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Von zwei Spürhunden vor Triest gestellt

Von Johannes Braun

2005 waren 40 Jahre vergangen, seit ich das größte Wagnis und Risiko meines Lebens eingegangen war. Weil es tiefe Spuren hinterlassen hat, will ich aufschreiben, was damals geschehen ist. Am 9. Dezember 2005 war ich Gast der Patin meiner Tochter, die ihren 70. Geburtstag gefeiert hat. Unter den mehr als 60 Gästen war auch ein Ehepaar, das ich nicht kannte. Der Name des Mannes, den unsere Gastgeberin mir vorstellte, waren mir allerdings bekannt. Denn mit einem jungen Mann mit diesem Namen wollte ich vor 40 Jahren die Grenze zwischen Jugoslawien und Italien bei Triest stürmen. Johannes Braun Mein Schicksal wollte es, dass es nicht klappte, er aber konnte sich durch meine Warnung noch rechtzeitig zurückziehen. Ich wurde von Schäferhunden gestellt, er konnte fliehen, eines der beiden Autos, die uns gebracht hatten, noch erreichen und an anderer Stelle mit falschem Pass die Grenze passieren. Seit jener Nacht hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich stellte mich vor mit der Bemerkung, dass wir uns eigentlich kennen. Er war vom Gegenteil überzeugt. Als ich ihm dann nur 29. Oktober 1965, Triest sagte, war auch für ihn alles klar. Es folgten eine stürmische, bewegte Begrüßung und ein langes Gespräch. Die Ursachen dieses Fluchtversuchs sind rasch erzählt. Nach dem Frontwechsel Rumäniens am 23. August 1944 kam einiges auf die deutsche Bevölkerung zu: Verschleppung und Enteignung, begleitet von Hass, Verachtung und Diskriminierung. Um zu verstehen, was die Menschen zu fliehen veranlasste, nenne ich ein paar Beispiele. Wer im kommunistischen Rumänien keine „gesunde Herkunft“ hatte, nicht in die Partei eintrat und nicht „Hurra“ schrie, konnte beruflich kaum aufsteigen, keine Gehaltserhöhung und keine Wohnung zugeteilt bekommen, auch nicht ins Ausland reisen. Ausland hieß für die meisten: die Ostblockländer. Für mich, der keine dieser Bedingungen erfüllte und sogar schon einen Antrag zur endgültigen Ausreise aus Rumänien gestellt hatte, gab es kein Vertrauen und somit überhaupt keine Chancen zu reisen. Seit vier Jahren war ich als Diplom-Ingenieur im Maschinenbauwerk von Reschitz beschäf-

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tigt, wohnte in einer umfunktionierten kleinen Sommerküche, in der Schrank, Bett, Tisch, Stuhl, Waschtisch mit Wassereimer und Eisenofen standen. Ich war Untermieter bei Familie Williger und sehr froh, denn vorher wohnte ich in einem Arbeiterheim am Rande der Stadt mit drei Kollegen im Zimmer. Als dann Wanzen auftauchten, fing ich welche und stellte sie in einem sauberen Marmeladeglas dem Direktor der Wohnheime auf den Bürotisch. Er fühlte sich provoziert und sagte, ich wolle ihn erpressen, um einen besseren Platz in einem anderen Heim zu bekommen. Das Ergebnis: Unsere Betten wurden zentimeterdick mit DDT-Pulver eingestreut. Von einem Meister, der mir wohlgesonnen war, erfuhr ich von dem freien Zimmer bei Willigers. Schon 1950, ich war kaum 13 Jahre alt, war mir klar, dass das kommunistische Rumänien mit seiner „Diktatur des Proletariats unter der Führung der glorreichen Sowjetunion“ nicht mehr meine Heimat sein kann, meine Zukunft konnte nur in Deutschland liegen. In den Jugendjahren suchte ich nach einer Lösung, die mir die Flucht aus Rumänien ermöglichen sollte. Ich wusste, dass ich erst mein Studium beenden musste, um nach einer gelungenen Flucht in Deutschland meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Schon während des Studiums fand ich in meinem Studienkollegen Hermann einen Gleichgesinnten. Wir suchten nach allen Schwachstellen im Eisernen Vorhang, waren sogar bereit, über das Schwarze Meer in die Türkei zu fliehen. Dazu entwarfen wir Pläne für ein Motorboot. Mit Gelegenheitsarbeiten verdienten wir das nötige Geld, um einen Motor zu kaufen. Diese Bemühungen setzten wir auch nach Studienabschluss 1961 fort, denn der Zufall wollte es, dass wir beide in der Banater Stahlfeste Reschitz, im selben Werk, Arbeit fanden. Als mir aber ein älterer Arbeitskollege im Mai 1965 eine im Lotto gewonnene Schiffsreise auf der Donau von Giurgiu nach Budapest zum Kauf angeboten hatte, griff ich sofort zu. Für diese Reise brauchte man keinen Pass, die Teilnehmer konnten mit dem Personalausweis und der Schiffskarte an Bord gehen. Das war mein Glück, den einen Pass hätte ich nie genehmigt bekommen. Wir wussten, dass in Triest täglich Jugoslawen nach Italien zur Arbeit fuhren. Es schien mir, die Chance meines Lebens sei gekommen. Es fiel mir schwer, meine Freude und meine Hintergedanken zu verbergen, alles geheim zu halten, war mir doch klar, dass ich nicht nur mich, sondern auch meine Mitwisser in Gefahr bringen würde. Deshalb konnte ich keine Informationen sammeln, um einen Fluchtplan auszuarbeiten. Bei einem Besuch in Temeswar wurde mir Karl aus der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt. Er verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Krimskram. Ich kaufte bei ihm einen Satz Werkzeugschlüssel aus einer Chrom-Nickel-Stahl-Legierung, den ich auch heute noch besitze. Karl war zu der Einsicht gelangt, seinen Lebensunterhalt viel leichter bestreiten zu können, wenn er Plunder aus Deutschland in Rumänien verkauft, statt in Deutschland zu

