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Den Kopf sollt ihr treffen
Von Cristian Ştefănescu
Am rumänischen Donauufer und an der grünen Grenze nördlich von Basiasch pflegten die grün uniformierten Grenzer spazieren zu gehen. Die Hölle tat sich auf, wenn man sich der Grenze näherte. 15 bis 20 Kilometer vor der Grenze konnte kein Fremder den Boden betreten, ohne dass ihn die Jungs durchleuchtet hätten. Warum hast du den Zug in Orschowa verlassen? Was suchst du im Zug in Richtung Orschowa? Wohin willst du? Kennst du jemanden in der Umgebung der Ortschaft? Warum betrittst du die Grenzzone? Sie kamen aus allen Teilen des sozialistischen Rumänien, die Grünuniformierten. Das war die Regel: An die Westgrenze wurden jene geschickt, die aus der Moldau, der Dobrudscha und aus dem Bărăgan, der Donautiefebene, stammten, und umgekehrt. Nicu B., mein Jugendfreund aus Orawitz, wurde an die Grenze zur sowjetischen Moldau geschickt, um die Grenze zur rumänischen Moldau zu verteidigen. Er wurde erschossen. Mein Banknachbar Gigi I. war keine 18 Jahre alt, als sie ihn eingezogen haben nach Ticvaniul Mic an die Nordwestgrenze zu Ungarn. Ein paar Wochen danach ist er im Sarg zurückgekommen, zum Kummer der Mutter und seiner ehemaligen Kollegen. Ohne Erklärung. Die gibt es auch heute noch nicht. Hingegen sind in den Grenzerstützpunkt von Orawitz Soldaten aus dem moldauischen Botoşani gekommen. Bis zur Ankunft im Banat lebten sie wie in einem Brutkasten: Niemand hat ihnen von einem anderen Lebensstil erzählt; sie kannten nur den selbst gelebten. Sie glaubten nur das, was ihnen die Kommunisten erzählten. Sie versuchten nicht einmal darüber nachzudenken. Sie führten lediglich Befehle aus - manchmal übertrieben sie auch. Einen von ihnen habe ich im städtischen Sanatorium für ansteckende Krankheiten kennen gelernt. Er war mir sympathisch. Zwar hatte er nicht viel im Kopf, aber in seiner Schlichtheit schien er ehrlich. Am Tag der Entlassung aus der Armee ist er auf meine Einladung in mein Elternhaus gekommen. Ich wollte ihn zivilisiert bewirten, bevor er die Heimreise quer durchs Land angetreten hat. Im Alter von 18 Jahren sollte ich erstmals erfahren, was sich hinter Menschen verbirgt, auf die sich das kommunistische Regime stützt. „Sie haben die Grenzgänger zu unserem Grenzstützpunkt gebracht und dort eingesperrt gehalten, bis sie zur Staatsanwaltschaft gebracht wurden. Sie haben sie in den Karzer gesteckt. Ich habe sie dort gesehen, bin zu ihnen gegangen, habe meine Hände durch die Gitter gesteckt, sie am Kragen gefasst und zu mir gezogen. Ich habe ihre Köpfe gegen die Gitterstäbe geschlagen, bis der Tomatensaft herausgelaufen ist.“ Obwohl er nicht laut geworden ist, hatte ich den
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Eindruck, als ob diese Worte des jungen Mannes aus Botoşani mir die Ohrtrommel platzen lassen. Von dem aufrechten Menschen, den ich zu empfangen geglaubt hatte, war nicht mehr viel übrig; ich habe in meinem Elternhaus einen möglichen Kriminellen empfangen. „Mensch“, habe ich ihm geantwortet, „diesen Menschen hättest du kein weiteres Leid zufügen dürfen. Es hat doch gereicht, dass sie sich den Wunsch ihres Lebens nicht erfüllen konnten, es hätte doch gereicht, dass sie in den Kellern der Polizei eine tüchtige Tracht Prügel bekommen.“ Die Antwort war ebenso unvorstellbar: „Bevor meine Mama weint, soll lieber seine Mutter trauern.