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In den Fängen der Securitate

Dr. Helmut Weber:

Als Helmut Weber 14 Jahre war, stand für ihn fest: In Rumänien will er nicht alt werden. Der Gedanke, seine Geburtsstadt Temeswar zu verlassen, wird ihn nicht mehr loslassen, bis er als Arzt in Deutschland angekommen ist. Doch bis das Wirklichkeit wird, vergeht viel Zeit. Der Fluchtgedanke setzt sich nicht von ungefähr im Gehirn des dürren Jungen aus dem Banat fest. Es sind die Erlebnisse im und nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihn wie die meisten Deutschen in Rumänien in ihrem Fühlen und Denken prägen oder zumindest stark beeinflussen. Helmut Weber kommt am 25. Juli 1938 als Dr. Helmut Weber Sohn eines Kürschner-Ehepaares in der Temeswarer Josefstadt zur Welt, in einem Stadtteil, der nach Kaiser Joseph II. benannt ist. Der Vater stammt aus einer Bauernfamilie in Denta. Er genießt eine hervorragende Ausbildung in der Kürschnerei Stumper in Temeswar und teilweise in Paris. In der Firma Stumper lernt er seine zukünftige Frau kennen. Bevor er sich selbständig macht und ein Wohn- und Geschäftshaus gegenüber dem kleinen Platz kauft, den die Temeswarer Deutschen kurz „An der Maria“ nennen, hat er sich zu einem hervorragenden Zuschneider emporgearbeitet. Selbst auf der Leipziger Rauchwarenmesse stellt er seine Kreationen vor. Auf dem Platz „An der Maria“, auf dem ein Standbild der Muttergottes selbst den Kommunismus überdauert hat, lässt der ungarische Adel György Dózsa (Georg Doscha), den Anführer eines Bauernaufstandes, der Legende nach im Sommer 1514 hinrichten. Als Webers Vater 1940 zum rumänischen Militär einrücken muss, hat er das Haus „An der Maria“ noch nicht ausbezahlt. 1943 verkauft die Mutter das erst Gebäude notgedrungen, denn der Zweite Weltkrieg hat für Rumänien kaum begonnen, so ist Helmut Webers Mutter schon Witwe. Dr. Helmut Weber kann sich noch gut an den Tag erinnern, als sein Vater mit anderen Männern des 5. Jägerregiments der rumänischen Armee in Reih und Glied zum Bahnhof marschiert ist. Der Vater fällt als rumänischer Soldat bei der Erstürmung des Bahnhofs im ukrainischen Saporoschje am 13. Februar 1942. Seine im November

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1941 geborene Tochter Herta hat er nicht mehr gesehen. Aber in seinem Ausweis findet seine Frau das Telegramm aus der Heimat: „Mutter und Tochter gesund“. Unvergessen bleiben für Dr. Weber die Szenen in der Familie nach dem Eintreffen der Todesnachricht. Mutter und Großmutter weinen bitterlich und raufen sich die Haare. Während sie tränenüberströmt völlig in Schmerz aufgelöst sind, eilen tröstende Nachbarn herbei. Als im September 1944 russische Verbände schon in der Temeswarer Fabrikstadt stehen, sind noch zwei deutsche Piloten in der Weber'schen Wohnung in der Zrinyi-Gasse 3 (später Alexandru-Vlahuţă-Straße) einquartiert. Nachdem sie ihr Sturzkampfflugzeug in der Nähe der Modoscher Brücke aufgeben haben, versuchen sie sich auf dem Landweg durchzuschlagen. Einem wird die Flucht über die Türkei nach Argentinien gelingen. Sein Kamerad kommt ums Leben. In den folgenden Monaten terrorisieren häufig Fliegeralarm und die Bombennächte die Menschen. Am Hauptbahnhof wird ein Treibstoffzug getroffen. Die Bombeneinschläge und Explosionen erschüttern Temeswar, die Flammen lodern weithin sichtbar in den Himmel. Eines Nachts, wieder geweckt von den heulenden Sirenen, steckt die Mutter in der Hektik beim Ankleiden - Beleuchtung ist verboten - Helmut in ein Hosenbein, so dass er nicht laufen kann. In der Dunkelheit bemerkt das niemand, und die Mutter fasst Helmut am Arm und zieht ihn über den Hof in den Garten, wo unter Obstbäumen getarnt, der Unterstand für die Bewohner des Hauses und einige Nachbarn ausgehoben war. Kaum ist der Unterstand erreicht, folgen dem dumpfen bedrohlichen Brummen des Bombergeschwaders die krachenden Explosionen der ersten Einschläge; zum Schrecken der im Unterstand Ausharrenden auch in nächster Nähe. Zur Beleuchtung ihrer Ziele werfen die Piloten nachts hell strahlende Gebilde ab, die wie grell leuchtende Tannenbäume gespenstisch vom Himmel schweben und langsam verglühen. Das Inferno dauert oft Stunden, erst dann weichen die letzten Explosionen einer gespenstischen Stille und die verängstigten Menschen können wieder aufatmen. Für den siebenjährigen Helmut sind das faszinierende Bilder, an die der inzwischen pensionierte Mann sich gelegentlich festlicher Feuerwerke auf makabere Weise erinnert. Von höher fliegenden Bombern werden häufig auch tagsüber Brandsätze abgeworfen. Einer trifft eines Mittags die Diele des Hauses genau dort, wo Hausrat gestapelt ist. Webers Mutter sieht die dichten Rauchwolken aus der Wohnung quellen, springt aus dem Unterstand und rennt mäandernd zwischen den niederprasselnden Einschlägen der Brandsätze zum Haus. Ihre Mutter schreit: „Um Gottes Willen, lass das Dina, komm zurück“. Aber sie wirft den Brandsatz, der in Decken und Teppichen steckt und nicht richtig brennen kann, auf den Hof und stürmt zurück in den Unterstand, von wo aus alle mit Schrecken das Geschehen verfolgen. Noch wochenlang geht der Bombenterror weiter, und die Russen rücken im-

mer näher. In Freidorf, eine fast ausschließlich von Deutschen bewohnte westliche Vorstadt Temeswars, sind noch deutsche Verbände, die von den russischen Stellungen aus dem Osten der Stadt beschossen werden. Die Artilleriegeschosse fliegen auch über das Weber'sche Haus, ab und zu schlägt ein Projektil in der Umgebung ein und verbreitet Angst und Schrecken. Aus Freidorf flüchten die Einwohner vor dem Artilleriefeuer stadteinwärts und suchen Unterkunft. Einige haben auf Handkarren das Nötigste, teils auch lebendes Vieh. Webers Mutter nimmt zwei Großfamilien auf. Die Wohnung ist überfüllt mit den am Fußboden schlafenden, erschöpften Flüchtlingen. Wegen eines Kälteeinbruchs ist das Leid im Winter 1944 besonders groß. In den folgenden etwas ruhigeren Tagen werden das mitgebrachte Geflügel und ein Schwein wegen Futtermangels geschlachtet. Es gibt Leckereien im Überfluss. Es sollte das letzte Festessen sein, an das sich Helmut in den nächsten Jahrzehnten der kommunistischen Mangelwirtschaft noch oft erinnern wird. Einige Tage später zieht in der Nähe des Hauses eine auf dem Rückzug befindliche Kolonne der Wehrmacht vorbei und nimmt einige Flüchtlinge mit. Die schweren Fahrzeuge sind überfüllt und bleiben in den zerbombten Straßen trotz Kettenfahrwerks oft stecken. Deshalb müssen einige Flüchtlinge auf dem Weg aussteigen. Sie finden in den deutschen Dörfern westlich von Temeswar Unterschlupf. So auch Helmut mit seiner kleinen Schwester Herta und der Großmutter. Die Mutter bleibt im Haus in Temeswar. Sie will später folgen. Als sie nach einigen Tagen bei der Familie Mettlersch in Neusiedel bei Bogarosch eintrifft, wo Großmutter und Enkelkinder liebevoll aufgenommen worden sind und seit einigen Wochen gut verpflegt werden, sind schon alle Flüchtlingstrecks nach Serbien weitergezogen. Helmuts Mutter beschließt, mit Großmutter und Kindern nach Temeswar zurückzukehren. Dort herrscht inzwischen Terror auf den Straßen. Man kann das Haus nachts nicht mehr verlassen, ohne von der marodierenden russischen Soldateska ausgeraubt zu werden.

Soldaten holen die Mutter

Im Januar 1946 holt das Schicksal die Familie Weber erneut ein. Dr. Helmut Weber hat heute noch vor Augen, wie ein russischer Politkommissar mit zwei rumänischen Soldaten nachts die Wohnung betritt und seine Mutter auffordert, sich anzuziehen und mitzukommen. Helmut und seine Schwester Herta verkriechen sich bei dieser schrecklichen Szene ängstlich unter die Bettdecke. Die Großmutter, aufgelöst in Tränen, fleht um Mitleid und um Einsicht, den kleinen Kindern doch nicht die Mutter zu nehmen. Leopoldine Weber geborene Hodum gehört zu den 75 000 Rumänien-Deutschen, die in jenen Januartagen in Arbeitslager in die Sowjetunion verschleppt werden. Helmuts Mutter kommt nach Horlowka im Donezbecken, wo sie in einer Kohlengrube arbeiten muss.

1946 wird Helmut Weber eingeschult. Auf die Frage von Dechant Georg Wetzel, was er denn später einmal werden wolle, antwortete er, Doktor. Bis 1949 besucht er die katholische Missionsschule in der Josefstadt. Mit der Verschleppung der Mutter nach Russland kehrt im Hause Weber große Not ein. Die Großmutter verdient mit handgestrickten Kleidungsstücken das Nötigste, um sich, den Enkel Helmut und dessen drei Jahre jünger Schwester Herta zu ernähren. Das funktioniert auch bis zu dem Tag, an dem Helmuts Schwester eingeschult wird. Weil die Kinder im Sommer barfuss umherlaufen, um die Schuhe zu schonen, verletzt sich die Schwester; der Fuß entzündet sich, sie kann vorübergehend nicht laufen. Einen Arzt kann die Großmutter nicht bezahlen. Sie versorgt die Wunde mit Hausmitteln, packt sich das Mädchen auf den Rücken und bringt es zur Schule. Es ist dasselbe Gebäude in der Josefstadt, in dem Helmuts Mutter mit vielen anderen Temeswarer Deutschen im Januar 1945 vor dem Transport in Güterwaggons nach Russland interniert worden sind. Als die Großmutter mit der Enkelin die Schultreppe hinaufgeht, stürzt sie und erleidet einen Knöchelbruch. Von nun an geht es den dreien noch schlechter. Die Großmutter wird im Bett liegen, bis Helmuts Mutter aus Russland heimgekehrt ist. Das ganze Bein wird sich entzünden, schwellen und schließlich schwarz verfärben. Eine Entzündung mit Verschluss der Unterschenkelvenen, eine Thrombophlebitis, führt zu einer großen offenen Wunde. Es folgen Lungenentzündung und nach einigen Wochen eine monatelang anhaltende Gelbsucht. Die Großmutter väterlicherseits lebt in ärmlichen Verhältnissen am Kleinen Dózsa-Platz (Piaţa Plevnei) und kommt regelmäßig zu Besuch, kann aber nur wenig helfen. Helmut besorgt im Rathaus ein Armenzeugnis, damit die kranke Großmutter von einem Arzt behandelt werden kann. Doch auch das bringt nichts, denn im Krankenhaus fehlen die Materialien für Röntgenbilder, und eine stationäre Aufnahme wird abgelehnt. Er kann der Großmutter lediglich zu Hause notdürftig helfen. Er pflegt sie, säubert die Wunde mit Permanganat und kocht auf Anweisung der bettlägerigen Frau das Mittagessen. Oft gibt es nichts zu kochen, dann kommt lediglich mit Wasser aufgeweichtes Altbrot, auf das Salz und rotes Paprikapulver gestreut ist, auf den Tisch. Ein anderes Mal röstet Helmut das Brot auf dem Herd, veredelt es mit Knoblauch und Sonnenblumenöl.

Hungerjahre

Eines Tages macht Tischlermeister Robert Tornatzki aus der Temeswarer Fabrikstadt, ein Jugendfreund des Vaters, die drei glücklich und reich zugleich. Er versorgt sie mit einigen Bratwürsten, Schinken und Speck. Dabei hat Tornatzki eine Großfamilie mit sechs Kindern zu versorgen. Er ist aber großzügig. Helmut und Herta sind oft bei Tornatzkis eingeladen, wo sie schöne Tage verbringen.

Das Geschenk bleibt der Nachbarschaft nicht verborgen. Helmut merkt, wie die Würste rasch weniger werden. Eine Nachbarin klaut sie. Die Großmutter gibt Helmut den Rat, ein Vorhängeschloss zu besorgen und die Speisekammer abzuschließen. Ein ähnlicher Glücksfall für die Webers ist in jenen schlimmen Tagen auch der Schuhmacher Alfred Popp. Er ist der Eigentümer des Hauses in der Sterngasse (Dimitrie-Sturdza-Straße), in dem Helmut geboren wurde. Er repariert seinen ehemaligen Mietern die Schuhe kostenlos. Als Firmpate kleidet er Helmut auch neu ein. Es ist sein erster eleganter Anzug, mit kurzen Hosenbeinen. Dazu bekommt er auch neue Schuhe. Zwischen Preyer-, Stern-, Zrinyi- und Fröblgasse in der Temeswarer Josefstadt lebt in jenen Jahren wie in vielen Teilen des Banats ein buntes Völkergemisch. Helmuts Schulweg gestaltet sich anfangs zu einem Spießrutenlauf. Ein kräftiger Zigeunerjunge in der Sterngasse fordert täglich von ihm Wegezoll. Wenn Helmut kein Kleingeld bei sich hat, verlangt der kleine Wegelagerer beim nächsten Treffen die ausgebliebene Summe nach. Meist gelingt es dem schmalen Helmut, sich den Forderungen und Nachstellungen durch einen Sprint zu entziehen. Eines Tages gibt es jedoch keinen Ausweg. Er muss Schuhe zur Reparatur bringen. Sein Weg führt an den Stellen vorbei, wo der Zigeunerjunge seinem Opfer aufzulauern pflegt. Helmut ist verzweifelt, er fühlt sich in die Enge getrieben. Er macht sich mit einem Hammer im Hemdsärmel auf den Weg. Jede Deckung nutzend, schleicht er sich durch die Straße, an den gefährlichen Hauseingängen und Toreinfahrten vorbei. Trotz aller Vorsicht und Mühe geschieht das Unglück. Als der Gegner plötzlich aus einem Hauseingang hervorspringt und sich vor ihm aufbaut, schlägt Helmut ihm aus Schreck sofort mit dem Hammer auf den Kopf. Der kippt um und bleibt liegen. Helmut rennt in Panik, ohne anzuhalten, über fünf Kilometer bis in die Elisabethstadt und auf Umwegen zum Hauptbahnhof, wo er erstmals atemlos innehält. Er getraut sich erst im Schutz der Dunkelheit nach Hause. Die Großmutter empfängt ihn mit den Worten, Ziganys Vater habe ihn sprechen wollen. Helmut sagt der Großmutter, sie solle den Mann, sollte er wieder kommen, in die Schule schicken. Der kommt tatsächlich in die Schule und sagt Helmut auf ungarisch, er wisse, dass sein Sohn ein kleiner Vagabund sei, er liege noch im Krankenhaus; doch sollte er Helmut noch einmal auflauern oder sonst etwas antun, so möge er es ihm mitteilen. In jenen Tagen wird Helmut zum Jäger. Mit seiner Schleuder, im Temeswarer Dialekt Tschudri genannt, geht er auf Taubenjagd. Mancher erlegte Vogel kommt zu Hause in den Kochtopf und hilft, den Hunger zu stillen. Eines Tages findet Helmut in der Nähe des Bega-Ufers ein Katzennest. Aus dem Wurf nimmt er sich ein schwarzweißes Kätzchen mit nach Hause. Der Kater Hinze wird ihm helfen, Tauben zu fangen. Ein wenig Kleingeld verdient sich Helmut als Ministrant in der Josefstädter Pfarrkirche. Dafür muss er auch sonn- und

feiertags schon um 6 Uhr aufstehen. Das ist besonders im Winter sehr hart, aber notwendig. Denn für jeden Dienst in der Kirche gibt es Punkte, die in regelmäßigen Abständen in Geld umgerechnet werden. Manchmal bekommt Helmut 20 Lei, ein anderes Mal 50 Lei; für ihn, die Schwester und die Großmutter ein kleines Vermögen. Ein Liter Milch kostet in jenen Tagen zwei Lei. Aber nicht nur Helmut und seinen Verwandten geht es schlecht nach dem Krieg. Helmuts Schwester Herta geht zum Spielen zu Ildiko, der Tochter des Goldschmieds im Nachbarhaus. Dieser Mann erlebt schlimme Tage. Die Russen vermuten noch viel Gold bei ihm und foltern ihn, bis er zum Krüppel wird. Im Weber'schen Haus sind jetzt hohe Offiziere der Russen einquartiert. Im Hauptflügel etablieren sie neben der Kommandantur ein Freudenhaus. Auf dem Hof spielend, lernt Helmut manchen Offizier kennen - was ihm demnächst hilfreich sein wird. Denn er ist oft auf der Jagd nach Essbarem auf Feldern und in den Wäldern um Temeswar. Er traut sich auch in die Nähe der russischen Kaserne am anderen Ende der Stadt, im Jagdwald. Dort gibt es viel Wild. Der kleine Weber fängt Ringelnattern und Frösche, hebt Vogelnester aus und erlegt mit der Schleuder so manchen Zuchtfasan. Eines Tages erwischt ihn der Wachtposten und führt ihn wegen illegalen Betretens des Kasernengeländes ab. Er kommt aber sofort wieder frei, weil ihm Offiziere aus der Kommandantur in der ZrinyiGasse begegnen, die Helmut gut kennen. Die schenken ihm Schokolade und fragen ihn, ob er sich nicht etwas verdienen möchte. Helmut darf ihnen bei Schießübungen leere Wassereimer als Zielscheibe aufstellen. Legen die Russen mit ihren Karabinern auf den Eimer an, so verschwindet Helmut flink hinter einem dicken Baum, an dem die Kugeln vorbeipfeifen. Danach springt er wieder hervor, um den weggeschossenen Eimer aufzustellen. Oft erreicht er den schützenden Baum in letzter Sekunde, bevor die Schüsse krachen. Der sumpfige Jagdwald bringt Helmut nicht nur reiche Beute ein, sondern auch die Malaria. Er kommt ins Kinderkrankenhaus. Eine rumänische Ärztin besorgt von den Russen Chinin. Trotz sieben Rückfällen wird er nach einigen Jahren bis auf eine vergrößerte Milz mit leichter Überfunktion wieder gesund. Die Krankheit bringt Helmuts Rumpffamilie in noch größere Bedrängnis. Sie lebt jetzt von Almosen der Nachbarschaft. In der vierten Klasse ist der Schularzt entsetzt, als er Helmuts abgemagerten Körper sieht. Er fragt ihn, ob er keinen Appetit habe. Als der Arzt hört, dass er nichts zu essen habe, setzt er ihn auf die Liste der Schüler, die ein Armenfrühstück in der Schule bekommen. Es stammt aus den Beständen der russischen Besatzer. „Was wir bekommen haben, hat violett bis orange ausgesehen und nach verdorbenem Fisch und ranzigem Fett geschmeckt“, erinnert sich Dr. Weber, „doch ich habe es geschluckt, es hat mir geholfen. Andere haben das Essen nicht angerührt. Deren Portion habe ich dann ebenfalls verdrückt, vorsorglich, gegen den nächsten Hunger.“ In den ersten drei Klassen der Grundschule lernt Helmut nur gotisch schrei-

ben. Weil die rumänische Schuldirektorin die in Sütterlin verfassten Schulunterlagen nicht lesen kann, darf Helmut aushelfen, was ihm auch den einen oder anderen Bissen einbringt. Dann hat er wieder Glück, er darf die Lokalzeitung austragen. Manch ein Kunde gibt ihm das Doppelte des eigentlichen Preises. Doch Helmut liefert im guten Glauben das ganze Geld im Verlag ab, wofür er viel Lob erntet. Helmut Weber ist eines der körperlich zurückgebliebenen Kinder in seiner Klasse, eines der schwächsten. „Mir konnte jeder den Arm umdrehen“, sagt er heute. In dieselbe Klasse geht auch Walther Achs, den er schon aus dem Kindergarten kennt. Die beiden sehen sich auch außerhalb der Schule fast täglich. Es entsteht die erste Jugendfreundschaft. Walthers Onkel ist Geräteturner und nimmt Walther zum Training mit in den Sportklub. Mit Walther geht dann auch Helmut regelmäßig turnen, um ehrgeizig für seine körperliche Fitness zu trainieren. Der Sport wird ihm zum lebenslangen Begleiter mit positiver Auswirkung auf seine körperliche Entwicklung.

