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Im schaukelnden Boot über die Donau
Baldwin Frank:
Im schaukelnden Boot ans rettende Ufer
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Dieser Bericht kommt dem Herausgeber dieses Buches wie gerufen. Baldwin Frank hat ihn auf Wunsch seiner Tochter Brunhilde (Bruni) geschrieben, die inzwischen mit Torsten Buhmann verheiratet ist, zwei Söhne hat und als Architektin in Berlin arbeitet, aber schon immer genau wissen wollte, wie sie mit Vater und Mutter Rosemarie geborene Ruppert und Bruder Siegfried 1975 aus dem rumänischen Banat nach Deutschland geflüchtet ist. Bruder Siegfried war damals zehn, Brunhilde vier Jahre alt. Siegfried ist Industriekaufmann und heute Eigentümer einer kleinen Rinder- und Ziegenfarm in Brasilien. Mit Hilfe derselben Schlepper gelingt in den Ein Jahr vor der Flucht: Baldwin, Rosemarie, Siegfried und Brunhilde Frank beiden folgenden Jahren zwei Vettern der Franks die Flucht über die Donau aus Rumänien sowie Baldwin Franks Mutter Anna und ihrem Lebensgefährten Anton Bössner, ferner den Brüdern Erich und Dr. Reinhold Fett und deren Mutter Anna. Ihnen stehen mehr oder weniger Fluchthelfer auf beiden Seiten des Donauufers zur Seite.
Liebe Bruni, nach meinem Studium am Institut für Bergbau in Petroşani sind wir 1968 nach Neumoldowa gezogen. Neumoldowa war früher ein kleiner Ort mit etwa 3000 Einwohnen. Anfang der 60er Jahre hat man dort große Kupfer- und Magnetit-Vorkommen gefunden und abzubauen begonnen. Am Donauufer wurde schnell eine Trabantenstadt für etwa 10 000 Bergleute und ihre Familien gebaut. Um die Bergleute bei Laune zu halten, wurde viel in Sport investiert. Ich habe eine gute Arbeitsstelle bekommen und wurde Trainer der Fußballmannschaft. Auch Mutti hatte eine gute Arbeitsstelle in der Buchhaltung. Um qualifizierte Leute nach Neumoldowa zu locken, wurden überdurchschnittliche Löhne und Gehälter gezahlt. Grubenführung, kommunistische Partei und Bürgermeister unterstützten mich tatkräftig, und so schaffte ich es in kurzer Zeit, mit der Fußballmannschaft bis in die zweite Liga aufzusteigen. Unsere Familie kam dadurch in den Genus von allen möglichen Privilegien. Es ging uns gut, es
fehlte uns nichts. Mit dem Thema Auswanderung beschäftigten wir uns erst, als die ersten Verwandten aus Deutschland uns besuchten. Hatte man nahe Verwandte in Deutschland, so konnte man damals in Rumänien einen Ausreiseantrag stellen. Danach wurde man aber zum Hilfsarbeiter abgestuft, musste oft fünf bis sechs Jahre auf die Ausreisegenehmigung warten und Schikanen erdulden. Darum kam ein Ausreiseantrag für uns nicht in Frage. Im Krankenhaus in Neumoldowa waren auch einige deutsche Ärzte beschäftigt. Wir kannten uns. Einer, und zwar Dr. Helmut Weber, ist in einer Nacht mit einem Freund, Frau und zwei kleinen Kindern geflüchtet. Keiner wusste wie. Ein anderer, Dr. Reinhold Fett, wurde mit seinem Bruder auf der Flucht erwischt. Beide mussten ins Gefängnis. 