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Als Taucher die Temesch hinab
Von Franz Wilhelm
Ich wurde am 24. Juli 1941 in Zeulenroda/Thüringen geboren, wo mein Vater seit drei Jahren arbeitete und auch heiratete. Wie alle musste auch mein Vater an die Front. Er fiel schon 1942 in der Nähe von Moskau. Im Herbst 1944 flüchteten meine Großeltern und meine Tante nach Österreich und kamen von da nach Zeulenroda. Weil dieses Gebiet nach Kriegsende zur sowjetisch besetzten Zone gehörte, mussten sie wieder zurück nach Perjamosch. Ich war ein schwaches Kind, und da in dem zerbombten und besetzten Deutschland die Lage sehr schwierig war, vereinbarten Mutter, Großeltern und Tante, dass sie mich mit nach Perjamosch nehmen, wo die Versorgung leichter schien. Ich hatte dann bei meinen Lieben in Perjamosch eine sehr schöne Kindheit. Es sollten aber 18 Jahre vergehen, bis ich meine Mutter wiedersah. Sie flüchtete aus der Ostzone in den Westen und konnte mich erst 1962 in Perjamosch besuchen. Sie kam mit meinem kleinen Stiefbruder, und ich freute mich sehr, meine Mutter wiederzusehen. Ich beantragte für diese Zeit Urlaub, den mir aber der Chefingenieur nicht genehmigte. Da blieb ich einfach zu Hause, um mich der Mutter, die ich so lange nicht gesehen hatte, widmen zu können. Das führte zu meiner fristlosen Entlassung. Ich sprach daraufhin beim Direktor des Betriebs vor, und die Kündigung wurde rückgängig gemacht. Von da an aber stand mein Entschluss fest, nach Deutschland zu gehen, wenn nicht legal, dann eben illegal. Den ersten Ausreiseantrag hatte ich schon 1961 gestellt. Ich wollte bei meiner Mutter sein, aber ich wollte auch anders leben. Dann fragte ich mich, ob das die Erfüllung des Lebens sein kann, jeden Tag um 4 Uhr aufzustehen, mit dem Zug in die Stadt zu fahren und, nach einer Menge Ärger am Arbeitsplatz, wieder zum Zug zu laufen und dann erst um 18.30 Uhr zu Hause zu sein. Also, mir war das irgendwie zu eintönig. Ich versuchte auch in der Stadt zu wohnen, um etwas mehr am Gesellschaftsleben teilnehmen zu können, wie Sport, Kino, Theater. Aber da war wieder das Geld zu schnell alle. Ich fuhr auch einige Male nach Bukarest zur deutschen Botschaft, wo man mir Hoffnung machte. Am 5. März 1963 bekam ich aber von der Polizei die Ablehnung. Ich war sehr enttäuscht. Damals konnte ich sehr frech und auch respektlos gegenüber Amtspersonen sein. So ging ich in Temeswar ins Parteihaus, schlich mich am Pförtner vorbei und machte einen Riesenkrach; aber die guten Genossen erklärten mir, dass es überall auf der Welt den Leuten schlecht ginge, nur in Rumänien könne man gut leben. Aber sie sahen auch ein, dass sie mich nicht richtig überzeugen konnten. Man gab mir den Rat, bei der Polizei einen neuen
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Antrag zu stellen, was ich auch tat. Nach einer langen Zeit fuhr ich wieder nach Bukarest, um nachzuhören. Die Papiere hätte man nach Temeswar geschickt, war die Auskunft. Die Temeswarer sagten, alles sei nach Großsanktnikolaus gegangen, und die wiederum sagten, sie wissen von nichts. Es war jetzt schon Herbst 1965. Da es hoffnungslos schien, legal nach Deutschland auszuwandern, musste ein anderer Weg gefunden werden. Eine Zeitlang beobachtete ich in Arad die Züge, die von Bukarest nach Wien fuhren. In einigen Waggons entdeckte ich Entlüftungsdeckel, die an der Decke befestigt waren. Aber das war dann doch nicht mein Fall. Da ich ein guter Langstreckenschwimmer war, entschied ich mich für die Donau als Fluchtweg. Ich habe mich mit guten Bekannten darüber unterhalten, aber