arbeiten. So kam er stets mit einem Pkw voller Sachen angereist, die er verkaufte, um anschließend mit diesem Geld schöne Tage am Schwarzen Meer zu verbringen. Da ich die Absicht hatte, meinen Sommerurlaub auch am Schwarzen Meer zu verbringen, verabredeten wir, uns dort zu treffen. Bei diesem Wiedersehen konnte ich ihm von meiner Schifffahrt erzählen, die er auch als eine Chance sah, durch den Eisernen Vorhang zu schlüpfen. Karl erkannte sofort, dass ich auf Hilfe angewiesen bin, weil auch im liberaleren Jugoslawien die Grenze erst passiert werden musste, um in der Freiheit zu sein. Karl übernahm die Aufgabe, den richtigen Weg über die Grenze nach Italien zu suchen; Triest sollte das Schlupfloch sein. Damit er wusste, wann er mich im Hafen von Belgrad abholen sollte, schickte ich ihm ein Telegram: Ich gratulierte ihm zum 28. Geburtstag, er wusste also, dass unser Schiff am 28. Oktober im Hafen von Belgrad anlegte. Für seine Auslagen sollte ich aufkommen, zusätzlich wollte er 5000 Mark in Deutschland haben. Er wollte einen deutschen Pass mit einem mir sehr ähnlichen Kopf besorgen oder einen großen amerikanischen Wagen mit doppelter Kofferraumwand als Versteck auftreiben. Von August bis Oktober hatte er Zeit dazu. Mit dieser Absprache verabschiedeten wir uns vom sonnigen Schwarzen Meer. Vor dem Abreisetermin versuchte ich alles zu ordnen, verabschiedete mich auf eine Art, die meine Eltern, engsten Freunde und Helga schon ahnen ließen, was ich vorhatte. Hermann erhielt sogar die Wohnungs- und Motorradschlüssel, er sollte sogar mein Gehalt beheben. Das war leichtsinnig, wie sich später herausstellen sollte. Wir wurden im Donauhafen Giurgiu eingeschifft. Im Nebel ging es bis nach Belgrad. Mein Herz klopfte. Der Hafen war voller Schiffe, wir hatten am Kai keinen Platz und mussten an einem russischen Schiff anlegen. Über das Deck des russischen Schiffes betrat ich serbischen Boden, eilte dem Ausgang zu, wo ich schon Karl erblickte. Nun war ich überzeugt, dass es das Schicksal gut mit mir meint. Nach einer kurzen Begrüßung stellte er mir den Onkel eines meiner Mitreisenden auf dem Schiff vor. Ich sollte Johannes Kuhn, von dem er mir ein Foto gab, auf dem Schiff suchen und mitbringen. Mit mächtigem Herzklopfen eilte ich den Weg zurück, fand den jungen Mann, der etwa in meinem Alter war. Er verstand sofort, worum es ging, denn er hatte dieselben Absichten wie ich. Mit weichen Knien verließen wir Schiff und Hafen, begaben uns in die Autos, er zum Onkel, ich zu Karl. Die beiden hatten sich auf der Post beim Geldwechseln zufällig kennen gelernt und sofort erkannt, dass sie vor der Aufgabe standen, ihre Schützlinge in den Westen zu schleusen. Wir fuhren auf der Autobahn in Richtung Triest. Es war der 29. Oktober 1965, ein schöner, sonniger Tag, auch der Abend war angenehm, die Grillen zirpten, die Sterne zeigten sich schon am Himmel, die