1974 blieben Onkel Siegfried, mein Bruder, und Tante Anni, seine Frau, nach einer genehmigten Urlaubsreise in Deutschland. Der damals siebenjährige Baldwin (Dein Cousin) durfte nicht mit und blieb in Temeswar bei Oma. Nach einem Jahr, nachdem seine Eltern die rumänische Staatsbürgerschaft abgelegt hatten, durfte er nach Deutschland ausreisen. Onkel Siegfrieds Auslandsreise mit den anschließenden Folgen war mit uns allen, der ganzen Familie, abgesprochen. Nach seiner Flucht wollte der Geheimdienst Securitate uns ins Landesinnere versetzen. Weil ich aber mit der Fußballmannschaft vor dem Aufstieg in die erste Liga stand, setzten sich der Bürgermeister und die Führung des Bergbauunternehmens erfolgreich für unseren Verbleib in Neumoldowa ein. Allerdings wurde unsere Wohnung nachts beobachtet. Zu Auswärtsspielen fuhr ein Spitzel mit. Nach etwa vier Monaten hat die Rund-um-die-Uhr-Bespitzelung aufgehört. Ende Mai 1975 erhielten wir von Onkel Siegfried Post aus Deutschland, ich saß auf unserem Balkon und las den Brief. Unser Nachbar, dessen Balkon an unseren grenzte, sprach mich an. Ich erzählte ihm, dass mein Bruder mit seiner Frau seit einem Jahr in Deutschland lebt und es ihnen gut geht. Er sagte kein Wort und ging in seine Wohnung. Einige Tage später warst Du oder Siegfried, krank, und Mutti blieb zu Hause. Um die Mittagszeit rief Mutti bei mir im Büro an und fragte, ob ich nach Hause kommen könne. Zu Hause erzählte mir Mutti, sie hätte auf dem Balkon unseren Nachbarn getroffen, und der meinte, dass er, wenn wir wollten, alles in die Wege leiten könnte, um uns die Flucht nach Deutschland zu ermöglichen. Wir gingen zu ihm, und er sagte uns, dass er für eine Fluchthelferbande der Vermittler sei. Er nannte uns auch einige Namen von deutschen Familien, von denen wir wussten, dass sie geflüchtet waren. So hat er unser Vertrauen gewonnen, und das Abenteuer Flucht konnte beginnen. Er hat uns auch gesagt, falls wir ihn verraten sollten, werde der Rest der Bande uns ermorden. Zwei Wochen später kam er mit einem serbischen Ehepaar zu uns. Jugoslawen durften nach Rumänien beliebig ein- und ausreisen. Mit diesem Ehepaar, die Frau sprach ein bisschen Rumänisch, handelten wir den Preis aus. Wir einigten uns auf 120 000 Lei. Als Bergbau-Ingenieur verdiente ich
damals 3000 Lei netto im Monat. 120 000 Lei waren ein Vermögen, etwa der Preis einer Vier- Zimmer-Eigentumswohnung. Uns fehlten 20 000 Lei. Die hat uns Onkel Pedi geliehen. Opa hat nach unserer Flucht und dem Verkauf unserer Wohnungseinrichtung in Neumoldowa die Schulden beglichen. Das jugoslawische Ehepaar hat uns gesagt, den Zeitpunkt der Flucht könnte es uns nicht nennen, weil daran mehrere Helfer beteiligt seien. Sie wollten aber etwa jede zweite Woche nach Rumänien kommen und jedes Mal bei uns 10 000 Lei zum Einkaufen abholen, bis die ganze Summe bezahlt ist. Wir haben sofort zugesagt. Hätten wir lange und in Ruhe alles überlegt, besonders die drohende Lebensgefahr, dann wären wir wahrscheinlich noch heute in Rumänien. Als erstes haben wir an Siegfrieds und Deine Zukunft gedacht. Dann, was wird, wenn der sportliche Erfolg ausbleibt, werden unsere Kinder auch einmal Spitzensportler, um gut leben zu können? In Neumoldowa gab es außerdem keine deutsche Schule. Das serbische Ehepaar kam regelmäßig, und wir gaben ihm brav das Geld. Wir haben unser Auto verkauft mit der Begründung, ein größeres Auto kaufen zu wollen. Sonst haben wir nichts verkauft, um nicht aufzufallen. Der Sommer verging, der Herbst ging auch zur Neige, und es tat sich nichts. Wir hatten auch schon den Glauben