9 minute read
Audienz beim Staatschef
Von Alexander Oprendek
Unangemeldet erschien er eines Nachmittags bei mir in der Wohnung in Temeswar. Ich kannte ihn nicht und hatte ihn auch noch nie gesehen. Er sagte, er sei der Nachbar von nebenan. Er war ein junger Mann von unbestimmtem Alter, groß und schlaksig, ja gar mager und nicht schlecht gekleidet. Er stellte sich vor: Jan Mojar, Gelegenheitsarbeiter. Er fing an, aus seinem Leben zu erzählen. Er war auf dem Lande aufgewachsen. Der Vater hatte die Familie verlassen, und die Mutter brachte die Kinder allein durch. Er sprach Hochdeutsch mit gewählten Worten, mit einer schönen Baritonstimme und mit stark rollendem R. Als Bauarbeiter sei das Leben eine Qual, der Geist sei nicht gefordert. Seine Kollegen, die sich lediglich mit Brot und Schnaps begnügten, ödeten ihn an; er wolle sich weiterbilden und einen Beruf erlernen. Um zu zeigen, wie ernst ihm das ist, zog er ein verschlissenes Buch aus der Tasche, ein Nachschlagewerk über deutsche Dichter, und zeigte mir, dass er eben unter dem Stichwort „Schiller in Weimar“ sein Kulturdefizit zu mindern sucht. Es schwebte ihm vor, Schlagersänger zu werden, denn Sänger hätten es leicht im Leben und müssten sich nicht dauern abrackern. Er meinte alle Voraussetzungen zu haben, nahm schon Gesangunterricht. Er wolle Rumänien verlassen und zu seinem Vater nach Leitmeritz umsiedeln. Und dann kam es: Ob ich ihm dabei helfen könne? Sein Antrag auf Umsiedlung zu seinem Vater sei wiederholt abgewiesen worden. Ich solle ihm nun helfen, eine gut formulierte Bittschrift zu verfassen, die er persönlich in Bukarest übergeben wolle. Außerdem mangele es ihm an Geld, um die Reise zu finanzieren. Ich erklärte mich bereit, ihm zu helfen. Er kam noch einige Male zu mir, ich verfasste die Bittschrift und gab ihm auch das notwendige Geld für die Reise. Drei Wochen später berichtete er mir, die Bukarest-Reise sei erfolglos gewesen. Er sei an keiner maßgeblichen Stelle vorgelassen worden. Er sollte seinen Brief in die Post geben oder einen Audienzantrag stellen, hieß es. Da er starrköpfig blieb und laut wurde, nahm Wachpersonal ihn als Randalierer fest. Erst am nächsten Tag sei er freigesetzt worden mit der Auflage, sich dort nicht mehr blicken zu lassen. Diese Art, seine Probleme anzugehen, war ihm eigen. Nach und nach lernte ich ihn besser kennen. Bei allen seinen Vorhaben blieb er verbohrt und beharrlich. Er konnte nicht zurückstecken. Bei Widerspruch blieb er trotzig und uneinsichtig. Schüchternheit kannte er nicht. Seine Ehrfurcht vor Vorgesetzten oder Persönlichkeiten hatte deutlich Grenzen. Er wollte nicht abgewiesen oder wi-
Advertisement
