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auf der FluchtEin zukünftiger Handball-Star
Ein zukünftiger Handball-Star auf der Flucht
Für Dr. Hans Schmidt endet der Krieg am 9. Mai 1945 in Brünn. Die rumänische Armee entlässt ihn aber erst im August 1945. Seine Familie ist geflüchtet. Ende September 1945 wird sie aus Deutschland zurück sein: Rosa Schmidt mit ihren Kindern Helga und Hansi, ihrem Bruder Friedel Günther und ihrer Mutter Katharina. Doch vor der Heimkehr steht die Flucht. Mit dem Rückzug der deutschen Truppen macht sich auch ein Teil der Banater Schwaben auf in Richtung Westen. Die Trecks geraten verschiedentlich in die Schusslinie der nachdrängenden Front. Die meisten erreichen jedoch die Straße nach Segedin und können fast ungestört nach Westen weiterfahren. Bei Feldwar überqueren die Flüchtlinge die Donau. Sie lassen den Plattensee links liegen. Durch den Bakonywald ziehen die Fuhrwerke der Banater Schwaben auf verstopften und überlasteten Straßen in Richtung der damaligen deutschen Ostgrenze. Zumeist erreichten sie diese in der zweiten Oktoberhälfte, um von dort ohne Aufenthalt in ihre Aufnahmegebiete, in erster Linie die niederösterreichischen Kreise nördlich der Donau, weitergeleitet zu werden. Auch Rosa Schmidt und ihre Mutter Katharina Günther packen die wichtigsten Sachen auf einen Pferdewagen und begeben sich im Schutz des deutschen Militärs nach Westen. Dabei sind Hansis Urgroßmutter Regina Knab, der behinderte Bruder der Mutter, Friedel Günther, der im Alter von fünf Jahren an Hirnhautentzündung erkrankt ist, und Rosas Cousine Viktoria Junker mit ihrem 1940 geborenen Sohn Helmut, mit ihrer Mutter Dorothea Müller, Tante Rosina Reinlein (1904-1996) und deren Mann Karl Reinlein. Die Flucht von Rosa Schmidt und Viktoria Junker wird zu einem reinen Frauenunternehmen. Jede hat einen Wagen, davor je zwei Pferde gespannt. Karl Reinlein, der sie die ersten Kilometer begleitet, verschwindet in Jugoslawien auf Nimmerwiedersehen. Ob er in die Hände von Partisanen gefallen oder zum Volkssturm genommen worden ist, keiner weiß es, berichtet Viktoria Junker. Die Frauen müssen nun allein zurechtkommen. Aber sie werden es schaffen, sie führen die ganze Familie nach Bayern in Sicherheit. Was sie damals nicht wissen können: Unter ihnen ist einer, der einmal einen großen Namen haben wird. Hansi Schmidt, der nach seiner zweiten Flucht 1963 die Handballer des VfL Gummersbach weltbekannt machen wird. So sind sie beim Start auf die beiden Wagen verteilt: Auf dem einen Rosa Schmidt mit den Kindern Helga und Hansi, ihr Bruder Friedel Günther, Oma Katharina Günther, Uroma Regina Knab, auf dem zweiten Viktoria Junker mit Sohn Helmut, ihrer kranken Mutter Dorothea Müller, Onkel Karl, der in Serbien spurlos verschwindet wie viele andere, und Tante Rosina Reinlein. Dorothea Müller, Rosina Reinlein und Katharina Günther sind die Töchter von Regina
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Knab, Hansis Urgroßmutter. Die Entscheidung, die Flucht ohne Männer anzutreten, fällt Rosa Schmidt und Viktoria Junker nicht leicht. Besonders Viktoria hat Probleme, denn ihr Vater ist dagegen. Und der Schwiegervater will kein Pferd dafür bereitstellen. Schließlich rückt er doch noch eines heraus. Hinzu kommt als zweites Zugtier Norma aus dem Stall von Onkel Karl Reinlein. Viktoria Junkers Vater und ihr Schwiegervater weigern sich, zu flüchten. Sie bleiben in Marienfeld. In der im Deutschen Taschenbuch-Verlag erschienenen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Das Schicksal der Deutschen in Rumänien“ berichtet eine Frau mit den Kürzeln G. N. über die nahende Front und die Flucht eines