verloren, dass in jenem Jahr noch etwas passiert und fingen an nachzudenken. Was ist, wenn sich das serbische Ehepaar nicht mehr meldet? Das Geld ist weg, und wir können nicht zur Polizei gehen, um Anzeige zu erstatten. So verging die Zeit. Am 7. November, es war ein Samstag, etwa um 18 Uhr läutete es an der Tür. Ich öffnete. Vor der Tür stand ein älterer, armselig angezogener Mann. Er kam in die Wohnung und sagte, dass es in der Nacht losgehe. Wir sollten um Mitternacht auf der Straße hinter dem Haus stehen. Er werde uns mit einem Pkw abholen. Liebe Bruni, Du warst gerade in Temeswar bei Oma Ruppert. Wir haben sofort bei Oma Frank und Opa angerufen, damit Dich dieser mit seinem Auto nach Neumoldowa bringt. Wir hatten Glück. Onkel Pedi war gerade zu Besuch, und so ist er mit Opa zu Oma Ruppert gefahren, hat Dich abgeholt und nach Neumoldowa gebracht. Opa war damals schon 72 Jahre alt und nicht der beste Autofahrer. Um 22 Uhr sind sie angekommen, haben Dich abgegeben und sind gleich wieder zurückgefahren. Sonst hätte ich Dich mit dem Auto eines Freundes abholen müssen. Wir haben unsere Geburtsscheine, Abschlusszeugnisse, Diplome und Kopien der Arbeitsbücher in Muttis Handtasche gepackt, uns dick angezogen, die Wohnung abgeschlossen. Um Mitternacht standen wir hinter dem Haus. Der Fluchthelfer war pünktlich. Mit dem Auto fuhren wir etwa 15 Kilometer in das kleine Fischerdorf Possessena am Donauufer, das hauptsächlich von Serben bewohnt ist. Der Fluchthelfer hat uns in einem Raum ohne Fenster untergebracht. Am Morgen hat uns seine Frau Frühstück gebracht. Um 10 Uhr hat mich seine Mut-
ter in die Küche gerufen. Er war nicht zu Hause. Sie hat mich gefragt, ob mir bewusst sei, welch hohes Risiko wir eingehen und ob wir es uns nicht doch anders überlegen möchten. Ihr Sohn würde uns dann wieder nach Hause fahren. Ich habe ihr gesagt, dass es kein Zurück mehr gebe. Wir haben den Kindern alles erzählt, und die könnten sich in der Schule oder im Kindergarten verplappern. Außerdem haben wir viel Geld bezahlt, das wir nie zurückbekämen. Meine Fußballmannschaft hatte an jenem Sonntag ein Auswärtsspiel. Ich bin nicht mitgefahren und habe meinem Co-Trainer gesagt, dass ich nach Bukarest fahre, um ein neues Auto zu kaufen. Ich werde von dort direkt zum Spiel am Sonntag nachkommen. Um 13 Uhr ist der Fluchthelfer gekommen, es war ein Fischer. Er hatte ein kleines Ruderboot und die Berechtigung, auf der Donau zu fischen. Das Ufer wurde vom Grenzschutz in Begleitung von Hunden bewacht. An einigen Stellen, die nur der Grenzschutz und die Fischer kannten, waren dünne Drähte als Stolperfallen gespannt, die beim Berühren Leuchtraketen auslösten. Über der Donau wehte an machen Herbsttagen ein starker Wind, den die Einheimischen Koschawa nennen. Er hält meist fünf bis sechs Tage an. Am vierten Tag erreicht er meist seinen Höhepunkt. Dann kann man kaum auf die Straße gehen, weil man fast weggefegt wird. Wir hatten schon am Abend vor unserer Flucht bemerkt, dass Wind aufkommt. Der Fischer forderte mich auf, mich anzuziehen, mit ihm zum Donauufer zu kommen und zu entscheiden, ob wir zum anderen Ufer rudern sollen oder ob das Risiko zu groß sei. Sein Garten grenzte auf einer Breite von etwa 60 Metern ans Donauufer. Der Wind war ziemlich kräftig. Der