Die Mutter kehrt heim

Nach mehr als fünf Jahren kehrt Helmuts Mutter aus der Verbannung heim. Sie hat die Lagerzeit mit ihrem starken Willen und Glück überlebt. Nach zwei schweren und langen Jahren unter Tage im Kohlebergbau kommt die Rettung. Eines Tages klagt eine der russischen Aufseherinnen, ihre teure Pelzmütze sei beschädigt worden. Helmuts Mutter bietet als Kürschnerin ihre Hilfe an und flickt die Mütze so, dass kaum noch etwas von dem Schaden zu erkennen ist. Ab sofort ist sie auf Betreiben einer russischen Offiziersfrau Leiterin der Pelzmanufaktur, hat ihr eigenes kleines Zimmer und gehört unter den Häftlingen zu den Großverdienerinnen. Als sie nach mehr als fünf Jahren Verschleppung auf dem Bahnhof in Temeswar eintrifft, sieht sie gut aus, trägt eine dicke, graublaue gesteppte Wattejacke, eine sogenannte Puffoaika, wie fast alle aus den Lagern Entlassenen. Sie erreicht Temeswar mit zwei vollgepackten Riesenkoffern und mit Rubel gefüllten Taschen. Helmut und seine Schwester sind zum Empfang zum Bahnhof gekommen. „Ich habe sie sofort erkannt“, sagt Dr. Weber, „doch sie sah uns erst nicht, denn sie wurde abgelenkt. Während wir auf sie zugelaufen sind, fiel ihr eine uns fremde Frau um den Hals, eine Mitgefangene, die etwas früher als sie nach Hause gekommen war. Dann hat meine Schwester die Mutter am Rockzipfel gezogen und gefragt: „Bist Du meine Mutti“. Fast 60 Jahre sind seit jenem Tag vergangen, doch wenn Dr. Weber die Ankunft der Mutter schildert, bebt ihm das Kinn, selbst ein paar Tränen kann er nicht unterdrücken. Daheim angekommen, ist die Mutter entsetzt über den Zustand der Großmutter. Aber mit ihrer Hilfe kommt sie wieder auf die Beine. Helmuts Mutter arbei-

tet anfangs als Weberin. Schließlich wird sie durch gute Beziehungen Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft. Das ist in jenen Tagen eine gute Stelle - sie ist an der Nahrungsmittelquelle. Der Lohn, den sie erhält, reicht jedoch nicht aus. Deshalb arbeitet sie nachts als Kürschnerin. Helmut wird Gymnasiast. Er besucht die Abteilung des Diaconovici-LogaLyzeums mit deutscher Unterrichtssprache zusammen mit seinem Jugendfreund Walther Achs. Sein zweiter Jugendfreund und späterer Fluchthelfer Stefan Pinkert, der dritte im Bunde, wird nicht angenommen, weil die kommunistischen Machthaber seine Eltern, die Kleinbauern sind, als Ausbeuter einstufen. Stefan Pinkert muss eine Arbeit annehmen und kann sich dann am Abendgymnasium anmelden. Als Arbeiter hat er dann, nach „sanierter, gesunder sozialer Herkunft“ die Berechtigung, zu studieren, entsprechend der kommunistischen Ideologie. Lehrer wie Dr. Hans Weresch, Franz Lux, Aglaia Ionescu und Anton Höckl prägen Helmut Webers Weltbild, aber vor allem der Rumänisch-Lehrer Usatiuc, den er schon von der Volksschule her kennen und schätzen gelernt hat. „Ein begnadeter Pädagoge“, sagt Dr. Weber. Er wurde von seinen Schülern respektiert und geliebt. Während seines Unterrichts, ob Vorträge über spannende Literatur oder trockene Grammatik, ist alles mucksmäuschenstill und hängt an seinen Lippen. Zu Helmuts Klasse gehört auch Franz Lotter, der Sohn eines Tischlers, der im Winter mit lumpenumwickelten Füßen zur Schule kommt. Lehrer Usatiuc setzt den Jungen, der kaum Rumänisch kann, direkt neben den wärmenden Ofen. Usatiuc gibt ihm eine Chance, hilft ihm, den Abschluss im Fach rumänische Sprache zu machen und einen Beruf zu erlernen. Eines Tages erlebt Helmut, wie die Schulsekretärin des Lyzeums einen Anruf entgegennimmt und ihn, der zufällig im Sekretariat ist, bittet, Professor Usatiuc ans Telefon zu rufen. Am anderen Ende der Leitung war, wie sich später herausstellen wird, der Geheimdienst, die Securitate. Nach Übermittlung dieser Nachricht sieht Helmut Weber den Lehrer nie wieder. Er bedauert es noch heute, der Übermittler dieser Hiobsbotschaft gewesen zu sein. Viele Jahre später trifft Helmut als Student im Sportsaal der Medizinfakultät in Temeswar einen jungen Mann namens Usatiuc. Es ist der Sohn seines ehemaligen Lehrers. Jetzt erfährt Helmut, dass sein geachteter Rumänischlehrer ins Arbeitslager am Donau-Schwarzmeer-Kanal verbannt worden war, unter dem Vorwand, die Konterrevolution unterstützt zu haben. Professor Usatiuc ist im Arbeitslager elend umgekommen.

Erste Fluchtpläne

In der achten Klasse schmieden Helmut Weber und seine Freunde Walther Achs und Stefan Pinkert die ersten Fluchtpläne. Sie denken über alle möglichen und

unmöglichen Fluchtvarianten nach. Eine ist der Weg über die grüne Grenze. Schon als Schüler kommt Helmut Weber in den Sommerferien in Altbeschenowa an die serbische Grenze. Er sieht in den Ferien seinem Großonkel zu, wie er den Grenzstreifen mit vorgespanntem Pferd eggt. Nachts hört er aus der Ferne, aus Richtung jugoslawischer Grenze, die prasselnden Salven der Schnellfeuergewehre und das trockene Knallen der Karabiner. Der Großonkel meint dann, „warum lässt man sie nicht einfach gehen?“ Aber es sind oft nicht Flüchtlinge, sondern rumänische Grenzer, die dem damals häufigen Schusswechsel mit den verfeindeten „Tito-Schergen“ zum Opfer gefallen sind. Eine andere Fluchtvariante ist das Fliegen. Über Modellflug, Segelflug und Fallschirmspringen kommt Helmut Weber auch zum Motorflug. Das aufregendste war der erste Sprung mit dem Fallschirm. Davor durchlebt er die erste und bisher einzige schlaflose Nacht seines Lebens. Der zweite, und leider auch letzte Sprung ist schon ein großartiges Erlebnis. Helmut besteht auch die Prüfung als Motorflieger, erhält aber wegen politischer Unzuverlässigkeit keine Gelegenheit, zu fliegen. Trotz strenger Beschränkung der Fluglizenzen auf linientreue Lehrgangsteilnehmer, werden binnen einiger Monate fast alle Kleinflugzeuge aus Rumänien entführt. Die Tankfüllungen der Flugzeuge werden deshalb reduziert, so dass eine Flucht auf dem Luftweg fast unmöglich wird, weil das Benzin nicht für einen Flug über die Staatsgrenze reicht. 1955 ist ein Jahr der Entscheidungen in Helmuts Leben. Abitur und die Aufnahmeprüfung an der Medizinfakultät stehen an. Mit Sorge sieht seine Mutter diese Herausforderungen auf ihren Sohn zukommen, hat er doch als Deutscher ohne Parteibuch und mit „ungesunder sozialer Herkunft“, als Sohn eines selbständigen Handwerkers, also eines „Ausbeuters“, kaum Chancen, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Die „soziale Note“ könnte zu niedrig sein und auch bei besten Zensuren in den Fachdisziplinen ein Studium unmöglich machen. Hinzu kommt, dass erhebliche Summen zur Bestechung der Prüfer praktisch die Regel sind, will man die Aufnahmeprüfung bestehen. Eine große Erleichterung sind deshalb die „Ehrendiplome“, die Abiturienten mit ausschließlich Bestnoten in jenen Jahren erhalten. Damit können sie sich ohne Aufnahmeprüfung an einer Hochschule ihrer Wahl immatrikulieren. Helmut rechnet sich gute Chancen aus, er erhofft sich ein „Ehrendiplom“. Das Abitur gelingt wie angestrebt mit der Note 5,0 (in Deutschland 1,0). Seine Hoffnung auf ein „Ehrendiplom“ ist groß. Umso größer ist dann die Enttäuschung, dass ihm keines ausgestellt wird. Helmuts Mutter spricht bei Schuldirektor Heinz Feichter vor und bittet ihn, dies zu begründen. Seine Begründung ist konstruiert: Helmut habe in Mathematik vor dem Abitur nicht die erforderlichen Leistungen erbracht, in Algebra und Geometrie habe er zwar die Bestnote, aber in Trigonometrie, kein Prüfungsfach, keine. Außerdem helfe ein „Ehrendiplom“ Helmut sowieso nicht weiter, weil er keine ausreichende „soziale No-

te“ für eine Aufnahme an einer Universität bekommen würde. Das Diplom verleiht Direktor Feichter einer Abiturientin, deren Leistungen ebenfalls an der Grenze zum „Ehrendiplom“ stehen. Zum Unterschied zu den Webers jedoch versorgt die Verwandtschaft dieser Absolventin Feichters Haushalt reichlich mit Naturalien wie Schinken, Speck und Eiern. Dazu ist Helmuts Mutter nicht in der Lage. Was Helmuts Mutter befürchtet, tritt ein: Er besteht die Aufnahmeprüfung an der Medizinfakultät nicht, die „soziale Note“ ist ungenügend. Helmut nimmt eine Beschäftigung in der Hutfabrik an, in der Hoffnung, damit als Arbeiter eingestuft zu werden und eine bessere „soziale Note“ bei der Aufnahmeprüfung 1956 zu haben. Auch muss er helfen, das Geld für die „Privatstunden“ zu verdienen, die jene Hochschul-Professoren anbieten, die auch die Aufnahmeprüfungen abnehmen. So kassieren sie die Bestechungsgelder scheinbar legal. Helmut und seine Mutter arbeiten jetzt fast ausschließlich, um diese „Privatstunden“ bezahlen zu können, die Helmut nur abends nach Dienstende besuchen kann. Im Mai muss er den Arbeitsplatz aufgeben, um sich ausschließlich auf die Aufnahmeprüfung für Juli und August vorzubereiten. Im zweiten Anlauf schafft er es: Er wird Medizinstudent. Von mehr als 1400 Kandidaten werden 116 aufgenommen, darunter auch Helmut und sein Freund Walther Achs. Als Helmut die Zulassungsliste eingesehen hat, läuft er von der Fakultät zur nahegelegenen Post und teilt die frohe Botschaft seiner Mutter telefonisch mit. Die Erleichterung und die Freude der beiden über den gemeinsam erkämpften Erfolg sind groß. Als Student erkrankt Helmut Weber Ende des zweiten Semesters nach einem Besuch der Molkerei in Perjamosch nach reichlichem Genuss frischer Milch und Milchprodukte an Bauchtyphus; er kann sich nicht zur Jahresprüfung stellen, was für seine spätere Tätigkeit von Bedeutung sein wird. Fast hätte Helmut durch die Krankheit das erste Studienjahr wiederholen müssen, aber mit der Unterstützung seines behandelnden Arztes, Professor Theodor Vladimir Buşilă vom Epidemiespital, kann er die im Juni wegen Krankheit versäumten Prüfungen ausnahmsweise im September nachholen und so das erste Studienjahr doch noch erfolgreich abschließen. Schon im Kindergarten singt Helmut gerne im Kinderchor und übt als Achtjähriger mit einem Kroaten aus der Nachbarschaft auf der Ziehharmonika. Als Gymnasiast ist er von der Jazz-Musik begeistert. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Musikinstrument zu spielen. Mit Walther Achs hört er bis spät in die Nacht Jazz, ausgestrahlt von verbotenen ausländischen Radiosendern, aber nur leise, damit Nachbarn nichts hören und sie nicht anzeigen können. Sehr beeindruckt ist Helmut von seinem Klassenkollegen Richard Oschanitzky, ein außergewöhnlich begabter Schüler, ein Musikgenie mit absolutem Gehör, der schon als Zwölfjähriger Messen komponiert, die im Dom zu Temeswar aufge-

führt werden. Richard spielt regelmäßig die Orgel in der Kirche am LahovariPlatz. Er komponiert und improvisiert Jazz und Kirchenmusik, die verboten sind. Pater Lukas gibt ihm Tor- und Orgelschlüssel der Kirche, damit er nachts üben kann und nicht gehört wird, denn die Securitate hat überall ihre Spitzel. Helmut ist oft dabei und blättert die Partituren. Er ist beeindruckt von Richards Musik. Deshalb will auch er Klavier spielen lernen. Weil es fürs Klavier finanziell nicht reicht und das Instrument in der engen Wohnung auch nicht unterzubringen wäre, entscheidet er sich für Klarinette und Saxophon. In dem ersten Klarinettisten der Banater Philharmonie, Mihail Vlădoi, hat er einen hervorragenden Lehrer. Nach einigen Jahren ist er in der Lage, die zweite Klarinette oder Bassklarinette in der Banater Philharmonie zu vertreten. Richard Oschanitzky studiert inzwischen an der Akademie der Künste in Bukarest, wo er mit seinem Talent den einzigen Studienplatz für Komposition und Dirigat erhalten hat, und das sogar als Deutscher ohne Parteibuch. Inzwischen übt auch Walther Achs oft gemeinsam mit Helmut Klarinette und Saxophon. Walther ist schon seit Jahren ein guter Schüler des bekannten Geigenlehrers Josef Brandeisz. Weil er musikalisch begabt und im Notenlesen geübt ist, kann er auch ohne Klarinetten- oder Saxophonunterricht gut mitspielen. Walther und Helmut spielen regelmäßig an Wochenenden in Tanzorchestern und kommen damit auch zu relativem Wohlstand - sehr zur Erleichterung von Helmuts Mutter, die bis dahin alleine für die Familie gesorgt hat. Helmut wird auch Mitglied im Studentenorchester, das von Richards jüngerem Bruder, Peter Oschanitzky, geleitet wird. So kann Helmut eine von den Kommunisten geforderte sozial-kulturelle Tätigkeit vorweisen und ist damit zumindest teilweise befreit von anderen lästigen Anordnungen wie „freiwillige“ Arbeit auf dem Feld oder Entladen von Gütern, überwiegend Baumaterialien auf Bahnhöfen und Lagerplätzen.

