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Das Versteck unter dem Bus

Von Aurel Constantin Ritter von Onciul

Ich habe lange überlegt, wie ich meine Flucht aus Rumänien beschreiben soll. Die Flucht ist zweifellos spektakulär, und es wird mir ein Vergnügen sein, sie zu beschreiben. Ich befürchte jedoch, dass sie als die Tat eines abenteuerlustigen Mannes interpretiert werden könnte. Nein, ich wollte bestimmt keine Heldentat begehen, aus reiner Lust etwas Außergewöhnliches tun. Nein, meine Flucht erfolgte aus Verzweiflung, ich konnte einfach die grausame Diktatur, die in meiner Heimat herrschte, nicht mehr ertragen. Der Gedanke, zu fliehen, kam mir, als sich die kommunistische Diktatur zu etablieren begonnen hat. Das war gleich nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahr

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Aurel Constantin Ritter von Onciul 1944. Die bedingungslose Unterwerfung der Rumänen, die nun auf der andern Seite der Front den Kampf weiterführten, nützte ihnen gar nichts. Sie konnten dadurch einer grausamen Unterdrückung nicht entgehen. Die Sowjets bemächtigten sich aller Güter Rumäniens, und es setzte eine Ausbeutung ein, wie es sie noch nie gegeben hat. Kommunistische Agenten wurden aus der Sowjetunion eingeführt und als Herrscher des Landes eingesetzt. Nach einer kurzen Periode des Übergangs wurde der König verjagt. 1948 wurden die großen Umwälzungen eingeleitet: Das Land wurde bolschewisiert. Das geschah mit größter Brutalität. Die Menschen wurden enteignet, eingesperrt und gefoltert. Die untersten Schichten der Bevölkerung gelangten an die Macht und gingen skrupellos ans Werk. Täglich wurden Menschen verhaftet und deportiert. Die Geheimpolizei Securitate wütete im Land. Die Zuchthäuser waren überfüllt; für die Isolierung der sogenannten Klassenfeinde wurden Straf- und Konzentrationslager nach stalinistischem Muster eingerichtet. Sträflinge mussten Sklavenarbeit verrichten: an einem nie fertiggestellten Kanal, der die Donau mit dem Schwarzen Meer verbinden sollte, beim Bau von Dämmen wie in Vlădeni, bei der Schilfernte im Straflager von Periprava im Donaudelta. Es waren im Grunde genommen Exterminierungslager, wo die angeblichen Klassenfeinde vernichtet werden sollten. Ein offener Kampf wurde ausgerufen gegen alle, die mit dem alten Regime

etwas zu tun hatten, aber auch gegen alle, die etwas Vermögen hatten. Die untersten Schichten, Analphabeten, Dummköpfe, erhielten hohe Stellungen - sie sollten die kommunistische Revolution verwirklichen. Die neuen politischen Führungskräfte waren entweder in der Sowjetunion ausgebildete und jetzt eingeschleuste Kommunisten oder das sogenannte Proletariat, unterstützt von der Geheimpolizei. Grundbesitz, Betriebe und Immobilien wurden enteignet. Es brach eine Terrorwelle aus, die das Ziel hatte, allen Angst und Schrecken einzujagen und sie gefügig zu machen. Die sogenannte Diktatur des Proletariats war im Grunde genommen der Terror der untersten Schicht der Bevölkerung. Die neuen Machthaber, ungeschult und dumm, konnten nichts anderes, als das Land in den Ruin treiben. Unauffällig versuchten die eingeschüchterten Menschen, dem Terror zu entgehen. Halbe Dörfer wurden deportiert; die Menschen wurden aus ihren Häusern geholt und in die Donautiefebene, rumänisch als Bărăgan bekannt, unter freiem Himmel ausgesetzt, wo sie sich Lehmhütten errichten mussten. Wir, die noch zu Hause bleiben durften, rechneten täglich mit gleichem. Wir lebten in Angst und waren gezwungen, dem „wunderbaren“ kommunistischen System und den „großartigen“ Sowjetmenschen zu huldigen. Ich hatte eine riesige Wut, die ich nur mit Mühe verbergen konnte. In einer solchen Gesellschaft konnte ein jeder anständige Mensch nur ein Ziel verfolgen: die Flucht in die Freiheit. Doch dagegen sicherten die Mächtigen die Landesgrenzen, dass kaum einer sie noch überwinden konnte. Stacheldraht, Zäune, Gräben, verminte Streifen und Wachtürme machten sie undurchdringlich. Die Grenzsoldaten, die dem Geheimdienst Securitate unterstellt waren, hatten den Befehl, rücksichtslos auf Fliehende zu schießen. Rumänien wurde in ein Gefängnis verwandelt. Vergeblich hatten wir auf den Einmarsch der Amerikaner gehofft, von der Aufteilung Europas in Einflusssphären hatten wir damals noch keine Ahnung. All das ließ einen nur noch von Flucht träumen. Auch mir erging es nicht anders.