Fischer sagte, die Grenze sei um die Mittagszeit kaum bewacht, weil der Schichtwechsel mit Lagebesprechung stattfindet. Am Ufer angekommen, stellten wir uns in die zwei bis drei Meter hohen Büsche. Die Donau war übergetreten, und wir mussten die letzten 30 bis 40 Meter bis zu den Büschen knöcheltief durchs Wasser waten. Jetzt hat er mir auch gesagt, warum die Flucht im Spätherbst und nicht im Sommer stattfinden kann. Wegen der Überschwemmung können die Hunde die Spur der Flüchtlinge nämlich nicht aufnehmen. Nun sollte ich entscheiden, ob wir es wagen. Er meinte, wenn das Boot wegen des starken Wellengangs kentert, dann würde er sich schon retten können, aber was machen die Frau und die Kinder? Ich dachte, mit ein bisschen Glück und mit Gottes Hilfe müsste es zu schaffen sein. Deshalb sagte ich ihm, je länger wir warten, umso stärker wird der Wind. Er hat mich mit versteinertem Gesicht angesehen, mir im Gebüsch eine kleine Erderhöhung mit einem drei Meter langen Baumstamm gezeigt und mich aufgefordert, dort zu warten, bis er Euch geholt hat. Etwa 20 Minuten später kam er mit Euch. Für mich war es eine Ewigkeit. Ihr habt so getan, als würdet Ihr im Garten arbeiten und habt Euch so dem Ufer allmählich genähert. Ich konnte von meinem Versteck aus alles beobachten.
Das Versteck war gut gewählt. Ich habe auch Spuren früherer Flüchtlinge, Schokoladenverpackungen oder Apfelreste, auf dem Boden liegen sehen. Er brachte Euch zu mir und ging ins Haus zurück. Mutti und ich haben uns Rücken an Rücken auf den Baumstamm gesetzt. Sie hielt Dich im Arm und ich Siegfried. So vergingen etwa drei Stunden. Der Fischer, der inzwischen auf der Donau fischte, tauchte manchmal mit seinem Boot vor unserem Versteck auf. Wir konnten durch die Büsche auch die Grenzsoldaten sehen, die mit ihren Hunden am Ufer Streife gingen. Es fing an zu dämmern, da hörten wir Hunde bellen. Das Bellen kam immer näher. Wir hatten Angst, uns stockte der Atem. Der Fischer mit seinem Boot tauchte wieder auf und schaute erschrocken zu uns. Er machte Zeichen, uns nicht zu bewegen. Dann stieg er aus dem Boot, kletterte auf einen stabilen Strauch, um zu sehen, woher das Hundegebell kam. Dann beruhigte er uns: Wir sollten keine Angst haben, der Spürhund hätte einen Igel gefunden, aber Igel liefen nicht durchs Wasser. So saßen wir und beteten, dass kein Grenzposten in die Büsche leuchtet, kein Patrouillenboot auf der Donau auftaucht und das Ufer beobachtet und dass Du, liebe Bruni, nicht aufwachst und zu weinen beginnst. Die frische Luft hatte Dich in einen tiefen Schlaf versetzt. Gegen 19 Uhr kam der Fischer und forderte uns auf, ins Boot zu steigen. Wir mussten uns alle auf den Boden legen. Er deckte uns mit alten, schmutzigen Säcken zu, damit man uns nicht von einem zufällig vorbeifahrenden Schiff sehen konnte. Die Säcke stanken fürchterlich nach Fisch. Langsam entfernten wir uns vom Ufer. Die Donau war durch den starken Wind sehr unruhig, und die Wellen schwappten manchmal über den Bootsrand. Der Strom ist an dieser Stelle 1000 bis 1500 Meter breit. Auf halber Strecke waren schon drei Zentimeter Wasser im Boot. Ich wollte mich aufsetzen, um die Säcke unter uns zu legen. Es war aber nicht möglich, denn bei jeder Bewegung drohte das Boot zu kentern. Wir kamen in die