Lichter von Triest gingen an. Wir fanden einen Parkplatz etwa 500 Meter vor dem Grenzübergang, wo wir anhielten. Wir wollten den Kontrollpunkt an der Grenze umgehen, und die beiden Autofahrer auf der italienischen Seite wieder treffen. Es schien alles so selbstverständlich zu sein, dass nicht mehr viel gefragt oder gezweifelt wurde. Wir zwei machten uns auf, ich ging voran, er etwas hinter mir. Nachdem wir einige Minuten gegangen waren, stand plötzlich ein mit Maschinenpistole bewaffneter Soldat vor mir und schrie: „Stoi“ - stehen bleiben. Geistesgegenwärtig rief ich meinem Kumpel zu: „Renn zurück, ich bin gefasst.“ Der Soldat packte mich am Pulloverärmel, aus dem ich meinen Arm flink zog, im nächsten Augenblick hatte ich den ganzen Pullover abgestreift und dem Grenzer über den Kopf gestülpt. Ich rannte zurück in Richtung Parkplatz. Plötzlich knallte es zweimal. In dieser Abendstille schallten die Schüsse durchs ganze Tal. Ich war nicht getroffen und erreichte auch den Parkplatz, doch die beiden Pkw waren schon weg. Schon beim Losreißen sah ich weiter oberhalb einen zweiten Grenzsoldaten, der ließ zwei deutsche Schäferhunde von der Leine. Der eine blockierte meine Beine an den Knöcheln, der andere sprang an mir hoch. In der kürzesten Zeit hatten die Hunde meine Kleider zerfetzt, aus den Bisswunden floss Blut. Kurz darauf standen die Soldaten da. Für meinen Trick mit dem Pullover bekam ich einige Hiebe mit dem Gewehrkolben in den Rücken, dass mir die Sterne noch heller leuchteten. Ich wurde in Handschellen abgeführt und an einem Grenzerstützpunkt in eine Zelle eingesperrt. Da ich eine Decke erhielt, wusste ich, dass ich da auf einer Bretterpritsche übernachten werde. Lange lag ich auf dem harten Lager, doch ich kam nicht zur Ruhe. In früher Morgenstunde wurde ich mit einem Kleinbus nach Koper, der nächsten größeren Stadt, gefahren. Das Gefängnis, in das ich gebracht wurde, muss früher ein Kloster gewesen sein, das sagten mir die burgartigen, festen, dicken Mauern. In den Zellen waren statt Mönchen jetzt Häftlinge untergebracht. Als hinter mir die schwere Eisentür zugeschlagen hatte und der Riesenschlüssel umgedreht worden war, fühlte ich mich wie in einem tiefen Brunnen. Obwohl es Tag war, war der Raum halbdunkel, ich sah Gestalten umherhuschen. Ich fragte mich, mit welchen Mördern oder Verbrechern bist du zusammen. In diesen tieftraurigen Augenblicken kam einer auf mich zu und wollte wissen, woher ich komme. Ich sagte: „România“, er antwortete, auch er komme aus Rumänien. Auch er war aus Temeswar. Dem Namen und der Aussprache nach musste er Ungar sein. Janos „Jancsi“ Bodrogi sprach aber auch ganz gut Deutsch. Wir stellten fest, dass er eigentlich der Nachbar von Irina war, der ich einmal den Hof gemacht hatte. So hatten wir schon eine gemeinsame Bekanntschaft. Eine bessere seelische Hilfe hätte ich in dieser Stunde nicht bekommen können. Jancsi war schon seit einer Woche wegen versuchten Grenzübertritts in