“ Ich habe sie jeden zweiten Tag gesehen. Sie führten sie durch die Stadt, vom Grenzerstützpunkt zur Staatsanwaltschaft, die Hände gefesselt. Es waren vor allem junge Leute. Sie hofften, dass sie uns damit beeindrucken können. Es war gedacht als eine Art Lektion für uns Orawitzer. Wir sollten es wissen und weitergeben: „Wer so etwas tut, dem wird es wie ihnen ergehen.“ Meist waren es Gruppen von sechs bis acht Mann. Vor und hinter ihnen gingen Zeitsoldaten, die Gewehre auf die „Deserteure“ gerichtet. Sie hatten versucht, die grüne Grenze zu überschreiten; in der Nähe von Iam, Naidaş, Vrăniuţ oder Socol. Die Politruks der Militäreinheiten haben ihr Ziel aber verfehlt. In einem Städtchen, in dem der kleine Grenzverkehr mit Jugoslawien an der Tagesordnung war, die Freiheit darin bestand, zwölfmal jährlich ins Nachbarland zu fahren, um ein paar Hemden, ein Kilogramm Salz, einen Stoß Hefte oder Makrameegarn zu verkaufen und Salzstangen, Blue Jeans, Coca Cola oder eine Pastete mitzubringen, bedeutete jeder Flüchtling eine zusätzliche Inspiration. Viele sind auf die Märkte von Weißkirchen oder Werschetz gelangt, um auf den Markttisch zu steigen und zu rufen: „Es lebe die kommunistische Partei, ich bleibe in Jugoslawien.“ Doch sie sind nicht geblieben. Sie hatten ihre Weiterreise schon geplant. Sie führte entweder ins UNO-Lager von Padinska Skela nördlich von Belgrad oder nach Triest, vielleicht auch nach Österreich. Seit ich mich entsinnen kann, war Neluţu L. ein Orawitzer Junge. Er stammt eigentlich nicht aus Orawitz, er gehört zu den vielen, die heute hier leben, aber eigentlich aus der Alten Walachei oder aus der Moldau gekommen sind, um hier zu arbeiten in der Uranmine oder am Wärmekraftwerk Crivina bei Steierdorf-Anina, das eine gedankliche Missgeburt der Elena Ceauşescu ist. Ich weiß nicht mehr, wie Neluţu plötzlich auf der Bildfläche erschienen ist. Er hat seinen Dienst bei den Grenzsoldaten geleistet, an der grünen Grenze zu Jugoslawien. Er kennt alle, die mit der „Bestrafung“ der gefassten Grenzgänger zu tun hatten. Ich bin mit ihnen aufgewachsen; die Frauen einiger von ihnen waren Lehrerinnen, Kolleginnen meiner Eltern, und ich hätte nie gedacht, dass sich hinter diesen gutaussehenden Fassaden eigentlich Hyänen verbergen. „Es waren wahre Folterknechte, nur hat man sie so nicht genannt. Es waren angeblich Untersuchungsrichter“, erzählt Neluţu. „Sie haben die Grenzgänger terrorisiert. Sie
haben ihnen die Goldkettchen, die Ringe und auch das Geld weggenommen.“ Viele dieser Henkersknechte jener Zeit sind auch noch nach dem Umsturz in Rumänien in den Ämtern. Erst der politische Wechsel 1996 hat bewirkt, dass ein Teil von jenen, die bis 1989 die Schießbefehle erteilt haben, aufs tote Gleis geschoben worden sind. „Teacă war der Leiter des Politbüros. In der Zeit des gegen Jugoslawien verhängten Embargos wurde er Befehlshaber der Grenztruppen. Er war mein Chef in Valkan. Vor seiner Stimme hat sich sogar der Hund in seiner Hütte gefürchtet. Wir verzeichneten äußerst viele Grenzüberschreitungen um 1988 bei Großsanktnikolaus. Er sagte uns: ›Tapfere Soldaten, ihr zielt auf ihre Beine, in ihrer Mutter Fotze, schießt ihnen aber in den Kopf, denn sie sind Vaterlandsverräter‹. Teacă hat uns terrorisiert. Er trieb uns morgen hinaus, um Spuren zu suchen. Du durftest nicht schießen, denn der Fluchtweg führte unmittelbar an den Häusern des Dorfes vorbei. Du hättest die Leute daheim in ihren Häusern erschossen. Wenn du