Strömung, und das Boot wurde immer schneller flussabwärts und vom vorgesehenen Ziel abgetrieben. Auf einmal sagte der Fischer, er habe keine Kraft mehr zum Rudern. Ich wollte aufstehen, um weiter zu rudern, aber er schrie mich an, ruhig zu bleiben, denn das Boot kippe um. Ich weiß nicht wie, aber auf einmal waren wir aus der Strömung, das Boot wurde langsamer, und die Wellen waren nicht mehr so hoch. Kurz danach erreichten wir das rettende serbische Ufer. Wir stiegen aus und merkten, dass niemand auf uns wartete. Der Fischer zeigte uns ein rotes Hausdach und sagte, wir sollten uns, wegen der jugoslawischen Grenzposten, nicht lange aufhalten, in das Haus gehen und der Frau seinen Namen nennen. Die Frau sei in alles eingeweiht. Wir sollten nur aufpassen, dass uns ihr Mann nicht sieht. Er sei im Zweiten Weltkrieg serbischer Partisane gewesen und könne die Deutschen nicht leiden. Er würde uns anzeigen. Danach stieg der Fischer in sein Boot und ruderte zurück.
Wir standen noch drei Minuten und hofften, die jugoslawischen Fluchthelfer würden doch noch kommen. Doch vergebens. Wir hatten Angst, in die Hände der jugoslawischen Grenzposten zu fallen. Die hätten uns wahrscheinlich wieder an Rumänien ausgeliefert. Wir gingen zu dem Haus mit dem roten Ziegeldach. Doch wir mussten feststellen: Es ist gar nicht so einfach, in ein fremdes Haus zu gehen, ohne dass der Hausherr einen sieht. Im Hof brannte Licht, und zwei Männer löschten Kalk. Hinten im Stall saß eine Frau und molk eine Kuh. Die Männer füllten drei Eimer mit Kalk und gingen damit ins Haus. Dies war der Moment, in dem wir unbemerkt zu der Frau gelangen konnten. Wir liefen zum Stall, die Frau sah uns erschrocken und fragend an. Nachdem wir den Namen des Fischers genannt hatten, schüttelte sie den Kopf und machte uns Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte uns in einen Holzverschlag hinter einem Schweinestall und bedeutete uns, ruhig zu sein und uns auf eine Bank zu setzen. Sie ging zurück in den Kuhstall. In dem Verschlag war es stockfinster, der Lehmfußboden war feucht und kalt. Es stank fürchterlich nach Schweinemist. Nach 30 bis 40 Minuten kam sie wieder und brachte für jeden einen halben Apfel. Plötzlich hörten wir Stimmen vom Hof, und die Frau kam mit zwei Männern zu uns. Einer davon war der jugoslawische Fluchthelfer, der alle zwei Wochen mit seiner Frau zu uns gekommen ist, um Geld abzuholen. Wir waren froh, endlich eine vertraute Person zu sehen. Mit einem Pkw fuhren wir in Richtung Belgrad. Nach einer Stunde, ich glaube es war Mitternacht, hielten die Männer auf einem Gaststättenparkplatz in einem Dorf an und gingen essen. Uns ließen sie im Auto sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Nach etwa 20 Minuten kam einer mit vier Sandwichs zurück. Noch nie hat ein Sandwich so gut geschmeckt, wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen außer dem halben Apfel. Die beiden Männer waren mehr als eine Stunde in der Gaststätte. Nach weiteren zwei Stunden Fahrt waren wir im Haus des jugoslawischen Ehepaars angelangt, in einem Ort an der jugoslawischen Festlandgrenze. Wir bekamen zu essen und durften einige Stunden schlafen. Um 8 Uhr gab es Frühstück. Am Tisch saß ein fremder Mann. Die Frau, die etwas Rumänisch sprach, erklärte uns, dass