Stalins Nase

Der Fluchtgedanke verfolgte mich, sobald ich die Technische Hochschule in Temeswar beendet hatte. Eigentlich wollte ich Diplomat werden wie mein älterer Stiefbruder: Radu Flondor war Botschafter in Tokio. Die Kommunisten haben ihn kurzerhand eingesperrt. Nach Jahren wurde er als kranker Mann aus der Haft entlassen, kurz darauf ist er gestorben. Weil die Diplomatie für mich nicht mehr in Frage kommen konnte, habe ich den Beruf des Bauingenieurs gewählt, ihn aber ohne Liebe, jedoch mit Erfolg ausgeübt. Während des Studiums verlor ich einmal die Beherrschung und tat „etwas Fürchterliches“. Am Eingang des Temeswarer Polytechnikums, der Ingenieur-

Hochschule, befand sich eine übergroße Büste „unseres geliebten Stalin“, den wir zu verehren gezwungen waren. Ich hatte im Geologie-Laboratorium gearbeitet bis spät am Abend. Mit der Tasche voller Steine wollte ich nach Hause gehen. Es war niemand unterwegs zu der späten Nachtstunde. Ich ging an der Gipsbüste Stalins vorbei. Er lächelte mir ironisch zu, und mich überfiel eine furchtbare Wut. Da beging ich „ein furchtbares Verbrechen“. Ich nahm einen Stein aus meiner Tasche und schlug Stalins Nase ab. Da stand nun Stalin ohne Nase vor mir und sah recht komisch aus. Erst jetzt wurde ich mir meiner „Tat“ bewusst und bin über mein unkontrolliertes Verhalten erschrocken. Sollte ich als Täter ermittelt werden, stand mir eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren bevor. Mein Leben wäre zerstört gewesen - sie hätten mich in ein Gefängnis für politische Feinde geworfen. Ich konnte in jener Nacht nicht einschlafen. Sollte die Securitate über den Anschlag auf Stalin unterrichtet werden, dann würde sie leicht herausbekommen, dass ich bis zum späten Abend im Labor gearbeitet hatte. Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich am nächsten Tag die Hochschule betrat. Stalin war verschwunden, es herrschte Ruhe, und die Securitate tauchte nicht auf. Ich zerbrach mir den Kopf, was geschehen sein konnte. Wahrscheinlich hat der Hausmeister den nasenlosen Stalin einfach beseitigt, ohne Meldung zu erstatten. Wie soll ich meine Freude beschreiben, als auch nach Tagen keine Untersuchung stattfand: Dem klugen Mann, der Stalin entfernt hatte, bin ich noch heute zutiefst dankbar. Er hat mein Leben gerettet. Wer weiß, ob ich eine Haft von 20 Jahren überlebt hätte. Seit dieser Begebenheit war mir bewusst, auf welch dünnem Eis ich mich bewegte und wie leicht man ins Unglück stürzen kann. Ich habe mir vorgenommen, vorsichtiger zu sein, doch ich konnte mich nicht an meinen Vorsatz halten, und das sollte mir später zum Verhängnis werden: Ich musste vier volle Jahre im Gefängnis verbringen wegen einer Lappalie - einmal musste es kommen. Nach der Geschichte mit Stalins Nase habe ich den Entschluss gefasst, mich von dieser verfluchten Gesellschaft zu verabschieden. Ich brauchte 20 Jahre, ehe es mir gelungen ist, ihn in die Tat umzusetzen. Es waren 20 Jahre, in denen ich mich unaufhörlich mit dem Fluchtgedanken befasste. Das Leben war für mich ein Provisorium. Ich wollte keine Familie gründen, weil ich keine Frau den Risiken einer Flucht aussetzen wollte. Ich wollte kein Kind zeugen, das dann in dieser Gesellschaft aufwachsen sollte. Damals wusste ich noch nicht, dass es so lange dauern würde, bis ich meine Freiheit erzwingen werde. Das Vorhaben verfolgte mich unaufhörlich, und ich handelte dementsprechend. Ich suchte mir eine Stelle als Bauingenieur im Grenzgebiet zu Jugoslawien. So konnte ich bis in die Nähe der Grenze gelangen und mich von einem überzeugen: Diese Grenze war so gut gesichert, dass eine Überschreitung in den