aber nicht schießt, landest du im Gefängnis. Auf der anderen Seite standen Erdölbohrtürme. Dann bestand wieder die Gefahr, dass sich Kugeln verirrten und jugoslawisches Hoheitsgebiet verletzt wurde. Die Serben suchten selbst nach durchlöcherten Blättern. Das erste, was wir lernen mussten, war, die Flinte richtig zu halten, und zwar so, dass sie nicht gegen fremdes Territorium gerichtet ist. Die Serben waren sehr schwierig. Bist du der serbischen Patrouille morgens begegnet, musstest du das Gewehr in einer bestimmten Position halten und sie mit zu ihnen gerichtetem Gesicht grüßen. Wenn deine Waffe in einer verdächtigen Haltung lag, haben die Serben sofort gemeldet, die Patrouille von 9 Uhr hat die Waffe gegen ihren Staat gerichtet. Es ist allerlei vorgekommen. Wenn eine unserer Kühe nach drüben gelaufen ist, musste jemand von der Brigade in Temeswar kommen, um den Fall zu regeln. Umgekehrt war es einfacher: War uns ein Schwein aus Serbien zugelaufen, wurde es sofort über den Zoll zurückgegeben.“ Die gefassten Grenzgänger wurden zu zehnt wie die Sardinen in eine Zelle gesteckt; sie mussten tagelang stehen, bis sie nach Großsanktnikolaus oder Temeswar geschickt wurden. „Dort gab es einen namens Alexandrescu, der später Chef in Turnu Severin geworden ist; er hat sie nach Strich und Faden verprügelt. Sie mussten sich auf allen Vieren den mit Bohnen gefüllten Tellern nähern und alles wie die Hunde ausfressen - reine Schikane. In Großsanktnikolaus gab es Arrestzellen ohne Dach. Die Gefangenen schliefen auf Beton, während es schneite, erinnert sich Neluţu. „Als Grenzer durftest du keinen Kontakt zu Einheimischen aufnehmen. Wer schlafend im Dienst ertappt wurde, musste nach Temeswar, um sich verschiedene Prozesse anzuhören. Auch mich hat es getroffen. Ein Hermannstädter hatte sich mit einer aus dem Dorf eingelassen. Conseanu, der auch heute noch (2005, der Herausgeber) Militärstaatsanwalt in Temes-
war ist, sagte uns: „Seht her, Soldaten, für ein bisschen Fotze hat er sieben Jahre aufgebrummt bekommen“. Auch das Mädchen war anwesend. Es war eine Minderjährige, kaum 17 Jahre alt, die aber schon zwei Fluchtversuche hinter sich hatte. Mein Kollege hat sieben Jahre bekommen, weil er sich mit einer Ortsansässigen eingelassen hat, dem Mädchen ist nichts passiert. Ende der 80er Jahre ist die Zeit der Hermannstädter angebrochen. „Sie steckten voller Geld und zahlten den Schleppern Hunderttausende von Lei. Hermannstädter haben für den Grenzübertritt 100 000 Lei je Person bezahlt.“ Der normale Tarif betrug 25 000 Lei. Das Dorf Valkan war voller Schlepper. Die Flüchtlinge überschritten die Grenze im Rückwärtsmarsch, um einen Grenzübertritt in die andere Richtung vorzutäuschen. „Schlimm wurde es, wenn einer auf Wacht eingeschlafen und sein Gewehr weg war. Dann ist der Geheimdienst Securitate auf den Plan getreten. Zu Ceauşescus Zeiten war es arg, wenn ein Gewehr verschwunden ist. Im Grunde genommen hat keiner ein Gewehr gestohlen, die Grenzgänger haben die Waffen lediglich versteckt, meistens unter einem Maislaubhaufen, um den Grenzer am Schießen zu hindern, falls er wach wird.“
Kleinrumänien im Gefängnis von Marburg an der Drau
Von Cristian Ştefănescu