Verbotener Jazz

Die Orchesterproben finden überwiegend in den späten Abendstunden statt. Wegen des Stundenplanes, aber auch, weil oft verbotene Jazz-Musik des Klassenfeindes USA gespielt wird. Eines Tages zeigt ein Spitzel sie an. Ein von der kommunistischen Partei beauftragter Funktionär erscheint abends unangemeldet zur Orchesterprobe, während dieses einen Blues einspielt. Er droht mit schweren Strafen. Peter Oschanitzky lässt das Orchester zwei Stücke spielen, den „Basin-Street-Blues“ und „Oh, St.-Louis-Women“. Er behauptet, das wären die Lieder der vom Kapitalismus unterdrückten Farbigen in den USA. Diese Idee nimmt der durch die Musik beeindruckte, leicht angeheiterte Politkontrolleur freudig auf, entschuldigt sich wortreich für das Missverständnis und geht. Die Orchestermitglieder sind erleichtert und amüsiert, sie sind Peter Oschanitzky für

seinen Geistesblitz dankbar. Ab sofort sind sie aber alle noch vorsichtiger, um der Securitate keinen Anlas zur Einschränkung der nächtlichen künstlerischen Freiheit in der Auswahl der Musikstücke zu geben. Ende des Jahres bekommt das Studentenorchester den Auftrag, zu Silvester 1961 den „verdienten Parteikadern“ aufzuspielen. Dazu hat Helmut keine Lust. Er will sich die Neujahrsnacht nicht von der Partei verplanen lassen, vor allem seinen Schwarm nicht der Konkurrenz überlassen. Er befolgt den Parteiauftrag nicht und wird deshalb in mehreren langen Verhören bedroht, kann dann aber die Exmatrikulation von der Hochschule abwenden. Er bedauert seine „Tat“ und gelobt Besserung. Glücklicherweise hat er keine belastenden Vermerke in seinen Personalakten nach den Studentenunruhen von 1956 in Temeswar, die im engen Zusammenhang stehen mit dem Volksaufstand in Ungarn. In Temeswar sind im Herbst 1956 massive Truppenbewegungen der Russen in Richtung ungarischer Grenze zu sehen. Nichts ahnend, fährt Helmut zur Hochschule und ist erstaunt über die Militärpräsenz. Hochschule und Studentenheim sind umstellt. Gerade noch kann Helmut die Sperre passieren und erfährt, dass Studentenunruhen ausgebrochen seien und eine Demonstration geplant sei gegen die russische Besatzung. Aus dem Hochschulgebäude soll eine Nachricht ins Wohnheim nebenan gebracht werden. Weil Helmut noch am Eingang steht, wird ihm diese zugespielt. Er läuft damit in Richtung Wohnheim, wo er sich am Eingang aus dem Griff des sich ihm entgegenstellenden Wachtpostens windet und die Treppen hinaufspringt. Hinter ihm prasselt eine Salve aus einer Schnellfeuerpistole in die Wand des Treppenhauses. Nach einigen Stunden der Protestrufe werden die Studenten aus dem Heim mit vorgehaltenen Handfeuerwaffen abgeführt und auf Militärlastwagen in ein Lager außerhalb der Stadt transportiert. Helmut gelingt es während der Vorbeifahrt an der Kathedrale vom Auto abzuspringen und sich in die Büsche des Stalinparks zu schlagen. Er entkommt, ist am Abend daheim und entgeht mit dem gewagten Sprung der Eintragung in die Liste „konterrevolutionärer Elemente“, in der alle vorübergehend auf einem Kasernenhof festgehaltenen Studenten festgehalten werden. Weil seine Eltern kurz vor dem Krieg ihre eigene Manufaktur hatten, entgeht Helmut 1958 nur knapp einer Exmatrikulation. Der Säuberungsaktion von 1958 fallen einige seiner Gymnasialkollegen zum Opfer, so auch Richard Oschanitzky in Bukarest, der wieder in Temeswar auftaucht und auch prompt ein JazzOrchester gründet, das schon nach einigen Monaten große Erfolge feiert und deshalb von den Parteikadern nach Bukarest beordert wird. Das Studium darf er nach einem Jahr fortsetzten und sehr erfolgreich beenden. Später macht er erfolgreich Karriere und ist auch Dirigent des Internationalen Musik- und Chanson-Festivals in Kronstadt. Zusammen mit Richard Oschanitzky plant Helmut die Entführung eines Flug-

Flugzeugs auf der Flugroute von Bukarest-Arad-Temeswar-Bukarest. Diese Fluchtvariante lassen sie aber fallen, nicht zuletzt wegen der Unzuverlässigkeit der Flugzeuge, denn beim Absturz einer Maschine auf dem Flug Bukarest-Arad sind auch einige Mitglieder aus Richards Jazz-Orchester umgekommen. Helmut beendet die Hochschule und absolviert anschließend den Wehrdienst als Leutnant der Reserve im Sanitätsdienst. Am 6. Juli 1963 heiratet er Hildegard Wuchner, die Tochter eines Handwerkers aus der Temeswarer Elisabethstadt, die medizinisch-technische Assistentin wird. Es folgt eine unvergessliche Hochzeitsreise auf einem 250er BMW-Motorrad. Sie führt über die Karpaten ans Schwarze Meer und ins Donaudelta. Danach tritt Weber einen Arztposten in Epidemiespital Victor Babeş in Temeswar an, und zwar bei seinem Mentor, Professor Buşilă. Aber sein Ziel ist ein Ort in der Nähe der jugoslawischen Grenze. Sein Studienkollege und Freund Walther Achs wird Arzt im Buchenland. Achs, Pinkert und Weber schmieden jetzt fieberhaft Fluchtpläne.

Flucht der Freunde bringt Ärger

Dann ist die Chance unerwartet greifbar nahe. Helmuts Mutter kommt als Kürschnerin mit einem Securitate-Offizier in Kontakt. Dieser informiert 1964 Webers Mutter, dass Tagesausflüge nach Belgrad möglich sein werden. Dr. Helmut Weber bereitet die Flucht durch Jugoslawien bis ins kleinste Detail vor. Zu sechst wollen sie die Reise mit Motorrädern in die jugoslawische Hauptstadt antreten. Allen wird die Reise genehmigt außer Weber und seiner Frau. Stefan Pinkert mit seinem Freund Dieter Stein, später Kinderarzt in Gaißach bei Bad Tölz, und die Brüder Karl und Armin Bappert fahren in den frühen Morgenstunden des 9. März 1965 bei winterlichen Temperaturen und Straßenverhältnissen in Temeswar los und erreichen mit ihren relativ schwach motorisierten und überlasteten 125er Motorrädern nach abenteuerlicher ununterbrochener Fahrt über den berüchtigten Autoput, die jugoslawische Autobahn, gegen 21 Uhr erschöpft und halb erfroren Marburg an der Drau, wo sie gezwungen sind, eine Ruhepause einzulegen und zu übernachten. Am nächsten Morgen sind es nur noch wenige Kilometer bis zur österreichischen Grenze. Große Spannung, ob man in Rumänien ihr Ausbleiben schon bemerkt und den Jugoslawen gemeldet hat? Sie nähern sich dem Grenzübergang, die jugoslawischen Grenzer winken sie nach kurzer Passkontrolle durch, sie erreichen bei Spielfeld Österreich die Freiheit. Die Flucht der Freunde bringt Dr. Weber Ärger ein. Er gerät in die Fänge der Securitate. Der Geheimdienst wirft ihm vor, er habe von der Flucht Kenntnis gehabt. Er hält entgegen, er habe nichts damit zu tun, er wolle nicht flüchten, sondern zusammen mit seiner Frau legal ausreisen. Deshalb habe er auch einen Antrag auf Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland gestellt. Wegen

dieses Antrags hat er keine Erlaubnis für einen Tagesausflug nach Belgrad erhalten. Beim Geheimdienst nehmen ihn drei Offiziere in Empfang. Sie drohen: Der Ausgang des Verhörs könnte schicksalhaft sein. Wenn er nicht mit der Securitate zusammenarbeiten wolle, werde er zum Staatsfeind gestempelt, und das habe schwerwiegende Konsequenzen. Eine Folge tritt bald ein: Dr. Weber verliert seine Stelle am Lehrstuhl für Epidemiologie in Temeswar und wird versetzt. Ab 1. Juli 1965 ist er Arzt im Gesundheitsamt Orawitz im Südbanat, nahe der serbischen Grenze. Dr. Webers Frau, Anästhesieassistentin im Bega-Krankenhaus in Temeswar, lässt sich etwas später auf Antrag in die chirurgische Abteilung des Kreiskrankenhauses Orawitz versetzen. Das Ehepaar bezieht auf Antrag von Kreisverbandsarzt Dr. Nicolae Creţu und mit freundlicher Genehmigung des Chefarztes der Abteilung für Infektionskrankheiten Dr. Constantin Son eine winzige provisorische Bleibe in der Isolationszelle der Infektionsabteilung des Kreiskrankenhauses Orawitz. Im Gesundheitsamt Orawitz hat sich eine ziemlich inkompetente Mannschaft zusammengefunden. Weber trifft Kollegen, die kaum Ahnung von Medizin haben. Indoktrinierte, parteihörige, linientreue Gesellen. Einziger Lichtblick ist der Kollege Dr. Attila Marosi, ein befreundeter Ungar, den Dr. Weber schon aus der Studienzeit in Temeswar gut kennt. Trotz aller Unzulänglichkeiten, Dr. Weber ist glücklich, nach Orawitz versetzte worden zu sein. Er ist zuständig für einen ganzen Kreis, der eine etwa 100 Kilometer lange Grenze zu Jugoslawien hat. Er unternimmt viele Dienstfahrten, steht unzählige Male am Grenzstreifen. Dann gibt es eines Tages Alarm. Bei Bosowitsch findet eine Roma-Hochzeit statt. Das Fleisch des Hochzeitsschmauses soll von Trichinen befallen sein. Im ganzen Südbanat sind damals noch Infektionskrankheiten wie Hepatitis, Typhus, Tollwut und Salmonellen verbreitet. Die Erreger und die von ihnen verursachten Krankheiten sollen ausgerottet werden, heißt die im Ministerium für Gesundheit in Bukarest ausgegebene Devise. Dr. Weber bekommt den Auftrag, durchzugreifen und die Hochzeitsgäste zu untersuchen. Doch ohne Polizei-Hilfe geht das nicht. Er bekommt Unterstützung; die Polizei umzingelt die gesamte Hochzeitsgesellschaft. Der für den Einsatz zuständige Offizier wundert sich, dass er sich auf Anordnungen eines „Vaterlandsverräters“ so ins Zeug legen müsse. Dr. Weber und seine Mitarbeiter aus dem Gesundheitsamt müssen den Hochzeitsgästen Blut abnehmen. Doch keiner der mitgenommenen Helfer ist dazu qualifiziert. Denn diesmal gilt es nicht, das Blut aus einer Vene zu entnehmen, sondern aus der Schlagader der Leistenbeuge. Weil keiner diese Technik beherrscht, muss Dr. Weber diese Arbeit selbst verrichten. Die Untersuchungen ergeben, dass viele Hochzeitsgäste mit Trichinen infiziert sind. Dr. Weber, der die Roma aufklärt und ihnen mit seiner Diagnose hilft, gewinnt in dem Zigeu-

nerkönig einen neuen Freund. Aber auch andere Sippenmitglieder werden sich noch seiner erinnern. Fast zehn Jahre später, nach gelungener Flucht, macht er Urlaub in Paris; in Saint-Germain-de-Prés, ruft von einem Verkaufsstand auf der Straße ein Gaukler im Banater Dialekt der Donauschwaben Dr. Weber zu, „du Schwob (Schwabe) aus Temeswar, kennscht mich net mehr, ich war in Bosowitsch bei d'r Trichinen-Hochzeit“. Eines Tages kommt Gertrude Bär, eine Freundin Hildegard Webers, mit Willy Rist, ihrem Freund aus Ravensburg, nach Orawitz zu Besuch. Dabei ist auch Dr. Webers Schwägerin Annelie Burgermeister geborene Wuchner, heute in Unterhaching bei München zu Hause. Sie wollen mit Willy Rists Hilfe in seinem Pkw mit deutschem Kennzeichen flüchten. Willy soll erst sie bis zur Grenze bei Stamora-Morawitz bringen, dann allein nach Jugoslawien fahren, und sie nach illegalem Grenzübertritt mit dem Auto in Weißkirchen erwarten und durch Jugoslawien über Österreich nach Deutschland fahren. Der Augenblick war günstig, denn die Grenzer hatten an jenem Abend eine Übung. Die Frauen vertreten die Meinung, die Flucht sei wohl doch zu gefährlich. Willy Rist und Dr. Weber fahren dann allein an den von Dr. Weber für den Übertritt ausgekundschafteten Grenzabschnitt westlich der Nera, einem Nebenfluss der Donau, der nach Ansicht Dr. Webers zu dieser Zeit vorübergehend weniger bewacht ist. Wegen einer Wehrübung seien die Posten nur knapp besetzt. Die beiden gehen an dieser Stelle tatsächlich unbemerkt ein paar Schritte nach Serbien hinüber und wieder zurück auf die rumänische Seite. Die Gelegenheit wäre also günstig gewesen. Willy Rist hätte sie wie geplant auf der serbischen Seite abholen können. Eine vergebene Gelegenheit, der Dr. Weber später noch lange ärgerlich nachgrübelt. Für Dr. Weber wird es jetzt noch enger, denn die Grenztruppen finden seine und Willy Rists provozierenden Spuren auf dem Grenzstreifen. Die Securitate lädt ihn eine Woche später vor. Er wehrt alle Verdächtigungen ab und weist die Offiziere darauf hin, dass der Grenzübertritt zum Pinkeln aus Versehen geschah und unbeabsichtigt war. Damit sei doch bewiesen, dass er keine Fluchtpläne hege, im Gegenteil, er wolle das Land nur legal verlassen. Wir schreiben das Jahr 1965. Es ist Frühjahr. Im Kreisgesundheitsamt trifft ein Brief vom Gesundheitsministerium in Bukarest ein mit einer Liste, auf der Epidemiologen aus ganz Rumänien aufgeführt sind, die zur Spezialisierung nach Bukarest entsandt werden sollen. Darauf steht zur großen Verwunderung seines Chefs Dr. Marius Pelle und der Securitate in Orawitz auch Dr. Helmut Webers Name. Er geht im September 1966 nach Bukarest, seine Frau ist schwanger. Ein Jahr lang wird er monatlich zwischen dem Banat und Bukarest pendeln und im Juli 1967 wieder in Orawitz sein. Die Einladung zur Weiterbildung bekommt er keineswegs zufällig. Dr. Weber, der Literaturrecherchen über Tollwut betrieben hat, wird eines Tages vom

Leiter des Programms zur Bekämpfung dieser Krankheit gebeten, in der Berggegend von Neumoldowa den Ursachen des Auftretens der Tollwut nachzugehen. Dr. Weber weiß aus einem Artikel in einer Fachzeitschrift, dass in Mexiko Forscher an Tollwut erkrankt sind, die sich in Höhlen aufgehalten haben, in denen Schwärme von Fledermäusen leben. Auch rund um Sicheviţa gibt es Höhlen mit Fledermäusen, in die sich die Bevölkerung während der Hitzeperioden zurückzieht. Der ärztliche Direktor, der das Programm zur Tollwutbekämpfung im Bukarester Ministerium für Gesundheit leitet, weiß von Webers wissenschaftlichem Interesse an diesem Thema und bittet ihn, mitzuarbeiten. Angeleitet vom Bericht über Tollwut bei Fledermäusen in Mexiko, sammelt Weber Köpfe von Fledermäusen in den Höhlen dieser Gegend, um sie in Glasbehältern, in verflüssigtem Stearin konserviert, zur Untersuchung nach Bukarest zu schicken. Die Überprüfung des eingesandten Materials bestätigt den Verdacht: Ein Teil der Fledermäuse ist tatsächlich Träger des Tollwuterregers. Während des Weiterbildungskurses bietet der Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Inframikrobiologie „Stefan Nicolau“ Dr. Weber einen Posten in Bukarest an. Er fragt ihn, was er denn bei diesen Dummköpfen in der Provinz für Perspektiven habe. Am Lehrgang nehmen 15 ausgewählte Epidemiologen teil. Sie sind im Studentenwohnheim am Ufer der Dâmboviţa relativ komfortabel in Vier-BettZimmern untergebracht. Dr. Weber besitzt ein Transistor-Kofferradio. Das Risiko, von Kollegen im Studentenwohnheim wegen Empfangs westlicher Sender angezeigt zu werden, ist groß. Dr. Weber hört vorsichtshalber nur deutsche Sender, denn außer dem deutschen Programm rumänischer Sender sind auch solche aus der DDR zu empfangen, so dass die Kollegen, die alle kein Deutsch verstehen, zwar vermuten, aber nicht sicher sind, dass er regelmäßig auch Westsender hört. Spannend wird die Situation mit den sich überstürzenden Nachrichten aus China, wo die „Kulturrevolution“ in vollem Gange ist, sowie dem sich anbahnenden Sechs-Tage-Krieg im Nahen Osten. Selbst treueste Parteigenossen unter den Kollegen sind neugierig und kommen mit der Bitte zu Dr. Weber, Radio „Freies Europa“ und andere Westsender in rumänischer Sprache hören zu können. Dr. Weber leiht das Radio den linientreuen Genossen aus, um so nicht für den illegalen Empfang verbotener Sender verantwortlich zu sein. Sein Interesse gilt jetzt hauptsächlich der bevorstehenden Geburt seines ersten Kindes. Am 3. Juni 1967 kommt Tochter Sigrid zur Welt. Seine Schwägerin schickt ihm das erfreuliche Telegramm: „Mutter und Tochter gesund“. Auf seine Fragen an die linientreuen Genossen, die sein Radio ausgeliehen haben, was sie zu den Ereignissen in China oder Israel meinen, bekommt er keine klare Antwort. Sie haben keine Meinung und sagen: „Erst nach dem Parteitag werden wir wissen, was richtig ist“. Für diese Kollegen ist die Partei allwissend, hat immer recht und macht alles richtig. Eine eigene Meinung ist da

nicht gefragt, auch nicht erlaubt, eher gefährlich. Denken und Handeln der Genossen werden von der Partei bestimmt. Der „Typus des neuen Menschen“ ist bei diesen Genossen verwirklicht, selbständiges politisches Denken verboten, abgeschafft. Widerspruch zu Parteiparolen ist undenkbar, lebensgefährlich. Entsprechend der Parteilinie ist selbstverständlich Israel der Kriegstreiber. Auf die Frage, wieso ein so kleiner Staat mit zahlenmäßig unterlegenen Streitkräften Interesse an einem Krieg haben kann, heißt es, die Amerikaner steckten dahinter. Nur mit deren Hilfe siege Israel. Die USA sind am Übel dieser Welt schuld, aber der Kommunismus wird siegen.