dersprochen werden. War es der Fall, so wurde er starrköpfig, erregt und zänkisch aber nicht beleidigend. Dabei fing er an zu stottern. Seine Zähigkeit, seine Penetranz und seine Unfähigkeit, zurückstecken zu können, führten fast immer dazu, dass er sein Ziel erreichte, schon darum, weil er die Gesprächspartner ermüdete und ihn loswerden wollte. Nach all den Fehlschlägen, in Bukarest höheren Ortes vorzusprechen, hatte er Bedenken, ob er den richtigen Weg eingeschlagen habe. Er beschloss, sein Aussiedlungsbegehren unmittelbar dem Staatsoberhaupt Gheorghe Gheorghiu-Dej vorzutragen. Der Versuch, in der Staatskanzlei einen Audienztermin zu bekommen, scheiterte. Ihm wurde beschieden, sein Begehren sei aussichtslos, Ausreiseanträge würden vorweg aussortiert und an die zuständigen Ministerien weitergeleitet. Nun war er, vom Misserfolg sichtlich gezeichnet, aus Bukarest zurück. Seinen Plan, den Staatspräsidenten zu sprechen, hatte er aber nicht aufgegeben. Ihm kam eine neue Idee. Er wolle dem Staatschef an geeigneter Stelle auflauern, ihn ansprechen und ihm sein Anliegen vortragen. Das war etwas Unerhörtes, etwas noch nie Dagewesenes in einem Ostblockstaat; es war äußerst gefährlich und riskant. Das Staatsoberhaupt war stets von seinem Personenschutz umringt; wenn nur einer von den Leuten die Lage verkannt hätte, wäre sofort scharf geschossen worden. Ein Verdächtiger hätte aber auch verhaftet und nach monatelangem Verhör zu Sicherheitsverwahrung oder gar zu Zwangsarbeit verdonnert werden können. Wie auch immer, Mojar bereitete seine zweite Bukarest-Reise vor. Er pumpte mich wieder mit Erfolg an. In Bukarest angekommen, schlich er mit Ausdauer um die Staatskanzlei; er vergewisserte sich, dass Gheorghe Gheorghiu-Dej im Lande ist und einen gleichen Tagesablauf hatte. Mojar wurde Dauergast in einer Kneipe gegenüber der Staatskanzlei; er beobachtete das Geschehen von gegenüber. Der Staatschef kam täglich gegen elf Uhr mit seiner Staatslimousine an, entstieg dieser und ging die Treppe zum Regierungssitz hinauf. Am nächsten Tag lag Mojar auf seinem Beobachtungsposten auf der Lauer. Zehn Minuten nach elf Uhr verließ das Staatsoberhaupt die Limousine. Mojar flitzte aus der Gaststätte und versuchte Gheorghiu-Dej auf sich aufmerksam zu machen. Er rieft: „Domnule comandant, domnule Comandant - Herr Befehlshaber.“ Als die Leibgarde ihn abzudrängen versuchte, drehte sich Gheorghiu-Dej um, erkannte die Harmlosigkeit der Lage, machte mit der linken Hand eine beruhigende Geste und sagte wie ein volksnaher Staatsmann: „Lăsaţi-l să vină la mine“ - Lasst ihn zu mir kommen. Mojar ging zu ihm, stammelte vor Aufregung etwas von seinem Begehren, fuchtelte dazu mit seiner Denkschrift, ohne sich verständlich äußern zu können. Gheorghiu-Dej wollte das auch nicht abwarten und bat ihn in sein Büro, um das Anliegen dort in Ruhe zu besprechen.