Als Gogu Gherghel 21 war, hat er entschieden, für sich die Freiheit zu wählen, zum klaren Nachteil seiner daheimgebliebenen Familie. Sein Vater, ein Volksmusikvirtuose, hatte mit seinem Ensemble die Erlaubnis für Auslandsreisen, nicht nur in den Sowjetblock. Es war im Sommer 1988, am Kirchweihfest im Dorf seiner Großeltern, in Vrăniuţ. „Wir hatten uns schon oft getroffen, um die Flucht zu besprechen, aber niemals im Detail“, erinnert sich ein Kollege Gogus aus Orawitz. Von seiner Absicht wusste keiner, aber der Verdacht lag nahe, dass er durchbrennen will. „Warum brauchst du so viel Schokolade, wenn du zur Kirchweih fährst, wo doch so viel Kuchen serviert wird?“ Aus der ganzen Clique war er der einzige, der sich für die Flucht über die grüne Grenze entschieden hat, und zwar zwischen den Dörfern Ciortea und Vrăniuţ, zusammen mit Mircea „Ciocu“ Ştefan. Wahrscheinlich deshalb mit ihm, weil dessen Mutter und Bruder schon in Deutschland waren. Sie hatten ihre Pässe für den kleinen Grenzverkehr zur Flucht genutzt. Sie hatten sich auf dem Heimweg einfach „verirrt“. Die Grenze war an dieser Stelle doppelt gesichert. „Wir sind mitten in der Nacht geflohen. Ich kannte die Gegend, weil ich oft bei meinen Großeltern zu Gast war,“ erinnert sich Gogu. Er wusste, dass die Grenzsoldaten zwischen den beiden Demarkationslinien auf einem Acker patrouillieren, der richtige Grenzstreifen sich aber erst dahinter befindet. Zwischen den beiden Linien gab es eine Dornenhecke, wie sie sich entlang der gesamten grünen Westgrenze erstreckte. „An diesem Gestrüpp haben die Flüchtlinge die meiste Zeit verloren. Wir zwei sind mit dem Rücken voraus über die Hecke, damit wir uns die Gesichter nicht zerkratzen.“ Gogu ist überzeugt: „Der Grenzer hat uns gesehen. Als wird uns gegenseitig bemerkt hatten, hat der Grenzsoldat sein Feuerzeug angezündet.“ Den Soldaten wurden damals schockierende Geschichten erzählt. Es war eine Legende in Umlauf, die besagte, dass Grenzgänger in den 70er Jahren in Marienfeld einem eingeschlafenen Soldaten den Kopf abgetrennt hätten. Die Offiziere versuchten durch solche Schauermärchen die Soldaten anzustacheln, um wachsam zu sein; es sollte der Erhaltungstrieb gegenüber der Bestie geweckt werden. Am Morgen mengen sich Gogu und Mircea in Werschetz unter die rumänischen Kleinhändler, die allerhand Nichtigkeiten verkaufen. Sie wollen nicht auffallen. Die meisten Rumänen hier auf dem Markt sind aus Orawitz. Es sind Bekannte der beiden Flüchtlinge, doch keiner vermutet, dass die beiden in Richtung Westen unterwegs sind. „Ciocu war damals in der Uranmine in Orawitz
beschäftigt und hatte ein hohes Gehalt. Auch ich hatte viel Geld. Wir haben das Geld bei einer Rumänin gegen serbisches gewechselt und nach dem Busbahnhof gefragt. Wir konnten beide Serbisch, doch wir trauten uns nicht, zu sprechen. Überall war Polizei unterwegs; es war nicht ratsam, uns als Serben auszugeben, denn die hätten gleich gemerkt, dass etwas mit uns nicht stimmt. Wenn wir keine Kleider gehabt hätten, um uns nach der Flucht umzuziehen, wären wir sofort aufgefallen und festgenommen worden, denn die, die wir bei der Flucht getragen hatten, waren zerrissen und verdreckt,“ berichtet Gogu Gherghel. Die beiden kaufen sich Busfahrkarten, tun so, als ob sie nicht zusammengehörten, und steigen in einen Bus in Richtung Belgrad, um dort einen Zug nach Marburg an der Drau zu nehmen. „Wir kannten das serbische Geld nur schlecht. Es war in der Zeit der großen Inflation, als die Serben Millionenscheine hatten. Selbst die Einheimischen hatten kaum Zeit, das Geld kennen zu lernen, so rasch hat es sich entwertet. Es gab Tage, an denen bis zum Abend dem Preis noch eine