diesem Gefängnis und stellte mir die restlichen Zellenkollegen vor. Einer war Italiener, der unverständlicherweise die Grenze in umgekehrter Richtung überschritten hatte. Weil er nur Italienisch sprach, das keiner von uns verstand, blieb er für uns ein Rätsel. Der andere Schatten in der Dunkelheit war Weselin Umnikow, ein Bulgare mit gleichem Vergehen wie Jancsi und ich. Er sagte, sein Name heiße übersetzt: „Fröhlich Weiser“, er sei aber vor allem jetzt keines von beiden. Wir konnten uns gut mit ihm unterhalten, denn er sprach neben Bulgarisch auch perfekt Ungarisch und Russisch. Wir drei hatten uns zur Genüge zu erzählen, was uns ein wenig von unserer Traurigkeit und unseren Zukunftsaussichten ablenkte. Es kam noch ein vierter hinzu. Die schwere Eisentür ging auf, und ein 17 Jahre alter Junge wurde hereingeschoben. Er hieß Dietmar; er erzählte, dass er aus Duisburg komme, Krach mit den Eltern habe und mit dem Rucksack seines Großvaters aus dem Ersten Weltkrieg auf dem Rücken in den Orient wolle. Pass besitze er aber keinen. Wir drei, die wir in umgekehrter Richtung den Grenzübergang nicht geschafft hatten, zeigten wenig Verständnis für ihn. Es war wichtig, sich an dieses neue Umfeld zu gewöhnen. Das bisschen Licht im Raum kam von einem Fenster, vor das eine Holzkonstruktion montiert war, die wie ein Trog aussah. Wir hatten keinen Ausblick, vom Himmel konnte man nur einen kleinen Fetzen sehen. In einer Ecke der Zelle war ein WC hinter einer spanischen Wand, aber ohne Spülung. Ein Eimer fing „alles“ auf, er musste morgens geleert werden und verbreitete tagsüber einen üblen Gestank. Jeden Morgen sperrte der Wärter die schwere Eisentür auf und schrie in den Raum: „Kiblo“. Abwechselnd leerten wir den WC-Eimer in eine Toilette. Das Essen wurde dreimal täglich über die Türschwelle in Blechschüsselchen verabreicht. Sicherlich wollte man uns weder mästen, noch uns Freude am Essen bereiten. Morgens gab es eine Kaffeebrühe mit einer Ration Brot, die für den ganzen Tag gedacht war. Mittags gab es drei bis vier kleine sardinengroße Fische mit einem Salat aus Löwenzahn, der bitter schmeckte. Wir aßen, um zu überleben. In den ersten Tagen wurde ich ständig zum Verbinden oder zum Verhör gerufen. Weil ich keinen Ausweis hatte, war den Behörden nicht klar, woher ich komme. Ich trug ausschließlich Kleider aus Deutschland und behauptete auch, aus Deutschland zu stammen. Sie zeigten mir Stadtpläne, auf denen ich meine Adresse angeben musste. Da Deutsch und Englisch nicht als Verständigungssprachen angeboten wurden, konnte ich nur Ungarisch und Russisch verwenden, was sie vermuten ließ, ich wäre Russe. Ich war froh, beweisen zu können, aus Temeswar zu sein. Ich wollte keinesfalls nach Russland abgeschoben werden. Die Beweisführung war schwer, denn sie legten mir ausschließlich alte Karten mit inzwischen umbenannten Straßen vor. Ich wurde zu 20 Tagen Gefängnis verurteilt. Jancsi hatte nur 14 Tage erhalten. Auf dem Weg zu den Verhören sah ich im Hof fast täglich 70 bis 80 junge Ju-