1950er Jahren mit ganz großen Risiken verbunden, ja fast unmöglich war. Ein zweieinhalb Meter hoher Stacheldrahtzaun sicherte lückenlos die Grenze. Davor war ein verminter Streifen, dahinter ein mit Rechen geebneter Streifen, auf dem jede Spur zu erkennen war. Hohe Wachtürme waren so aufgestellt, dass der bewaffnete Wachposten die Übersicht so weit hatte, wie das Blickfeld des nächsten Wachpostens reichte. Die Grenzzone war etwa 50 Kilometer breit. Nur Einheimische und solche mit einem speziellen Ausweis durften sie problemlos betreten. Eine Flucht hätte eventuell durch den Fluss Temesch gelingen können. Bei Regenzeit war der Pegel viel höher als bei Trockenzeit. So hätte man bei hohem Wasserstand als Taucher die Grenze überschreiten können. Ich habe es nicht gewagt, das Risiko war viel zu groß. Beim kommunistisch geprägten Jugendfestival 1953 in Bukarest hatte ich gehofft, mit der Jugend aus dem Westen auf ihrer Rückreise mich durchschmuggeln zu können, doch es ergab sich keine Möglichkeit. So vergingen die Jahre. Die Sperranlangen an der Grenze wurden mit der Besserung des Verhältnisses zu Jugoslawien abgebaut, doch es bestand noch immer die Gefahr, erwischt zu werden und möglicherweise das Leben zu verlieren. Inzwischen besserte sich die Lage in Rumänien leicht. In den 1960er Jahren keimte die Hoffnung, dass sich die Situation entspannen könnte. Die Menschen erwarteten einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz, losgelöst von der Sowjetunion. Diese Hoffnung wurde durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 23. August 1968 vereitelt. Damit verlor auch ich die letzte Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte. Für mich gab es nun keine andere Lösung mehr. Ich war fest dazu entschlossen, es zu versuchen. Ich wollte weg, einfach nur weg. Dieser Gedanke setzte sich in meinem Gehirn fest. Ich ging auf Bahnhöfe und erkundete die Güterwagen, die fürs Ausland beladen wurden. Ich suchte nach einer Möglichkeit, hineinzuschlüpfen, notfalls durch ein Loch im Boden. In den Personenwagen entdeckte ich die doppelte Decke oberhalb des Ganges. Es war kinderleicht, an den Enden hineinzukriechen, aber es war genau so einfach, entdeckt zu werden. Meine Recherchen führten mich schließlich zu einem Bus. Es war ein jugoslawischer, der jeden zweiten Tag zwischen Neusatz und Temeswar verkehrte. Die jugoslawischen Fahrer übernachteten in Temeswar, um am nächsten Tag in aller Früh zurück nach Neusatz zu fahren. Der serbische Bus wechselte sich mit einem rumänischen ab. Der Weg führte über den Grenzpunkt StamoraMorawitz, Pantschowa nach Neusatz. Der serbische Bus weckte meine Aufmerksamkeit. Die Fahrer dieses Busses übernachteten in einem Privathaus an der Straße 7. November Nummer 11. Jeden zweiten Tag im Morgengrauen fuhr er los, um die ersten Fahrgäste in der Endstation am Temeswarer Hauptbahnhof aufzunehmen. Um 6 Uhr war Ab-

fahrt, um 14 Uhr Ankunft in Neusatz. Die Straße 7. November mündete in den Küttelplatz und endete am Bega-Kanal an der unvollendeten Metallbrücke, die nur von Fußgängern benutzt werden konnte. Deshalb gab es wenig Verkehr auf dieser Straße. An dem Bus fielen mir mehrere Details auf, die sich für eine Flucht eigneten. Es gab zwei Gepäckräume unter dem Busboden. Beide waren seitlich eingebaut. Zwischen den beiden musste, so meine Schlussfolgerung, eine Lücke sein. Ferner stellte ich fest, dass der Motor des Busses im Heck eingebaut war, so dass keine Kardanachse und kein Auspuff die Lücke zwischen den beiden Gepäckräumen versperren konnten. Diese Beobachtungen machte ich am frühen Morgen am Busbahnhof, als die Leute einstiegen und die Klappen der beiden Gepäckräume geöffnet waren. Meine Vermutungen sollten sich als richtig erweisen. In einer Nacht des Winters 1968/69 goss ich Schnaps über meine Kleidung und gurgelte auch damit. Ich wollte den Betrunkenen mimen, falls mich jemand bei meiner Inspektion unter dem Bus ertappen sollte. Mit Taschenlampe, Metermaß, Papier und Schreibzeug machte ich mich mitten in der Nacht auf den Weg zum geparkten Bus. Ich kroch unter den Bus und stellte fest, dass zwischen den Gepäckräumen auf der gesamten Buslänge eine Lücke war, die unten mit einem im Zickzack verlaufenden Metallträger aus Streben und Winkelstahl abgeschlossen war. Der Träger war 73 Zentimeter breit. Vom Träger bis zum Blechfußboden des Busses waren es 42 Zentimeter. Auf dem Träger ruhte im Heck, geschützt durch ein Blech, der Motor. Zwischen den im Zickzack verlaufenden Streben konnte ein Mann durchschlüpfen und sich auf mitgebrachte Bretter legen. Niemand hat mich gestört, ich konnte meine Arbeit in Ruhe vollenden. Das war die Erkenntnis, die ich mit nach Hause genommen habe. Um das Vorhaben verwirklichen zu können, brauchte ich zwei 73 Zentimeter lange Bretter. Ich hatte festgestellt, dass ein Mensch in dem Raum auf dem Bauch liegen kann, wenn er drei Stützpunkte hat: in Höhe der Schultern, am Steißbein und an den Füßen. Als Stütze für die Füße konnte das Blech dienen, auf dem der Motor befestigt war. Die beiden anderen Stützpunkte waren die Bretter, die ich mir besorgen musste. Die Phase der Fluchtvorbereitung hatte begonnen. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen, um einen Misserfolg zu vermeiden. In erster Linie wollte ich, dass meine Mutter zu ihrer Schwester zu Besuch nach Nürnberg fährt und nicht mehr nach Rumänien zurückkehrt. Als sie tatsächlich nach Deutschland abreisen durfte, sagte ich ihr eindringlich, dass sie bleiben sollte, denn ich werde alles daran setzen, um ihr zu folgen. Bevor ich die Flucht mit dem Bus wagte, beantragte ich einen Pass, um nach Bulgarien zu reisen. Von dort hoffte ich, mich in die Türkei absetzen zu können. Doch mein Antrag wurde abgelehnt. Jetzt konzentrierte ich mich wieder voll auf die Fluchtpläne über Serbien. Ich musste noch einiges in Erfahrung bringen;