Teils der Deutschen aus Marienfeld, dem Geburtsort Hansi Schmidts. Die Flucht von Rosa Schmidt und Viktoria Junker verläuft im wesentlichen, wie in diesem Bericht beschrieben. Unter den Saisonarbeitern, die die Winzer in Marienfeld beschäftigen, sind viele Rumänen aus den Nachbargemeinden. Als die Russen die Karpaten überschreiten, werden diese Burschen immer dreister. Sie rotten sich zusammen und unterhalten sich offen darüber, welche Häuser sie im Ort in Besitz nehmen wollen, wenn einmal der Kommunismus hier Einzug hält. Als G. N. eines Tages durchs Dorf geht, ruft ihr einer aus einer Gruppe umherstehender „Bengel“ nach, nicht laut, aber dass sie es gut verstehen kann: Heil Stalin. Zu solchen und ähnlichen Zwischenfällen kommt es nun immer häufiger, „so dass man sich in der Heimat immer weniger sicher fühlen“ kann. Der Kanonendonner nähert sich. Die Feldarbeit ruht, in Haus und Hof verrichten die Marienfelder nur noch das Notwendigste. G. N. berichtet weiter: Am Abend des 4. Oktober kommt ihr Mann von der Bürgerwache mit der Nachricht, dass alle Marienfelder am nächsten Morgen aufbrechen müssen. „Wir bekamen unsere Evakuierscheine und mussten uns auf den schweren Weg machen. Am 5. Oktober 44 nachmittags um 4.30 Uhr, meine Angehörigen saßen schon auf dem Wagen, und ich ging noch einmal, zum letzten Mal, durch das Haus, um Abschied zu nehmen von allem, was einem lieb und teuer war. Es war furchtbar, und mich überkam das sichere Gefühl, dass wir nie mehr hierher zurückkommen. Bis zum Dorfende waren wir etwa 20 Fuhrwerke beisammen.“ In diesem Treck sind auch Rosa Schmidt und ihre Angehörigen. Erst vor wenigen Tagen haben sie Hansis zweiten Geburtstag gefeiert, Schwester Helga ist im August drei Jahre alt geworden. Der Treck setzt sich in Richtung Kikinda in Serbien in Bewegung. Einige deutsche Soldaten begleiteten den Zug. Als er die elf Kilometer entfernte Stadt erreicht, ist es schon Nacht. Die Wagen werden in einer Reihe vor den Häusern aufgestellt. Der Kriegslärm kommt immer näher, so G. N. weiter. In der Nacht fährt deutsches Militär vorbei, mit einem Traktor, an dem Pflug und Egge angehängt sind. Auf dem Straßenpflaster verursachen die Soldaten damit einen Rie-
senlärm. Das soll die fehlenden Panzer vortäuschen, vermutet G. N. in ihrem Bericht. Um 3 Uhr schießen Russen aus der Nähe. Die Kugeln kommen über die gegenüberliegenden Häuser geflogen und schlagen an den Wänden über den Flüchtlingswagen ein. Alle verlassen die Wagen und suchen Schutz. In den Häusern schleichen Serben umher und sprechen gedämpft. „Wir waren in eine Falle geraten. Plötzlich hörte man die Russen hurreh, hurreh schreien, und wir wussten nun, dass sie bald hier sein werden. Auf einmal schossen die Deutschen aus entgegengesetzter Richtung mit Granatwerfern über uns hinweg, man hörte das Aufschlagen und die Schreie der Verwundeten. Da kam ein deutscher Soldat, in einer Hand die Pistole, in der andern eine Taschenlampe, leuchtete uns an und sagte: ›Leute, aufsitzen, und so schnell wie möglich raus von da.‹ So fuhren wir nun zur Stadt hinaus, die Kugeln pfiffen nur so über uns. Einige haben auch etwas abbekommen davon, aber zum Glück gab es noch keine Toten.“ Über vom Regen aufgeweichte Feldwege geht es weiter. Die Räder versinken bis zu den Achsen. Die Pferde schaffen immer nur etwa 50 Schritt, müssen rasten. Die Leute werfen alles Mögliche von den Wagen, um die Last zu verringern. Sackweise liegen Lebensmittel umher, ferner Koffer mit Wäsche und Kleidern, ein neues Fahrrad, es bleibt liegen. Es gilt nur, wegzukommen, denn kaum sind die Flüchtlinge aus der Stadt, schlagen schon die Flammen aus den Häusern in Kikinda.