keiner wollte mitmachen. Eines Tages unterhielt ich mich mit Herwig Röhrich darüber. Er war in der Dorfambulanz tätig und hatte eine Verlobte in Deutschland, die von Gottlob stammt. So planten wir gemeinsam die Flucht. Da es noch Winter war, hatten wir Zeit, alles sorgfältig zu besprechen. Mit den Fahrrädern wollten wir so weit wie möglich an der Temesch entlang fahren und dann nachts an einer bestimmten Stelle die Grenze nach Jugoslawien überqueren. Um sicherzugehen, fuhren wir zur Orientierung dorthin. Wir besorgten uns auch eine vergrößerte Landkarte für dieses Territorium. An allen strategischen Punkten waren Vorposten aufgestellt, als Feldarbeiter getarnt. Wir wussten auch nicht, ob die Stelle, wo die Temesch die Grenze passiert, ausgeleuchtet war. Wenn ja, hätten wir für kurze Zeit untertauchen müssen. So entwickelten wir einen Taucheranzug aus einer dicken Plastikfolie. Der Anzug bestand aus einer langen Hose und einer langen Jacke mit Kapuze; in der Hüfte dichteten wir alles mit dick eingefetteten Fahrradschläuchen ab. Die Nähte hatten wir mit einem Bügeleisen doppelt verschweißt. Für die Unterwasserbeatmung hatten wir einen Apparat aus medizinischen Schläuchen und Ventilen entwickelt. Es war mittlerweile April, und wir fuhren des öfteren an die Marosch, um die Taucherausrüstung zu prüfen und uns mit ihr vertraut zu machen. Sie hat trocken und warm gehalten. Am 15. Mai 1966 war es dann endlich soweit. Herwigs Verlobte Edith kam mit ihrem Pkw, wie vereinbart, auf Besuch. Alles, was wir für die Flucht brauchten, packten wir ins Auto, auch die Fahrräder und die Taucheranzüge. Wir fuhren durch Temeswar und dann die Landstraße parallel zur Temesch durch einige Dörfer in Richtung Grenze. Auf einem Feldweg hielten wir an, packten alles aus und besprachen uns noch einmal. Edith sollte mit ihrem Auto bei Hatzfeld nach Serbien hinüber und an einem von uns ausgemachten Punkt warten. Sie fuhr in Richtung Grenzübergang, wir mit unseren Fahrrädern in Richtung Temesch und auf dem Dammweg in Richtung Grenze. Wir hatten schon mehrere Kilometer zurückgelegt, als uns zwei Männer auffielen, die so taten, als würden sie Heu machen. Wir stiegen ab und liefen mit den Fahrrädern
zum Ufer. Zwischen Ufer und Damm wuchsen Sträucher und Schilfrohr, da konnte man sehr gut Deckung finden. Kaum waren wir am Ufer, näherte sich oben auf dem Dammweg ein Jeep. Es waren Grenzsoldaten. Wir legten uns hinter den Sträuchern ganz flach auf den Boden. Die Soldaten hielten nur kurz an, dann fuhren sie weiter, und wir konnten aufatmen. Dann schlichen wir mit den Fahrrädern in Richtung Grenze weiter, obwohl das Gelände sehr unwegsam war. Es war schon 18 Uhr, und wir mussten noch einige Kilometer schaffen. Wir kamen an eine flache Stelle des Flusses, schauten uns nach einem dicht bewachsenen Plätzchen um, packten unsere Sachen aus und bereiteten alles vor. Allmählich wurde es dunkel. Unsere Kleidung packten wir in Plastiktüten, die wir wasserdicht machten. Dann zogen wir die Taucheranzüge an, die Fahrradschläuche banden wir fest um die Hüfte. Daran befestigten wir auch die Plastiktüten mit unseren Kleidern und Schuhen. Der Fluss war hier zwar tief, aber das Wasser floss sehr langsam. Statt mit dem Wasser abzutreiben, mussten wir die eigene Schwimmkraft einsetzen. Es waren noch mehr als zehn Kilometer bis zur Grenze. Näher konnten wir wegen der vielen Vorposten nicht heran. Es war mondhell. Laut Kalender sollte der Mond um 22.30 Uhr untergehen. Nun war es soweit. Jetzt ging es los. Wir bewegten uns lautlos schwimmend vorwärts. In der