zum Beispiel, ob die Grenzer in Stamora-Morawitz mit Spiegeln unter die Busse sehen, wie es an der innerdeutschen Grenze üblich war. Ferner, ob Spürhunde eingesetzt werden. Weil von dem Versteck unter dem aus Bus nichts beobachtet werden konnte, wollte ich einen Spiegel mitnehmen, mit dem ich bei ausgestrecktem Arm sehen konnte, was rund um den Bus vor sich ging. Dann war für mich wichtig, zu wissen, welche Strafe mich erwartet, falls sie mich entdecken sollten. Mein Leben wollte ich nicht aufs Spiel setzen, ich sagte mir: Lieber lebend im Osten als tot im Westen. Unter dem Bus konnte ich eigentlich nicht erschossen werden, denn sollten sie mich erwischen, dann brauchten sie nicht zu schießen, denn sie haben mich schließlich gefasst. Ich fragte einen befreundeten Rechtsanwalt, was mir bevorsteht, wenn ich ertappt werde. Illegaler Grenzübertritt wurde Ende der 1960er Jahre mit Gefängnis von einem Jahr bis zu drei Jahren bestraft. Für den Fluchtversuch gab es nur die Hälfte. Ich rechnete mir also eine Strafe von sechs Monaten aus, denn entdeckten sie mich unter dem Bus, hätte ich die Grenze noch nicht überschritten. Die sechs Monate wollte ich in Kauf nehmen. Doch ich griff noch zum letzten Mittel, um legal wegzukommen. Ich telefonierte meiner Mutter nach Deutschland; sie sollte mir ein Telegramm schicken mit der Mitteilung, dass sie schwer erkrankt wäre und ich rasch zu ihr kommen sollte. Ich beantragte einen Reisepass, obwohl ich wusste, dass mein Antrag abgelehnt wird. Aber ich merkte mir den Namen des Hauptmanns, dem ich den Antrag überreicht hatte. Der hätte bei einem eventuellen Prozess bezeugen sollen, dass ich einen Pass beantragt hatte. Ich wollte beweisen, dass die Flucht nicht aus politischen, sondern aus familiären Gründen erfolgt sei, damit das Strafmaß nicht höher als sechs Monate ausfällt. Ich wusste außerdem von meinem Freund, dem Rechtsanwalt, dass ich kein ausländisches Geld bei mir haben durfte, denn dafür gab es bis zu fünf Jahre Zuchthaus. Deshalb entschied ich, lediglich einen 50-Dinar-Schein greifbar in die Hemdtasche zu stecken, um ihn im Fall, dass ich erwischt werde, sofort verschlucken zu können. Noch ein Problem baute sich vor mir auf: Wie werde ich, total verdreckt, mein Versteck unter dem Bus in Jugoslawien bei Tageslicht in einer Stadt verlassen? Ich hoffte, der Bus werde irgendwo außerhalb der Stadt auf offener Straße halten, damit ich dann aussteigen kann. Ich beabsichtigte, in ein Feld zu laufen. Wenn mich jemand verfolgen sollte, wäre ich als ehemaliger Rugby-Spieler schneller und könnte entkommen, so meine Überlegungen. Ich hatte in Pantschowa einen Freund: Costică Bocşan. Dieser sollte dem Bus mit seinem Auto folgen, bei einer günstigen Gelegenheit, wenn der Bus hält, nahe heranfahren, damit ich unbemerkt aus meinem Versteck hervorkriechen kann. Diese Methode schien mir sehr unvollkommen, aber mir fiel nichts anderes ein.