Erste Opfer
„Einem Nachbarn von uns ist der Wagen zusammengebrochen, er musste zurückbleiben, dann wurden ihm die Pferde erschossen. Er und seine Frau ließen dann alles liegen und trachteten nur noch, die Kolonne zu erreichen. Sie fuhren dann ganz ohne Gepäck mit jemand anderem mit. An einem anderen Wagen ist auch eine Achse gebrochen, er gehörte dem Landsmann K. Dieser machte sich auf, ins nächste Dorf zu gehen in eine Schmiede. Man hat nie mehr etwas von ihm gehört. Seine Angehörigen konnten die Kolonnen nicht mehr erreichen und gingen dann, wie man später hörte, zu Fuß in die Heimat zurück“, heißt es in dem Erlebnisbericht weiter. Das Schicksal anderer, die auf der Flucht in die Hände serbischer Partisanen fallen, ist bekannt. Partisanen ergreifen beispielsweise Margarethe Hochstrasser, die älteste Schwester Johann Schmidts, Hansis Großvater, zusammen mit ihrer Familie in Siegmundfeld und bringen sie in ein Vernichtungslager in Großbetschkerek. Die Lagerleitung entlässt im Februar 1945 Margarethe Hochstrasser und ihre Tochter Irene Groß. Die beiden Frauen erreichen mit Mühe die rumänische Grenze und kehren nach Lenauheim zurück. Peter Groß, der Mann von Irene, kehrt nicht mehr heim; Partisanen bringen ihn um. Er ist 49 Jahre alt. Russen holen seinen 18-jährigen Sohn Karl-Hans (1926-2005) und seine Toch-
ter Gabriela am 26. Dezember 1944 aus dem Internierungslager. Sie stecken sie mit Landsleuten und Deutschen aus Serbien in Viehwaggons. Ihr Ziel sind Arbeitslager in Russland. Nach fünf Jahren Lager kehren Gabriela und Karl-Hans Groß 1949 heim ins Banat. Karl-Hans Groß erlebt, wie Partisaninnen seinen Vater in Serbien umbringen. Diesen Mord hält er in folgendem Gedicht fest:
Meinem Vater
Mein Vater! Mein Vater! Sie haben's genommen. Dein Leben. Hergeben! Sie haben's vollbracht. Die Häscher! Die Häscher! Sie waren gekommen. Zu morden. Die Horden. In blutschwarzer Nacht. Finstere Nacht. Um - ge - bracht. Mein Vater! Mein Vater! Jetzt bin ich in Not. Sie schießen. Wir büßen. Sie quälen zu Tod. Die Weiber! Die Weiber! Im Männergewand. Sie töten. Sie röten. Mit eigener Hand. Hirnverbrannt. Blindverrannt.
Mein Vater! Mein Vater! Die Hölle ist los. Verderben. Und Sterben. Pistolengeschoß. Revolver. Revolver. Das Eisen ist kalt. Die Stirne. Im Hirne. Der Schuss ist verhallt. Gewalt. Geballt. Furiengestalt.
Hansis Onkel gehört zu den 80000 deutschen Opfern des Tito-Terrors. Die serbischen Partisanen erschießen und erschlagen schätzungsweise 15000 bis 20000 Deutsche. In 49 der größeren Lager kommen die meisten Deutschen um. Mehr als zehn Prozent der Lagerinsassen sterben durch Gewalt. Die übrigen werden Opfer der unmenschlichen Verhältnisse: Sie verhungern, sterben an Seuchen und Misshandlungen. Auf dem Transport in die Sowjetunion und in den dortigen Lagern sterben etwa 4500 Menschen von rund 30000 Verschleppten aus Jugoslawien.