Stille der Nacht hörte man nur das Gebell der Hunde. Es war so dunkel, dass man uns vom Ufer nicht hätte sehen können. Ab und zu gab es Stellen, wo uns das Wasser nur bis zur Brust ging. Dann stießen wir uns mit den Zehenspitzen nach vorne. Wir waren schon drei Stunden im Wasser und mussten jetzt dicht vor der Grenze sein. Wir schwammen noch ein halbe Stunde. Plötzlich waren keine Bäume mehr am Ufer, und zum Himmel schauend, konnte ich die Umrisse eines hohen Wachturmes entdecken, an dem wir vorbeischwammen. Jetzt kam noch einmal große Spannung auf. Wir hielten nur die Nasenspitze aus dem Wasser und ließen uns, um kein Geräusch zu verursachen, vom Wasser treiben. Dann fassten wir uns an den Händen, rissen die Arme hoch und den Mund auf, aber ohne einen Laut hervorzubringen. Das bedeutete soviel wie Hurra, wir haben die erste Hürde geschafft. Um sicher zu gehen, schwammen wir noch ein Stückchen weiter; die Helligkeit war auf einmal wie hingezaubert. Wir stiegen das Ufer hoch, peilten die Lage - wir waren in Serbien. Vor uns lag das Dorf, hinter dem wir Edith treffen sollten. Genau vor uns lag ein Feldweg. Plötzlich kam hinter einer Schonung ein Fahrradfahrer auf uns zu. Als er uns in dieser Tauchermaskerade sah, stieg er ab, bekreuzigte sich und kehrte mit doppelter Geschwindigkeit wieder zurück zum Dorf. Jetzt, wo die Spannung nachließ, merkten wir erst, wie unterkühlt wir waren, aber die frühe Morgensonne tankte uns wieder auf. Wir verstauten unsere Taucheranzüge, zogen uns an und machten uns auf den Weg. Plötzlich heulte ein Motor auf. Wir gingen über ein Feld mit großen Heuhaufen und versteckten uns. Dann sahen wir einen Soldaten auf dem Motorrad,
der genau auf unserer Höhe anhielt und die Gegend absuchte. Wurde Edith im Dorf festgehalten? Herwig verließ kurzentschlossen das Versteck und ging auf den Uniformierten zu, und sie fuhren ins Dorf. Jetzt machte auch ich mir Gedanken. Ich wusste, dass die Serben Flüchtlinge nach Rumänien zurückschickten, und auch, was denen dort blühte. Jedenfalls wollte ich nicht gefasst werden. So lief ich wie ein Langstreckenläufer über die Felder. Kein Wald, keine Sträucher waren in der Nähe. Man konnte so weit schauen, wie das Auge reicht. Plötzlich sah ich, vom Dorf her, eine Autokolonne herankommen. Sie hielt genau dort, wo wir uns zuerst versteckt hatten. Dann suchten sie die Gegend ab. Ich schlich mich in ein Haferfeld; die Halme waren etwa 25 Zentimeter hoch. Ich legte mich flach hin und tarnte mich, so gut es ging. Den Kopf leicht angehoben, sah ich, wie die Kolonne näher kam und genau auf meiner Höhe anhielt. Ich drückte mich tief in die Furche. Nach einer Weile fuhren sie wieder ab. Aber mein Versteck konnte ich nicht verlassen, denn die vielen Feldarbeiter waren aufmerksam geworden. Die Sonne schien mir auf den Rücken, ich war eingeschlafen, wurde aber gleich wieder wach. Zu meinem Erstaunen kehrte die Autokolonne zurück, hielt wieder auf meiner Höhe. Alle stiegen aus und kamen direkt auf mein Haferfeld zu. Die Soldaten durchkämmten das Feld, doch mich hatten sie nicht gesehen. Da hörte ich wie einer schrie: „Lasst uns gehen. Den müssen wir woanders suchen.