Prinz Charles auf der Durchreise

Aber es war noch nicht soweit. Ich musste erst noch an den Grenzübergang gelangen, um festzustellen, wie der Bus kontrolliert wird. Der Zufall und der englische Thronfolger Prinz Charles halfen mir dabei. Eines Nachmittags nahm ich in meinem Büro bei der regionalen Sportorganisationsbehörde einen Anruf aus Bukarest entgegen. Mir wurde mitgeteilt, dass noch am selben Tag Prinz Charles die Grenze bei Stamora-Morawitz überschreiten werde, um in den rumänischen Wintersportort Sinaia zu fahren und an einem Bobrennen teilzunehmen. Jemand aus der Sportbehörde sollte zum Empfang nach StamoraMorawitz fahren. Es war allerdings schon zu spät, um noch rechtzeitig an den Grenzübergang zu gelangen und den Prinzen willkommen zu heißen. Ich gab die Nachricht aus Bukarest nicht an meine Vorgesetzten weiter und fuhr am nächsten Morgen mit dem Bus, mit dem ich in die Freiheit gelangen wollte, zum Grenzübergang. Dort erklärte ich den Zöllnern, ich sei gesandt, um den Prinzen im Namen der Sportbehörde zu begrüßen. Man sagte mir, was ich schon wusste: Der Prinz sei längst in Sinaia. Ich gab vor, dass es mir sehr leid täte, den Prinzen nicht begrüßen zu können und konzentrierte mich auf das, was rund um den Bus geschah. Ich stellte fest: Es gab keine Spiegel und keine Hunde. Unter dem Bus wurde nicht kontrolliert. Die Zöllner und Grenzer waren sehr nett zu mir, und ich überlegte mir, ob sie es auch sein würden, wenn sie mich unter dem Bus erwischten. Sie brachten mich sogar in ihrem Auto zur Bushaltestelle im Ort, wo ich die Rückreise nach Temeswar antrat. Nun war alles vorbereitet. Die zwei Bretter, die ich brauchte, standen bereit, den 50-Dinar-Schein hatte ich auch, und der Rasierspiegel lag bereit. Ich lud meinen Bruder aus Bukarest ein, und wir stießen auf ein gutes Gelingen des bevorstehenden Abenteuers an. Um 2 Uhr ging ich in Begleitung meines Bruders zum Bus. Ich hatte mich dick angezogen, der Februar 1969 war kalt. Mein Bruder stand Schmiere, ich lag unter dem Bus, da waren Schritte zu hören. Ich bekam sogleich die Stiefel eines Polizisten zu sehen, der seine Runde drehte. Ich blieb still liegen, bis sich die Schritte entfernt hatten. Ich versuchte, auf den Träger unter dem Bus kriechen. Doch ich stellte fest, dass ich zu dick angezogen war und nicht durch die Lücke zwischen den Streben passte. Der erste Fluchtversuch war gescheitert. Ich kroch unter dem Bus hervor und ging mit meinem Bruder nach Hause. Mein Freund in Jugoslawien wartete vergebens auf mich. Er suchte sogar die Straße bis zur Grenze ab, um sicher zu sein, dass ich nicht auf der Fahrt verlorengegangen und möglicherweise tot bin. Ich war munter, aber noch immer in Rumänien. Nach diesem Misserfolg hatte ich den Mut verloren. Die Zeit verstrich. Meine Mutter musste sich entscheiden,

ob sie in Deutschland bleibt oder zurückkommt. Ich erhielt die Nachricht, dass sie am 2. März 1969 die Heimreise antreten werde. Am Abend des 28. Februar hatte ich Unterricht in der Meisterschule, an der ich als Lehrer mit einer halben Norm tätig war. Der Unterricht war um 22 Uhr zu Ende. Auf dem Heimweg sah ich den geparkten jugoslawischen Bus. Es war der letzte Bus, der mich in die Freiheit bringen konnte, wollte ich meine Mutter noch in Deutschland erreichen. Zu Hause angekommen, legte ich mich ins Bett; ich konnte mich aber noch immer nicht dazu durchringen, mich in mein Versteck unter dem Bus zu begeben. Ich konnte nicht einschlafen. Einerseits tat es mir leid, einen so guten Fluchtplan fallen zu lassen, andererseits hatte ich Angst. „Ja, nein, ja, nein“, so ging es mir dauernd durch den Kopf. Ich stellte den Wecker jedenfalls auf 2 Uhr ein. Als er läutete, drehte ich mich im Bett um, um weiter zu schlafen. Für den Augenblick hatte das Nein gesiegt. Ich fand jedoch keine Ruhe. Das Ja meldete sich zurück, mit aller Härte. Als Kompromiss zog ich mich an, um zum Bus zu gehen. An Ort und Stelle wollte ich dann entscheiden, ob ich mitfahre. Ich zog mich dieses Mal „vernünftig“ an: meinen besten Anzug und darüber einen Trainingsanzug. Ich nahm meine Skimütze und steckte in die Tasche der Trainingsjacke eine Baskenmütze und ein Taschentuch. Als letzten Schutz streifte ich einen Skianzug aus Plastik über. Mit den beiden Brettern unter dem Arm ging ich zum Bus. Ich stand eine ganze Weile unentschlossen davor. Schließlich siegte das Nein, und ich machte mich auf den Heimweg. Auf dem Platz an der Maria angelangt, änderte ich meine Meinung. Ich sagte mir: „Du hast diese Flucht so gut vorbereitet; monatelang hast du diesen Plan bis zur Perfektion ausgearbeitet. Jetzt willst du darauf verzichten? Ein Leben lang wirst du diesen Entschluss bereuen. Wenn sie dich erwischen, wirst du höchstens ein Jahr im Gefängnis sitzen. Das ist um vieles leichter zu ertragen, als das Bedauern ein Leben lang mit dir umherzuschleppen.“ Die Vernunft hat schließlich gesiegt. Ich ging an eine Mauer, um Wasser zu lassen, und kehrte zurück zum Bus und kroch darunter. Dieses Mal war ich nicht zu dick angezogen, ich passte durch die Lücke zwischen den Streben. Ich legte mich mit dem Bauch auf die beiden Bretter und stützte die Füße auf das Blech hinter dem Motor. Ein Brett lag unter meinem Bauch, das zweite auf Armhöhe. Es war fast bequem, so zu liegen. Ich konnte jedenfalls nicht aus diesem Versteck herausfallen. Ich dachte noch einmal, dass es leicht sei, alles wieder rückgängig zu machen. Aber den Gedanken hatte ich genau so schnell verdrängt, wie er mir gekommen war. Es dauerte nicht lange, und ich hörte immer mehr Schritte auf dem Trottoire. Die ersten Frühaufsteher gingen zur Arbeit. Und als immer mehr Menschen die Straße entlanggingen, kamen auch die beiden serbischen Fahrer. Sie stiegen in den Bus; ich hörte jeden Schritt, den sie auf dem Blechboden machten. Jetzt gab es kein Zurück mehr, ohne entdeckt zu werden. Das Abenteuer konnte begin-