Hansi und seine Familienangehörigen aus Marienfeld haben Glück. Sie entkommen den Partisanen. Gegen Mittag erreichen sie Mokrin. Seit dem Aufbruch in Marienfeld hat noch niemand etwas gegessen. Aus der geplanten Mittagsrast wird nichts. Kaum ist das Essen ausgepackt, kommen berittene Kosaken, es sind Russen, die an der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetarmee kämpfen. Sie fordern die Flüchtlinge auf, rasch zu packen und weiterzufahren, denn aus jedem Fenster könnten Schüsse fallen. Sie fahren noch diesen Tag und die folgende Nacht durch, meist nur der Fuhrmann auf dem Wagen, die anderen marschieren. „Zum Essen war keine Zeit, und immer hatten wir Angst, nicht mehr rechtzeitig wegzukommen.“ Deutsche Soldaten, die in Marienfeld einquartiert waren, holen den Treck ein. Drei Nächte und zwei Tage fast ohne Unterbrechung geht es weiter. Das Gefecht verfolgt die Flüchtenden. In Segedin müssen die Marienfelder einen halben Tag warten, bis sie mit der Fähre
Zwei Handballgrößen bei einem Treffen in über die Theiß setzen können. Von
Günzburg: Hans Moser und Hansi Schmidt beiden Seiten stoßen Trecks zu den Wartenden. Ein berittener Soldat, der den Treck begleitet, berichtet der G. N., dass sich etwa 600 Wagen gesammelt hätten. Am Abend rasten die Flüchtlinge im Freien. Doch kaum ist die Kartoffelsuppe auf offenem Feuer zum Kochen aufgestellt, gibt es Fliegeralarm. In der Nacht wieder Gewehrfeuer, Kanonendonner und der Schein der Leuchtraketen.
Sterne über der Pußta
Bei Feldwar passieren die Marienfelder die Donau. Der Kanonendonner ist nicht mehr so laut, schließlich ist er gar nicht mehr zu hören. Jetzt können die Menschen nachts rasten. Die Sterne über der nächtlichen Pußta bleiben manchen für immer in Erinnerung. Auch dem kleinen Hansi. Die Flüchtlinge erreichen Weißbrunn nördlich des Plattensees, die Sonne scheint. Die Mittagsrast wird von Fliegern gestört. Sie suchen im Friedhof unter den Bäumen Schutz. Deutsche, ungarische und russische Flieger jagen einander. „Man musste Angst haben, sie verfangen sich in den Bäumen. Ein deutsches und ein russisches
Flugzeug sind auch unweit von uns abgestürzt. Unsere Kolonne kam heil davon“, heißt es in dem Bericht weiter. „Wir fuhren nun immer weiter und fragten uns oft: Wohin? Es gab aber nichts anderes mehr für uns, als mit den andern immer weiter zu fahren.“ Kurz vor der deutschen Grenze erreicht die Flüchtlinge die Nachricht, Ungarn habe kapituliert. Alle fragen sich, ob sie weiterfahren dürfen. Rosa Schmidt und Viktoria Junker samt Begleitung fahren im großen Treck mit den Marienfeldern und erreichen nach vierwöchiger Flucht Deutschkreuz. Sie gelangen nach Sieghartskirchen bei Wien, wo sie bis im Frühjahr 1945 bleiben. Als sich die Sowjetarmee Wien nähert, begeben sie sich wieder auf die Flucht. Doch sie haben keinen Wagen mehr, und von den vier Pferden ist nur noch Tante Reinleins Norma übrig. Viktorias Mutter gelingt es mit viel Geschick, einen Kälbertransportwagen zu kaufen. Darauf finden die drei Kinder Helga, Hansi und Helmut und der behinderte Onkel Friedel Platz. Sie spannen Norma davor. Viktoria Junker lenkt das Pferd und bremst, Rosa Schmidt schiebt den Wagen. Die anderen müssen gehen. Donauaufwärts gelangen sie nach Eggenfelden in Bayern. Es ist Ende April. Die zehn Flüchtlinge werden auf drei Höfe verteilt. Am 3. Mai sind Amerikaner im Dorf. Schon auf dem Weg nach Eggenfelden macht Viktoria Junker ihren Mann ausfindig. Sie findet den verwundeten Otto im Krankenhaus in Linz an der Donau. Er wird am Tag des Wiedersehens entlassen, doch er hat noch keine Papiere. Deshalb wird er den vorausfahrenden Frauen und Kindern folgen müssen. Doch kaum ist er in Eggenfelden, kommt er in amerikanische Gefangenschaft. Für Rosa Schmidt und ihre Familie endet die Flucht im Mai im bayerischen Tann bei Eggenfelden. Johann Maierhofer (1904-1993) und seine Familie nehmen die Schmidts und Günthers gut auf. Als Johann Maierhofer hört, jeder müsse Flüchtlinge beherbergen, will er nichts dem Zufall überlassen und geht ins Dorf, um sich selbst welche auszusuchen. In der Kirche fällt ihm eine sehr bedrückt wirkende Frau auf: Es ist Rosa Schmidt, Hansis Mutter. Maierhofer nimmt Rosa Schmidt mit Helga, Hansi und Onkel Friedel mit nach Hause und bringt sie im Wohnzimmer unter. Bei den Maierhofers in Tann bleiben die vier Flüchtlinge bis zum 2. September 1945. Es ist Dr. Hans Schmidts Geburtstag. Er ist 36 Jahre alt geworden. An diesem Tag treten die Schmidts und Günthers die Heimreise an.