Null angehängt wurde. Um sicher zu sein, dass uns ja kein Fehler unterläuft, haben wir bei einem Einkauf stets die größte Banknote hingegeben. Wir haben ein paar serbische Zeitschriften gekauft und uns die Bilder angesehen. Und im Zug haben wir den Mund gehalten. Ich habe Ciocu gesagt, ›du bis stumm, ich taub. Hast du noch keine von der Sorte gesehen, die fragt keiner nach ihrer Gesundheit‹“, lacht Gogu. In nicht einmal 24 Stunden erreichen die beiden die österreichische Grenze. Es ist 5 Uhr. „Orientiere dich aber im Dunkeln. Wir haben uns gesagt, wir gehen in die Richtung, in die die meisten Großlastwagen fahren. Nach etwa zehn Kilometern Fußmarsch haben wir Sankt Egidi erreicht. Auf allen Wegen waren Grenzerpatrouillen unterwegs, aber wir hatten Glück. Ein Kind hat uns erklärt, dass der Zoll hinter einer Kurve liegt. Wir haben uns auf die Terrasse einer Gaststätte gesetzt, um Pläne zu schmieden für das letzte Hindernis in der kommenden Nacht. Sankt Egidi liegt in einem Tal. Wir saßen am Tisch und studierten die Gegend. Nur noch 100 Meter trennten uns von der Freiheit. Es konnte nicht schwer sein. Welche Wacht hatten wir zu fürchten? Wir hatten eine wirklich ernstzunehmende Wacht an der rumänischen Grenze ausgetrickst, jetzt konnten doch keine Probleme mehr auftauchen. Wer hat schon einmal davon gehört, dass jemand an der österreichischen Grenze erwischt worden sei?“ Die Grenze beschreibt dort die Form eines Hufeisens. „Wir haben einen Zaun überwunden, sind an einen zweiten gelangt und sind auch über diesen gesprungen.“ Nach einem Maisfeld stoßen die beiden genau auf den Grenzerstützpunkt. Vor ihnen sind jugoslawische Soldaten zur Morgengymnastik angetreten. „Wir hatten Österreich erreicht, um 50 Meter danach wieder in Jugoslawien zu landen. Das werfe ich auch heute noch Ciocu vor, jedes Mal, wenn ich ihn treffe. Denn er hat den Vorschlag gemacht, auch über den zweiten Zaun zu springen.“ Die beiden verstecken sich noch eine Weile und machen sich erneut auf den
Weg zum Grenzzaun. „Ich wollte eben in einen Apfel beißen, den ich vorher von einem Baum gepflückt hatte, da sehe ich zehn Meter von mir entfernt einen knienden Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag, der ›Halt‹ ruft. Das Halt hat mich verwirrt. Doch die Slowenen haben sich dieses deutschen Wortes bedient, vor allem an der Grenze zu Österreich. Woher der plötzlich aufgetaucht ist, das weiß ich nicht“, erzählt Gogu weiter. Die Grenzer überstellen die beiden der Polizei in St. Egidi, wo sie einen Tag und eine Nacht verbringen. Über die Staatsanwaltschaft geht es ins Gefängnis von Marburg. Ein Richter verurteilt sie sofort wegen illegalen Grenzübertritts zu 36 Tagen Gefängnis. Die erste Nacht verbringen sie im Dunkeln in einem Isolationsraum ohne Bett und ohne Stuhl. „Den Raum mussten wir uns mit Albanern teilen. Die Wärter haben die Albaner terrorisiert. Dabei wurden wir nicht von Serben, sondern von Slowenen bewacht. Sie erhielten keine Seife, auch keine Zigaretten; wir erhielten eine halbe Schachtel täglich. Baden mussten sie gesondert. Und sie prügelten sie. Es ist kein Wunder, dass der Krieg im Kosovo ausgebrochen ist“, erzählt Gogu. Aus dem Isolationsraum kommen sie unmittelbar in den Speisesaal. Gogu hat eben seinem Freund gesagt, nur sie beiden seien die Dummen in dieser Stadt. Die hätten noch keinen anderen erwischt, lediglich sie zwei seien in die Falle getappt. Doch kaum hat Gogu das gesagt, hört