“ Doch wie es der Zufall will, war einer auf der anderen Seite des Feldes, trampelte übers Feld und kam auf mich zu. Fast wäre er über mich gestolpert. Der Mann, in Anzug und Krawatte, eine Pistole in der Hand, war so erschrocken, dass ich dachte, er drückt ab. „Ruki gore, ruki gore“, schrie er. Ich hatte die Arme schon lange oben, doch er schrie immer noch „Ruki gore“. Man durchsuchte mich gründlich. Dann konnte ich meine Arme wieder herunternehmen. Wir gingen alle zu den Autos. Jetzt sah ich auch Ediths Wagen. Vier Offiziere stiegen zu, Schadenfreude in den Augen. Ich war der Verlierer. Zu meinem Erstaunen verhielten sie sich relativ höflich. Wir fuhren zu einer Grenzerstation. Da war ein älterer Herr, der sehr gut Deutsch sprach. Man verhörte mich. Eine junge Frau bediente die Schreibmaschine. Danach fuhren wir über mehrere Dörfer nach Großbetschkerek in ein Militärrevier. Das Verhör ging bis spät in die Nacht. Als mir dabei immer wieder die Augen zufielen, brachten sie mich in eine kleine Zelle neben der Wache. Ich bekam ein großes Stück Brot und eine Schüssel Kartoffelsuppe. Im Nu hatte ich alles verschlungen. In der Ecke der Zelle war eine Holzpritsche mit zwei Decken. Aber in dieser Nacht habe ich keine harten Bretter gespürt. Ich schlief bis 10 Uhr. Jetzt wollte ich doch gerne wissen, was mit Herwig und Edith los war. In Perjamosch hatte Herwig ein Zimmer in der Ambulanz, und weil er nicht jeden hereinlassen wollte, hatte er ein Klopfzeichen vereinbart. So klopfte ich dieses
Zeichen ganz laut an die Zellentür (unten dicker Riegel, oben dicker Riegel, in der Mitte ein „Kirchenschloss“). Nach dem Klopfen kamen die Wärter und fragten nach. Ich antwortete ihnen, in der Nacht sei mir kalt geworden, ich brauchte eine Decke, die sie mir auch brachten. Das Gefängnis hatte eine gute Akustik, wie in einer Kirche - drei Etagen hoch, in der Mitte ein großer Hohlraum mit Geländer ringsherum. Jede Etage war mit Drahtnetz bespannt, so dass keiner über das Geländer springen konnte. Nach einer Weile hörte ich auf der anderen Seite das Klopfzeichen. Also war Herwig hier. Aber was war mit Edith?
Einen Monat lang in Einzelhaft
Beim nächsten Verhör versprach man mir einen Rechtsanwalt. Ich war jetzt schon einen Monat lang in der Einzelzelle. Nichts zu lesen, nichts zu schreiben. Ich übte Turnstücke, ging auf den Händen in der Zelle herum, machte Kniebeugen auf einem Bein. Einmal hörte ich Frauenstimmen auf dem Hof. Da das Fenster sehr hoch war, trug ich die Holzpritsche davor, schaute in den Hof und konnte Edith entdecken. Sie tat mir sehr, sehr leid, und ich hatte eine Portion Wut im Bauch. Am anderen Tag kam tatsächlich ein Rechtsanwalt. Er sprach Deutsch, und auch dem Aussehen nach hätte man ihn für einen Deutschen halten können. Er veranlasste, dass ich in eine Gemeinschaftszelle kam und ein deutsch-serbisches Wörterbuch bekam. So konnte ich meine Kenntnisse in Serbisch erweitern. Außerdem durfte ich Schach und Domino spielen. Aber die große Ungewissheit, die mich plagte, war immer noch da. Der Rechtsanwalt kam öfter und machte mir etwas Hoffnung. Nach zwei Monaten machten sie uns dann den Prozess. Es ging dramatisch zu. Der Staatsanwalt war ein kleiner Giftzwerg, der auch gut Rumänisch sprach. Die Serben mussten sich an das Abkommen halten, das damals mit Rumänien vereinbart war. Man verurteilte uns zu sechs Monaten wegen schweren Landfriedensbruchs. Nun konnten wir uns im Gefängnis freier bewegen. Jeden Morgen, nach dem Frühstück, mussten wir Kohle sieben. Auch Herwig war dabei. Ich entwarf einen Fluchtplan, doch eines Tages standen mehrere Herren vor der Tür. Wir mussten unsere Sachen packen. Danach legte man uns Handschellen an und führte uns hinaus. Wir stiegen in einen vergitterten Kastenwagen mit bewaffneter Bewachung. Herwig fragte den Offizier, wohin es gehe, aber wir bekamen keine Antwort. Mit großer Spannung verfolgten wir die Verkehrsschilder. Der Wagen änderte die Richtung, und dann sahen wir ein Schild mit der Aufschrift Kikinda. Das war Richtung Rumänien. Es traf uns wie ein Keulenschlag. Nach einer halben Stunde Fahrt hielten wir in Kikinda vor einem Militärrevier. Dann war es nur noch eine kurze Fahrt bis zur Grenze. Wir stiegen aus, man nahm uns die Handschellen ab. Die bewaffnete Begleitmannschaft