Heimkehr
Rund um Eggenfelden kommen weitere Marienfelder Flüchtlinge unter. Dazu gehört auch Hans Götz. Die Gefangenschaft bleibt ihm erspart, weil er in letzter Minute in den Besitz eines Volkssturmausweises kommt und Invalide ist. Götz holt seine nach Sachsen geflüchtete Familie nach Rogglfing. Mit dem Fahrrad
legt er die 500 Kilometer nach Sachsen zurück, mit einem Pferdewagen bringt er Anfang Juli die Familie nach Bayern. Hier trifft er seinen Bruder mit Familie. Das berichtet Hans Götz im Heimatbuch „Marienfeld“. Götz ist vier Wochen in Rogglfing, als er von zwei Männern erfährt, dass ein Transport nach Rumänien zusammengestellt wird, Interessenten sollen sich in Eggenfelden melden. Ungewisse Tage folgen. Am leichtesten fällt die Entscheidung den ehemaligen Ortsgruppenleitern und politischen Funktionären. Sie gehen nicht nach Hause und tun gut daran. Sie haben Angst vor den Russen. Ein großes Glück für viele Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen ist, dass nur wenige Flüchtlingstransporte zustande kommen. Sie haben keine Möglichkeit mehr, nach Rumänien zurückzukehren; dadurch bleibt ihnen vieles erspart. Und dann ist der Tag der Entscheidung gekommen. Rosa Schmidt zögert kaum. Sie entscheidet sich viel leichter für die Heimkehr, weil ihr Mann zu Hause ist. Viktoria Junker steht schon am Bahnhof und zögert immer noch. Zum Schluss fährt auch sie mit nach Hause: Die Mutter will gerne heim, der Vater ist zu Hause geblieben, aber der Mann ist noch in Gefangenschaft. Er wird ihr nach etwa einem Jahr heim nach Marienfeld folgen. Nach langem Hin und Her machen sich auch die Götz-Brüder mit ihren Familien auf den Heimweg. Alle sitzen in demselben Zug: Uroma Knab, Katharina Günther, Friedel Günther und Rosa Schmidt mit Helga und Hansi, ferner Viktoria Junker mit Sohn Helmut, ihrer Mutter und den Tanten. Die Fahrt ostwärts beginnt am 2. September 1945 und wird aufregend, berichtet Hans Götz weiter. Schon bald wird allen klar, dass der Zug nicht über München, Salzburg und Wien fahren wird, sondern über Regensburg durch die Tschechoslowakei. Eine gewisse Unruhe macht sich breit. Doch in der nächsten Minute sagen sich die Heimkehrwilligen, sie stehen unter amerikanischem Schutz, es kann ihnen nichts passieren. „Wenn wir vor allem in größeren Bahnhöfen auf eine freie Linie warten mussten, war es aufschlussreich, die vorbeifahrenden Lastzüge zu beobachten. Darauf waren die Maschinen ganzer Fabriken geladen. Wie gründlich so eine Fabrik abmontiert wurde, konnte man daran erkennen, dass sogar Besen und Schaufel für den Kehricht in einer Waggonecke standen. Die Maschinen waren mit Planen abgedeckt, auf fast allen Waggons stand ein russischer Soldat. Solche Transporte sahen wir mehrere, und man kann sich heute die rasche Industrialisierung der UdSSR nach dem Kriege erklären“, heißt es in dem Bericht von Hans Götz. In Eger ist noch alles in Ordnung. Die Amerikaner kümmern sich darum, dass der Zug in größeren Bahnhöfen nicht zu lange hält. In Karlsbad steigen Hans Götz und sein Bruder aus. „Junge Kerle guckten aus den Fenstern eines Personenwagens. Ihr Zug war abfahrtbereit. Wir gingen an diesem Wagen vorbei und sprachen in unserem Dialekt. Die jungen Kerle hörten deutsche Worte, und
schon ging die Flucherei los. Sie machten Fäuste, kamen bis auf das Trittbrett, drohten und beschimpften uns immer stärker.