er, wie sich die rumänischen Flüche im Speisesaal überschlagen. Es gibt dort noch Hunderte ihrer Sorte. Das ganze Gefängnis ist fast ausschließlich mit Rumänen gefüllt. Von Marburg gelangen die beiden ins Flüchtlingslager von Padinska Skela nördlich von Belgrad. Einige der Rumänen, die schon einmal gefasst und abgeschoben worden sind, bringen ihnen das Märchen bei, das sie im UNO-Lager erzählen sollen, um nicht zurück nach Rumänien geschickt zu werden. „Du durftest die Flucht nicht damit begründen, dass dir in Rumänien die Stromversorgung unterbunden wird. Alles musste politisch begründet sein. Du durftest denen nur Lügen auftischen. Drei UNO-Kommissare haben uns befragt: Olga, eine Russin, Fulio, ein Italiener, und zum Schluss Vlada, ein Jugoslawe. Olga war die Garstigkeit in Person, zwei Meter groß und Nymphomanin. Sie hat ein Auge auf Ciocu geworfen. So ist er auch aus dem Lager gekommen. Sie hat ihn hinausgebracht, und seine Mutter, die schon in Deutschland zu Hause war, hat ihn in Belgrad abgeholt“, so Gogu weiter. Gogu hat dieses Glück nicht. Er schreibt und erzählt den UNO-Kommissaren das Märchen, wie er von der Feuerwehr gestohlene Tränengasgranaten in eine Parteiversammlung geworfen hat, wie er Mauern mit antikommunistischen Parolen beschmiert hat und dass er verurteilt worden ist, in den Kohlegruben des Schiltals zu arbeiten und den Zwangsaufenthalt zu verbüßen. Vlada spielt den Hundertprozentigen, insbesondere wenn es um die Daten in den Erklärungen geht. „Ich habe so getan, als ob ich nicht Serbisch verstünde. Während Vlada
dem Übersetzer sagte, was er mich fragen soll, las ich das auf der Sohle Aufgeschriebene: die Antworten, die ich geben musste, waren natürlich Lügen, deshalb konnte ich mir die Antworten auch nicht merken. Vlada wusste eine Menge, auch, wer Securitate-Offizier in Orawitz ist. Nach drei Tagen und insgesamt einem Monat Lager haben sie mich zurückgeschickt nach Rumänien, und zwar mit dem Autobus nach Hatzfeld. Am 4. November, zwei Tage vor meinem Geburtstag, haben die Serben drei Busse mit Flüchtlingen nach Hatzfeld geschickt. Sie waren gefüllt mit Rumänen. In Padinska Skela waren 80 Mann in einem für zehn Personen bestimmten Raum untergebracht. In den Betten schliefen je zwei Mann, der Rest auf dem Boden. Die sieben Tage in Hatzfeld sind die schwersten. „Der Isolationsraum in Marburg war der reinste Luxus neben dem, was jetzt folgt.“ Rumänische Grenzer übernehmen die Gefangenen und sperren sie in einen Raum. „Vier Soldaten, die uns bewachten, verhöhnten uns. Sie hatten uns nicht in Handschellen gelegt, obwohl die Grenze nur 100 Meter entfernt war. Aber sie hatten fünf Wachhunde, deutsche Schäferhunde, in unserer Nähe platziert und uns zu fliehen eingeladen.“ Die Soldaten verfrachten sie in eines jener Gefängnisautos des repressiven kommunistischen Apparats, die Konservendosen ohne Lüftung gleichen. „Wir wussten schon vor der Abfahrt aus Jugoslawien, dass sie uns nicht ins Gefängnis stecken - sie waren überfüllt. Sie haben dich verurteilt, und du musstest die Strafe am Arbeitsplatz verbüßen. Ich konnte kaum den Augenblick erwarten, nach Orawitz zu gelangen, um erneut abzuhauen.“ Vor den Schlägen der Securitate hatte er keine Angst. „Halb so schlimm. Einer verprügelte dich und ließ dich laufen.