goslawen, die ebenfalls an der Grenze gestellt worden waren. Ich erfuhr, dass seit vier Wochen die Grenze strenger überwacht werde, weil jetzt die Zeit sei, wo viele Burschen, die die Einberufung zum Militärdienst erhalten, über die Grenze ins Ausland flüchten. Das war eine von vielen Erklärungen für mein Scheitern. Meine zerrissene Kleidung musste ich austauschen gegen Arbeitskleidung, die mir viel zu klein war. Um nicht halbnackt das Gefängnis zu verlassen, schenkte mir Weselin zum Abschied eine Hose, Dietmar gab mir ein weißes Nylonhemd und einen Pullover. Nach einer Woche erlaubte man mir, zu arbeiten. Ich arbeitete zwölf Stunden täglich mit einem Jugoslawen zusammen an einer Bakelitpresse, an der wir täglich 10 000 Gegenstände herstellen mussten. Der Tag war endlos, auch weil wir nicht miteinander sprechen konnten. Das einzige, was ich verstehen konnte, war: „Malo radisch, malo kradisch, dobro živiš“ - „Arbeite wenig, stehle nur wenig, dann lebst du gut“. Am Ende standen rund 20 000 Dinar auf meinem Konto. Das Geld wurde mir nicht ausgehändigt, ich konnte mir aber Notwendiges wie Zahnbürste und Zahnpaste bestellen. Es wurde mir erlaubt, zwei Briefe zu schreiben. So richtete ich einen an Karl, den ich um meine Ausweise bat; den zweiten an Helga Mathias, die ich bat, meine Eltern und Freunde zu informieren. Noch vor Ablauf der Haftzeit stellten wir einen Asylantrag, doch der half auch nicht vor der Abschiebung. Es kam der Tag, an dem Weselin und Jancsi in Richtung Heimat abtransportiert wurden. Keiner trat den Weg mit Freude an. Jeder wusste, was ihn erwartete. Wir versprachen uns, wenn wir wieder frei sind, Kontakt aufzunehmen und uns zu helfen, vor allem, wenn es einem gelingt, das Wunschziel Deutschland zu erreichen. Um den 20. November 1965 wurde auch ich mit einem Linienbus ins Gefängnis von Rijeka gebracht. Es waren nicht viele Reisende im Bus. Ein Kind wollte von seiner Mutter wissen, warum ich in Handschellen reise, und die fragte den Begleitpolizisten, worauf er meinte, ich sei aus Rumänien und wollte ohne Pass nach Deutschland. Da kam das Kind auf mich zu und bot mir seine Schokoladentafel an. Vor Rührung konnte ich meine Tränen nicht verbergen. In Rijeka blieb ich kaum 24 Stunden, dann ging es mit dem Zug nach Agram, wo ich die Zelle mit einem Mann teilte, der angeblich ein Attentat auf Tito verübt hatte. Von dort kam ich nach Sombor, wo ich das Wochenende allein in einer Zelle verbrachte. Nur eine Fliege leistete mir Gesellschaft, aus Solidarität ließ ich sie am Leben. Montagabend brachten sie mich nach Belgrad. Bei der Einfahrt des Zuges kam wegen des Gedränges eine Reisende fast unter den Zug. Es gelang mir, ihr unter den Arm zu greifen und sie zurückzuziehen. Darauf war mein Begleitpolizist etwas freundlicher zu mir. Nach einer Nacht in Belgrad folgte die letzte Station in Jugoslawien: das Gefängnis von Werschetz. Vom Bahnhof legten mein Begleitpolizist und ich den Weg zu Fuß zurück. Wir gingen an einem tiefen Graben entlang, wobei der kleine, dicke Polizist ständig

zwischen mir und dem Graben war. Ich überlegte kurz, ob es sich lohne, ihn hineinzuschubsen und wegzulaufen. Aber wohin in Handschellen, ohne wetterfeste Kleidung, ohne Geld und Sprachkenntnisse, wieder nur bis an das andere Ende des Landes? Ich war zu müde, diese Hetzjagd auf mich zu nehmen. So ging ich brav weiter nebenher. Nach einer Übernachtung in Werschetz wurde ich in einen Jeep gesetzt, ich wusste, es geht zur rumänischen Grenze. Zwischendurch hielt der Wagen vor einem größeren Laden, man führte mich hinein, ich musste für das im Gefängnis verdiente Geld Waren einkaufen, ich durfte es nicht über die Grenze bringen. Weil ich mit einer längeren Haftstrafe rechnete und wusste, dass Zigaretten das wertvollste im Gefängnis sind, kaufte ich für die Hälfte des Geldes gute Zigaretten, für die andere Hälfte Schokolade, um mich daran zu erfreuen. Beim Verlassen des Geschäftes sah ich ein Ehepaar, Werkkollegen, Serben aus Reschitz. Sie erblickten mich auch und verbreiteten daheim Sensationsnachrichten über mich.

Auslieferungsabkommen unterzeichnet

Wir gingen über die jugoslawisch/rumänische Grenze zum rumänischen Grenzerstützpunkt. Soldaten überhäuften mich mit Hohn und Spott, zogen die Handschellen so fest an, dass der Schmerz kaum zu ertragen war. So stand ich etwa acht Stunden, bis mich Securitate-Offiziere aus Temeswar abholten. Mittlerweile erfuhr ich, dass Rumänien und Jugoslawien vor drei Monaten ein Auslieferungsabkommen unterzeichnet hatten, wobei Jugoslawien für jeden Gefassten einen Waggon Salz erhalten sollte. Der Securitate-Offizier, der mich übernahm, wollte wissen, ob ich mich vernünftig verhalten wolle, dann gehe es auch ohne Schellen. Jahre danach besuchte ich eine gewesene Klassenkollegin vom Gymnasium, da kam eben dieser Mann zur Tür herein und wurde als ihr Mann vorgestellt. Mich traf fast der Schlag. Zu später Abendstunde wurde ich im Temeswarer Untersuchungsgefängnis erneut mit Spott, Hohn und Beleidigungen wie Spion, Idiot, Ochse in eine Zelle geworfen, in der schon zwei in den Betten lagen. Während der Nacht kam der Wärter in die Zelle, rüttelte mich, und als ich ihn verwundert ansah, war er erleichtert. Er hatte durch das Guckloch meinen Arm vom Bett herunterhängen sehen und den Verdacht, ich hätte Selbstmord verübt. In aller Früh wurden wir geweckt. Meine Zellenkollegen waren neugierig, wen sie wohl hier als Mithäftling bekommen hatten. Einer war ein Schwabe aus der Arader Gegend; er wusste nicht, warum er da war. Der andere war der Józsi Bülös, ein Temeswarer, der meine Familie kannte, war er doch Verkäufer in einem Geschäft um die Ecke, in der Nähe des Hauses meines Onkels, aus dem wir Anfang der 1950er Jahre hinausgeworfen worden waren. Wir konnten also