“ Geistesgegenwärtig beginnen die Götz-Brüder Rumänisch zu sprechen. Sie verunsichern die Tschechen so sehr, dass diese bei der Abfahrt sogar zum Abschied winken. In Pilsen übernehmen Russen den Zug. Die Amerikaner teilen den Heimkehrern mit, ihre Mission sei zwangsweise zu Ende, sie würden jedoch Familien, die den Russen nicht vertrauten, zurück nach Eggenfelden mitnehmen. Von Pilsen geht es nach Prag: ein Umweg. Dort hält der Zug einen halben Tag. Tschechische Soldaten befehlen den Männern, auszusteigen, anzutreten, den Oberkörper zu entblößen und den linken Arm hochzuheben. Sie suchen nach dem Blutgruppenzeichen, dem untrüglichen Beweis für die Zugehörigkeit zur SS. Hans Götz muss handeln. Er sieht, dass ungarische Jungen aus dem Nachbarwaggon ebenfalls angetreten sind. Einer von ihnen hat das Kommando übernommen. Hans Götz geht auf ihn zu und erklärt ihm in schlechtem Ungarisch seine Lage und bittet ihn, zur Kontrolle in ihrer Reihe antreten zu dürfen. Er stimmt zu und erklärt den Tschechen, dass hier nur von Deutschen verschleppte Ungarn angetreten wären. Die Tschechen glauben ihm. Nachdem alles vorüber ist, steht fest: Von den Marienfeldern haben die Tschechen lediglich Oskar Junker erwischt. Dem gelingt es aber, nach Deutschland zu fliehen. In dem Waggon, in dem auch Rosa Schmidt und ihre Mutter Katharina Günther mit den Kindern Helga und Hansi untergebracht sind, macht sich große Sorge breit. Der Zug ist seit fünf Tagen und Nächten unterwegs. Alle sitzen dicht gedrängt in den offenen Waggons, nur mit Planen und Decken gegen Wind und Regen geschützt. Es ist so eng, dass Rosa Schmidt gezwungen ist, Hansi und seine Schwester Helga aneinander zu binden, weil immer wieder eines der Kinder von dem schmalen Schlafplatz rutscht. In Preßburg sind die Lebensmittelvorräte fast zu Ende. Hans Götz schellt an Haustüren, um Stoff für Damenblusen und Schürzen gegen Lebensmittel einzutauschen. An der Grenze wollen die ungarischen Zollbeamten die Durchreise des Flüchtlingszuges verweigern. Daniel Zimmermann, Offizier in rumänischer Uniform, beherrscht die ungarische Sprache fast besser als Deutsch. Er spricht mit den ungarischen Zöllnern. Er schildert ihnen die Situation, spricht von der Lebensmittelknappheit, von den vielen kleinen Kindern, die nicht zur Ruhe kommen und schon krank sind. Er sagt das alles in schönstem Ungarisch. Er weiß: Wenn man bei Ungarn etwas erreichen will, dann muss man ihre Sprache sprechen. Nach langem Hin und Her hat der Zug grünes Licht. Am meisten freuen sich die ungarischen Jungen, die Götz in Prag geholfen haben. Sie sind daheim und singen ein einfaches, aber schwermütiges Lied mit dem Titel „Wir fahren nach Hause“.
Während der Fahrt durch Ungarn geht es ruhig zu: ohne Drohungen, Untersuchungen und Verhaftungen. Die meisten im Zug fühlen sich schon fast wie zu Hause. Die Heimkehrer hören aber eine mysteriöse Geschichte, die besagt, dass zwischen Budapest und Szolnok mehrere offene Viehwaggons in einem Bahnhof stünden, vollgestopft mit bis auf die Knochen abgemagerten deutschen Soldaten. Einheimische berichten von einem Zug, der mal westwärts, dann wieder ostwärts verschoben wird. Die Ungarn sind fest davon überzeugt, dass die Waggons so lange hin und her geschoben werden, bis alle den Hungertod gestorben sind. Kurz vor Großwardein ist die Fahrt zu Ende. Die Flüchtlinge sind in Rumänien. Noch im Zug die erste Kontrolle: Gesucht werden Radio- und Fotoapparate. Bewaffnete rumänische Soldaten umstellen den Zug. Die Freudenrufe bleiben den Heimkehrern in der Kehle stecken, so Hans Götz weiter. Aus den Reihen der Eingetroffenen sind Stimmen zu hören wie: „Was wollen denn die Soldaten hier, wir sind doch keine Verbrecher, wir haben doch nichts getan.“ Die Heimkehrer werden als Hitleristen beschimpft, sie hören Zurufe wie „Geht dorthin, wo ihr hergekommen seid“. Sie müssen das Gepäck auf dem Bahnsteig stapeln. Als Bewacher dürfen der älteste Mann oder die älteste Frau aus der Familie und die Kinder bleiben. Alle anderen marschieren unter militärischer Bewachung in die Großwardeiner Festung. Pöbel bedroht und beschimpft sie auf dem Marsch. Doch die Meute hat Gott sei Dank nur wenig Interesse an den neu Angekommenen, sie hat sich schon an vorher Eingetroffenen ausgetobt: steinewerfend und spuckend. Ein Jahr zuvor ist hier noch der spätere Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll als deutscher Soldat auf dem Rückzug durchgekommen. Er wird die Kämpfe rund um Großwardein in seinem Roman „Wo warst du, Adam?“ beschreiben.
