5 minute read
Nach Jahren der Demütigung in die Freiheit
Otto Krachtus:
Otto Krachtus gehört zu den Flüchtlingen, die wegen der Arbeit, die sie zu verrichten hatten, mehr oder weniger problemlos an die Grenze gelangt sind. Sie mussten lediglich Geduld haben und den richtigen Zeitpunkt zur Flucht nutzen. Für den am 27. März 1933 in Albrechtsflor geborenen Otto Krachtus schlägt die Stunde der Freiheit am 1. Juni 1978. Schon seit dem vergangenen Winter weiß er wie viele seiner Landsleute, dass die Serben keine rumäniendeutschen Flüchtlinge mehr ausliefern. Jetzt will auch er es wagen. Er ist in der Abteilung Albrechtsflor der Marienfelder Staatsfarm als Treckerfahrer tätig. Er muss an diesem ersten Tag im Juni in einem Weingarten unmittelbar an der serbischen Grenze pflügen. Wer in einem drei Kilometer breiten Streifen zur Grenze arbeitet, muss sich ausweisen können, ferner hat er eine Bescheinigung der Staatsfarm vorzuweisen. Für Otto Krachtus kein Problem, denn er hat den schriftlichen Auftrag, in dem Weingarten an der Grenze zu arbeiten. Schon seit zwei Tagen pflügt Krachtus in dem Weingarten, doch noch hat sich nicht die richtige Gelegenheit zur Flucht ergeben. Krachtus hat Geduld. Er will nichts überstürzen und schon gar nicht in eine Kugel aus der Maschinenpistole eines Grenzsoldaten laufen. Am dritten Tag, dem 1. Juni, geht das Spiel weiter: Der Soldat auf dem Wachturm beobachtet ihn, und Krachtus, der auf einem hochgelegten Trecker über den Rebenreihen sitzt, lässt den Grenzer nicht aus den Augen. Dann sieht Krachtus, wie der Soldat vom Beobachtungsturm steigt und einem Reiter zustrebt, der etwa einen Kilometer von der Grenze entfernt unterwegs ist. Es ist ein Grenzer, der vom Stützpunkt Marienfeld nach Valkan reitet. Krachtus vermutet, der Soldat ist zu dem Reiter gegangen, um sich eine Zigarette zu schnorren. Als sich der Grenzer weit genug entfernt hat, steigt Krachtus vom Trecker. Es ist 10 Uhr, bis zu dem 15 Meter breiten Grenzstreifen sind es etwa 200 Meter. Krachtus lässt den Motor eingeschaltet, beginnt zu laufen und ist fast im Nu in Serbien. Weil er nichts bei sich hat außer seinem Ausweis und 300 Lei und außerdem Arbeitskleidung trägt, fällt er einer jugoslawischen Patrouille nicht auf, er grüßt serbisch und hat die nächste Hürde genommen. Sein Ziel ist das fünf Kilometer entfernte Mokrin. Etwa einen Kilometer vor dem Dorf kommt ihm ein Wagen entgegen. Als der Fahrer ihn sieht, wendet er, öffnet die Tür und bittet ihn, einzusteigen. Krachtus ist einem Grenzoffizier in die Arme gelaufen, der vermutlich von den rumänischen Grenzern benachrichtigt worden war. Um 22 Uhr verurteilt ihn ein Richter zu 14 Tagen Gefängnis. Über einen Dolmetscher teilt der Richter Krachtus mit, dass er danach weiter kann, falls sich
Advertisement
sich herausstellt, dass er nichts auf dem Kerbholz habe. Nach der Urteilsverkündung geht es gefesselt nach Großbetschkerek ins Gefängnis. Die 14 Tage verbringt Krachtus in Einzelhaft; er bekommt in dieser Zeit lediglich einen Grenzgänger aus Hatzfeld zu sehen. Die nächste Station ist das Gefängnis in Padinska Skela. Am 34. Tag nach der Festnahme besucht ihn ein aus Genf angereister UNO-Mitarbeiter in der Gefängniszelle. Ein Verwandter hatte nämlich in Genf bei der Menschrechtskommission angefragt, weil so lange nichts von Otto Krachtus zu hören war. Er teilt dem Festgehaltenen auf rumänisch mit, dass er gekommen sei, um die Deutschen aus dem Gefängnis herauszuholen. Das tut er auch. Nach 34 Tagen darf sich Otto Krachtus zum ersten Mal baden. Vorher konnte er sich nur notdürftig in einem Trog waschen. Der UNOMitarbeiter veranlasst, dass er zu einem Friseur kommt, denn inzwischen ist ihm ein Bart gewachsen. Noch am selben Tag setzt ihn der UNO-Mitarbeiter nach Erledigung sämtlicher Formalitäten in der deutschen Botschaft in Belgrad in den Zug in Richtung Nürnberg. Otto Krachtus kommt dort