ging mit uns bis zur Mitte des Grenzstreifens. Die Rumänen, die uns in Empfang nahmen, schauten uns feindselig entgegen. Fluchend und drohend band man uns die Hände mit Stricken zusammen und brachte uns zur Grenzerstation Lunga-Komlosch. Dort angekommen, wurden wir dem Chef vorgeführt. Er war in Zivil, Anzug und Krawatte. Erstaunt schauten wir uns an - wir kannten uns, denn im Zug auf dem Weg in die Stadt hatten wir öfter zusammen Karten gespielt. Da hatte ich mal wieder Glück! Das ganze war nur ein Verhör fürs Protokoll. Der Chef erlaubte sogar, dabei zu rauchen. Ein Auto kam, und die Securitate von Großsanktnikolaus stieg aus. Ich kannte alle; nicht nur vom Zug her, weil ich immer erster Klasse fuhr, sondern auch von der Marosch, abends beim Biertrinken. Der eine kam zu mir und sagte spöttisch: „He, ich dachte, wir waren in Hamburg verabredet?“ Dann fuhren sie wieder davon. Nach dem Verhör schnürte man uns wieder die Hände zusammen, und wir bestiegen einen Kastenwagen der LPG, der noch mit Kartoffelsäcken beladen war. Zwei Polizisten, mit der Pistole im Anschlag, bewachten uns. Es war uns verboten, miteinander zu reden. Wir kamen wieder ins Gefängnis, natürlich getrennt. Sechs Mann auf engstem Raum mit Etagenbetten. Vor lauter Langeweile demonstrierte ich mein Können: 40 Liegestützen, auf den Händen stehend runter in den Kopfstand und vom Kopfstand wieder in den Handstand, zehn Kniebeugen auf einem Bein. Das konnte keiner, aber mehr als eine kleine Anerkennung brachte das nicht ein. Das schlimmste aber war die Ungewissheit. Die Zellengenossen, die sich schon gut auskannten, sagten mir zwei Jahre voraus, in denen ich im Donaudelta Schilfrohr schneiden müsse. Na, das ist ja prima, dachte ich mir. Neben unserer Zelle waren Dusch- und Toilettenanlagen. Wer ein Bedürfnis hatte, klopfte an die Tür. Ich klopfte unser Zeichen; nach einer Weile dasselbe Zeichen von der anderen Seite. Es war wieder alles klar. Nach und nach hatte man meine Zimmergenossen verlegt oder auch entlassen. Plötzlich war ich wieder allein. Um die Langeweile zu überbrücken, nahm ich Brotkrümchen und knetete Schachfiguren. Die einen ließ ich so, wie sie waren, die anderen tauchte ich in Kaffeesatz - das waren dann die schwarzen. Auf meinem karierten Taschentuch spielte ich dann Schach. Aber wenn man auf die Dauer immer selbst gewinnt, macht das keinen Spaß. Dann bekam ich wieder einen Zimmergenossen - einen Oberförster aus der Karansebescher Gegend. Er war einst unter dem rumänischen Diktator Antonescu ein hoher Offizier in Bukarest, und ich bekam interessante Sachen zu hören, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen. Wir wurden zwei- bis dreimal die Woche verhört. Allgemein war man da nicht zimperlich, aber ich hatte einen jungen Hauptmann, einen Serben aus einem Dorf neben Temeswar, der freundlich und sachlich war. Privat unterhielten wir uns auch mal auf serbisch. Es ging auf Weihnachten zu. Die Verhöre hatten