Die Menschen sind nicht mehr dieselben
In der Festung angekommen, geschieht zunächst nichts. Die Heimkehrer übernachten auf Stroh in einem leeren Gebäude gegenüber der ehemaligen Folterkammer. In der Festung sind deutsche Soldaten eingesperrt. Die meisten jung, lustig und glücklich, den Krieg lebend überstanden zu haben. Sie lehnen in den Fenstern, sprechen mit den Neuankömmlinge und bitten um Essen, sie sind ausgehungert. Doch auch die Heimkehrer haben kaum etwas zu essen. Sie können den Hungrigen lediglich Maisbrei, Tomaten und Paprika kaufen. Schon hier in Großwardein hören die Heimkehrer den neuerdings gebrauchten Namen für ihre Heimatgemeinde. Sie heißt nicht mehr Marienfeld, sondern „America noua“, auf deutsch Neuamerika. Dieser Name stammt von den Plünderern, die meinen, Marienfeld stehe Amerika an Reichtum in nichts nach. Am anderen Tag sortiert eine Kommission unter den in der Festung Einge-
sperrten Arbeitstaugliche für die Kohlengruben aus. Nach einigen Tagen sind Kristof Junker und Dr. Hans Schmidt in Großwardein, um ihre Familien heimzuholen. Sie bestechen die Lagerleiter. Nach insgesamt acht Tagen stehen den Marienfelder Heimkehrern Lastkraftwagen zur Verfügung. Damit gelangen sie heim. Auf der Fahrt nach Marienfeld sehen die Heimkehrer die Auswirkungen des Krieges im Banat. In den Dörfern weisen Häuser und Kirchtürme Spuren des Kampfes auf, große Schäden sind jedoch ausgeblieben. Auf den Äckern der deutschen Dörfer ist im Herbst 1944 und im Frühjahr 1945 nur wenig gesät worden. Deshalb gibt es im Herbst 1945 nicht viel zu ernten. Es stehen noch Maisstängel vom Vorjahr, die meisten Äcker liegen brach. Am 2. September sind Helga, Hansi und Rosa Schmidt mit Uroma, Oma, Onkel, Tante Reinlein, Tante Viktoria und Vetter Helmut Junker in Eggenfelden mit einem 80 Waggon langen Zug abgefahren, und am 16. September 1945 sind sie in Marienfeld. Hansi Schmidt ist auf der Heimreise erkrankt. Er hat sehr hohes Fieber. Doch jetzt sind alle daheim, auch der Vater, der sich um den Jungen kümmert. Den dritten Geburtstag wird der kleine Hansi genau wie den zweiten zu Hause in Marienfeld feiern. Marienfeld ist noch dasselbe Dorf, aber die Menschen sind nicht mehr dieselben. Die noch übriggebliebenen Deutschen sind eingeschüchtert. In den Gassen sind viele Fremde zu sehen. Die Alteingesessenen nennen sie Kolonisten. Tausende von Familien der Staatsnation, die meisten sind in Lumpen gehüllt, sind im Herbst 1944 ins „neue Amerika“ gekommen, um am sagenhaften Reichtum des Dorfes Teil zu haben. Diese Rumänen sind die neuen Herren in Marienfeld und in den anderen deutschen Dörfern. Analphabeten werden Bürgermeister. Die Deutschen sind vogelfrei. Es beginnt ein systematischer Raub- und Plünderungszug, der sich so lange hinzieht, bis bei den Deutschen nichts mehr zu holen ist.