Dort angekommen, erklärte Mojar dem „Kommandanten“, wie gut es ihm in Rumänien gehe, es gebe auch keinen Grund zur Unzufriedenheit, es bleibe aber eine letztes übrig. Und wenn auch der Kommandant hier diesen herrlichen Palast, in dem er arbeite, ihm, Mojar, schenken würde, so bliebe doch eines übrig, die Sehnsucht nach der Mutter, der Wunsch mit der Mutter zusammen zu sein. Er redete sich so in Stimmung, dass ihm die Tränen kamen. Gheorghiu-Dej beruhigte Mojar und sagte ihm großzügig zu, sein Aussiedlungsbegehren zu befürworten. Er schrieb auf das vorgelegte Bittgesuch seine Anweisungen und bat Mojar um Geduld bis zur Erledigung. Mojar war glücklich. Meine Einwände, dass da noch einige Unwägbarkeiten vorhanden seien, wischte er vom Tisch. Ich klärte ihn auf, dass Leitmeritz nicht in Deutschland liege, sondern in Nordböhmen, in der Tschechei und jetzt Litoměřice heiße und dass er vorgebe, mal zu Vater mal zu Mutter reisen zu wollen. Das stimmte ihn überhaupt nicht nachdenklich, er meinte nur, dass es weder in Rumänien noch in irgendeinem anderen Lande ein Verzeichnis über Verwandte, Familienmitglieder und deren Aufenthalt oder Wohnsitz gebe. Es war erstaunlich, aber er hatte hier wahrhaftig eine Lücke in der Verwaltung festgestellt. Wo Leitmeritz oder Litoměřice liege, sei ihm egal, solange er einen Pass nach Deutschland bekomme. Obwohl nichts entschieden war, traf Jan Reisevorbereitungen. So fuhr er nach Perjamosch und kaufte sich in der Hutfabrik einen Tirolerhut mit Gamsbart und Anstecker. Es verging ein halbes Jahr, und es tat sich nichts. Jan wurde unruhig. Hat ihn womöglich der Staatspräsident verschaukelt? Warum rührte sich nichts, fragte er sich. Und dann das noch: Am 19. März 1965 ist Gheorghe Gheorghiu-Dej gestorben. Mojar war am Boden zerstört. Ohne diesen Befürworter sei nun alles verloren, meinte er. Ich war da anderer Meinung und beschwichtigte ihn. Sein genehmigter Antrag laufe jetzt den Weg hierarchisch, von oben nach unten, niemand würde es wagen, den Vorgang zu stoppen. Neue Entscheidungen seien nicht mehr notwendig. Wenn das erste Glied in dieser Reihe ausfällt, so sei das ohne Einfluss auf die unteren Arbeitsebenen. Der neue Machthaber Nicolae Ceauşescu werde sich bestimmt nicht rückblickend in solche Kleinigkeiten einmischen, um diesen Beschluss seines Vorgängers zu widerrufen. Ich habe recht behalten; nach weiteren sechs Monaten erhielt Mojar den Bescheid, dass sein Pass in Temeswar vorliegt. Jan eilte ins Passamt. Zu seiner Enttäuschung waren weitere Formalitäten zu erledigen; er musste Nachweise vorlegen, dass er keine Schulden habe, dass er alle Arbeitsgeräte seinem Arbeitgeber zurückgegeben habe. Und dann musste er noch eine LoyalitätsErklärung abgeben, in der er versicherte, Rumänien im Ausland nicht zu verun-
glimpfen. Ich verfasste ihm eine Treueerklärung, er reichte diese und die weiteren Nachweise ein und hielt endlich den Pass in Händen. Das Offizielle war geregelt, Jan hatte auch den Hut für seine Auslandsreise, ihm fehlte allerdings noch Geld. Er brauchte eine beachtliche Summe. Was er schon von mir bekommen hatte und was er jetzt noch brauchte, dafür hätte ich mehrere Jahre sparen müssen. Sollte ich Jan, einem mir kaum Bekannten, eine derart große Summe ohne eine Sicherheit anvertrauen? Wir vereinbarten folgendes: Ich gebe ihm das Geld, und er verpflichtet sich, mir in Deutschland als Gegenleistung ein Auto zu kaufen und dieses nach Rumänien zu bringen. Die Endabrechnung soll zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Die letzten Reisevorbereitungen hatten begonnen: Jan kaufte sich moderne Reisekoffer, einen neuen Anzug und einen neuen Überzieher. So ausgerüstet, trat er 1966 die Reise mit der Eisenbahn an. Sein erstes