mit der Kamera, um Soldaten bei der „Wache fürs Vaterland“ zu beobachten und ihre Taten festzuhalten. Bis heute, 17 Jahre nach dem Sturz Ceauşescus, ist dieses dunkle Kapitel der rumänischen Geschichte nicht aufgehellt. Die Archive sind noch immer für jede Recherche unzugänglich. Das hat im Sommer 2007 die Societatea Timişoara, Gesellschaft Timişoara, erfahren, die sich das Ziel gesetzt hat, die Schandtaten des Kommunismus aufzudecken und die dafür Verantwortlichen anzuzeigen und anzuklagen. Es habe überhaupt keinen Zweck, fortzufahren, sagt der Vizepräsident der Gesellschaft, Doru Botoiu. Der Sommer 2007 habe lediglich viel Arbeit, Stress und Erniedrig gebracht. Schon vor der Societatea Timişoara haben andere versucht, in die Archive zu gelangen. Sie haben die gleichen Erfahrungen gemacht. Zu ihnen gehört auch die Mitherausgeberin dieses Buches, die Temeswarer Journalistin und Schriftstellerin Doina Magheţi, die Informationen für ein Referat sammeln wollte, das

sie auf einem im Juni 1995 veranstalteten Symposion der Gesellschaft für Bürgerrechte in Marmarosch-Siget mit dem Thema „Die Einsetzung des Kommunismus - zwischen Widerstand und Unterdrückung“ gehalten hat. Sie hat ihren Beitrag überschrieben: „Wie und wie oft an den Grenzen des kommunistischen Rumänien gestorben wurde“. Doch eine Antwort darauf konnte sie nicht geben. Sie nennt dieselben Gründe wie Doru Botoiu. Die Westgrenze Rumäniens sei in der Zeit den Kommunismus ein Gemisch aus Faszination und Schrecken gewesen: „Sie war eine Schranke vor dem Paradies oder vor dem Reich der Toten“. Für ihren Beitrag wird Doina Magheţi ein Auszug aus einem vermutlich unter Verschluss gehaltenen Bericht des Geheimdienstes zur Verfügung gestellt, in dem ganze Absätze unkenntlich gemacht sind. Der Bericht bezieht sich auf die Jahre 1980 bis 1989 und enthält Daten von Grenzgängern, die erschossen oder verletzt worden sind. Von der Brigade Temeswar der Grenztruppen ist der Autorin mitgeteilt worden, dass in dem ihr bereitgestellten Bericht die Namen von implizierten Soldaten geschwärzt worden sind. Sie dürften nicht bekannt gegeben werden, weil die Grenzer unschuldig seien und lediglich Befehle ausgeführt hätten. Alle Fälle seien inzwischen gelöst; die Soldaten, mit einer Ausnahme, stünden nicht mehr unter Verdacht, denn sie hätten entsprechend dem Dekret 367 vom 18. Oktober 1971 gehandelt, das den immer noch geltenden Schießbefehl regelt (1995, Anmerkung des Herausgebers). Jeder abgegebene Schuss während des Dienstes sei gerechtfertigt und in Untersuchungen protokolliert worden. Die Zahl der eingesetzten Wachsoldaten sei sehr groß gewesen, so dass keine Untat hätte verschwiegen werden können. Dafür hätten auch die Gegeninformanten des Geheimdienstes Securitate gesorgt. Zusagen des Sprechers der Militärstaatsanwaltschaft, Oberstleutnant Ilie Mariş, und des Oberstaatsanwalts Oberst Petre Izdrescu, sie wollten sich in Bukarest dafür einsetzen, die Unterlagen der Militärstaatsanwaltschaft Temeswar zur Einsicht freizugeben, seien nicht eingehalten worden. Die Akten seien weiterhin unter Verschluss. Doina Magheţi nennt die Namen von zwölf Grenzgängern, die von 1983 bis 1989 an der serbischen Grenze erschossen worden sind. Unter ihnen ist auch der von Gheorghe Leonte, der am 29. Mai 1987 bei Altbeba sein Leben verloren hat. Der Fall hat auch in der Westpresse Schlagzeilen gemacht, aber nur deshalb, weil Ungarn protestiert und ihn publik gemacht hat. Ein berittener rumänischer Grenzsoldat habe auf Befehl seiner Vorgesetzen die Grenze überschritten, um den Flüchtling, der sich mit einer Heugabel zur Wehr gesetzt hat, auf ungarischem Hoheitsgebiet zu erschießen. Der Soldat gehört zu den wenigen Verurteilten. Doch das Urteil ist nicht wegen der todbringenden Schüsse ergangen, sondern weil sie auf ungarischem Territorium abgegeben worden sind. Derselben Informationsquelle entnimmt Doina Magheţi die Namen von acht Soldaten, die wegen übertriebenen Schusswaffengebrauchs verurteilt worden sind.

This article is from: