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Der freundliche Fluchthelfer

Josef Herbst, Josef Stadtfeld, Hans Hahn junior, Hans Krier:

Wenn einige der acht Mann aus der Billeder Flüchtlingsgruppe zusammensitzen und Erinnerungen austauschen, kommt ab und an die Geschichte des Jakob Lenhardt auf die Tagesordnung. Und dann haben wieder einmal alle etwas zu lachen. Als die acht aus der Banater Gemeinde im Südwesten Rumäniens am Morgen des 7. August 1981 zusammen mit weiteren 20 Frauen und Männern über die rumänisch-jugoslawische Grenze laufen, ist Lenhardt gut gerüstet. Von seinem nach dem Krieg in Deutschland gebliebenen Vater hat er Motorradhandschuhe mitgebracht. Sie reichen bis an die Ellenbogen und gehören genauso zu seiner Fluchtausrüstung wie ein zünftiges Fleischermesser. Damit, so seine damalige Vorstellung, hätte er die scharfen Hunde der Grenzsoldaten abwehren können. Die Handschuhe sollten Schutz gegen Bisse bieten, mit dem Messer wollte er die Hunde abschlachten. Die Ausrüstung hat Lenhardt nicht gebraucht. Gott sei Dank, sagt Josef (Sepp) Herbst (geboren 1933), der ebenfalls zu der Gruppe gehört. Alle 28 sind durchgekommen, manche mit kleinen Blessuren.

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In der Durchgangsstelle für Aussiedler in Nürnberg angekommen sind: (von links) Josef Herbst, Matthias Lay, Jakob Lenhardt, Josef Stadtfeld, Hans Hahn junior, Rudolf Kastel, Hans Hahn senior, Helmut Lay und Hans Herbst. Foto: Peter Krier

Darunter ist eine Frau, die wegen Grenzübertritts verurteilt und erst vor zwei Wochen zur Entbindung in Hafturlaub geschickt worden ist. Dabei sind außerdem eine im sechsten Monat Schwangere und eine Frau mit ihrem zwölfjährigen Sohn. Diese Flucht und eine Reihe von weiteren illegalen Grenzübertritten haben Fluchthelfer von April bis Oktober 1981 ermöglicht in einem Grenzabschnitt bei Tschawosch. Vermutlich Verrat setzt dem ganzen ein Ende. Hauptfluchthelfer Basilius K. (Name geändert) kommt ins Gefängnis. Er bricht aus, flieht nach Serbien und gelangt nach Italien. Von dort holen ihn einige der Flüchtlinge, die 1981 mit seiner Hilfe Rumänien verlassen haben, nach Deutschland. Mathias (Matz) Hell (geboren 1933) sammelt Geld und schickt es Basilius. Inzwischen hat sich die Spur des freundlichen Fluchthelfers verloren. Basilius, der angeblich Baptist ist, kassiert im Sommer 1981 von jedem Flüchtling 20 000 Lei. Eine Vierzimmerwohnung wechselt in jener Zeit in Rumänien den Eigentümer für rund 120 000 Lei. Mehr oder weniger Eingeweihte wollen wissen, dass Basilius seinen Anteil an dem Schlepperlohn nicht für sich behalten, sondern der Baptistengemeinde in der Banater Hauptstadt Temeswar gespendet hat. Über ihn sprechen die meisten seiner Kunden mit Respekt, manche nennen ihn sogar den freundlichen Helfer. Von den Grenztruppen ist mindestens ein Offizier als Helfer tätig, wahrscheinlich aber mehrere. Eingeweiht sind außerdem Peter Stein (1933-1987) als Vermittler zwischen Fluchthelfer und Fluchtwilligen, ferner ein Treckerfahrer. Peter Stein aus dem Dorf Denta ist Nachtwächter und Basilius Baggerführer auf einer Kanalbaustelle an der serbischen Grenze. Deshalb kennt sich Basilius dort aus wie in seiner Westentasche. Als Entwässerungskanalbauer an der Grenze lernt er, ob er will oder nicht, die Grenzer kennen. Rudolf Kastel (geboren 1940 in Temeswar), der Basilius über die Frau seines geflohenen Arbeitskollegen Karl Loth (geboren 1942 in Temeswar) kennen lernt, beschreibt den Fluchthelfer als dunklen, kräftigen Mann mit Narben im Gesicht, die er anfangs als Folge von Schlägereien deutet. Wie er später erfährt, sind es Spuren von Misshandlungen bei Polizeiverhören. Als Reaktion darauf hilft er Auswanderungswilligen, illegal die Grenze zu passieren. Basilius ist zu jener Zeit etwa 30 Jahre alt und ein kräftiger, sportlicher Typ, sagt Hans Hahn senior aus Billed. Basilius versucht stets, ein Vertrauensverhältnis zu seiner Kundschaft aufzubauen. Er erzählt beispielsweise Rudolf Kastel, wie er seinem Bruder zur Flucht nach Kanada verholfen hat und von dessen illegalem Besuch über die grüne Grenze beim schwerkranken Vater in Rumänien. Zusammen mit Kastel fährt er mit dem Auto ins Grenzgebiet, um die Aufstellung der Soldaten nach Einbruch der Dunkelheit zu beobachten. Mit einem kanadischen Militärnachtsichtgerät kann er auf zwei Kilometer Entfernung jede Bewegung wahrnehmen. Basilius