Im Trainingslager des Geheimdienstes

Während des Sechs-Tage-Krieges vom 5. bis 10. Juni 1967 zwischen Israel auf der einen und Ägypten, Jordanien und Syrien auf der anderen Seite leiht sich auch ein jüdischer Kollege, der sich mit Dr. Weber und weiteren zwei Ärzten das Zimmer teilt, das Radio aus, um den Kriegsverlauf verfolgen zu können. Das Radio bringt Dr. Weber so nun doch Ärger ein. Die Securitate wirft ihm Agitation für den Westen vor. Doch er ist schon deren Mitarbeiter, und alle weiteren Anschuldigungen verstummen plötzlich. Denn der Geheimdienst hat ihn schon im November 1966 ins Haus des Zentralen Armeesportklubs in Bukarest bestellt. Dort empfängt ihn ein athletischer Typ in Trainingsanzug. Dieser ist Offizier und Ausbilder im Trainingslager der Securitate und überzeugt Dr. Weber mit unmissverständlichen Argumenten, einen Vertrag zu unterschreiben und an einem Spionage-Lehrgang teilzunehmen, denn eine Alternative dazu gebe es nicht, wolle er seine Frau wiedersehen. Der stellvertretende Gesundheitsminister Ştirbu kann sein Angebot, Dr. Weber in Bukarest zu beschäftigen, nicht aufrechterhalten, weil Dr. Weber 1964 einen Ausreiseantrag gestellt hat. Ştirbu rät ihm, den Antrag zurückzuziehen, doch er lehnt ab, denn er will nach Deutschland ausreisen. Dr. Weber ist voll beschäftigt mit dem Lehrgang, den Forschungen im Labor und abends mit dem Spionagelehrgang, zu dem neben Theorie auch brutaler Kampfsport, Übungen mit Waffen und Sprengmaterial gehören. Dr. Weber hat jetzt einen Securitate-Ausweis, der ihm fast alle Türen öffnet. Er hat ein zusätzliches Taschengeld, besucht Theatervorführungen, geht in Konzerte, trifft auch wieder Richard Oschanitzky, der nach Abschluss seines Studiums Dirigent des Rumänischen Rundfunkorchesters wird und nebenbei Jazz am Klavier in Bukarester Luxusrestaurants spielt, insbesondere bei offiziellen Empfängen von Gästen der Regierung aus dem westlichen Ausland. Im April 1967 ist es in Bukarest schon recht warm. Im Stadtteil Fundeni werden neue Kliniken gebaut. Es ist ein Prestigeobjekt, auf das Partei- und Staatschef Nicolae Ceauşescu ein Auge wirft. Eines Tages kommt die alarmierende

Nachricht: Auf der Baustelle ist Typhus ausgebrochen. Unter den für die Baustelle Verantwortlichen geht die Angst um. Einige hundert Arbeiter sind schon erkrankt. Dr. Weber besichtigt im Auftrag von Professor Ştirbu die Baustelle und findet defekte Leitungsrohre in der Trinkwasserversorgung und überlaufende Latrinen. Die Arbeiter trinken verunreinigtes Wasser, die hygienischen Zustände sind katastrophal. Die Ursache ist somit rasch gefunden, aber noch längst nicht beseitigt. In dieser Zeit erfährt Dr. Weber von einem Kollegen, der seinerseits zuständig ist für Lebensmittelkontrollen, über schlimme Zustände in einer Bukarester Bierfabrik. Auch dort hat die kommunistische Misswirtschaft Unheil angerichtet. Verschobenes und gestohlenes Bier wird durch Nachfüllen von Wasser in die Biertröge ersetzt. Weil jemand jedoch vergisst, das Wasser rechtzeitig abzustellen, laufen die Tröge über, aus dem Kanalsystem kommen massenhaft Ratten in die Brauerei. In vier der insgesamt zwölf riesigen Tröge der Brauerei schwimmen eines Morgens unzählige Rattenkadaver. In der Brauerei kommt Dr. Weber die Idee: Mit Bier könnte er die Typhusepidemie auf der Krankenhausbaustelle gut bekämpfen. Er schlägt dem Brauereidirektor einen Kompromiss vor. Von Ratten will er nichts gesehen haben, wenn der Direktor ihm das verdünnte Bier aus den noch rattenfreien Zisternen überlässt. Der Direktor akzeptiert den Vorschlag. Das Bier wird weiter verdünnt und soll auf der Baustelle den Arbeitern ausgeschenkt werden. Dr. Weber bescheinigt im Gegenzug dem Brauereidirektor, dass das verseuchte Bier entsprechend den Vorschriften entsorgt worden wäre. Auf Dr. Webers Empfehlung unterbricht der Bauleiter die Wasserzufuhr, besorgt Limonade und Mineralwasser, und Dr. Weber lässt das Bier kommen. Eine Woche lang gibt es auf der Baustelle kein Leitungswasser, nur dünnes Bier, Limonade und Mineralwasser aus Zisternen und Flaschen zu trinken. Danach gibt es keine neuen Krankheitsfälle mehr. Der Baustellenleiter lässt in dieser Zeit die Wasserleitungen reparieren; die Zahl der Zapfstellen wird um die Hälfte reduziert, um alles besser unter Kontrolle zu haben. Die Epidemie ist gestoppt. Am Ende des Spezialisierungskurses steht eine Prüfungsarbeit. Aus einer Auswahl mehrerer verschlossener Briefumschläge wird von einer Kollegin das schriftliche Prüfungsthema gezogen, die Epidemiologie der Masern. Die Arbeiten werden anonymisiert abgegeben. Benotet werden sie von 1 bis 20. Die beste Note ist die 20, eine 14 heißt nicht bestanden. Ştirbu, der stellvertretende Gesundheitsminister und Lehrgangsleiter, stellt die Ergebnisse vor den versammelten Kollegen in der Reihenfolge der Noten vor. Erst bedauert er das schlechte Abschneiden von zwei Kollegen. Die besten Ergebnisse stellt er zum Schluss vor. Abschließend sagt er: „Und jetzt kommt eine Arbeit, die mir in Erinnerung bleiben wird“. Nach Eröffnung des Siegels verstummt er mit langem Gesicht

und ergänzt trocken, „es ist Dr. Webers Arbeit“. An den Gesichtszügen ist Ştirbus Enttäuschung zu erkennen. Es wäre ihm lieber gewesen, die Arbeit stammte aus einer anderen Feder. Der Lehrgang ist endlich vorbei, und Dr. Weber kann endlich zu Frau und Tochter nach Temeswar zurückkehren. Er wird vom 15. bis 18. November 1967 nochmals zur Prüfung in Bukarest sein, die er erfolgreich besteht. Als Facharzt für Epidemiologie wird er ab sofort die Abteilung für Epidemiologie im Kreis Karasch-Severin leiten. Nach der Rückkehr aus Bukarest sieht Dr. Weber zum ersten Mal seine sechs Wochen alte Tochter Sigrid. Nun hat er eine richtige Familie, ein großes Gefühl mit neuer Verantwortung. Sigrid ist ein sehr zarter Säugling, der trotz bester Fürsorge und Pflege nur zögerlich gedeiht. Um das Kind optimal betreuen zu können, arbeitet die Mutter nach der Entbindung in einem Büro in Temeswar als technische Zeichnerin und nicht mehr in der mit Narkosegasen belasteten Atmosphäre des Operationssaals des Kreiskrankenhauses in Orawitz. Durch die vereinten Bemühungen von Mutter und Großmutter entwickelt sich Sigrid im Spätsommer 1967 zur Freude der Familie in Haus und Hof der Großeltern immer besser. Dr. Weber pendelt jetzt mit seiner BMW zwischen Temeswar und Orawitz über eine Straße voller Dauerbaustellen. Landwirtschaftsmaschinen, Pferdegespanne, Gänse und Schafherden, unzählige Schlaglöcher und ausgefranste Straßenränder sowie morastiger Belag behindern den Verkehr der überlasteten, unfallträchtigen Landstraße. Der Vater des Studienkollegen Dr. Uwe Kleitsch verliert auf dieser Straße bei einem Motorradunfall ein Bein, weil er eine am Straßenrand ungesichert und unbeleuchtet abgestellte Baumaschine streift. Bei einem Autounfall auf dem Heimweg schleudert der Wagen einer Arztfamilie aus Orawitz auf Kies und Geröll gegen einen Baum. Alle Familienmitglieder sind tot. Auch Dr. Weber soll bald erfahren, wie gefährlich diese Straße ist. An einem Freitag, nach der Rückkehr von einer anstrengenden Dienstreise in den Banater Bergen, durchgeschüttelt im Dienstwagen des Hygieneinstituts Orawitz, fährt Dr. Weber mit seiner BMW noch spät abends nach Temeswar. In der Dunkelheit muss er sehr vorsichtig sein, nicht nur wegen der bekannten Unwägbarkeiten, sondern auch wegen des häufigen Wildwechsels in der Gegend um Orawitz. Es ist trocken, aber bewölkt, die unbeleuchtete Straße ist stockdunkel. Anfangs kommt er gut vorwärts. Die kurvenreiche Straße ist frei, lediglich ungesicherte Baustellen und Schlaglöcher behindern die Fahrt. Dr. Weber hat schon mehrere im Schlaf versunkene Dörfer hinter sich, da taucht plötzlich ein Pferdegespann im Scheinwerferlicht auf, danach ein zweites. Als er einen der schwer beladenen Wagen überholen will, bäumen die Pferde, um anschließend loszugaloppieren. Die Hinterachse des Leiterwagens schleudert ruckartig nach links, und Dr. Weber kracht mit der BMW voll gegen das linke Hinterrad. Er wird im hohen Bogen über Wagen geschleudert und bleibt bewusstlos am rechten Straßenrand liegen. Nach etwa 30 Minuten kommt

er wieder zu sich, geblendet vom Scheinwerferlicht eines schweren Lkw. Der Lkw-Fahrer rüttelt ihn und ruft, „was fällt dir ein, dich hier auszuruhen, fast hätte ich dich geplättet, steh auf, oder ich muss dich in die Leichenhalle fahren“. Seine Rettung war der Sturzhelm und die im Straßengraben liegende BMW, deren Motor weiter tuckerte. Der Lkw-Fahrer hat zuerst das Rücklicht gesehen und erst dann die am Straßenrand liegende Gestalt. Der Fahrer verständigt auf Dr. Webers Bitte einen ehemaligen Kollegen vom Gymnasium, der in jener Zeit leitender Agraringenieur in der nahen Gemeine Großscham ist. Dieser kommt sofort zur Unfallstelle, lässt Dr. Weber samt Motorrad mit einem Lkw in eine Werkstatt nach Temeswar fahren. Dort entpuppt sich der Schaden als tiefe Kerbe im Tank. Das Wagenrad mit dem eisernen Reifen hat Webers rechtes Knie nur um eine Handbreite verfehlt. Die Abenteuer und Erlebnisse auf der Landstraße und am Arbeitsplatz während der Orawitzer Zeit notiert sich Dr. Weber in einem Tagebuch. Diese Aufzeichnungen müssen wegen ihres brisanten politischen Inhalts geheim gehalten werden. Niemand weiß davon. Es entstehen daraus nach und nach mehrere Kurzgeschichten und Erzählungen, die den bedrückenden Alltag des kommunistischen Systems und die darunter leidenden Menschen schildern. Als Dr. Webers Großonkel Hans Seebacher aus Linz in Österreich zu Besuch bei Familie Weber in der Leningrader Straße (früher Gaşpar-Mihai- und Sorin-Titel-Straße) in Temeswar weilt, erklärt sich dieser bereit, eines der Manuskripte mitzunehmen und in Österreich der freien Presse zur Veröffentlichung anzubieten. Readers Digest teilt Weber per Post mit, eine der Kurzgeschichten drucken zu wollen. Der Verlag bittet Weber um sein Einverständnis. Dem Brief folgt ein kleines Geschenk: ein Füllfederhalter und ein Kugelschreiber. Jetzt ist Dr. Weber klar, dass höchste Gefahr droht. Er muss die Notizen verstecken, am besten vernichten. Während einer Kontrollfahrt zu den Schnapsbrennereien in der Umgebung von Orawitz übernachtet Dr. Weber bei einem befreundeten Bauern und übernimmt die Überwachung der Feuerstelle der Brennerei. Unbeobachtet kann er dort die Manuskripte verfeuern. Einige Tage später erfolgt eine Wohnungsdurchsuchung, und die Securitate stellt ihn wegen der Post von Readers Digest zur Rede. Nur mit Mühe kann er sich aus der Affäre ziehen. Im Winter 1967/68 geht es Dr. Weber schlecht. Er ist in den Bergdörfern bei Sicheviţa auf Inspektion, wo ihn der Wintereinbruch mit einem Schneesturm überrascht. Er kann tagelang nicht weg, die Dörfer sind von der Umwelt abgeschnitten. Die Lebensbedingungen der Leute sind ärmlich bis primitiv. Viele Menschen mit Lücken und Fehlstellungen der Zähne fallen ihm auf. Angesichts des Elends und der trüben Zukunft nehmen Dr. Webers Fluchtpläne jetzt immer konkretere Formen an. Die Sorgen kreisen um Frau und Tochter. Wie kommen sie am besten unbeschadet und so schnell wie möglich über die Grenzen bis nach Österreich? Es gibt vieles zu bedenken. Er grübelt oft bis tief in die Nacht.

In Neumoldowa begegnet Dr. Weber in den letzten Monaten immer mehr deutschen Kollegen. Dem Chirurgen Horst Mußar, dem Radiologen Herbert Gion, dem HNO-Spezialisten Heinz Noll. Sie alle sind in den letzten Monaten hierher versetzt worden. Sollten sie ähnliche Hintergedanken haben wie er? Es verbietet sich, danach zu fragen, im Interesse der eigenen Sicherheit. Im Sommer 1968 verkauft Dr. Weber seine BMW, um deutsches, österreichisches und serbisches Geld eintauschen zu können, das ihm sein Großonkel aus Linz mitbringt.

Langes Warten auf ein Schlauchboot

Inzwischen planen Dr. Weber und sein Freund Dr. Walther Achs weiter. Sie meinen, der Weg über die Donau sei der bessere. Es dauert ein Jahr lang, bis sie im Besitz eines Schlauchboots sind. Walthers Vater ist Abteilungsleiter eines Konsumgütervertriebs und besorgt ihnen ein Boot. In den Sommermonaten 1968 und 1969 üben sie wochenlang auf der Temesch, um das Boot mit den Paddeln beherrschen zu lernen. Anfangs ist es zum Verzweifeln. Das kleine Schlauchboot dreht sich wie wild in der reißenden Strömung des Flusses, es ist kaum zu bändigen. Das Boot kentert immer wieder, bis sie paddeln können. Aber auch das Aufblasen will gelernt sein. Anfangs benötigen sie eine Stunde, um genügend Luft über einen gebastelten Gummischlauch mit Motorradventil in die zwei getrennten Luftkammern zu pusten. Das Üben lohnt sich: Zum Schluss reicht eine knappe Viertelstunde, ohne dass ihnen dabei allzu schwindlig wird. In Orawitz bekommt Dr. Weber inzwischen eine Gelegenheit, sich als Arzt zu bewähren. Ins Epidemiespital wird eine Hochschwangere mit Verdacht auf Gelbsucht eingeliefert. Weber untersucht sie und stellt fest, es handelt sich nicht um eine infektiöse, ansteckende Gelbsucht, sondern um eine hormonell bedingte Schwangerschaftsgelbsucht, die nach der Geburt ohne Behandlung wieder abklingt. Weber setzt sich mit seinem ehemaligen Chef, Professor Theodor Vladimir Buşilă, in Verbindung. Buşilă, der Dr. Weber schon an der Hochschule in Temeswar ins Herz geschlossen hat, rät ihm, einen Artikel in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Dr. Weber folgt dem Rat und sichert sich als Mitautoren Professor Buşilă und die Ärztekollegin Dr. Doina Stănescu, mit der er seine antikommunistische Einstellung teilt. Der Artikel erscheint, die Position Webers gegenüber der Securitate und seinem Chef im Hygieneinstitut Orawitz festigt sich. Das ist auch notwendig, denn inzwischen hat in Rumänien eine Gebietsreform stattgefunden. Die 16 Landesregionen mit den vielen Rayons sind aufgelöst, das Land ist jetzt in 39 Kreise aufgeteilt. Dr. Webers neue Zentrale ist jetzt in Reschitz, in der Banater Stahlfeste. Jetzt bekommt er es auch mit zusätzlichen Securitate-Offizieren und einem neuen Dienstchef zu tun. Letzterer ist zwar mit einer Deutschen verheiratet, aber Deutschenhasser.

Im Uranbergbau von Ciudanoviţa herrschen unbeschreibliche Zustände. Direktor Marius Pelle schickt Dr. Weber zur Kontrolle ins Bergwerk. Er muss auch die Arbeitsbedingungen beim Urantransport im Hafen von Neumoldowa kontrollieren. Er stellt fest, dass nur ein Teil des begehrten Erzes nach Russland geht, der weit größere Teil aber für harte Währung in den Westen geliefert wird. Auch um die abgeschiedenen Bergwerkdörfer im Gebiet Sicheviţa muss er sich weiter kümmern. Er gelangt jetzt in eine abgelegene Gegend, in der die Mehrheit der Bergarbeiter an Siliko-Tuberkulose, der schwersten Form einer sogenannten Staublunge, leiden. In einigen abgelegenen und schwer zugänglichen Orten der Gegend, in den Bergen nördlich von Sicheviţa, sind Missbildungen wegen Verwandtschaft sehen häufig. Die Behausungen sind ärmlich, die Hütten mit Maislaub gedeckt. Bei der Ankunft am Sanitätsstützpunkt trifft er einen Sanitäter an, der nur einen schon eher grauen als weißen Kittel, und darunter lediglich eine Unterhose mit einem gelben Fleck vorne und einem braunen Streifen hinten trägt. Mit einer einzigen Spritze impft dieser „Sanitäter“ alle Patienten. Die Kanülen trägt er im Kragen seines Kittels. Ein Greis undefinierbaren Alters fragt Dr. Weber auf der Dorfstraße, wie es denn Kaiser Franz Joseph noch gehe. Eine Eisenbahn hat noch keiner der Dorfbewohner gesehen. Dr. Webers Bericht über die Zustände unter Tage und in den Ortschaften der Gegend löst in der Chefetage des Zentralen Gesundheitsamtes einen Riesenkrach aus. Denn er hat die Wahrheit festgehalten, die aber will niemand hören. Sein neuer Chef im Kreisgesundheitsamt in Reschitz bestellt ihn zum Rapport. Der Chef bekommt einen Tobsuchtsanfall. Dr. Weber sagt dem Chef, er sei nicht nach Reschitz gekommen, um sich anbrüllen zu lassen, und schon gar nicht, um sich inkompetenten Anweisungen zu fügen. Der Chef lässt ihn wissen, er könne diesen Bericht nicht annehmen. Dr. Webers stellt seinem Chef frei, den Bericht umschreiben, ob er, Dr. Weber, ihn dann aber noch unterschreiben könne, müsse er abwarten. Dr. Weber handelt sich mit diesem Verhalten eine Strafe ein. Er wird von Orawitz nach Neumoldowa versetzt und erhält den Auftrag, sich mehr um die Bergleute in der Gegend von Sicheviţa zu kümmern, deren Schicksal er als so erbärmlich geschildert habe und für das er mitverantwortlich sei. Eine inzwischen nach Sicheviţa versetzte ungarische Ärztekollegin empfängt Dr. Weber bei seinem ersten Besuch mit der Nachricht, sie beabsichtige nicht, dort zu bleiben, sie wolle so schnell wie möglich aus dieser Gegend mit derart aussichtslos katastrophalem Gesundheitszustand der Bevölkerung zurück in ihre Heimat nach Neumarkt am Mieresch. Dr. Weber versucht, so gut er nur kann, korrekt zu arbeiten. Als nicht vertrauenswürdiges „Element“ muss er besser sein als andere und durch Leistung überzeugen. In Sicheviţa erlebt er, wie zwei Ärzte aus Reschitz zur Kontrolle anrei-

sen. Sie haben aber nichts anderes im Sinn, „als zu fressen und zu saufen“. Die ungarische Ärztin bemüht sich, ein paar Hühner aufzutreiben und ein Essen zuzubereiten. Die angereisten Inspektoren kümmern sich tatsächlich um nichts. Nach durchzechter Nacht unterschreiben sie, alle Mängel ignorierend, Dr. Webers Protokolle unbesehen und wünschen ihm weiter gute Erfolge. Zwei Wochen später ist Dr. Weber erneut in Sicheviţa. Die ungarische Ärztin ist weg; als neuer Kreisarzt ist der Siebenbürger Sachse Dr. Walther Schuschnigg gekommen. Es zeigt sich schnell, dass Schuschnigg ebenfalls flüchten will. Sicheviţa, nahe zum Donauufer gelegen, wäre ein guter Ausgangspunkt für die Flucht. Dr. Weber nimmt sofort Verbindung zu den geflüchteten Freunden Stefan Pinkert und Dieter Stein in Deutschland auf und vereinbart einen Treffpunkt am serbischen Donauufer. Auf der Straße entlang des serbischen Donauufers, an der Stelle gegenüber der Mündung eines kleinen Donauzuflusses auf der rumänischen Seite, etwa 5 Kilometer südlich von Sicheviţa, sollten sie zwischen Mitternacht und 3 Uhr Dr. Walter Achs, Dr. Weber mit Frau und Tochter sowie Schuschnigg mit Frau erwarten. Sie sollten sie alle, nachdem sie über die Donau geschwommen sind, aufnehmen und nach Deutschland fahren. Bald darauf kommt Dr. Walther Achs nach Orawitz zu Besuch, um die Flucht zu wagen. Dr. Weber und Dr. Achs fahren zu Schuschnigg nach Sicheviţa, um die Lage zu erkunden. Doch Schuschnigg hat inzwischen kalte Füße bekommen und ist nicht wie vereinbart in seiner Praxis anzutreffen. Sie verbringen den Abend in der Arztwohnung, verlassen diese um 21 Uhr, gehen erst einige Kilometer auf der menschenleeren Dorfstraße in Richtung Donau und erreichen kurz vor Mitternacht, jetzt im ausgetrockneten Bett des aus Sicheviţa kommenden Baches, das Donauufer. Vorsichtig, wie in den Büschen an der Temesch geübt, schleichen sie den ausgetrockneten Bach entlang weiter bis zum Donauufer. Bald merken die beiden, dass sie beobachtet werden. Sie eilen auf leisen Sohlen im Schutze der Dunkelheit zurück, steigen durchs vorsorglich nicht verschlossene Fenster wieder ins Arzthaus ein und legen sich rasch in die Betten. Etwa 15 Minuten später hören sie hastige Schritte und Stimmen einer Grenzpatrouille im Gespräch mit einem Wachtposten vor dem Ärztehaus. Im nächsten Augenblick hämmern die Grenzer mit den Fäusten an die Schlafzimmertür. Dr. Weber öffnet mit vorgetäuscht verträumtem und vorwurfsvollem Gesicht. Die Häscher haben lange Gesichter. Die vermeintlich Flüchtigen stehen in Schlafanzügen vor ihnen. Auch der Wachtposten vor dem Ärztehaus bestätigt, dass niemand das Haus verlassen hätte. Beide sind durchs Hinterfenster unbemerkt ins Haus zurückgekehrt. Der Suchtrupp ist zu spät gekommen. Dieses Abenteuer endet noch einmal gut. Stefan Pinkert und Dieter Stein warten leider vergeblich mit dem Pkw am serbischen Donauufer. Bei Anbruch der Morgendämmerung treten sie die Heimreise an. Eines Tages versucht die Securitate Dr. Weber eine Falle zu stellen. Er ist auf

der Donauinsel Ostrov, um die Molkerei der Schafhirten zu kontrollieren. Dr. Weber übernachtet mit den Hirten auf der Insel. Die Grenzsoldaten werden bei Wachwechsel abgeholt, aber Dr. Weber wird zurückgelassen. „Das war Absicht, sie hätten es gerne gesehen, dass ich einen Fluchtversuch unternommen hätte.“ Gegen 4 Uhr weckt ein Hirte Dr. Weber, die Grenzer sind da, sie wollen ihn sehen. Der Hirte sagt Dr. Weber, die Soldaten seien schon die ganze Nacht unterwegs und hätten immer wieder vorbeigesehen. Weil Dr. Weber den von Grenzern und Securitate erhofften Fluchtversuch nicht unternimmt, fahren sie ihn am nächsten Morgen von der Insel zurück in sein Hafenbüro.

In Handschellen abgeführt

Dr. Weber kann die ihm zugeteilte Wohnung in Neumoldowa noch nicht beziehen - sie ist noch Baustelle. Deshalb übernachtet er bei seinem Assistenten Gheorghe in Neumoldowa. Eines frühen Morgens im August 1968 hört er lautes Klopfen am mächtigen Eingangstor des Hauses. Nach einigen Minuten banger Vermutungen stürmt ein Securitate-Major mit Begleitung ins Zimmer und nimmt Dr. Weber „im Namen des Volkes“ fest. Er legt ihm Handschellen an und bringt ihn nach langer nächtlicher Fahrt über Berg und Tal nach Reschitz. In der Kaserne der Securitate schubsen und stoßen ihn Mitarbeiter in einen finsteren Kellerraum, der lediglich ein vergittertes Oberlicht als Luftloch hat. Es vergehen zwei Tage, in denen Dr. Weber außer seinem stummen Bewacher nichts sieht. Der Bewacher sitzt ihm gegenüber an einem leeren Schreibtisch, starrt ihn ab und zu an oder geht auf und ab. Einmal täglich wird ihm ein Blechnapf mit Maisbrei gereicht. Der Raum ist lediglich mit Tisch und Stuhl ausgestattet, ein Bett fehlt. Nach zwei Tagen taucht ein Offizier auf und gibt Dr. Weber die bei der Festnahme weggenommene Reisetasche zurück. Er fragt ihn nach seinem Namen und den Namen der Eltern und Großeltern. Er möchte wissen, warum er, Weber, Rumänien habe illegal verlassen wollen und ob er sich dessen bewusst sei, dass ein illegaler Grenzübertritt Vaterlandesverrat bedeute und dieses Vergehen streng bestraft werde. Dann ist Dr. Weber wieder allein. Vom Hof hört er durchs Luftloch entsetzliche Schreie, begleitet von klatschenden Schlägen. Ein Offizier betritt den Raum und schweigt wieder stundenlang. Der Dr. Weber schon bekannte Major löst diesen Offizier ab. Er beschimpft Dr. Weber und flucht, schlägt ihm einmal gegen den Kopf und droht mit Prügel. Dann geht er wieder. Das wiederholt sich mehrmals - eine Woche lang. Als Dr. Weber seine Tragetasche wieder hat, entnimmt er ihr Essen, doch das sieht der Aufseher, der ihm prompt die belegten Brote wegnimmt. Danach kommt ein bisher nicht an der Befragung beteiligter Polizeioffizier und fragt, wie er sich fühle. Dr. Weber ist erstaunt über die unerwartet höfliche Nachfrage

und sagt ihm, er sei sehr durstig. Der Polizist erlaubt ihm, die zu dem Raum gehörende Toilette zu betreten. Weil es keinen Wasserhahn gibt, steigt Weber auf die Toilettenmuschel und trinkt Wasser aus dem Spülkasten. Als er die Toilette verlässt, sagt der Polizist, er hätte nichts gesehen. Dr. Weber ist richtig hungrig - er kramt in seiner Tasche, entdeckt einen Apfel und isst ihn. Der erste Bissen nach drei Tagen. Mehr ist ihm nicht geblieben. Am Nachmittag setzt der Geheimdienst das Verhör fort. Der Offizier möchte wissen, ob er auch gesehen habe, was am Morgen auf dem Hof geschehen sei, und fügt sofort hinzu, wenn er nicht geständig sei, werde es ihm genau so ergehen. Am Nachmittag setzt wieder das Jammern auf dem Hof ein. Dr. Weber zieht sich am Gitterfenster hinauf und sieht, wie zwei Polizisten mit Ketten auf einen Mann einprügeln. Er hört, wie einer der Polizisten zu dem Gepeinigten sagt: „Idiot, sag, wo du das Gold versteckt hast, und du bist frei“. Dann ist es plötzlich still. Der Geschlagene gibt keinen Ton mehr von sich. Dr. Weber hört, wie einer der beiden Polizisten sagt: „Du bist ein Esel, warum hast du ihn erschlagen?“ Der Angesprochene entgegnet: „Was willst du denn, jetzt ist der Fall wenigstens aufgeklärt und abgeschlossen, und wir sind um einiges reicher“. Die beiden Totschläger haben sich die Wertsachen des Erschlagenen, vermutlich auch das Gold angeeignet. Um das zu vertuschen, haben sie ihn erschlagen.

Schauprozess

Ende der zweiten Woche taucht in der Zelle ein weiterer Securitate-Offizier auf, schlägt dem übermüdeten und auch schon etwas benommenen Dr. Weber gegen den Kopf und fordert ihn auf, ein Papier zu unterschreiben. Er unterschreibt, ohne zu wissen, was auf dem Papier steht. Auf seine Frage, „darf ich erst lesen“, nimmt der Offizier zum Schlag aus und brüllt, „semnează imediat - unterschreibe, sofort“. Am nächsten Morgen wird er aus der Zelle geholt. In Handschellen fahren ihn Securitate-Schergen ins Kultur- und Arbeiterhaus der Stadt Reschitz. Der Schauprozess beginnt um 14 Uhr. Der Versammlungssaal im Arbeiterhaus ist voll besetzt. In der ersten Reihe sitzen Dr. Webers Mitarbeiter aus Orawitz und Reschitz. Neben seinem früheren Chef Marius Pelle ist ein Platz frei für Dr. Weber. Ein Securitate-Offizier überreicht ihm seine persönlichen Sachen. Dr. Weber nimmt Platz neben Pelle. In der Riege der Securitate-Leute, die auf der Bühne Platz genommen haben, ist auch der Offizier, der Weber genötigt hat, das Papier zu unterschreiben. Er leitet den Prozess, ergreift das Wort und teilt den Versammelten mit, er eröffne das Volksgericht gegen Weber. Der muss sich erheben und zum Publikum wenden. Der Offizier fragt, wie oft er die Grenze überschritten habe und beschuldigt ihn des Vaterlandverrats. Es folgen zahlreiche teils gleichlautende Verleumdungen aus dem Auditorium von Personen, die Dr. Weber nicht kennt. Die Anklage endet mit der Feststellung des

Securitate-Offiziers, jetzt wisse jeder, dass Weber ein Verbrecher sei. Danach betreten Dr. Webers Chef Pelle, „eigentlich kein schlechter Mensch“, und Traian Bucăţea, Leiter des Hygiene-Instituts Reschitz, die Bühne und fügen weitere Anschuldigungen hinzu, mit der Anmerkung, dass fachlich an Weber nichts auszusetzen und damit sein illoyales Verhalten der Partei gegenüber umso bedauerlicher sei. Dr. Weber muss während des ganzen Schauprozesses stehen. Mehrere Bekannte, aber auch Unbekannte ergreifen das Wort und schildern erneut, jetzt sehr ausführlich, die angeblichen Untaten und das unkollegiale Verhalten Webers, das sie angeblich täglich erlebt haben. Die übliche Anrede „Genosse“ lassen sie stets weg. Sie bezeichnen ihn immer wieder als Staatsfeind und Verräter, beschimpfen ihn und behaupten, er wäre der Republikflucht überführt worden. Sein langjähriger Ex-Chef Pelle hat den Auftrag, Dr. Weber zu charakterisieren. Er nennt ihn einen Staatsfeind, Verräter und Republikflüchtling. Während eines unbeobachteten Moments gibt Pelle Dr. Weber Handzeichen, mit denen er ihm bedeutet, dass er nach dem Schauprozess nicht verhaftet wird. Um den Schein zu wahren, erteilt der Vorsitzende Securitate-Offizier Dr. Weber das Wort. Er muss jetzt so tun, als ob er alles bereute. Er beteuert, dass er ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlagen wolle. Der Vorsitzende resümiert, ein Klassenfeind sei hiermit hoffentlich erfolgreich zur Ordnung gerufen worden. Ein Securitate-Offizier droht Dr. Weber anschließend, er solle sein Leben sofort und radikal ändern und sich den Richtlinien der Partei unterordnen, sonst werde er für immer von Frau und Kind getrennt. Damit ist die Versammlung aufgehoben; die Leute dürfen den Saal verlassen. Der Securitate-Offizier, der ihm die Unterschrift abgenötigt hat, befiehlt Dr. Weber, zu verschwinden. Von all dem, was seit der Verhaftung in Neumoldowa geschehen ist, weiß in Temeswar niemand, auch Dr. Webers Familie nicht. Seine Frau ist noch in Temeswar tätig und wohnt bei den Eltern in deren Haus in der Schweiz-Gasse 87 (heute Brâncoveanu-Straße). Dr. Weber verlässt in Begleitung seines Assistenten Petru Lungu das Arbeiterheim. Lungu hat den Auftrag, Dr. Weber nach Hause zu begleiten. Es ist Freitagnachmittag, ein milder, sonniger Oktobertag. Dr. Weber geht als erstes in eine Gaststätte und bestellt Mici (Ćevapčići) und ein Bier. Lungu setzt sich einfach zu ihm an den Tisch, betrachtet sich als eingeladen und greift unverschämt und fleißig zu. Dr. Weber teilt Lungu mit, er brauche nicht zu warten, denn er fahre nicht nach Orawitz, sondern nach Temeswar. Gegen 17 Uhr geht Dr. Weber in Richtung Bahnhof und trifft überraschend seinen Gymnasialkollegen und Freund Adolf Rittersporn, der mit Familie in Reschitz wohnt und arbeitet. Er lädt Dr. Weber ein, bei ihm zu übernachten. Er sagt Dr. Weber, er habe auch ins Arbeiterhaus zum Prozess gewollt, habe aber nicht gewusst, worum es sich handelt. Wegen des großen Andrangs sei er nicht mehr eingelassen worden.

Nach einer Übernachtung bei Adolf fährt Dr. Weber am nächsten Tag nach Temeswar. Was geschehen ist, behält er für sich. Zurück im Dienst in Orawitz, trifft Weber Bucăţea bei Pelle in hitziger Diskussion. Bucăţea, sein jetziger Chef, meint, „du bist noch einmal davongekommen. Das Volkstribunal sollte dich lediglich disziplinieren. Hast noch einmal Glück gehabt, obwohl eine maßgebliche Entscheidungsträgerin meint: ›Warum soviel Aufhebens, lasst ihn doch einfach verschwinden‹. Also Vorsicht, von nun an darfst du dir den Mund nicht mehr verbrennen“. Bucăţea bestätigt Dr. Weber, er sei jetzt offiziell mit der zusätzlichen Aufgabe betreut, den Sanitätsdienst im Hafen von Neumoldowa zu versehen und zum Hafenarzt ernannt. Dr. Weber weiß genau, dieser Dienst wird von der Securitate besonders überwacht. Nach längerem Hin und Her bekommt Dr. Weber auch schriftlich vom Amt für Raumordnung eine Zweizimmerwohnung in einem der zehn neuen Plattenbauten zugewiesen, die demnächst in der Nähe des Hafens von Neumoldowa bezugsfertig werden sollen. Im selben Wohnblock werden auch der Securitate- und der Polizeichef von Neumoldowa einziehen, der eine im Erdgeschoss, der andere im ersten Stockwerk. Beide sagen es Dr. Weber direkt: „Wir haben auch die Aufgabe, dich zu beschützen“. Auch Dr. Webers Frau wird in Neumoldowa keinen Schritt tun können, ohne beschattet zu werden. Die Arbeit, die Dr. Weber zusätzlich im Sanitätsdienst des Hafens von Neumoldowa versehen muss, hilft ihm beruflich weiter. Er kommt an ausländische Medikamente heran, die mit den aus Passau kommenden Donauschiffen eingeschleust werden. Diese Medikamente sind eine Voraussetzung für den Aufbau eines privaten Patientenstamms. Vor allem braucht er Mittel zur Behandlung von Nierenleiden, besonders für Patienten mit endemischer Nephritis (ständig auftretender Nierenentzündung), die in der Gegend häufig ist, vermutlich wegen der Strahlung beim Abbau des Uranerzes. Er kommt auch in den Besitz von wirksamen Medikamenten von Pharmaherstellern im westlichen Ausland, die er zur Behandlung von Rheuma, Infektionen, Stoffwechsel- und Herz-Kreislaufkrankheiten braucht. Dr. Weber hat zwar schon eine Weile seinen Arbeitsplatz in Neumoldowa, aber die Securitate verwehrt ihm noch immer den Zutritt zu der zugesagten Wohnung. Das ändert sich jedoch schlagartig, als er die an Rheuma leidende Mutter des Stadtparteisekretärs binnen einer Woche wieder mobil gemacht hat. Der Parteisekretär ordnet an, ihm die Einzugserlaubnis für die seit Monaten zugesagte Wohnung sofort auszuhändigen. In der neuen Wohnung sieht es jedoch schlecht aus. Kurz vor Wintereinbruch fehlen unter anderem Heizkörper und Armaturen, Türklinken und Fenstergriffe. Beim Securitate- und Polizeichef im Erdgeschoss und im ersten Stock ist es nicht anders. Diebstahl auf dem Bau ist in jenen Tagen die Regel. Der Polizeihauptmann, zuständig für Ordnung und Sicherheit in der Stadt, und Dr. Weber gehen gemeinsam in benachbarte, noch

nicht bezogene Wohnblocks und demontieren all das, was in ihren Wohnungen fehlt: Armaturen, Wasserhähne, Schalter und Heizungsverschlüsse. Dr. Weber besorgt sich in Temeswar Wertheim-Schlösser, um die erbeuteten Materialien bis zum Einzug in die neue Wohnung zu sichern. Im Spätherbst 1968 ist es endlich soweit, Webers können einziehen. Aus der neuen Wohnung hat Dr. Weber aus dem Küchenfenster der 4. Etage eine unverstellte Sicht über einen Grenzabschnitt neben dem Hafengelände. Dort will er mit dem Schlauchboot ablegen. Dr. Weber beobachtet oft stundenlang die Bewegungen der Grenzsoldaten, den Wachwechsel, die Patrouillen. Er kann aber kein System dahinter erkennen, alles ist chaotisch. Inzwischen versorgt sich Dr. Weber mit ausländischer Währung. Der Onkel aus Linz ist zu Besuch und bringt Deutsche Mark, österreichische Schilling, serbische Dinar und USDollar. Dr. Walther Achs ersteht von einer Tante US-Dollar, Teil ihrer Ersparnisse aus der Vorkriegszeit. Im Sommer 1969 ist Webers Frau hochschwanger und zieht wieder zu ihren Eltern nach Temeswar. Dr. Weber fährt dienstlich häufig die Gegend ab und sammelt genaue geographische Anhaltspunkte für die Flucht. Er betreut und vergrößert seinen privaten Patientenstamm und knüpft Bekanntschaften mit den lokalen Größen. Er ist so oft wie möglich zu Besuch bei Frau und Tochter in Temeswar und übt häufig mit dem Schlauchboot auf der Temesch gemeinsam mit Dr. Walther Achs während dessen mehrwöchigen Sommerurlaubs. Am 21. August 1969 kommt Sohn Dietmar in Temeswar zur Welt. Ende September ist Familie Weber wieder in Neumoldowa vereint. Der sonnige Spätsommer 1969 zieht die Webers immer wieder in die Weinberge am nördlichen Donauufer. Die Südhänge ermöglichen eine weite Sicht über die Donau, bis tief nach Jugoslawien hinein. Von dort oben aus kann er den Blick schweifen lassen von Belobreşca am rumänischen Ufer bis zum Kirchturm in Weißkirchen, aber auch über die Donauinsel Ostrov zum serbischen Ufer von Golubac bis Veliko Gradište. Letzteres ist das Ziel, das die Flüchtlinge zu Fuß werden erreichen müssen, weil dort die Endstation des Linienbusses nach Belgrad ist. Dr. Weber träumt von der Freiheit und fühlt, es ist höchste Zeit, zu fliehen, denn sonst zieht die Securitate die Schlinge immer enger. Er weiß, im Winter 1969/70 muss er weg. Die Vorbereitungen sind längst im Gange. In Serbien könnte er bei einer Familie in Ovča nordöstlich von Belgrad unterkommen. Walthers Halbbruder, Anton Vintan, der in Bad Säckingen lebt, kennt eine rumänische Bauernfamilie in Ovča noch aus den 1950er Jahren, als im Banat Partisanen unterwegs waren und Beziehungen nach Jugoslawien unterhalten haben. Der Bauer in Ovča weiß, dass Walthers Bruder ihn für die Übernachtung fürstlich entlohnen würde. Dr. Weber ist überzeugt, die Flucht müsse, um gute Erfolgsaussichten zu haben, bei extremen Wetterverhältnissen, zum Beispiel bei strengem, womöglich stürmi-

schen Winterwetter stattfinden. Dann sind die Chancen am größten, unbeobachtet ans Donauufer zu kommen und über das Wasser ans serbische Ufer zu gelangen. Er muss lediglich herausfinden, wie Walther unbemerkt nach Neumoldowa kommen kann und wie sie den Wohnblock mit Frau und Kindern unbemerkt verlassen können. Die Securitate lauert, der Polizeichef ist aufmerksam, aber auch Kollege Dr. Heinz Noll ist immer wieder da und drängt auf einen gemeinsamen Fluchtplan. Aber Dr. Weber kann schon aus Sicherheitsgründen nicht darüber sprechen, und ins Schlauchboot passt keine weitere Person mehr. Inzwischen meldet unerwartet Dr. Webers Schwägerin Annelie ihren Besuch in Neumoldowa an. Er versucht den Besuch zu verhindern, indem er zu den Schwiegereltern nach Temeswar fährt, um als Täuschungsmanöver eine Schweineschlacht zu planen und dafür auch eine Anzahlung zu leisten. Er kündigt an, dass seine Frau in den Tagen des Schlachtfestes mit den Kindern nach Temeswar kommen werde. Die Schwägerin sollte erst danach zu Besuch nach Neumoldowa kommen.

Im Schneetreiben zur Donau

Die Flucht ist für Anfang Dezember geplant. Dr. Achs kommt so gut wie unbeobachtet bei Webers in Neumoldowa an. Das Wetter, auf das sie warten, will sich aber nicht einstellen. Dr. Achs ist schon fast eine Woche bei den Webers versteckt in der Wohnung, aber Kälte und Schnee lassen weiter auf sich warten, obwohl ein Wintereinbruch vorhergesagt ist. Der Samstag und der Sonntag vergehen, dann entscheidet sich Walther, nach Hause zu fahren, denn eine zu lange, über die genehmigte Urlaubszeit hinaus dauernde Abwesenheit wäre verdächtig. Am Montag, dem 6. Dezember, kurz nach Walthers Abreise um 16 Uhr, bricht dann das sehnlich erwartete Winterwetter herein. Die Temperatur fällt unter minus 30 Grad, und es setzt heftiges Schneetreiben ein. Der Linienbus startet zwar in Richtung Temeswar, aber er kommt nicht weit. Schneeverwehungen auf den Bergstraßen zwingen den Fahrer, umzukehren. Zurück in Neumoldova, gelangt Dr. Achs im dichten Schneetreiben von der Busstation unerkannt zurück in Webers Wohnung. Als er gegen 22 Uhr an die Wohnungstür klopft, ist Dr. Weber im Erdgeschoss beim Securitate-Mann, der ihn zum Trick-Track-Spiel eingeladen hat. Webers Frau ruft ihn unter einem Vorwand aus der Partie, um ihm mitzuteilen, dass Walther zurück sei. Es stürmt und schneit bei eisigen Temperaturen, an ein Verlassen der Wohnung ist nicht zu denken. Erst im Laufe des Dienstag, es haben sich inzwischen riesige Schneemassen aufgetürmt, lässt der Wind etwas nach, die Lage ist jetzt günstig, der richtige Zeitpunkt für die lange geplante Flucht. Jetzt oder nie, sie beschließen, am 7. Dezember, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, zu flüchten. Die Spannung wächst von Stunde zu Stunde. Hoffentlich ist Walthers Rück-

kehr unbemerkt geblieben. Dr. Weber beginnt das Notwendige für die Flucht zu packen. Er testet die Tochter, zweieinhalb Jahre alt, und den Sohn, drei Monate alt, schon seit Wochen mit für Kleinkinder gut verträglichen und bewährten Schlaftabletten. Er verabreicht ihnen gegen Abend die nötige Dosis. Sohn Dietmar kommt in einen Fellsack, darüber eine Kunststoffhülle, Tochter Sigrid trägt mehrere Schichten Kleidung übereinander. Ein Kunststoffüberzug soll auch sie vor Nässe schützen. Dr. Weber, seine Frau und Dr. Achs tragen als Tarnung dunkle, unauffällige Winterkleidung. Als erste Vorbereitung für die Flucht stellt Dr. Weber den Kinderschlitten neben den Hauseingang. Das Treppenhaus ist stockdunkel. Hinter den Türen des Polizisten und des Kollegen Noll ist kein Laut zu hören, die Schlüssellöcher sind dunkel. Aus der Wohnung des Securitate-Majors im Erdgeschoss ist leise Musik zu hören. Beladen mit Gepäck, Frau Weber mit den schlafenden Kindern in den Armen, verlassen sie die verdunkelte Wohnung, schließen sie ab und schleichen geräuschlos über die engen Treppen aus dem Haus. Erst vorbei an der Wohnung von Dr. Heinz Noll, dann an der des Polizisten und schließlich an der des Securitate-Offiziers im Erdgeschoss. Es ist 21.30 Uhr. Sie öffnen vorsichtig das Haustor, sehen sich um; bei eisigem Wind und dichtem Schneetreiben packen sie das Schlauchboot, einen Kartoffelsack und eine Felldecke auf den zuvor abgestellten Schlitten; mit hastigen Schritten geht es in die stockdunkle Nacht hinaus. Wie geplant, umgehen sie die Siedlung nordwestlich und gelangen auf die Hauptstraße, dann halten sie sich südwärts am Donauufer entlang. Sie erreichen die Endstation des Pendelbusses für Grubenarbeiter und setzen sich auf eine Bank. Bei spärlicher Straßenbeleuchtung können sie unbeobachtet auspacken. Kaum an der vorgesehenen Stelle angekommen, sind ihre Spuren im Schnee schon nicht mehr sichtbar, Neuschnee hat sie zugedeckt. Es herrscht Totenstille, kein Mensch ist weit und breit zu sehen, maximale Sichtweite 10 Meter. Sie nehmen das Boot hastig aus der Tragetasche. Den Schlitten mit dem leeren Bootssack und den Kartoffeln verstauen sie unter der Bank. Die Kartoffeln haben sie mitgenommen, falls jemand nach dem Wohin fragen sollte. Dann hätten sie sich der Ausrede bedient, sie brächten die Kartoffeln zu Dr. Webers Hafen-Assistenten ins Dorf, damit der sie lagert; ihre Blockwohnung sei dazu ungeeignet. Jetzt ist Eile geboten, denn um 22 Uhr ist Schichtwechsel. Dann werden die Minenarbeiter mit Pendelbussen hierher zurückgefahren. Die Flüchtenden gehen mit den Kindern zielstrebig in eine seit Monaten ausfindig gemachte Bodensenke neben der Straße. In der Vertiefung endet ein Kanalschacht. Dort tritt warme Luft aus, der Schnee ist geschmolzen. Alle legen sich auf den warmen, windgeschützten Kanaldeckel. Weber und Achs beginnen das Boot aufzublasen, das sie schon nach einigen Minuten zudeckt und in kurzer Zeit ebenfalls vom Weiß des Schnees getarnt ist. Während sie das Boot aufblasen, kommen die

ersten Busse mit den Arbeitern aus dem Bergwerk. Das Heck des Busses ragt beim Wendemanöver weit über die Bordsteinkante bis zur Vertiefung, in der die Fluchtwilligen liegen. Der Motorlärm dröhnt über ihnen. Dr. Webers Frau sagt erschrocken, „jetzt haben sie uns“. Nach der Abfahrt des letzten Busses sind noch eine Weile die Stimmen der sich entfernenden Arbeiter zu hören. Dann heult und pfeift nur noch der Wind. Die Sicht wird rasch besser, das Schneetreiben lässt deutlich nach. Vom verschneiten Schlauchboot verdeckt, lugen sie aus der Vertiefung hervor. Keine Grenzwache ist zu sehen. Plötzlich tastet sich ein gleißender Lichtkegel entlang der Uferstraße über das Versteck. Die Umgebung ist grell erleuchtet. Wieder sagt Frau Weber angstvoll, „jetzt sehen sie uns doch noch“. Aber es ist nur der Scheinwerfer eines manövrierenden Schiffes im Hafen, das seinen zugewiesenen Anlegeplatz ansteuert. Dr. Weber hält seine Frau fest, „nicht bewegen“, sagt er. Der aufragende Kopf der Frau ist in gleißendes Licht getaucht, doch indem sie regungslos verharrt, bleiben sie unentdeckt. Das Scheinwerferlicht erweist sich letztlich als sehr hilfreich, denn es ermöglicht eine gute Sicht über das gesamte Ufergelände und die Umgebung. Noch immer ist keine Wache weit und breit zu sehen. Das zugefrorene Donauufer ist jetzt über eine Länge von fast 100 Metern gut zu überblicken. Es ist kein Hindernis in Sicht, der Weg ist frei. Sie müssen jetzt los; sie geben sich nach einem letzten Blick in die Umgebung einen mutigen Ruck und springen auf. Dr. Weber und Dr. Achs erwischen das aufgeblasene Boot von beiden Seiten am Halteseil, ergreifen mit der freien Hand je ein Paddel und das Gepäck, Frau Weber die beiden Kinder, und im Laufschritt geht es, die Mutter mit den Kindern vorneweg, zielstrebig zum Donauufer. Sie erreichen in wenigen Sekunden das mehrere Meter breit zugefrorene Ufer. Frau Weber bricht nach einigen Schritten auf dem Eis ein, zum Glück nur knietief. Danach auch die Männer mit dem Boot. Es kracht fürchterlich. Doch sie treten mit großen Schritten die Eisplatten nieder, und so geht es weiter, bis sie fast bis zum Gürtel im Wasser stehen. Sie steigen der Reihe nach ins Boot. Frau Weber in Rückenlage hält die Kinder, die beiden Männer paddeln. Das Boot schießt in Richtung Fußmitte, alles bleibt still. Plötzlich wieder Scheinwerferlicht. Es ist derselbe Lastkahn, der stromaufwärts seinen Ankerplatz ansteuert. Der Lichtkegel geht über die Bootsinsassen hinweg, sie bleiben im Dunkel der Nacht unsichtbar.

Wetterumschwung

Jetzt erleben die Flüchtenden einen der in diesem Landstrich bekannten und gefürchteten Wetterumschwünge. Bei minus 30 Grad sind sie aufgebrochen, jetzt, im Boot auf der Donau, hört es auf zu schneien, die Temperatur ist etwas

über null Grad gestiegen. Die winterlich gekleideten paddelnden Männer beginnen zu schwitzen. Sie kämpfen gegen die reißenden Fluten an. Walther, auf der flussabwärts gelegenen Seite des Schlauchbootes paddelnd, hat es gegen die Strömung schwerer und will mit Helmut während der Fahrt die Seite wechseln. Dabei kentert das Boot beinahe. Er muss deshalb weiter auf seiner Seite gegen die Fluten ankämpfen. Helmut versucht gegenzusteuern. Zu ihrem Entsetzten sehen sie, dass sie auf Kollisionskurs mit dem manövrierenden Schlepper sind. Er nähert sich stetig und bedrohlich mit seinem mehr als fünf Meter hohen Bug, der sie unweigerlich rammen würde, wenn sie es nicht schaffen sollten, gegen die Strömung um den Bug zu paddeln und die Strommitte anzusteuern. Die Paddler kommen schräg gegen die Strömung kaum vorwärts, sie kämpfen mit letzter Kraft. Nach bangen, anstrengende Minuten mit Keuchen und Schädelbrummen endlich Aufatmen, geschafft, etwa fünf Meter am Bug vorbei treibt das Schlauchboot jetzt im schützenden Schatten des stampfenden Schleppers in der reißenden Strömung rasch flussabwärts. Sie sind vorerst gerettet. Der Schiffsrumpf verdeckt die Hafenbeleuchtung, und sie können im Schutze der Dunkelheit durchatmen und sich etwas ausruhen. Obwohl die erschöpften Paddler das Boot nur noch steuern und ihre Arme wie gelähmt hängen lassen, geht es in hohem Tempo im Strudel der Fluten rasch dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Weil die Donau Hochwasser und Treibeis führt, erreichen die fünf Flüchtlinge das serbische Ufer etwa 5 km stromabwärts von der geplanten Anlegestelle, knapp unterhalb des serbischen Dorfes Golubac. Sie steigen aus, lassen Boot, Paddel und Felldecke abtreiben und erreichen durch Schlick und Kies watend über einen steilen Anstieg durch Dornenhecken den Damm, auf dem tiefe Lkw-Fahrspuren erkennbar sind. Bis zur Busstation in Veliko Gradište sind etwa fünf Stunden zu gehen. Inzwischen hat Schneeregen eingesetzt. Die Flüchtlinge brechen tief in den Schneematsch und Morast ein. Sie sind bis zu den Knien mit Schlamm verdreckt. Das mit dichtem Gestrüpp bewachsene Donau-Ufer ist nicht begehbar, schon gar nicht mit Gepäck und in der Dunkelheit. Sie müssen deshalb auf dem Damm weiter stromaufwärts gehen und erreichen nach einer Stunde Golubac. Vorsichtig schleichen sie sich an das Dorf heran. Die Lehmhütten sind mit Stroh gedeckt. Es herrscht gespenstische Stille. Lediglich in der Dorfmitte brummt ein Dieselmotor, der eine Lichtmaschine antreibt. Eine einzige Glühbirne beleuchtet die Dorfmitte. Sie kommen vorsichtig, Schritt für Schritt Deckung suchend, lautlos und unbemerkt durchs Dorf. Gespenstisch sind die Umrisse der mit Maislaub gedeckten Elendshütten auszumachen. Das dumpfe rhythmische Tuckern des Dieselmotors begleitet sie noch, als sie das Dorf schon längst hinter sich gelassen haben. Dann herrscht wieder geisterhafte Stille. Bis zur Bushaltestelle ist es aber noch ein langer und beschwerlicher Weg. Kaum haben sie das Dorf verlassen, leuchten vor ihnen auf dem Damm plötz-

lich zwei Scheinwerfer auf. Motorgeräusch kommt immer näher. Frau Weber schreckt erneut auf, „jetzt haben uns die Serben“. Sie werfen sich in den Graben und bleiben regungslos liegen, bis der Geländewagen der Grenzpolizei vorbei ist. Fast wäre der kleine Dietmar erwacht und laut geworden. Die Mutter bedeckt, während die Grenzpolizei vorbeifährt, mit der Hand seinen Mund. Er schläft kurz danach wieder tief und ruhig. Die Gefahr ist vorbei. Die Kleider der Flüchtlinge sind jetzt vollkommen durchnässt und mit Kletten und Schlammflecken übersät. Sie nähern sich in diesem Zustand Veliko Gradište und hoffen, den Bus in Richtung Belgrad zu erreichen. Das Dorf ist gut beleuchtet, schon von weitem sind die ersten Straßenzüge gut zu sehen. Sie nähern sich über den ersten Gehweg vorsichtig der Dorfmitte, folgen der breiten und gut beleuchteten Hauptstraße und sehen schon den großen Reisebus mit laufendem Motor in der Haltestelle. Ihnen ist kalt, sie frieren in ihren durchnässten Kleidern. Plötzlich erkennen sie eine neue Gefahr, die sich ihnen von vorne in Gestalt des serbischen Dorfpolizisten nähert. Er schlendert ihnen, lässig den Schlagstock schwingend, in der Mitte der Hauptstraße entgegen. Begegnen dürfen sie ihm auf keinen Fall. Die drei bewahren die Ruhe, gehen auf den Polizisten zu. Mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten biegen sie etwa 15 Meter vor einer Begegnung nach links in eine rettende Seitenstraße ab. Der Polizist denkt sich zum Glück nichts dabei und schlendert gelangweilt geradeaus weiter. Mit großer Erleichterung gelangen sie auf einem Umweg rasch zum Bus. Dr. Weber, der etwas Serbisch kann, kauft Fahrkarten. Dr. Achs setzt sich gesondert in den hinteren Teil des Busses. Er legt seine Tasche ins Gepäcknetz, und der Bus startet auch schon. Bei flotter Musik aus dem Autoradio nimmt der Bus die ersten Kurven und entfernt sich zügig von Veliko Gradište in Richtung Belgrad. Erste Hoffnung keimt auf, dass das Vorhaben gelingen könnte.