Ziel war aber Prag. Ich erfuhr das erst später, und damals mutete mir das alles seltsam an. Jan meldete sich bei der Auslandsredaktion von Radio Prag. Mit der Sendung in deutscher Sprache hatte er eine harmlose Korrespondenz geführt und dem Sender ein Interview versprochen. Später habe ich den Mitschnitt der Sendung gehört, aber deren Zweck nicht verstanden. Es ging lediglich um die Eindrücke eines Durchreisenden, wobei nicht erwähnt wurde, dass es sich um einen Ausreisenden aus dem sozialistischen Rumänien handelt. Später erzählte mir Mojar, wie es ihm nach der Ankunft in Deutschland ergangen ist. Nach dem Prag-Besuch, wo er eine Mahlzeit und Taschengeld für sein Interview erhalten hatte, fuhr er nach Nürnberg und wurde bis zur Erledigung der Einbürgerung im Durchgangswohnheim in Geretsried untergebracht. Ausgedehnte bewaldete Gebiete waren ihm aus Rumänien fremd. Er wollte weg von dort. Er protestierte gegen seine Unterbringung und ging von Tür zu Tür, um seinem Missbehagen Ausdruck zu verleihen, ohne jedoch ernst genommen zu werden. Nun ließ er sich etwas Neues einfallen. Er suchte eine Holztafel, einen Besenstiel und zimmerte sich daraus ein Protestplakat. Er postierte sich am Eingang der Hauptverwaltung und hielt sein Plakat hoch. Darauf hatte er geschrieben: „Flüchtling im Wald ausgesetzt“. Der Leiter des Wohnheimes lud Mojar vor; er wollte wissen, weshalb er unzufrieden sei. Mojars Antwort: Deutschland sei ein schönes und reiches Land, hier gebe es Straßen und Städte wie im Märchen. Davon könne er aber nur träumen. Jetzt sei er endlich in Deutschland, er aber werde in die Wildnis gebracht, in einen Urwald, nur Bäume und Büsche soweit das Auge reicht, keine zivilisierte Siedlung weit und breit. Untergebracht sei er in einem Bunker. Das sei grauenhaft. „Erst rufen Sie uns nach Deutschland und betreiben dafür Werbung, um uns dann in diese unzivilisierte Öde zu verfrachten. Das ist Menschenquälerei.“
Sein Gegenüber antwortete gelassen: „Hier im Durchgangswohnheim waren schon viele kurze Zeit untergebracht, darunter auch Bedeutende; die meisten haben sich hier wohlgefühlt und unsere unversehrte Natur genossen. Alle haben aber unseren Einsatz für sie geschätzt und begrüßt, keiner hat gemurrt. Warten Sie noch einige Tage mit Geduld und Verständnis ab, dann erhalten Sie eine Sozialwohnung in München, und die richten Sie sich ganz nach Ihren Wünschen ein und können sich dann wohlfühlen.“ So war es dann auch. Mojar bekam eine Sozialwohnung im Münchener Stadtteil Neuperlach, fand eine Stelle bei Siemens und lebte sich ein. Über einen Kollegen, einen Jugoslawien-Deutschen, lernte er ein Mädchen kennen, das er heiratete. Bei seinem ersten Besuch in Temeswar sagte er mir, ich solle mir keine Sorgen machen und mich gedulden, unsere Vereinbarung wegen des geliehenen Geldes sei unantastbar. Nach 18 Monaten konnte ich einen gebrauchten Fiat 1800 Limousine in Bukarest vom Hauptzollamt auslösen. Jan hatte den ersten Teil der Schulden beglichen. Das Auto galt in Temeswar als Luxuslimousine und weckte beachtliches Interesse. Einen Fiat 1800 hatte in jener Zeit nur die Securitate, der Geheimdienst, was zu Neid, Unruhe und zu ernsten Verwicklungen führte. Nach drei Jahren gelang mir und meiner Frau die Flucht nach Deutschland. Mein erster Weg führte zu Mojar. Wir erzählten über unser Entkommen, er über seine Arbeit als Fertigungskontrolleur bei Siemens. Wir übernachteten bei ihm. Er fuhr mit uns zum Sozialamt in München, wo er uns als seine Gäste aus Rumänien vorstellte. Wir erhielten auf Antrag das sogenannte Begrüßungsgeld. Eine nützliche Idee Jans, die uns in Deutschland das erste Geld bescherte. Der Rest des für die Ausreise geliehenen Geldes zahlte Jan uns in Raten zurück.