Deutsch sprechen. Józsi saß schon seit zwei Jahren. Er kannte sich aus, konnte jeden Laut deuten und voraussagen, wann wir was zu essen bekommen. Józsi wusste, wie der Raum sauber gehalten werden kann, ohne dass sich Geruch entwickelt. Hier war die Toilette auch in der Zelle, doch mit fließendem Wasser. Täglich gab es eine halbe Stunde Ausgang an der frischen Luft in einem Käfig, der sogar mit Drahtnetz überdacht war. Die ganze Anlage war auf dem Fußballplatz des Schwimmvereins untergebracht, in den ich jahrelang als Junge zum Training gegangen war und schöne, unbekümmerte Stunden meiner auslaufenden Kindheit und beginnenden Jugend verbracht hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals auf diesem Fußballfeld in einer Zelle oder einem Käfig sitzen werde. Es folgten volle drei Monate, die ich hier verbringen sollte. Zu jedem Monatsbeginn wurde mir ein Vordruck zur Unterschrift vorgelegt, damit wurde ich in Kenntnis gesetzt, dass ich den Rest des Monats hier verbringe. Bei allem Pech hatte ich Glück, denn ich wurde nicht gefoltert. Trotzdem waren die stundenlangen Verhöre, zu Tag und bei Nacht, mit Drohungen auch eine psychische Belastung. Die Sicherheitsbehörden wollten wissen, ob ich für Deutschland spioniert habe. Sie wollten einfach alles wissen, vor allem, wer von der Flucht wusste, wer geholfen hat, wer die gleichen Absichten hat. Mitwissen und nicht melden wurde ebenso hart bestraft. Wie sollte ich es nur anstellen, um keinen hineinzuziehen. Alle aus meinem vorherigen Umfeld wurden zum Verhör gebracht: Eltern, Freunde, Arbeits- und Sportkollegen, Nachbarn. Nach der Hausdurchsuchung wurde mein Freund Hermann schwer belastet, was auch für ihn Konsequenzen haben sollte. Es war für mich das schlimmste, jemandem Nachteile oder Leid zuzufügen. So waren meine schriftlichen Aussagen wie eine Slalomfahrt, was den Untersuchungsoffizier Jerca zur Verzweiflung brachte; er schrie mich an, beleidigte mich und drohte mir. Meine Zellenkollegen waren wie Anwälte, sie berieten und trösteten mich. Jeden Abend fragten sie mich: „Gehen wir ins Kino?“ Das hieß für mich, einen Film, den ich einmal im Kino gesehen hatte, zu erzählen. Auch sie erzählten aus ihrem Leben; Józsi hatte eben einen Prozess laufen, weil sich seine Frau von ihm scheiden lassen wollte. Er war schon seit zwei Jahren im Gefängnis; er sollte den Vernehmern verraten, was in einem Brief stand, den er von einer Reise nach Budapest mitgebracht hatte. Da er den Brief ungeöffnet dem Adressaten übergeben hatte, konnte er nichts sagen, worauf er die Antwort bekam: „Wir haben Zeit“. Als er zum Scheidungsprozess geführt wurde, bat er mich, ihm mein weißes Nylonhemd und den Pullover zu leihen, in der Hoffnung, seine Frau umstimmen zu können. Leider half es nichts, er verlor seine Frau, die er sehr liebte und die ihn schwer enttäuschte. Weihnachten und das Jahr 1966 nahten. Selbstverständlich spürten wir nichts davon. Das einzige: Ich konnte von meiner Schokolade und vor allem den Zigaretten meinen Zellenkollegen etwas zukommen lassen, dafür überraschten sie