“ Im Gefängnis von St. Egidi waren auch Kriminelle untergebracht. Im Lager von Padinska Skela waren unter den 80 Mann in einem Raum auch Banditen. Dort hat es schlimme Schlägereien gegeben. Ich habe viele gesehen und hatte keine Angst vor den Schlägen eines dummen Kleinchargierten. Der hat sich aufgespielt, dich gefesselt und hat dir ein paar Mal den Knüppel über den Rücken gezogen, und erledigt war die Geschichte. Ich wusste eines: Ich werde verprügelt, schweige und gehe nach Hause, um erneut zu fliehen.“ Gogu erzählt aus der Distanz von der Bestrafung, die ihm in jenen Tagen zuteil wurde, auch von den Schlägen mit den Handschellen auf den Kopf, die ihm ein Staatsanwalt erteilt hat. Der musste nach Hatzfeld kommen, um ihn nach Orawitz zu holen, wo er seine Strafe am Arbeitsplatz zu leisten und den Zwangsaufenthalt im Ort zu respektieren hatte. Die drei Kilogramm Möhren, die er während der sieben Tage in Hatzfeld zu essen bekommt, zeichnen ihn. „Mein Menü hat bestanden aus Möhren mit Marmelade oder aus Kohlblättern und Möhren. Wir stritten um die Gunst, Kohl und Möhren putzen und schaben zu dürfen“, berichtet Gogu. Der Raum, in dem sie gefangengehalten wurden, beschreibt er so: „Er war sechs Fuß breit und 16 Fuß lang. Eines Tages waren
18 Mann darin untergebracht, wie die Sardinen, zwei Mann waren aneinandergefesselt. Wir standen Tag und Nacht. Es herrschte Frost, und sie ließen uns nur ein Hemd auf dem Leib.“ Als ihn der Staatsanwalt mit seinem Wagen abholt, ist er psychisch und physisch am Ende. Der Staatsanwalt bringt ihn und zwei weitere Flüchtlinge nach Orawitz. Nach einer Pause in Temeswar kehrt der Staatsanwalt zurück zum Auto und schlägt Gogu die Handschellen über den Kopf mit der Bemerkung: „Oh, Herr Gherghel, wolltest du flüchten?“ Dazu Gogu im nachhinein: „Ich war fertig, wohin hätte ich auch laufen sollen; es ist soviel Polizei umhergelaufen - du hättest es nie geschafft, die Stadt zu verlassen. Ich war so fertig, dass ich nichts gespürt hätte, selbst wenn sie mit einem Trecker über mich gefahren wären. In Hatzfeld holten dich Staatsanwälte ab, die für den Abschnitt zuständig waren, in dem du die Grenze überschritten hattest. Bist du zuerst nach Bulgarien gelaufen, wurdest aber in Serbien gefasst, dann musste dich der Staatsanwalt von Calafat an der bulgarischen Grenze abholen. Danach haben sie dich verhört. Viele sind über die Donau nach Serbien geschwommen. Den Schwimmern sind alle im Lager mit Respekt begegnet. Hatten dich die Staatsanwälte abgeholt, wollten sie wissen, wie und wo du über die Donau gelangt bist. Es hatte keinen Zweck, das zu verschweigen, denn dann haben sie dem Flüchtling zusätzliche sechs Monate aufgebrummt, wenn er die Strafe auch als Freigänger am Arbeitsplatz mit Zwangsaufenthalt im Ort verbüßen musste. Und wenn sie einen mit Gold oder ausländischem Geld erwischt hatten, hat er noch einen Zuschlag bekommen. Wenn jemand Geschmeide bei sich hatte, war es noch schlimmer: Dann wurde der Betreffende noch angeklagt wegen Kulturgüterschmuggels. Und was ist danach geschehen? Der Staatsanwalt hat alles beschlagnahmt, ohne dem Eigentümer eine Bescheinigung auszustellen, damit er ihm die Lage angeblich nicht noch zusätzlich erschwert. Er fragte, ›sollen wir die Dollar auflisten oder sollen wir das Gold aufschreiben?‹ Da konnte man nur antworten: ›Wir listen nichts auf.‹“ Aufgelistet oder nicht, Geld und Gold wurden dem Flüchtling auf jeden Fall weggenommen. „Eine Zigeunerin hat ihre goldene Halskette nach dem Sturz Ceauşescus am Hals der Frau eines Staatsanwalts wiedererkannt“, sagt Gogu.