der Mann uns über Marburg an der Drau an die österreichische Grenze fährt. Er zeigt uns, wo wir schwarz über die Grenze nach Österreich gelangen, fährt selbst legal nach Österreich, nimmt uns dort wieder auf und bringt uns nach Graz zu Muttis Onkel. Damit waren wir einverstanden. Der Mann sprach kein Wort Rumänisch oder Deutsch. Nach dem Frühstück ging die Reise in einem alten, verrosteten Pkw der Marke Škoda los. Es waren etwa 800 Kilometer bis Marburg in Slowenien. Wir fuhren wieder in Richtung Belgrad. Unsere Kleider waren von der Bootsfahrt verdreckt, aber wieder trocken. Von einigen Kleidungsstücken hatten wir uns getrennt. Du, liebe Bruni, wurdest einmal komplett entblättert. Oma Ruppert hatte Dir alles dreifach angezogen, und es war auch gut so. In Belgrad, an
einer Ampel, ist uns einer auf den alten Škoda aufgefahren. Unser Fahrer hat sich mit dem Unfallgegner wegen der zerbrochenen linken Hinterleuchte angelegt und wollte nicht wegfahren, bis der den Schaden ersetzt hat. Wir hatten Angst, dass Polizei kommt. Deshalb haben wir ihm Muttis Halskette und ihren Ring angeboten, damit er endlich weiterfährt. Damit war er einverstanden. Wir sollten Marburg erreichen, ohne etwas gegessen zu haben. Eine kleine Panne hat es doch noch gegeben: Du wurdest von der zweiten Kleiderschicht entblättert, weil Du erbrochen hattest. Jetzt warst Du nur noch mit dem Nötigsten bekleidet. Kurz vor Mitternacht sind wir in Marburg am Grenzübergang angekommen. Der Fahrer stellte das Auto auf einem großen, leeren Parkplatz ab und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ihr habt im Wagen gewartet. Wir gingen in eine Gaststätte, er bestellte zwei Kaffee, und wir stellten uns an einen Tisch vor ein großes Fenster. In der Gaststätte waren außer uns keine weiteren Gäste. Er zeigte auf das Fenster und sagte etwas auf Serbisch. Ich konnte die Straße bis Österreich und den Grenzübergang gut beobachten. Gegenüber der Gaststätte stand das Grenzerhaus, und etwa 80 Meter dahinter war Wald. Ein Lkw, dessen Fahrer nach Österreich wollte, hielt vor dem Grenzerhaus an. Nach einigen Minuten kamen zwei
Baldwin Frank 1962 auf dem Grenzposten aus dem Haus, gingen zur Fahrer-
Fußballplatz von Jiul Petroşani seite und kontrollierten die Papiere. Da ging die Gaststättentür auf, und drei jugoslawische Polizisten traten ein. Mir stockte der Atem. Ich dachte: Euch hat man schon festgenommen, und jetzt suchen sie mich. Ich fing an zu zittern und konnte die Tasse nicht mehr halten. Die Polizisten gingen zur Bedienung und bestellten etwas. Der Fluchthelfer hatte meine Panik bemerkt und machte mir Zeichen, sofort zu gehen. Wir gingen zurück zum Auto, wo Mutti mit Euch wartete. Er forderte Euch auf, auszusteigen, setzte sich ans Steuer und fuhr, ohne ein Wort zu sagen, in Richtung Jugoslawien davon. Jetzt standen wir um Mitternacht auf dem leeren Parkplatz an der österreichischen Grenze. Was nun? Da kam gerade ein Lkw mit Anhänger. Ich sagte zu Mutti, nimm Siegfried an die Hand, ich habe Dich auf den Arm genommen, und wir sind hinter dem Lkw über die Straße gelaufen, dann eine steile Böschung auf der anderen Straßenseite hinunter auf eine Wiese. Wir warteten kurz in der Hoffnung, dass die Grenzbeamten inzwischen auf die Fahrerseite des Lkw gegangen