mich mit einem Fettbrot mit Zwiebeln. Man kann sich kaum vorstellen, welch ein Leckerbissen es war, das Fettbrot. Um an meine Zigaretten zu kommen, musste ich vortäuschen, Raucher zu sein: Der Wachposten gab mir die Zigaretten einzeln durchs Guckloch; ich musste sie in den Mund stecken, durchs Guckloch hinausstrecken, er gab mir Feuer. Dann zog ich die Zigarette herein, der Wächter sah nach, ob die Zigarette brannte und ob ich sie rauchte. Erst dann schloss er das Guckloch, ich aber konnte meine Zigarette verschenken. Noch viele Jahre danach träumte ich, dass ich zum Raucher geworden bin, war aber stets erleichtert, als ich aufwachte und feststellte, dass es nur ein böser Traum war.

Prozess im Stadttheater

Ein Grund, warum die Untersuchungsoffiziere mir zürnten, war, dass ich während meiner Schiffsreise im Betrieb in Reschitz befördert worden bin, obwohl ich kein Parteimitglied war. Man setzte also in mich Vertrauen, ich aber wollte das kommunistische Arbeiterparadies verlassen, um zu den Ausbeutern, Hitleristen und Revanchisten zu wechseln. In einem Verhör wurde mir gesagt, ich könne wählen zwischen Militärgericht und Volkstribunal. Das erste war mir wegen seiner Härte schon bekannt, vom zweiten hatte ich noch nie gehört, meinte aber, mich immer gut mit dem Volk und den Arbeitern benommen und verstanden zu haben, weshalb ich mich für dieses entschied. Auch meine Zellenkollegen meinten, ich hätte gut gewählt. Der Prozess wurde auf den 26. Februar 1966 festgelegt, und zwar in Reschitz, wo ich gearbeitet hatte. Schon früh morgens fuhren mein Untersuchungsoffizier, sein Vorgesetzter, ich und ein Soldat als Fahrer in einem Pkw nach Reschitz. Auf der Fahrt sahen die Genossen einen Fasan, hielten an und jagten ihm hinterher. Der Fahrer blieb bei mir und bewachte mich. Ich verglich mein Schicksal mit dem des Fasans, drückte ihm die Daumen, war glücklich, dass sie ihn nicht kriegten. Zuerst wurde ich zur Securitate in Reschitz gebracht. Einige Stunden musste ich alleine in einem Zimmer eingesperrt warten, bis sie mich ins Stadttheater brachten, das den größten Saal in der Stadt hatte. Der Saal war voll mit Leuten, die vom Arbeitsplatz herkommandiert, und anderen, die aus Neugierde gekommen waren. Ich musste auf einem Stuhl auf der Bühne Platz nehmen, wo schon mein Freund Hermann saß. Es traf mich wie ein Messer ins Herz, als ich ihn dort sah. Wir konnten uns nur mit einem Lächeln begrüßen. Uns gegenüber war ein langer Tisch, an dem mehr als ein Dutzend Persönlichkeiten saßen. Es waren die beiden Fasanenjäger, Richter, Staatsanwälte, Juristen und Führungskräfte aus meinem Werk, Vertreter der Presse und des Rundfunks; auch Techniker waren da, die jedes Wort auf Magnetofon aufnahmen.