in seiner Arbeitskleidung an: in einer Hose, einem Hemd und einer leichten Jacke. Er tritt den vorgeschriebenen Gang durch die Ämter im Nürnberger Lager an. Als er jedoch bemerkt, dass er in seinen Kleidern nur negativ auffällt, fragt er, ob er Station 15, die Kleiderkammer des Roten Kreuzes, nicht vorziehen dürfte. Er kleidet sich neu ein, danach wird der Gang durch die Ämter vom Spießrutenlauf zu einer angenehmen Sache. Zwei Jahre später ist auch die Familie in Nürnberg: seine Frau und die beiden Töchter. Otto Krachtus findet in einem Chemiewerk in Frankenthal Arbeit. Inzwischen ist er Rentner. Sein Entschluss, zu fliehen, ist nicht zufällig gekommen. Otto Krachtus und seine Familie haben fast alles mitgemacht, was Deutschen in Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg angetan worden ist. Mutter Maria (geboren 1913) wird im Januar 1945 mit weiteren deutschen Frauen und Männern aus Rumänien in die Arbeitslager in die Sowjetunion verschleppt. Sie stirbt dort 1947 an Unterernährung. Während die Mutter verschleppt wird, ist der Vater Josef Krachtus (1907-1973) noch beim rumänischen Militär. 1951 trifft Otto Krachtus, seinen Bruder Oskar (1938-2003), den Vater und die Großmutter, Magdalena Hügel (1890-1951), ein anderes Schicksal: Sie werden zusammen mit 40 300 weiteren Personen aus dem Banat in die Donautiefebene deportiert. Die DeportiertenListen weisen 19 034 als reiche Bauern aus, 1054 als Titoisten, 1330 als Staatsbürger Jugoslawiens, 349 als politische Häftlinge und 1218 als illegale Grenzgänger. Die meisten Deportierten dürfen die Donautiefebene Ende 1955 und Anfang 1956 verlassen. Nur solche, die mehr als 50 Hektar Boden besessen haben, müssen bleiben. Zu ihnen gehört auch Familie Krachtus. Sie darf erst im März 1963 den Ort Salcâm verlassen. 1958 und 1959 wird die Hälfte der Deportier-
ten-Häuser im Dorf abgerissen. Nur die Mitte des Dorfes bleibt erhalten. Deshalb müssen viele in den Dorfkern umziehen. In Salcâm leben in jener Zeit außer den wenigen Banatern noch Rumänen aus dem inzwischen wieder sowjetisch gewordenen Buchenland und aus Bessarabien, aus Bulgarien geflüchtete Mazedo-Rumänen und weitere rumänische Familien, die nach der Entlassung freiwillig bleiben wollen. In vielen leerstehenden Häusern werden politische Gefangene untergebracht, weil zu jener Zeit die kommunistische Repression unzähligen Menschen die Freiheit geraubt hat und die Gefängnisse längst nicht alle Verurteilten fassen können. „Wir haben bis zu unserer Entlassung zwölf Jahre unter primitivsten Verhältnissen gelebt, unter hygienischen Bedingungen, die man heute keinem Haustier zumuten würde, und - was besonders schmerzlich war - ohne Freunde und Verwandte. Das schlimmste kam jedoch im März 1963, als wir freigelassen wurden. Endlich wieder zurück in die Heimat! Aber wo sollten wir wohnen? Dass wir nicht in unsere ehemaligen Häuser konnten, wussten wir, die waren von der Staatsfarm besetzt. Wir wollten doch nur ein kleines Zimmer mit Küche, wenigstens soviel, wie wir auch im Bărăgan gehabt hatten. Damit wären wir zufrieden gewesen“, sagt Otto Krachtus. Die Albrechtsflorer Kommunisten, unter ihnen auch Deutsche, sagen einfach nein und verweigern Otto Krachtus und seiner Familie eine Unterkunft. Sie lassen sie in keine der leeren Wohnungen einziehen, obwohl genügend vorhanden sind. Otto Krachtus weiter: „Auch heute noch kann ich es nur als eine Schande bezeichnen, was uns angetan wurde.“ Er kommt 1963 mit seiner Familie bei den Schwiegereltern unter. 1957 hat er im Bărăgan die ebenfalls aus Albrechtsflor stammende Maria Wünschel (geboren 1937) geheiratet. Sie haben zwei Töchter: Anneliese (geboren 1958) und Gisela (geboren 1961). Gisela wird in Deutschland Johann Schmaltz aus dem Banater Ort Saderlach heiraten, dem zusammen mit einem Arbeitskollegen eine spektakuläre Flucht gelungen ist, die ebenfalls in diesem Buch beschrieben ist.