6 minute read
Todeskampf am Donaudurchbruch
Von Cristian Ştefănescu
Bei Mraconia, am Eisernen Tor erhebt sich auf dem rumänischen Donauufer die Büste des in Fels gehauenen Decebal. Der Dakerkönig scheint aus der Strombiegung heraus auf das serbische Ufer zu blicken. Es sieht so aus, als ob er den römischen Kaiser Trajan erwartet. An diesem von Josif Constantin Drăgan gestifteten Denkmal ist die Donau so eng, dass man mit einer Schleuder eine Fensterscheibe durchschießen könnte, stünden an dieser Stelle drüben in Serbien Häuser. Seit ein paar Jahren gibt es hier die Baustelle eines Kirchleins. Nicht wenige haben diese Stelle ausgewählt, um in den Westen zu flüchten, der sie zwar nicht erwartet, aber doch die Chance geboten hat, in Würde zu leben. An der Mündung des Flusses, der von Mraconia donauwärts fließt, gibt es einen Parkplatz. Neben einem Auto der Grenzpolizei mit offener Tür sitzen eines Abends vier Agenten rund um eine mit Kaffee gefüllte Thermosflasche. Auf der Donau kämpft ein Boot gegen die Strömung, auf das sich das Fernglas der Grenzer höchstens aus Gewohnheit richtet. Ich frage die vier, ob ich in Richtung serbisches Ufer fotografieren darf. Sie versichern mir, dass dies überhaupt kein Problem sei. Nur einer der vier Männer kann sich an die Zeit erinnern, als die Donau noch zwei Welten voneinander trennte. Er war im Telefonamt beschäftigt und täglich als Pendler mit dem Schiff unterwegs. Er erzählt uns folgende Geschichte: „Am Eisernen Tor, wo man von Deck aus das serbische Ufer berühren kann, haben sie uns stets in die Schiffskabine eingesperrt. Sie banden die Türen von außen mit Stricken zu, denn die Schraube war alt und die Schlösser kaputt. An einem Tag habe ich eine Flucht vom Schiff aus erlebt. Eine junge Frau, die wohl den Kapitän bezirzt hatte, durfte von Deck aus fotografieren. Plötzlich ist sie gesprungen. Und weg war sie. Wie sollte der Grenzsoldat das Feuer eröffnen? Er konnte es nicht, denn er hätte gegen den anderen Staat geschossen.“ Die unterirdischen Gänge, die die beiden Ufer miteinander verbinden sollen, sind Legende. Angeblich hat es einen gegeben, der die inzwischen unter dem Wasser der gestauten Donau verschwundene Insel Ada Kaleh mit Serbien verbunden hat. Die Insulaner haben im Laufe der Jahre gehört, dass Leute einfach verschwunden sind. Der Grenzpolizist empfiehlt mir, zurück nach Dubova zu fahren und in die Grotte hinabzusteigen. Dort haben viele die Flucht gewagt. Einige haben auch das andere Ufer erreicht. In Dubova erzählt ein alter Mann, der nicht genannt werden will: „Wir hatten viele Informanten. Aber sie waren auch Fluchthelfer. Wir kennen einander, denn das Dorf ist klein.“ Er sei sich sicher, dass die Leute in Dubova wissen,
Advertisement
wer die Informationen ausgeplaudert hat, wenn sie den Artikel im „Jurnalul National“ lesen werden. Deshalb bittet er mich, keine Reklame für ihn zu verbreiten. In Begleitung eines ortskundigen, erfahrenen Höhlenforschers steige ich durchs Bachbett des Ponicova zur Grotte hinab. Die Trasse scheint nicht schwierig. Das Wasser findet seinen Lauf durch einen Spalt im Kalkstein und verliert sich plötzlich in der Höhle. Das war der Fluchtweg derer, die irgendwo gehört hatten, dass es bei Dubova eine Höhle mit zwei Ausgängen gibt, die mit der Donau am Eisernen Tor verbunden ist, die Stelle, die von den Ferngläsern der Grenzsoldaten am schlechtesten eingesehen werden kann. Am schwierigsten war nicht dieser Abstieg über steile und glitschige Felsen zur Höhle, sondern der Weg durchs Dorf bis zu dem Abstieg, überhaupt dann, wenn der angehende Flüchtling auch noch eine Sauerstoffflasche bei sich hatte. War dieser Abstieg durch Bach und Höhle gelungen, stand die Stromüberquerung bevor an der Stelle, an der die Donau zwischen Rumänien und Serbien am engsten ist, dafür aber reißend. Den Weg zum jugoslawischen Ufer bewältigten die Flüchtenden schwimmend, in Gummibooten und manchmal auch auf Sauerstoffflaschen. Die Sauerstoffflaschen wurden durch den erzeugten Rückstoß oft zu wahren Raketen. Viele haben ihr Leben an der Donauenge verloren, weil das Wasser zu kalt war, die Kraft nachgelassen hat oder weil sie die verbliebene Distanz bis zum serbischen Ufer nicht richtig eingeschätzt hatten, weil sie die Treibstoffzufuhr nicht rechtzeitig abstellen konnten und so von ihren sauerstoffgetriebenen