sind und uns nicht mehr sehen können. Dann liefen wir die etwa 50 Meter zum Wald und noch 30 Meter in diesen hinein. Ich sagte Mutti, wenn jemand ruft, nicht stehen bleiben, immer weiterlaufen. Wir hofften, wenn die Grenzposten Kinder sehen, werden sie nicht schießen. Im Wald gingen wir nach einer kurzen Pause parallel zur beleuchteten Straße nach Österreich. Nach etwa 500 Metern kamen wir auf einen 20 Meter breiten, sauber geharkten Grenzstreifen. Wir überquerten ihn. Nach weiteren 200 bis 300 Metern sahen wir dann schon beleuchtete Werbetafeln in deutscher Sprache. Jetzt waren wir sicher, in Österreich zu sein. Wir umarmten uns und gingen wieder zur Straße. Plötzlich hörten wir ein Auto mit Sirene und Blaulicht aus Jugoslawien kommen. Wir dachten, man hätte unsere Fußspuren im Grenzstreifen entdeckt. Also liefen wir wieder zurück in den Wald und versteckten uns. Das Auto, ein dunkelblauer VW-Käfer mit jugoslawischem Kennzeichen, wendete aber und fuhr zurück nach Jugoslawien. Wir gingen noch etwa einen Kilometer durch den Wald und dann erst auf die Straße. Bis Graz waren es noch 60 Kilometer. Wir versuchten, per Anhalter dorthin zu kommen. Keiner blieb stehen, und so gingen wir glücklich und entspannt die Straße entlang. Denn wir wussten: Wir sind in Österreich und in Sicherheit. Ein Auto mit zwei jugoslawischen Gastarbeitern blieb stehen. Sie nahmen uns mit. Sie sprachen Deutsch und arbeiteten in Wien. Wir sagten ihnen, dass wir einen Motorschaden hatten und zurück nach Graz wollten. Bei Graz hielten sie an, und wir stiegen aus. Weil wir kein Geld für sie hatten, fingen sie an zu schimpfen. Wir gingen in Richtung Stadt. Es war noch Nacht, die Straßen waren hell beleuchtet. Vor einer Diskothek stand ein Taxi. Wir stiegen ein und nannten dem Fahrer die Adresse von Muttis Onkel. Er meinte, Kainbach liegt 15 Kilometer von Graz entfernt. In Kainbach angekommen, mussten wir feststellen, der Onkel wohnt nicht mehr da. Da fiel Mutti ein, dass die Tante im Krankenhaus arbeitet. Also sind wir zum Krankenhaus in Kainbach gefahren. Da war alles dunkel und verschlossen. Der Taxifahrer wurde ungeduldig. Doch wir hatten kein Geld, um ihn zu bezahlen. Wir klopften mehrmals an das Krankenhaustor. Da öffnete in der ersten Etage eine Krankenschwester das Fenster. Sie kannte Muttis Tante, sagte, sie sei umgezogen, und erklärte uns, wie wir sie finden. Nach langer Suche standen wir vor dem Haus, Wir klingelten an der Tür. Der Onkel im Schlafanzug öffnete, er kannte uns nicht. Wir ihn auch nicht, wir hatten uns noch nie gesehen. Wir hatten auch keinen Briefwechsel. Er ist nach dem Krieg in Österreich geblieben. Mutti ging zu ihm, erklärte ihm in kurzen Sätzen, wer wir sind, und bat ihn, den Taxifahrer zu bezahlen. Dies tat er auch sofort. Dann gingen wir ins Haus, die Tante kam dazu, und wir erzählten ihnen unser Abenteuer. Ich bat ihn, telefonieren zu dürfen. Ich rief Onkel Siegfried in Deutschland an. Er war als Sicherheitsingenieur im Erzbergwerk in Bad Grund