nen. Der Motor wurde angelassen, der Bus setzte sich in Bewegung. Als er abbog in Richtung Bahnhof, zog ich den Spiegel und nahm im Morgengrauen Abschied von Temeswar. Ich dachte, dass es lange dauern wird, bis ich wieder hierher kommen kann. Am Bahnhof war es laut. Die Fahrgäste stiegen ein, und auf dem dünnen Blechboden waren die Schritte laut. Dann ging es schließlich weiter über Schag, Detta an den Grenzübergang bei Stamora-Morawitz. Bis dahin verfolgte ich die Umgebung mit dem Spiegel. Doch jetzt wurde es ernst. Der Bus durchfuhr einen Graben mit einer Desinfektionsflüssigkeit. Jetzt musste er unmittelbar vor dem Grenzübergang stehen. Ich legte mich vorsichtig auf die Seite, jedes Geräusch vermeidend. Die Fahrgäste mussten aussteigen. Der Fußboden des Busses verursachte wieder furchtbare Geräusche. Dann kehrte Ruhe ein - eine unheimliche Ruhe. Die Zollbeamten begannen den Bus zu durchsuchen. Ich hörte sie deutlich sprechen und hielt den Atem an. Nach der Kontrolle wieder die Geräusche, ausgelöst von den Tritten der Fahrgäste. Schließlich startete der Fahrer den Motor, der Bus rollte ein paar hundert Meter, dann hörte ich Leute serbisch sprechen. Ich war in Jugoslawien. Ich wunderte mich, wie leicht es doch sein kann, eine Grenze zu passieren. Jetzt war die Angst verflogen, doch ich hielt mich zurück und vermied es, die Hand mit dem Spiegel auszustrecken. Bis Werschetz wollte ich in meinem Versteck bleiben und die Grenzzone verlassen, um nicht ertappt zu werden; die Serben lieferten Flüchtlinge den Rumänen aus. In Werschetz zeigte mir mein Spiegel, dass der Bus in der Stadtmitte hielt. Auf einer Bank an der Haltestelle saßen wartende Fahrgäste. Herauskriechen konnte ich nicht. Die Fahrt ging weiter in Richtung Pantschowa. Auf dem Weg wollte ich an einer Haltestelle mein Versteck verlassen. Das war so mit meinem Freund abgesprochen. Doch eben dort waren ein Dutzend Straßenbauer angerückt. Von Aussteigen konnte wieder keine Rede sein. Schließlich erreichten wir Pantschowa. Der Spiegel zeigte mir das gleiche Bild wie in Werschetz: eine Haltestelle mit vielen Menschen. In Belgrad war es nicht anders. Ich wusste, jetzt folgt eine lange Strecke bis Neusatz, wo wir um 14 Uhr eingetroffen sind. Der Bus hielt am Straßenrand, und alle Fahrgäste stiegen aus, auch die Fahrer. Sie gingen in ein etwa hundert Meter entferntes Haus, in dem die Verwaltung des Verkehrsbetriebs untergebracht war. Ich blieb allein zurück und wusste, dass ich mein Versteck verlassen musste, denn der Bus wird in eine Garage gefahren, und dann sitze ich in der Falle. Von meinem Freund Bocşan wusste ich, dass dort auch Hunde den Hof hüteten. Dann bot sich mir unverhofft die Gelegenheit, unter dem Bus hervorzukommen, als sich ein Großlastwagen näherte und zum Überholen des Busses ansetzte. Er sollte mir von dieser Seite Sichtschutz bieten. Auf der anderen Seite war ich von dem Bus verdeckt. Jetzt war es fast unmöglich, dass ich gesehen werde. Ich überlegte nicht lange und tauchte furchtbar dreckig zwischen Bus und Last-