Raketen regelrecht ans Felsufer geschleudert wurden. In den ersten Jahren nach dem Sturz Ceauşescus hat ein serbischer Journalist aus Rumänien auf der jugoslawischen Seite recherchiert. Unter anderem hat Joca Dolić auch einen pensionierten Kranführer gesprochen, der am Elektrizitätswerk Eisernes Tor beschäftigt war und das Wasser vor dem Staudamm von angeschwemmtem Material und Eis freihalten musste, vor allem am Ende der Regen- und Eisschmelzzeiten. Oft waren zwischen den angeschwemmten Baumstämmen auch Leichen. Manchmal sind die sterblichen Überreste derer, die das andere Ufer nicht erreicht haben, buchstäblich auseinandergefallen, bevor der Kranarm bis zum Ufer geschwenkt war. Der alte Kranführer hatte manches Erlebnis mit Grenzgängern. Die meisten sind in kalten Herbst- und Winternächten geflüchtet. In jenen Tagen haben die Grenzer nicht so scharf kontrolliert. An einem Herbsttag hat er in einem Maislaubschober auf seinem Feld einen an Unterkühlung gestorbenen Rumänen gefunden. Es sollte nicht der einzige bleiben, der so sein Ende gefunden hat: Sie flüchteten nachts und kamen zitternd vor Kälte ans Ufer, versteckten sich unter Maislaub, waren erschöpft von den Strapazen der Flucht, schliefen ein und erfroren. „Es gibt kein Dorf auf der serbischen Seite, auf dessen Friedhof es nicht wenigstens zwei Gräberreihen gibt, in denen Rumänen bestattet sind. In keinem der Dörfer habe ich weniger als zehn Gräber gezählt“, berichtet Dolić.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und Anfang der 80er Jahre haben der Kommunistenführer in Belgrad, Josip Broz Tito, und Nicolae Ceauşescu eng zusammengearbeitet, um die Zahl der Fluchten aus Rumänien in den Westen einzudämmen. Tito hatte eine Schuld bei Ceauşescu zu begleichen: Denn der rumänische Geheimdienst Securitate hat einen kroatischen General nach Craiova gelockt, ermordet und im Sarg nach Belgrad geschickt. Der General war Gegner Titos und über Sowjetrußland in den Westen geflohen. Diesen Dienst zahlt Tito Ceauşescu zurück: Von Serben erwischte Rumänen von gewissem Rang werden nicht mehr in den UNO-Flüchtlingslagern abgeliefert, sondern zurück nach Rumänien geschickt. Die Mächtigen in Bukarest lehnten es jedoch ab, die in Jugoslawien angeschwemmten Leichen anzunehmen. Die Beziehungen zu Tito waren aber nicht immer gut. Života Kostić, vor dem Zweiten Weltkrieg am serbischen Donauufer geboren, aber ab dem Alter von zwei Jahren in Liubcova bei Altmoldowa aufgewachsen, wird in den ersten Jahren der „Volksdemokratie“ in die Donautiefebene verschleppt und als Anhänger Titos von 1951 bis 1955 festgehalten. Der Vorwurf des „Titoismus“ ist gepaart mit Sippenhaft: Kostić ist verwandt mit dem Partisanengeneral Arso Jovanović, Generalstabschef des jugoslawischen antifaschistischen Widerstands und guter Freund Titos. In den 70er Jahren gelingt den beiden Kostić-Söhnen die Flucht mit dem Boot über die Donau, und zwar bei Bersaska, östlich von Liubcova gelegen. Ein paar Jahre danach will der alte Kostić seinen Söhnen nach Schweden folgen. Er macht sich in einem aufgepumpten Traktorschlauch auf Richtung serbisches Ufer. Unter der Brücke, die über den Bach Oreviţa führt, bleibt das improvisierte Boot an Schilfstümpfen hängen, schlägt leck und verliert die Luft. Auf dem Heimweg erwischen ihn Grenzer. Er kommt vor Gericht. Seine Strafe wird ihm vorzeitig erlassen durch eine allgemeine Amnestie. Was er in den 50er Jahren nicht lernt, weil er als einer mit „ungesunder Herkunft“ keine höheren Schulen besuchen darf, holt er teilweise im kommunistischen Gefängnis nach, denn dort erlernen die Häftlinge alle möglichen Berufe: Kostić wird Straßenbauer. Er gehört zu denen, die die Straße am Eisernen Tor erneuern. Eines Tages setzt er sich erneut in einen Traktorschlauch und gelangt ans andere Ufer und schließlich nach Schweden, wo er bis zur Pensionierung bleibt. Im Sommer 1995 kehrt er heim mit drei Staatsbürgerschaften in der Tasche: der rumänischen, der serbischen und der schwedischen.
Die drei Artikel des am 7. Oktober 1968 in Orawitz geborenen Journalisten Cristian Ştefănescu sind im Juni 2005 als Serie in der Zeitung „Jurnalul National“ erschienen. Ştefănescu ist Rumänien-Korrespondent der Deutschen Welle und arbeitet als freier Journalist für eine Reihe von Medien. Die Übersetzung aus dem Rumänischen stammt von Johann Steiner.