im Harz beschäftigt. Als das Telefon nachts bei ihm läutete, dachte er an einen Arbeitsunfall im Bergwerk. Als ich dann am Telefon war und ihn bat, uns von Muttis Onkel in Graz abzuholen, da musste er sich erst hinsetzen und sich vergewissern, wach zu sein und nicht zu träumen. Er hatte keine Ahnung, dass wir die Absicht hatten, zu flüchten. Er schrieb sofort seinem Bergwerkdirektor einige Zeilen und bat um drei Tage Urlaub. Ich habe ihn noch gebeten, uns frische Kleidung mitzubringen, weil unsere von der Flucht verdreckt sei. Er ist gleich losgefahren. Im Nürnberger Aufnahmelager für Spätaussiedler hat er erfahren, dass es in Graz ein deutsches Konsulat gibt, das uns weiterhelfen wird. Abends ist er in Graz angekommen. Am nächsten Tag sind wir ins deutsche Konsulat in Graz gegangen. Dort hat man uns gesagt, es werde mindestens eine Woche, vielleicht auch noch länger dauern, bis wir die Pässe zur Einreise nach Deutschland bekämen. Ich habe der Sachbearbeiterin gesagt, dass wir zwei Grenzen unter Lebensgefahr überschritten haben und über die österreichischdeutsche Grenze das Lied „Das Wandern ist des Müller Lust“ singend gehen werden. So lange werden wir nicht warten. Darauf hat sie gelächelt, mit dem Konsul gesprochen und mit Deutschland telefoniert. Sie hatte den Fall gelöst: Wir mussten schnell Passbilder in der Stadt machen und bekamen Pässe. Sie waren nur zwei Tage gültig. Wir sollten uns sofort im Aufnahmelager Friedland melden, weil Onkel Siegfried im Harz in Niedersachsen wohnte. Wir haben uns von Muttis Tante und Onkel verabschiedet und sind gleich losgefahren. In der Nähe von Passau haben wir übernachtet, und am nächsten Tag, dem 12. November 1975, sind wir weitergefahren. In den Kasseler Bergen hat uns der erste Schnee überrascht. Sofort bildete sich ein kilometerlanger Stau, wir kamen kaum voran. Onkel Siegfried war müde, und ich setzte mich ans Steuer. Es war keine Umstellung, da er noch seinen Wagen aus Rumänien fuhr. Spät abends waren wir erst in Bad Grund. Am nächsten Tag haben wir uns in Friedland gemeldet. Damals kamen sehr wenige Aussiedler nach Deutschland, das Lager war fast leer, und man hat sich sehr um uns bemüht. Jeder wollte uns helfen. Dr. Kuhn, der Leiter des Lagers, ein sympathischer Mann, seinen Namen und seine Worte werde ich nie vergessen, hat zu mir gesagt, wir sollten zu ihm kommen, wenn wir alles erledigt haben. Nach zwei Tagen waren wir fertig. Ich klopfte an seine Bürotür, und er bat uns, Platz zu nehmen. Wir unterhielten uns ein wenig, und zum Abschied sagt er uns: „Sie werden auch auf Schwierigkeiten stoßen, aber lassen Sie sich nicht unterkriegen. Treten Sie selbstbewusst auf, denn Sie und Ihre Familie sind ein Gewinn für Deutschland. Zwei gesunde Kinder, der deutschen Sprache mächtig, Sie beide mit einer guten Ausbildung, die den deutschen Steuerzahler nichts gekostet hat. Von dieser Sorte könnten wir mehr gebrauchen. Alles Gute, viel Glück und auf Wiedersehen.“ Wir hatten, auch auf Onkel Siegfrieds Rat, als Ziel Baden-Württemberg gewählt und sind
ins Übergangswohnheim nach Pforzheim gekommen. Keiner konnte ahnen, dass ich kaum fünf Monate später, im März 1976, im Erzbergwerk Grund die Arbeitsstelle von Onkel Siegfried übernehmen werde. Liebe Bruni, es ist nur eine Kurzbeschreibung unserer Flucht. Beim Schreiben 30 Jahre nach der Flucht hatte ich wieder ein mulmiges Gefühl. Viele Grüße an Torsten und Küsse an die Kinder, Servus Mutti und Vati Kassel, Ostern 2007
Grandiose Landschaft: Der Donaudurchbruch mit Blick in den "Kleinen Kessel" Foto: Walther Konschitzky