wagen auf. Zuerst riss ich die dreckige Skimütze vom Kopf und setzte die saubere Baskenmütze auf. Ich spuckte in mein Taschentuch und wischte mir den Dreck aus dem Gesicht. Dann zog ich die Skijacke aus und hing mir sie über den Arm. Ich schaute mich um: Keiner hatte mich beobachtet. Die Leute gingen gleichgültig an mir vorbei. Ich fühlte mich erleichtert und gelangte an einen Straßenbrunnen, wusch meine Schuhe und zog die dreckige Skihose aus. Jetzt sah ich wieder wie ein normaler Mensch aus, nicht elegant, aber wenigstens sauber. Der Neusatzer Bahnhof befand sich unmittelbar neben dem Busbahnhof. Er war mein nächstes Ziel, denn ich musste zurück nach Belgrad und von dort mit dem Bus nach Pantschowa, wo mein Freund wohnte. Gegen 15 Uhr bestieg ich einen Personenzug nach Belgrad. Auf Serbisch konnte ich soviel sagen: „Za Beograd, nach Belgrad“. Und während ich das sagte, reichte ich dem Kartenverkäufer die 50-Dinar-Note. Er gab mir meine Karte und ein Bündel Scheine, denn die Fahrt war sehr billig. Im Zug stellte ich mich schlafend, um nicht angesprochen zu werden. Die Busfahrt nach Pantschowa verlief ebenfalls reibungslos. Dort war ich schon guter Dinge. Eigentlich konnte mir nichts mehr passieren, dachte ich mir. Ich nahm ein Taxi und nannte die Anschrift von Costica Bocşan. Sie lautete Sime Čabraje 34. Der Taxifahrer sagte mir, ihm sei diese Straße unbekannt, doch ich sollte einsteigen. Er fuhr los und hielt beim ersten Verkehrspolizisten, um sich nach der Adresse zu erkundigen. Nachdem der ihm erklärt hatte, wie er dorthin gelangt, fragte er mich in schlechtem Deutsch, ob der Polizist mitfahren dürfe. Natürlich habe ich ihn mitgenommen. Er saß neben mir, aber meine Person interessierte ihn nicht. Ich sagte, ich sei aus der DDR und wolle meinen Freund besuchen. Der Polizist stieg bald aus, und der Taxifahrer brachte mich zum Ziel. Als mich Costică vor der Tür sah, war er sprachlos. Er wohnte bei seinen Eltern, die mich liebevoll aufnahmen. Noch am selben Abend fuhren wir nach Belgrad, um meine Mutter in Deutschland anzurufen. Sie hatte eben ihre Koffer gepackt, um am nächsten Morgen zurück nach Rumänien zu fahren. Im letzten Augenblick habe ich verhindert, dass sie heimfährt. Erst jetzt konnte ich aufatmen. Meine Verwandten in Deutschland taten nichts, um mich aus Jugoslawien herauszuholen. Diese Hoffnung musste ich bald begraben. Damals kannte ich lediglich die Hilfsbereitschaft der Leute in Rumänien, den Egoismus der Deutschen aber noch nicht. Keiner war bereit, nur das Mindeste für mich zu tun. Dafür aber umso mehr meine Mutter. Sie fuhr ins Auffanglager nach Friedland, um den Leiter zu beschwören, etwas für mich zu unternehmen. Er war der richtige Mann, er half mir tatsächlich. Familie Bocşan nahm mich auf wie den eigenen Sohn. Könnte ich Serbisch, hätte ich es gewagt, mit einem jugoslawischen Pass nach Italien oder Österreich zu gelangen. Doch ohne Sprachkenntnisse wäre ich sofort aufgefallen. Erst spä-

ter, als ich schon in Deutschland war, ist mir eingefallen, dass ich zum Skilaufen an die österreichische Grenze hätte fahren sollen. Eine Grenzüberschreitung beim Skilaufen wäre einfach gewesen. Weil aus Deutschland keine Hilfe kam, musste ich selbst etwas unternehmen. Ich war schon zehn Tage in Pantschowa, und ich konnte den Bocşans nicht ewig zur Last fallen, zumal es auch für sie gefährlich war, einen illegalen Grenzgänger zu beherbergen. Hätte mich jemand entdeckt, hätten sie große Unannehmlichkeiten bekommen. Das lange Warten beunruhigte mich zusehends. Die Angst holte mich ein. Ich traute mich nicht mehr auf die Straße. Um die rumänischen Behörden zu täuschen, schickte ich Costică nach Temeswar, wo er meinen Bekannten erzählte, dass ich in die Moldau gereist wäre, um dort ein Auto zu kaufen; bei diesem Gelegenheitskauf hätte mich die Polizei festgenommen. Weil ich im Amt für Körperkultur und Sport sehr beliebt war, haben meine Kollegen alles unternommen, um mich aus den Klauen der Polizei zu befreien, doch sie haben mich nicht gefunden. Ewig konnte ich das Katz-und-Maus-Spiel nicht fortsetzen. Ich musste sehen, dass ich schnell Jugoslawien verlasse. Ich erfuhr, dass in Laibach die Eishockey-Weltmeisterschaft stattfinden wird. Ich hoffte, dass viele italienische Touristen anreisen werden. Und: Wenn mir die Flucht unter dem Bus aus Rumänien gelungen ist, warum sollte sie mir von Jugoslawien nach Italien nicht ebenso glücken? Vielleicht konnte ich mich auch als italienischer Tourist tarnen, so meine Überlegungen. Weil ich keine Maße italienischer Busse kannte, fertigte ich ein ausziehbares Brett an. Schließlich machte ich mich mit Costică auf den Weg nach Laibach. In Belgrad löste ich zwei Fahrkarten. Bis zur Abfahrt des Busses um 20 Uhr hatten wir noch eine Stunde Zeit, die ich nutzte, um noch einmal in Deutschland anzurufen. Meine Cousine teilte mir mit, dass meine Mutter in Friedland Erfolg hatte. Ich sollte mich in der deutschen Gesandtschaft in Belgrad melden, dort werde mir geholfen. Es war Samstagabend, und in der Botschaft teilte man mir mit, ich sollte am Montag vorbeikommen.