Verfolgungsjagd im Belgrader Bahnhof

Es braut sich jedoch Unheil zusammen. Einem serbischen Fahrgast fällt Walthers Tasche auf, weil daraus Wasser tropft. Sein Blick schweift von der Tasche auf Walther mit seiner verdreckte Kleidung. Im nächsten Augenblick hört Weber, wie der Fahrgast dem Busfahrer auf serbisch sagt: „Pass auf. Ich glaub', wir haben Flüchtlinge an Bord. Meine Aufgabe ist, diese aufzuspüren und anzuzeigen“. Es handelt sich offensichtlich um einen Polizeiagenten in Zivil. Der Fahrer, der Dr. Weber an der Busstation die Fahrkarten verkauft hat, wehrt ab mit der Frage: „Wer soll das denn sein? Hier, das ist ein deutscher Tourist mit Familie“. Ob er das nur zur Besänftigung des Fahrgastes sagt oder ob er davon überzeugt ist - Weber weiß es nicht. Der Agent lässt aber nicht locker und fordert wiederholt während der Fahrt aufgeregt und eindringlich, der Fahrer sollte in Belgrad auf jeden Fall abwarten und niemanden aussteigen las-

sen, bis er die Polizei verständigt habe. Der verdreckte Fahrgast, wohl ein Flüchtling aus Rumänien, dürfe keinesfalls entkommen. Kurz vor Belgrad geht Walther nach vorne zu den Webers und fragt, was er bloß tun soll. Was den Agenten zur Feststellung veranlasst, „da sind noch zwei Flüchtlinge. Die beiden mit den kleinen Kindern“. Dr. Weber meint, es bleibe nichts anderes übrig, als sofort nach der Ankunft in Belgrad rasch auszusteigen und das Weite zu suchen. Dr. Weber macht sich jetzt ernsthaft Sorgen um das Gelingen der Flucht. In Belgrad auf dem Busbahnhof haben die Flüchtlinge ein Riesenglück, wieder einmal. Beim Einparken kollidiert der Bus mit einem zurücksetzenden Pkw. Der Unfall beschäftigt die Polizei, und dem Agenten gelingt es nicht, deren Aufmerksamkeit auf die Flüchtlinge lenken. Dr. Weber überlegt nicht lange, holt seine Tochter in den Arm, drängt zum Ausstieg und rennt los. Seine Frau mit Sohn Dietmar und Walther mit dem Gepäck folgen ihm in den Belgrader Bahnhof. Der Agent und ein hinzugekommener Komplize verfolgen die Flüchtenden. Sie rennen zwischen zwei abfahrbereite Züge, in die Fahrgäste drängen, steigen in einen Waggon, laufen durch und steigen, nachdem auch die Agenten zugestiegen sind, auf derselben Seite wieder aus. Dann steigen sie in den nebenan haltenden Zug und auf der anderen Seite aus, laufen über den Bahnsteig in Richtung Seitenausgang und verlassen den Bahnhof. Die Angst treibt die Flüchtlinge zu Höchstleistungen. Sie können die Verfolger auf Abstand halten und durch das Täuschungsmanöver einen Vorsprung von etwa 30 Metern in der dichten Menschenmenge des Morgenverkehrs gewinnen. Sie rennen über die Treppe am Seitenausgang aus dem Bahnhof zum Fußgängerübergang der vorbeiführenden Hauptstraße. Am Zebrastreifen müssen sie stehen bleiben, denn die Ampel schaltet für die Fußgänger soeben von Grün auf Gelb. Vor dem Zebrastreifen steht zufällig ein freies Taxi. Sie steigen hastig ins Taxi. Die Ampel springt jetzt für den Straßenverkehr auf Grün, und Dr. Weber sagt zum Taxifahrer auf serbisch, „fahr los“. Der Taxifahrer antwortet „dobre“, gut, und reiht sich in den Verkehr ein. Die Verfolger preschen jetzt aus dem Bahnhof, spähen oben auf der Treppe umher, kommen herunter und müssen bei Rot an der Ampel stehen beleiben, während der Verkehr auf der Straße vorbeirollt. Sie schauen mit hastigen Kopfbewegungen in alle Richtungen. Vergeblich, die Flüchtlinge beobachten aus dem davonfahrenden Taxi das Geschehen und sind nach einigen Minuten weit weg. Sie sind noch einmal davongekommen; die beiden Prämienjäger an der Ampel haben das Nachsehen. Mit dem Taxi gelangen die Flüchtenden wie geplant nach Ovča, ein Dorf etwa 15 Kilometer nordöstlich von Belgrad mit überwiegend rumänischen Bewohnern. Der Bekannte von Walthers Bruder Anton Vintan, ein rumänischer Bauer, nimmt sie auf und sorgt mit seiner Frau rührend für die fünf. Am zweiten Abend hat Weber 40 Grad Fieber. Rheuma schüttelt ihn, hervorgerufen von

einem kranken Zahn, wie sich später herausstellen soll. Die nächsten Tage verbringt Weber im Bett und bekommt vom Gastgeber Pyramidon. In Ovča geht Walther Achs zur Post, um seinen Bruder in Säckingen sowie Stefan Pinkert und Dieter Stein telefonisch um Hilfe zu bitten. Pinkert und Stein studieren in Göttingen, Stefan Betriebswirtschaft und Dieter Medizin. Sie sollen ihnen wie vereinbart helfen, aus Jugoslawien nach Deutschland zu kommen. Am Telefon sagt Achs den beiden, dass sie in Ovča, Haus Nummer 15 zu finden sind, leider ohne die Straße 1. Mai zu nennen. Die beiden kommen, finden die Flüchtlinge aber nicht, befürchten einen Hinterhalt und fahren unverrichteter Dinge zurück nach Deutschland. Walther muss ein zweites Mal zur Post, um in Deutschland anzurufen. Am selben Tag, es ist der 14. Dezember 1969, kommt Walthers Bruder Anton Vintan mit einem seiner sechs Kinder nach Ovča und holt nicht seinen Bruder, sondern Webers Frau und die beiden Kinder mit. Er hat alle Pässe seiner Familie dabei. Seine Frau ähnelt Hildegard Weber, ist in vergleichbarem Alter, und zwei der Kinderpässe passen auf Sigrid und Dietmar, so dass bei Triest ein reibungsloser Grenzübertritt möglich ist. Die Fahrt geht mit dem Auto über Triest und Bellinzona nach Bad Säckingen. Hildegard Weber schreibt aus Triest sofort eine Ansichtskarte an ihre Familie in Temeswar. Damit ist diese über die gelungene Flucht informiert und von einer großen Sorge befreit. Gleichzeitig ist auch die Securitate getäuscht, da sie annehmen muss, dass die Flüchtige außerhalb Serbiens und nicht mehr greifbar sind.

Abschied von Ovča

Stefan Pinkert kommt am 17. Dezember mit dem Flugzeug nach Belgrad. Dr. Weber ist an diesem Tag zum ersten Mal seit der Ankunft in Ovča auf den Beinen. Sie packen ihre wenigen Habseligkeiten, verabschieden sich von den freundlichen Gastgebern, und Pinkert bringt Weber und Achs mit einem Taxi in die deutsche Botschaft nach Belgrad. An der Einfahrt zeigt er dem serbischen Wachposten seinen deutschen Pass, der winkt das Taxi durch. Die Flüchtlinge erhalten in der Vertretung der Bundesrepublik deutsche Pässe und feiern den bisherigen Erfolg mit einem Abendessen im Bahnhofsrestaurant mit Sicht auf den Bahnsteig, wo sie vor wenigen Tagen in Panik ihren Verfolgern davongerannt sind. Um 22 Uhr sitzen sie im Zug, der sie über Spielfeld und Salzburg nach München bringt. Weil Dr. Weber Kopfschmerzen und mehr als 40 Grad Fieber hat, schaltet der Schaffner in Österreich das Rote Kreuz ein. Eine Ordensschwester vom Roten Kreuz bringt Medikamente und eine Tüte Apfelsinen ins Zugabteil. Im Winter 1969/70 verursacht eine Grippeepidemie zahlreiche schwere Erkrankungen. In Österreich und Deutschland ist die Landschaft tief verschneit. In München angekommen, tauschen sie am Hauptbahnhof einen Teil der Fremdwährung in

Deutsche Mark. Beeindruckt sind die Neuankömmlinge von der riesigen UBahn-Baustelle am Hauptbahnhof und den Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 1972. Das Staunen hält auch im Kaufhaus Hertie am Münchner Hauptbahnhof an. Sie sehen Waren in einem noch nie erlebten Überfluss. Das erste Mal können sie alles haben, was das Herz begehrt, und mehr. Ein überwältigendes Erlebnis für Flüchtlinge aus dem kommunistischen Armenhaus mit seiner sprichwörtlichen Mangelwirtschaft. Dr. Webers Schwäche und Übelkeit trüben das Erlebnis etwas. Aber es gibt Rolltreppen und bequeme Stühle vor einer Wand mit Farbfernsehern. Er nimmt erschöpft Platz, und während sich Dr. Walther Achs und Stefan Pinkert mit kulinarischen Köstlichkeiten stärken, denkt er an die Ereignisse der letzten Tage. Sein erstes Lebensziel, mit der Familie in Freiheit zu sein, hat er durch die abenteuerliche Flucht erreicht. Kurz vor Mitternacht geht die Reise in Richtung Göttingen in einem Liegewagen weiter. Dr. Weber verschläft sie großteils. In Göttingen begrüßen Freunde und Bekannte die beiden Flüchtlinge herzlich. Dr. Weber verordnet sich Bettruhe, erholt sich in den folgenden Tagen allmählich und grübelt: Wo sind Frau und Kinder, und wie geht es ihnen? Was ist jetzt in Temeswar los? Ist das Erlebte wahr oder nur ein Traum? Denn wie er später erfahren soll, fährt einige Tage nach der Flucht seine Schwägerin doch noch nach Neumoldowa und steht vor verschlossener Tür. Sie verständigt die Polizei und lässt in Sorge um die Familie ihrer Schwester die Wohnungstür öffnen, handelt sich damit ein Verhör der Securitate ein und löst eine Großfahndung bis nach Belgrad aus. Zum Glück ohne Ergebnis. Die gelungene Flucht wird für Geheimdienst und Fahnder zum peinlichen Beweis ihres Versagens und zum Gespräch im ganzen Banat. Das und anderes mehr berichten Augenzeugen erst nach und nach in den kommenden Jahren. Nach einigen Tagen kommt Webers Frau mit den Kindern von Bad Säckingen nach Göttingen in den Waldweg 31, wo Dr. Weber und Dr. Achs seit einigen Tagen bei Pinkerts zu Gast sind, um schon bald ins Auffanglager Friedland weiterzureisen und sich als Flüchtlinge zu melden. Am 11. November 1969 hat ihre Flucht begonnen, am 19. November lassen sie sich in Friedland als Aussiedler registrieren. Nach einigen Tagen geht es nach Rastatt in BadenWürttemberg, und von dort ins Übergangswohnheim in Freiburg im Breisgau.

Der NKWD klopft an

Kaum ist Familie Weber in Freiburg, holt sie die Vergangenheit schon ein. An die Wohnungstür in der Lehenerstraße 110 im 10. Stockwerk klopft ein Mann. Es ist ein Bulgare und Agent des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, den Dr. Weber von seiner Ausbildung im Zentralen Haus der Armee in Bukarest kennt. Er begrüßt die Familie übertrieben freundlich und entnimmt einem Koffer Ge-

schenke und einige hundert Mark; er sagt Dr. Weber, er bringe ihm jetzt seinen ersten Auftrag. Während des Gesprächs tut er so, als ob nichts geschehen wäre, von einer Flucht spricht er nicht. Er betont laufend den Ernst und die Bedeutung des Auftrages, über den Dr. Weber demnächst von ihm Informationen bekommen werde. Plötzlich ergreift er ein Küchenmesser und tut, als ob er damit auf Frau Weber losginge. Diese Drohgebärde sollte zeigen, was geschehen könnte, wenn der Auftrag nicht ausgeführt werde; er sollte die Familie einschüchtern und gefügig machen. Der Bulgare holt Dr. Weber am nächsten Tag ab und geht mit ihm in das Gebetshaus einer Sekte in Freiburg/Sankt Georgen. Auf den Hinweis von Dr. Weber, dass er keiner Religion angehört und als überzeugter Atheist nicht am Besuch eines Gebetshauses interessiert ist, antwortet der Bulgare, das habe keinen Einfluss auf das geplante Vorhaben. Sie betreten einen großen, hohen Raum ohne Bestuhlung, in dem dicht gedrängt rund 100 Zuhörer stehen. Ein Prediger doziert 40 Minuten über unheimliche Weltuntergangsszenarien und über andere Glaubensinhalte der Sekte. Dann nähert er sich gezielt dem Bulgaren, und der stellt Dr. Weber dem Prediger als ein neues und bedeutendes Mitglied der Gemeinde vor, als „neues Mitglied in un20. Dezember 1969: Eben in Göttingen serer Familie“. Nach einem nichtssagenden angekommen ist Dr. Helmut Weber mit Frau und Kindern. Wortwechsel verabschiedet sich Dr. Weber von den beiden und verlässt mit Gänsehaut schleunigst die versammelten Esoteriker. Jetzt heißt es für Dr. Weber auch im Westen: Vorsichtig sein, denn die Familie ist in Gefahr. Ein paar Tage später kommt ein untersetzter, etwas kurzatmiger, behäbiger älterer Herr mit blauen Lippen zu den Webers. Er sagt, er sei vom badischen Abwehrdienst. Man habe Weber mit verdächtigen Personen gesehen. Dr. Weber erwidert, er habe dem badischen Nachrichtendienst einiges zu sagen, und erklärt sich. Er bittet um Hilfe, denn er wolle vom Nachrichtendienst aussteigen, ob das sich einrichten ließe. Der Mann vom Geheimdienst gibt Dr. Weber eine Visitenkarte und meint, er könne ihn demnächst besuchen. Als Dr. Weber ihn am nächsten Tag anruft, will dieser von nichts wissen und nennt eine Adresse, unter der er mit einem bestimmten Code eine Nachricht in einem Postfach finden werde. Dr. Weber findet tatsächlich einen Brief mit einer Stuttgarter Adresse,

wo er sich melden soll. Bei jedem Schritt, den Dr. Weber seit Auftauchen der Geheimdienstleute tut, ist Dr. Achs dabei, jedoch ohne voll in die Lage der Dinge eingeweiht zu sein. Nach Stuttgart fährt Dr. Weber mit einem VW Käfer, den er zusammen mit Dr. Achs für 300 Mark gekauft hat. Die angegebene Adresse in Stuttgart ist die des US-amerikanischen Abwehrdienstes. Dr. Weber verheimlicht dort nichts. Das hätte auch keinen Sinn gehabt, denn die Amerikaner wissen alles über ihn, von der Ausbildung im Haus der Armee in Bukarest bis zu seiner Flucht. Dr. Weber will eruieren, wie es um seine Sicherheit nach dem Ausstieg bestellt ist, denn er will nichts anderes, als seinen Beruf als Mediziner ausüben und seine Familie nicht gefährden. Die Amerikaner empfehlen ihm, er solle sich zum Beispiel in Bad Wildungen in Hessen niederlassen. Das liegt in der Nähe von Fritzlar bei Kassel, wo deutsche und amerikanische Fachleute in Zusammenarbeit für seine Sicherheit sorgen könnten. Er soll sich in der Umgebung als Arzt bewerben. Dr. Weber und Dr. Achs finden Arztstellen im Sanatorium Dr. Kienle in Bad Wildungen. Sie erhalten ein erstes Gehalt im voraus. Dr. Weber bereitet sofort den Umzug vor. Er hat in Bad Wildungen einen guten Einstand. Es geht der Familie prächtig. Frau Weber ist in der dritten Schwangerschaft. Dr. Weber besitzt eine Telefonnummer, wo er noch ab und zu anruft. Nach einigen Monaten warnt ihn der Abschirmdienst, er solle aufpassen, denn es braue sich etwas zusammen. Eines Tages wird eine gepflegte Dame im Sanatorium als Patientin aufgenommen. Dr. Weber untersucht sie, und sie fragt ihn, ob er Rumänisch spreche. Es entwickelt sich ein nichtssagendes Gespräch. Nach einer Woche lädt die Frau Dr. Weber zu einem ihrer Bekannten aus der Umgebung ein. Sie möchte ihm diesen Freund vorstellen, gibt sie vor. Dr. Weber wendet sich mit dieser Neuigkeit an die Kasseler Nummer. Es stellt sich heraus, dass er es mit einer gesuchten Spionin aus dem Ostblock zu tun hat. Der Abwehrdienst rät, die Frau zu sich nach Hause einzuladen, für den richtigen Empfang werde gesorgt. Dr. Weber sagt der Spionin, er könne ihrer Einladung aus Termingründen vorerst nicht entsprechen. Er lade sie jedoch zu sich nach Hause ein, um sie seiner Frau vorzustellen. Das ginge leider nicht, lehnte die Frau kategorisch ab, und das ist auch das letzte, was er von ihr zu hören bekommt. Zum letzten Mal bekommt Dr. Weber es mit der Securitate in der rumänischen Vertretung in Köln zu tun. Er möchte einen Antrag stellen, um aus der rumänischen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Deshalb ruft er in der Botschaft an. Der Mann am Apparat vermutet, wer am anderen Ende der Leitung ist und antwortet in rumänischer Sprache mit dem wohl bekanntesten und berühmtesten aller rumänischen Flüche und einer Flut von weiteren Schimpfwörtern und Beleidigungen. Er besteht darauf, dass Weber persönlich mit der ganzen Familie nach Köln kommt, denn anders sei die Sache nicht zu regeln. Der Abschirmdienst rät Dr. Weber, er solle unbesorgt in die Botschaft gehen,