nachgelassen, nur die Ungewissheit blieb. Doch eines Abends, es muss der 20. Dezember gewesen sein, teilte man mir mit, ich würde freigelassen, obwohl ein Landesverräter so etwas nicht verdiene. Ich war vor lauter Freude außer mir. Ich sollte in Perjamosch vor ein Volkstribunal gestellt werden und dort vor den Bürgern Reue zeigen. Wie das Volk dazu steht, wusste ich. Da brauchte ich mich nicht zu schämen. Vor lauter Freude fand ich keine Ruhe. Ich ging in der Zelle auf und ab. Um sieben kam der Friseur und rasierte mich. Er sagte mir im Vertrauen, dass Herwig auch frei ist. Nach drei Monaten sahen wir uns wieder - diesmal ohne Fesseln. Wir stiegen in einen Jeep, und es ging wieder los. Auf der Pesaker Landstraße sahen wir von weitem schon die Hutfabrik. Kein Mensch kann sich vorstellen, was ich empfand, als wir Perjamosch erreichten. Wir fuhren zum Rathaus. In der Amtsstube der Polizei waren mehrere Offiziere, die ich von den Verhören kannte, Polizisten, eine Menge Parteileute, auch wieder die Securitate von Großsanktnikolaus. Alle wollten sich auf unsere Kosten profilieren, oder sie hatten keine andere Wahl. Aus der Kantine brachte man uns etwas zu essen. Ich fand es schmackhaft, denn das Essen in den letzten drei Monaten war furchtbar. Der Hauptmann aus Temeswar gab mir ein Papier zur Unterschrift. Darin verpflichtete ich mich, nicht mehr illegal über die Grenze zu gehen und gegenüber der Sozialistischen Republik Rumänien immer loyal zu bleiben. Ich sagte: „Wenn der Kukuruz (Mais) hoch ist, sehen wir weiter“. Er zwinkerte mir zu und sagte: „Das wird nicht mehr nötig sein“. Das war ein kleiner Wink, und da war meine Freude doppelt so groß. Es hatte mir einfach die Sprache verschlagen. Wir stiegen wieder in den Jeep und fuhren zum Kulturheim. Auf der Bühne bastelte Hansi Klein, der Professor, an einem Tonband, das mit dem Mikrofon verbunden war. Der Saal war voll. So viele waren nicht einmal da, als Mia Braia gesungen hatte. Dann wurde über unsere Flucht geredet. Herwig und ich mussten auf die Bühne. Ich brauchte nicht viel sagen. Der Major redete andauernd dazwischen. Aber die Freude war wichtiger als alles Gerede. Im Saal sah ich meine Tante. Trotz der Lage freute ich mich und dachte: Dieses Jahr schicke ich dir noch eine Ansichtskarte aus Deutschland. Als alles vorbei war, konnte ich tatsächlich einfach nach Hause gehen, wo meine Verwandten und Herwigs Eltern versammelt waren. Alle freuten sich über das Wiedersehen. Es wurde ganz toll Weihnachten und Silvester gefeiert. Ich suchte mir Arbeit, aber was für mich zählte, war die Hoffnung auf eine gute Zukunft. Zwischendurch war es März geworden. Eines Tages wurde ich aufgefordert, meine Papiere für die Ausreise vorzubereiten. Als alles fertig war, fuhr ich auch sofort los. Ich sagte mir, nichts wie weg. Am 28. April 1967 erreichte ich Nürnberg. Im Lager brauchte ich nicht zu bleiben, da ich in Deutschland geboren bin; ich hatte ja einen deutschen Geburtsschein und auch die deutsche Staats-
bürgerschaft. Sofort konnte ich zu meiner Mutter, und ich bekam Arbeit in einem Stahlwerk als Gießer. Nun bin ich seit mehr als 30 Jahren in Deutschland und konnte mir, mit viel Fleiß, mein Leben so gestalten, wie ich es mir erträumt hatte.
Der Bericht ist dem Band „Unser Heimatbuch. Von Perjamoschern für Perjamoscher geschrieben“ entnommen und geringfügig geändert. Franz Wilhelm ist am 8. November 2007 in Nordhausen gestorben. Wie Augenzeugen berichten, ist die Stimmung beim Schauprozess in Perjamosch zugunsten der Angeklagten gekippt. Die im Saal Versammelten haben ihre Sympathie und Anteilnahme für die beiden Angeklagten zum Ausdruck gebracht. Mit dem Prozess haben die kommunistischen Machthaber versucht gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Sie wollten die Bevölkerung einschüchtern, aber auch gleichzeitig beweisen, dass der Staat Reumütige großzügig behandelt.