Hilfe im deutschen Konsulat

Ich verzichtete auf die Reise nach Laibach und kehrte zum Leidwesen meiner Gastgeber nach Pantschowa zurück. Am Montag empfing mich in der deutschen Gesandtschaft in Belgrad ein junger Angestellter, dem ich mein Anliegen vortrug. Recht unfreundlich teilte er mir mit, dass meine Fluchtgeschichte unglaubwürdig sei und er in mir eher einen Agent provocateur sehe. Ferner: Das deutsche Konsulat mische sich in solche Angelegenheiten prinzipiell nicht ein, und in diesem Fall sei es überhaupt nicht zu helfen geneigt. Wie könnte ich eigentlich einem Konsulat vorschlagen, sich an einer Illegalität zu beteiligen?

Nein, so etwas mache die Botschaft nicht, und er war schon dabei, mich vor die Tür zu setzen. Unterwegs sagte ich noch, er solle doch bitte in Friedland anrufen, um sich zu vergewissern, dass ich es ehrlich meine. Er begleitete mich bis zur Tür und sagte, ich solle doch in einer Stunde noch einmal vorbeikommen. Die Stunde verging langsam und quälend. In dieser Zeit sollte sich mein Schicksal entscheiden. Ich hatte Glück, denn als ich das Konsulatsgebäude wieder betrat, empfing mich der junge Mann freundlich. Er sagte mir, das Konsulat werde mir helfen. Ich solle am nächsten Tag zur Polizei gehen und melden, dass ich soeben aus Deutschland gekommen wäre und meinen deutschen Pass verloren hätte. Für eine Gebühr von 15 Dinar werde mir die Polizei eine Bescheinigung ausstellen, dass ich den Pass verloren hätte. Danach könne das Konsulat mir einen Ersatzpass ausstellen, mit dem ich nach Deutschland reisen kann. Ich solle mir zwei Passfotos machen lassen, eine Eisenbahnfahrkarte nach Deutschland lösen und ins Konsulat mitbringen. Den Pass bekäme ich erst am Tag meiner Ausreise. Der Name im Ersatzpass spiele keine Rolle. Ich wählte Alexander Müller, die Namen meines Vetters in Deutschland. Strahlend verließ ich das Konsulat. Endlich brauchte ich mich nicht mehr zu verstecken. Ich war der deutsche Staatsbürger Alexander Müller. Mulmig war es mir, als ich zur jugoslawischen Polizei ging. Tagelang bin ich jedem Uniformierten aus dem Weg gegangen, jetzt sollte ich freiwillig zur Polizei gehen. Vorsichtshalber ging ich zum Bahnhof und vergewisserte mich, dass der Zug, mit dem ich angeblich aus Deutschland eingetroffen bin, auch schon tatsächlich angekommen ist. Er war pünktlich. Bei der Polizei gab es keine Schwierigkeiten. Ich bekam meine Bescheinigung und gab sie zusammen mit den Fotos und der Fahrkarte im deutschen Konsulat ab. Am nächsten Tag sollte es mit dem Zug über Wien nach Nürnberg gehen. Als ich nach dem Besuch im Konsulat froh und munter durch die Straßen Belgrads stolziere, holt mich ein Rufen von hinten ein: „Genosse Ingenieur, Genosse Onciul!“ Fast wäre ich erstarrt. Ein ehemaliger Betriebskollege war zu Besuch in Belgrad und hatte mich erkannt. Ich zeigte mich erfreut über das Wiedersehen in der Fremde. Er erzählte mir, er sei auf dem Weg zum Bahnhof, wo er um 15 Uhr mit dem Zug nach Hause fahren möchte. Um sicher zu sein, dass er keinen Verdacht schöpft, begleitete ich ihn zur Bahn und plauderte mit ihm, bis der Zug abgefahren ist. Ich wusste, dass er die Begegnung sofort in Rumänien melden werde, und dann war es aus mit meinem Märchen von der Moldau, dem Autokauf und der Festnahme. Aber mir konnte nichts mehr passieren, denn am selben Abend saß ich in einem Zug - der aber fuhr nach Westen. Trotz der ermüdenden Nachtreise war ich gierig, die neue Welt zu erkunden. Ich schlenderte durch Wien, freute mich und staunte. Ich war endlich frei, konnte sagen, was ich wollte, und endlich dorthin reisen, wohin ich wollte. Es war

ein wunderbares Gefühl der Freude. Nach 20 Jahren unaufhörlichen Hoffens und Bangens war ich endlich ein freier Mann.

Die Flucht nach Deutschland war nicht das erste Mal, dass Aurel Constantin Ritter von Onciul vor Gefahr und drohendem Unrecht davongelaufen ist. Der am 1. Januar 1928 in Czernowitz, der Hauptstadt des Buchenlands, geborene von Onciul ist mit seiner Familie zum ersten Mal am 28. Juni 1940 aus seiner Heimat vor den Russen geflohen, die nach dem Molotow-Ribbentropp-Pakt in dem nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien zugesprochenen Landstrich einmarschiert sind. Ende Juli 1941 ist die Familie heimgekehrt, weil rumänische Truppen zusammen mit deutschen das Land mit Beginn des Russland-Feldzugs zurückerobert hatten. Im März 1944 flieht die Familie erneut vor den Russen, die wieder das Buchenland besetzen. Zuerst findet die Familie im siebenbürgischen Elisabethstadt ein Zuhause, dann übersiedelt sie nach Kronstadt. Nachdem von Onciuls Stiefvater gestorben war, ist die Mutter nach Temeswar umgesiedelt, wo der Sohn schon studierte.

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