Ein erster trat ans Mikrophon und erklärte den Versammelten, dass das Volkstribunal zusammengetreten sei, um die undankbaren Volksverräter Braun und Hermann wegen Landesverrats zu richten. Weitere 20 Personen meldeten sich zu Wort, alle von der Securitate bestimmt. Alle verleumdeten uns als Hitleristen, Faschisten, Rumänenhasser und Landesverräter. Sie hetzten in einem Maße, dass das Volk im Saal zu schreien begann: „Henkt sie, erschießt sie.“ Auch mein Freund Dieter Röhrich musste ans Mikrophon. Und was der dann sagte, gefiel den Genossen am Tisch nicht: „Braun war mein Freund und wird es auch bleiben“. Dafür wurde er ausgepfiffen. Außer ihm hatte niemand den Mut, etwas Positives über mich zu sagen. Vor diesem Publikum musste ich anschließend Reue bekennen, um ein mildes Urteil zu bekommen. Wie sollte ich das von mir Erwartete sagen und mich gleichzeitig verteidigen? Ich musste frei sprechen, und das noch auf rumänisch. Aus einem in jungen Jahren gelesenem Buch wusste ich wenigstens, wie ich in meiner Verteidigung vorgehen musste. Ich sagte den Versammelten: Es war nicht meine Absicht zu kränken, zu beleidigen, sollte ich das getan haben, entschuldige ich mich dafür. Aber: Seit meinem siebten Lebensjahr, seit die Kommunisten an der Macht sind, wurde ich stets zurückgesetzt: in der Schule, beim Sport, während des Studiums, in der Tanzgruppe und auf Reisen, und zwar, weil ich ein Kind eines Fabrikanten war. Deshalb fühle ich mich nicht mehr in meiner Heimat wohl und habe die Ausreise beantragt. Weil sie mir aber nicht genehmigt wird, sah ich mich genötigt, zu flüchten. Als ich das sagte, war es so still im Saal, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Am Ende verkündete ein Richter das Urteil: Ich sei nicht so schlecht, dass die Gesellschaft mich nicht brauchen könne, im Gefängnis nutze ich der Gesellschaft weniger als auf dem Arbeitsplatz, deshalb sei ich frei, dürfe den Saal als freier Mann verlassen, müsse aber ein Jahr lang als Strafe minderwertige Arbeit leisten. An jenem Abend besuchte ich noch Helga, wir sprachen noch bis spät in die Nacht. Ein halbes Jahr später standen wir vor dem Traualtar in Weidenbach, dem Ort meiner glücklichen Kindheit. Nach dem Prozess besuchte ich Jancsis Eltern in Temeswar, um ihnen von unserer gemeinsamen Zeit in Koper zu erzählen. Nach seiner Freilassung, nach knapp zwei Jahren, besuchte er mich, wir blieben in Verbindung. Vor meiner legalen Ausreise im November 1980 verabschiedete ich mich von seiner Familie. An unser Versprechen aus der Gefängniszelle in Koper fühlten wir uns weiter gebunden. Während einer Ungarnreise meldete er sich mit der Bitte, dass ich ihn herausschleuse. Ich wollte ihm genau so helfen wie einer Nichte, der die Flucht über Ungarn geglückt ist. Doch dieser erprobte Weg war nicht der richtige für ihn. Ihm wurde sein ungarischer Name zum Verhängnis, ferner sein Geburtsort Budapest - er ist dort auf der Flucht nach Kriegsende zur Welt gekom-

men. Wieder wurde er an Rumänien ausgeliefert und verurteilt. Er konnte Ende der 1980er Jahre legal auswandern. Wir sind Freunde geblieben. Józsi hatte ich versprochen, nach Erlangen seiner Freiheit werde ich ihm 1000 Lei für ein Jahr leihen. Etwa drei Jahre später suchte er mich auf. Ich gab ihm das Geld, das er nach einem Jahr rückerstattete. Seither weiß ich nichts mehr von ihm. Am 22. November 1980 durften meine Frau, unsere beiden Kinder und ich Rumänien verlassen, nachdem wir vorher den Wert eines Hauses, das waren 15 Monatsgehälter oder 60 000 Lei, als Sparbuch an einer gewisse Stellen deponiert hatten. Den 22. November feiern wir seither als unseren zweiten gemeinsamen Geburtstag. Über jene Grenze, die ich 1965 nicht bezwingen konnte, fuhr ich als Bundesbürger 17 Jahre lang, bis zu viermal im Jahr, um auf meinem Grundstück auf Istrien Urlaub zu machen. Allerdings: Alles, was ich in dieser Zeit aufgebaut hatte, musste ich eigenhändig abreißen, es lag keine Baugenehmigung vor, nach der mich keiner in all den Jahren vorher gefragt hat.

Johannes Braun, geboren am 8. August 1937 im siebenbürgischen Kronstadt, beendet die Grundschule in Weidenbach im Burzenland, legt nach dem Besuch des Deutschen Lyzeums in Temeswar das Abitur ab und studiert Maschinenbau am Temeswarer Polytechnikum. Zum Studium wird er nur zugelassen, weil er bewusst falsche Angaben in dem Fragebogen zur Aufnahmeprüfung macht. Die Frage, was sein Vater gewesen ist, beantwortet er mit Arbeiter. Den Fabrikanten verschweigt er. Wegen dieser Notlüge wäre er beinahe kurz vor dem Staatsexamen exmatrikuliert worden. Seinen ersten Arbeitsplatz findet er 1961 im Maschinenbauwerk Reschitz; von 1969 bis 1980 ist er beschäftigt an der Stahlbrücke über die Donau bei Giurgeni/Vadul Oii. Von 1981 bis 2001 arbeitet er beim TÜV Süd in Mannheim; seine Aufgabe ist die Überwachung von Schweißarbeiten im Kernkraftwerk Philippsburg-Obrigheim und des Baus von Anlagen unter Dampf, Wasser und Luftdruck in anderen Firmen.

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