denn man werde unauffällig alles überwachen und für einen gefahrlosen Ablauf des Besuches sorgen. Wenn Dr. Weber merke, dass man beabsichtige, die Familie festzuhalten, sollte er lediglich sagen, er müsse die rumänische Vertretung in 20 Minuten verlassen, anderenfalls gebe es für sie Probleme - dann werden er und seine Familie herausgeholt. Dr. Weber hat inzwischen einen neuen Mercedes 280 E und fährt von Bad Wildungen mit seiner Familie, nicht ohne Bedenken und mit einem recht mulmigen Gefühl zum rumänischen Konsulat nach Köln. Als die Webers mit den drei kleinen Kindern die Drehtür passiert haben, sagt der Beamte am Empfang, dass er schon Bescheid wisse und geleitet sie sofort in den Keller. Hinter ihnen schließt sich eine Eisentür, die fast so aussieht wie jene, die Dr. Weber aus dem Gefängnis in Reschitz in Erinnerung hat. Der Raum ist etwa vier mal zwei Meter groß, hat oben ein kleines vergittertes Fenster und rechts und links fest verankerte Sitzbänke. Nach zehn Minuten bangen Wartens beginnt Dr. Weber gegen die Stahltür zu hämmern. Ein Mann öffnet und brüllt „linişte“ - Ruhe. Dr. Weber trommelt weiter gegen die Tür. „Was soll das“, ruft ein Unbekannter. Dr. Weber teilt ihm mit, was ihm der Abschirmdienst mit auf den Weg gegeben hat. Nach weiteren zehn bangen Minuten sind hastige Schritte zu hören, dann steht ein elegant gekleideter Herr im Türrahmen mit zwei ausgefüllten Vordrucken in den Händen und sagt, Dr. Weber und seine Frau müssten nur noch unterschreiben. Das tun sie, werden anschließend aus dem Gebäude geführt und fahren erleichtert nach Hause. Ein paar Monate später sind sie im Besitz der Bescheinigungen über die Entlassung aus der rumänischen Staatsbürgerschaft. Als der zuständige Mann vom Abschirmdienst das erfährt, sagt er nur noch: „Das war's“. Damit ist Dr. Webers Geheimdienstkarriere zu Ende. Er kann sich ab sofort voll auf seinen Arztberuf konzentrieren.

Ausbildung zum Kardiologen

Statt Kurarzt will er jedoch Kardiologe werden. Dazu braucht er die Anerkennung als Facharzt für innere Medizin. Seine Spezialisierung als Epidemiologe in Rumänien ist in Deutschland nicht anerkannt. Er wechselt deshalb von Bad Wildungen ins Franziskus-Hospital Bielefeld, um die Ausbildung zum Internisten nachzuholen. Ab 14. Oktober 1974 ist er Facharzt für Innere Krankheiten. Wegen seines besonderen Interesses an Herz-Kreislauf-Krankheiten stellt Dr. Weber die Patienten des Franziskus-Hospitals im Auftrag von Professor Lampen im Gollwitzer-Mayer-Institut, heute Ost-Westfälisches Herzzentrum zu Bad Oeynhausen, zur Koronarangiographie vor. Dort lernt er die Professoren Ulrich Siquart und Paul Mertens kennen. Siquart, der vor einigen Monaten aus den USA zurückgekehrt ist, praktiziert in Bad Oeynhausen erstmalig die in den USA schon in die Klinik eingeführte Ablei-

tung intrakardialer elektrischer Potentiale mit Hilfe spezieller Herzkatheter. Dr. Weber nimmt sich Urlaub vom Krankenhaus und übt mehrere Wochen lang in Bad Oeynhausen die neue vielversprechende Technik der Ableitung elektrischer Potentiale aus dem Herzen. Daraufhin bekommt er eine Anstellung in der Kinderkardiologie der Georg-August-Universität zu Göttingen, wo Chefarzt Professor Alois Beuren und Professor Hans J. Brettschneider, Sprecher des Sonderforschungsbereiches 89 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Kardiologie Göttingen, ihm ein Forschungsprojekt auf dem Gebiet der kardialen Elektrophysiologie genehmigt. Er soll Möglichkeiten und Nutzen intrakardialer Elektrogramme untersuchen. In Göttingen arbeitet in der Kinderkardiologie seit einigen Monaten auch sein Fluchthelfer und Freund Dr. Dieter Stein, der ihm auch die Verbindung zu Professor Beuren vermittelt hat. Dr. Stein hilft ihm, sich schnell in die besonderen Probleme der Kinderkardiologie einzuarbeiten, vor allem in die technisch sehr anspruchsvolle Herzkatheteruntersuchung von Frühgeborenen, Säuglingen und Kleinkindern mit angeborenen Herzfehlern. Dabei kommt Dr. Weber die Erfahrung mit kranken Kindern im Epidemiespital in Temeswar zugute. Nur sind die Patienten hier meist nicht leberkrank und gelb, sondern herzkrank und blau. Beeindruckt vom Leid dieser kleinen Patienten, grübeln Stein und Weber über Abhilfe nach. Dabei erscheint ihnen am ehesten die Trennung des dunklen venösen Blutes vom hellroten sauerstoffreichen der Schlagadern zur Beseitigung der Blausucht mit all ihren Risiken am aussichtsreichsten. Dies führt letztendlich zu einer neuen Operationstechnik, der Umleitung des venösen Blutes aus den Hohlvenen direkt in den Lungenkreislauf mit Hilfe einer sogenannten Cava-Pulmonalis-Anastomose. Ein Verfahren, das heute weltweit bei diesen nicht korrekturfähigen komplexen Herzfehlern Anwendung findet und den Patienten, die jetzt das Erwachsenenalter erreichen, ein normales Leben ermöglicht. Doch Schwerpunkt der Forschungsarbeiten bleibt für Dr. Weber die Diagnose und Behandlung von Herzrhythmusstörungen. Gestützt auf die Erfahrungen mit der Ableitung von His-Bündel-EKG in Bad Oeynhausen, versucht Dr. Weber durch das systematische Austasten des Herzens mit Hilfe eines Elektrodenkatheters die Stelle im Herzen zu finden, die die Rhythmusstörung verursacht. Durch dieses Verfahren, das sogenannte Kathetermapping, wird der Arzt in die Lage versetzt, über denselben Katheter diese Stelle auch zu zerstören, zu veröden und die Herzrhythmusstörung zu heilen. Dabei wird dem Patienten die Brustöffnung und die Operation am offenen Herzen erspart. Die Suche nach einer Möglichkeit für eine gezielte Zerstörung der krankhaften Stelle im Herzen ohne Gefährdung des Patienten steht in jenen Jahren im Zentrum von Dr. Webers Forschung.

Bahnbrechende Entdeckung: die Katheterablation

Eine Veröffentlichung in Frankreich hilft ihm dabei weiter. Darin wird berichtet, wie ein Arzt bei einer Herzkatheteruntersuchung eine akute Rhythmusstörung mit einem Stromstoß beheben wollte und diesen Stromstoß unbeabsichtigt über den Katheter ins Herz geleitet hat. Dabei kam es zu einer Zerstörung der normalen Leitungsbahn, des His-Bündels, zu einer dauerhaften Unterbrechung der Stromleitung im Herzen. „Das war es, was ich gesucht habe“, sagt Dr. Weber heute. „Der Stromstoß in die Herzwand ermöglichte mir die Zerstörung einer zusätzlichen, den Herzrhythmus störende Nervenbahn, die erste Ablation eines arrhythmogenen Substrates, gezielt mit Hilfe des Mappingkatheters.“ Und das kam so: Im August 1982 ist sein Chef, Professor Beuren, in Urlaub. Dr. Weber ist zuständig für das Herzkatheterlaboratorium und verantwortlich für die Planung der täglich durchzuführenden Untersuchungen und Behandlungen. Stationsschwester Christl und sein Kollege und Mitarbeiter an diesem Forschungsprojekt, Dr. Lothar Schmitz, unterstützen die Katheterbehandlung, weil sie auch an den vorbereitenden Experimenten und Tierversuchen mitgearbeitet haben und ihnen diese Heilungsmöglichkeit bewusst ist. Der Patient ist ein 22 Jahre alter Maurer. Seine Firma droht ihm mit Entlassung, weil er schon viermal bewusstlos geworden ist und dabei ein lebensgefährlicher Sturz von einem Baugerüst gerade noch verhindert werden konnte. Dr. Weber klärt ihn über den Eingriff auf; der junge Mann ist einverstanden und überglücklich mit der Aussicht auf Beseitigung seiner Anfälle, sogenannter Synkopen. Der weltweit ersten Katheterbehandlung zur Behebung, das heißt Heilung von Herzrhythmusstörungen steht nichts mehr im Weg. Sie gelingt am Dienstag, dem 17. August 1982, um 10 Uhr durch einen gezielt mit dem Mappingkatheter auf die zusätzliche Leitungsbahn abgegebenen Stromstoß. Am Nachmittag, bei der Oberarztvisite, sagt der 22 Jahre alte Mann strahlend: „Wenn das anhält, habe ich es geschafft“. Während sich der Patient freut, hat der Operateur nichts zu lachen. Erst ist der geschäftsführende Oberarzt entrüstet, weil er nicht über die Katheterbehandlung informiert worden ist. Dann teilt ihm der Chef nach seinem Urlaub mit, er sei fristlos entlassen. Am nächsten Tag geht Weber nicht zum Dienst. Doch um 10 Uhr klingelt das Telefon. Professor Beuren zitiert Dr. Weber in sein Büro und fordert ihn auf, seinen wissenschaftlichen Artikel, den er einer der namhaftesten Fachzeitschriften der USA, der „New England Journal of Medicine“ in Boston, zur Veröffentlichung geschickt hat, zurückzuziehen. Dr. Weber sagt zu, denkt aber gar nicht daran. Im März 1983 veröffentlicht die Zeitschrift unter der Rubrik „Letters to the Editor“ (Briefe an den Herausgeber) den Artikel. Professor Beuren meint zu Weber, er sei ein Schlitzohr, aber lächerlich gemacht habe er die Klinik damit nicht. Als Dr. Weber schon fast zur Tür draußen ist, ruft er Weber noch nach: „Machen Sie so weiter“.

Einen Monat später ist die betriebsärztliche Untersuchung angesagt. Der Betriebsarzt bittet Dr. Weber in sein Untersuchungszimmer. Er hat eine Lungenaufnahme vor sich hängen, auf der ein großes Bronchialkarzinom, ein Lungenkrebs, zu erkennen ist. Dr. Weber erbleicht, doch der Schrecken ist unbegründet. Die Klärung folgt noch im Röntgenraum; der Betriebsarzt hat zwei Lungenaufnahmen verwechselt. Das im Schaukasten hängende Röntgenbild gehört nicht Dr. Weber, sondern seinem Chef, Professor Alois Beuren. Dr. Weber entwickelt die Herzkathetertechnik weiter. Er setzt die von dem US-amerikanischen Arzt A. N. Damato 1969 in die Klinik eingeführte HisBündel-Elektrokardiographie ab 1976 routinemäßig in der Abteilung für Pädiatrische Kardiologie der Universität zu Göttingen ein, vor allem bei Patienten mit angeborenem Herzfehler mit teils erheblichen Anomalien im His-Bündelareal. Dadurch ist zur Lokalisierung des His-Bündels fast immer ein systematisches Austasten der Herzhöhlen erforderlich. Dieses systematische Austasten des Herzens mit dem Elektrodenkatheter wird in einem sechsjährigen Forschungsprojekt weiterentwickelt. Ergänzt durch die intrakardiale elektrische Stimulation wird es in der Kinderkardiologie in Göttingen ab 1978 ein Routineverfahren zur Untersuchung der Erregungsbildung/-leitung und zur Lokalisierung arrhythmogener Herzareale. Die Methode ist inzwischen weltweit bekannt als das Kathetermapping. Wie oben berichtet, heilt Dr. Weber im August 1982 den ersten Patienten von seiner lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörung durch einen intrakardialen DCSchock (Gleichstromschock). Es ist die erste erfolgreiche gezielte Energieabgabe zur Zerstörung eines lokalisierbaren arrhythmogenen Substrates im Herzen, die erste mapping-gesteuerte Katheterablation. Sie hat die Behandlung von Herzrhythmusstörungen revolutioniert. Ihre Bedeutung ist nach Meinung des US-Kardiologen Vance J. Plumb vergleichbar mit der Entdeckung des Penizillins für die Behandlung der Pneumokokken-Pneumonie.

Von der Laserablation zur eigenen Firma

Das größte Problem der Katheterablation mit Stromschock ist das hohe Risiko der Herzverletzung, die Perforation, Durchlöcherung der Herzwand. Auch ist der Stromstoß schmerzhaft, und die Patienten müssen deshalb während der Behandlung in Kurznarkose versetzt werden. Deshalb suchen Ärzte in den 1980er Jahren nach alternativen Energiequellen für die Katheterablation. Dr. Weber führt Studien mit neuen Methoden der Katheterablation durch und kommt zu diesem Zweck in die Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF) nach Neuherberg bei München. Dort entwickelt er die Methode der Laserablation. Er patentiert mehrere Techniken und Herzkatheter, die mit Hilfe des Lasers eine schmerzlose Katheterablation mit geringem Risiko und besten Ergebnissen

für den Patienten ermöglichen. Die klinische Anwendung der Lasermethode erfolgt erstmalig im März 1989 im Herzkatheterlabor des Städtischen Krankenhauses München-Bogenhausen, dem Lehrkrankenhaus der TU München, unter der Leitung von Professor Wolfgang Delius. Die klinische Laserstudie wird nach Genehmigung durch die Ethikkommission der Landesärztekammer Bayern im Laserzentrum des Städtischen Krankenhauses Harlaching, dem Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München, durchgeführt. Weil die Laserbehandlungen komplikationslos sind, kann die Methode auch in anderen kardiologischen Einrichtungen des In- und Auslandes erfolgreich getestet werden. Zur Etablierung der Lasertechnik als Routineverfahren bereitet das Institut für Klinische Kardiologische Forschung (IKKF) München Anwendertests in mehreren kardiologischen Zentren vor. Die intensiven Forschungs- und Entwicklungstests erfordern einen hohen Arbeits- und Investitionsaufwand. Dr. Weber gründet deshalb 1993 in München eine eigene Firma, die LasCor GmbH - Laser-Medizintechnik. Die Firma entwickelt und vermarktet Herzkathetersysteme für den kardiovaskulären Einsatz des Lasers. Mit Beendigung seiner klinischen Tätigkeit am Krankenhaus Harlaching im Juli 1993 widmet sich Dr. Weber mit vollem Einsatz diesem Ziel seiner Firma. Für die Rentenansprüche aus seinen Arbeitsjahren in Rumänien muss Dr. Weber Anfang der 1990er Jahre nach Temeswar und Orawitz zurückkehren, um die für die Anerkennung der Zeiten erforderlichen Gehaltsauszüge zu bekommen. Nur die mit Geschenken freundlich gestimmten rumänischen Behörden sind bereit, die erforderlichen Rentennachweise auszuhändigen. Es ist die erste und wohl auch letzte Reise Dr. Webers in die alte Heimat nach der Flucht. Er besucht die alten Stätten seiner Kindheit und Jugend sowie Kollegen und Arbeitsplätze. Trotz einiger Lichtblicke: Die Armut der Bevölkerung ist immer noch deprimierend. Kollegen wie Dr. Attila Marosi, ehemals Mitarbeiter im Hygieneinstitut in Orawitz, müssen wegen der niedrigen Rente weiter arbeiten, wo immer sich eine Möglichkeit bietet. Die Menschen leben in bescheidenen, oft ärmlichen Verhältnissen. Die alten Seilschaften der Securitate haben sich viele Privilegien gesichert. Besonders schlimm ist die Armut, ja das Elend in Neumoldowa. Der Wohnblock, aus dem Dr. Weber die Flucht angetreten hat, ist verwahrlost. Fensterstöcke der alten Wohnung fehlen, der Putz ist von den Wänden gefallen. Ärmlich gekleidete Menschen, viele Roma, teils in Lumpen, und verwahrloste Jugendliche sammeln sich neugierig um seinen VW-Bus. Zum Abschied verbringt Dr. Weber einige Minuten in bewegender Erinnerung an der Stelle des Donauufers, wo er mit Familie und Freund vor fast 40 Jahren in die kalten Fluten gestürmt ist. Keine Grenzmarkierungen, kein Wachtposten sind mehr zu sehen. Niemand beachtet den stillen Beobachter der ruhig dahinfließenden breiten Donau. Am

westlichen Horizont ist die Silhouette von Veliko Gradište zu sehen. All die dramatischen Ereignisse der aufregenden Dezembernacht 1969 kommen in Erinnerung. Was er sieht, bestätigt ihm: Es hat sich gelohnt, die Flucht zu wagen. Seine Familie hat dadurch viel gewonnen, Jahrzehnte in Freiheit und Wohlstand gelebt, ist viel gereist und hat viel von der Welt gesehen. Es war ein selbstbestimmtes Leben, ohne Terror und ohne Behinderung der persönlichen und beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten - ohne Securitate und deren Schergen.

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