lehrt Kastel, Geräusche zu deuten, ferner, wie man sich am besten bewegt und welche Kleidung am besten tarnt. Die Fahrt zur Grenze erfolgt jedes Mal anders. Die Flüchtlinge steigen immer in wechselnden Orten um oder starten in Temeswar mit einem anderen Verkehrsmittel. Basilius ist vorsichtig. Auf der Fahrt zur Grenze bekommt Kastel auch das mit: Nach Einbruch der Dunkelheit entfernen sich die Soldaten etwa zwei Kilometer von der Grenze und postieren sich an bestimmten Plätzen entlang einer ZickzackLinie in Form des Buchstaben W. Sie verfügen über Suchscheinwerfer und Spürhunde. Jeder Grenzerstützpunkt ist für einen Abschnitt von etwa 7,5 Kilometer zuständig. Flüchtende müssen zwischen zwei Posten auf Hochständen durchschleichen. Die Bewässerungs- und Entwässerungskanäle in diesem Grenzabschnitt führen zu einem großen Sammelkanal, der auf serbischer Seite in die Temesch mündet; die Temesch fließt bei Rudolf Kastel Belgrad in die Donau. Die Kanäle werden periodisch mit Löffelbaggern vom Schlamm gesäubert. Die Baggerfahrer kennen alle Kanäle und wissen, in welchem Kanal nachts Posten stehen und welcher nahe der Grenze mit einem Drahtverhau verschlossen ist. Ein Kanal ist etwa fünf Meter breit und drei Meter tief. Er hat einen Böschungswinkel von 45 Grad. Wasser und Schlamm bedeckten seine Sohle. Basilius' Wissen und das seiner Mittelsmänner sind Voraussetzung für das Gelingen der Flucht. Und noch etwas ist wichtig: Die Flüchtenden müssen südwärts gehen. Basilius sagt seinen Kunden stets, sie sollten darauf achten, dass keiner nach Überschreitung der Grenze von der vorgegebenen Himmelsrichtung abweicht, weil dann die Gefahr bestehe, wieder in Rumänien zu landen. Deshalb besorgt sich Kastel eine serbische Militärkarte des Grenzgebiets und einen Nachtkompass, der der 28 Mann starken Gruppe tatsächlich von Nutzen sein wird. Auf welche Weise Basilius zum Fluchthelfer wird, berichtet Marlene Nagy (geboren 1957) aus Kleinbetschkerek, die inzwischen ein zweites Mal verheiratet ist, damals aber die Schwiegertochter Peter Steins war. Am 2. Februar nutzt Marlene Nagys Mutter einen Besuch in Jugoslawien zur Flucht nach Deutschland: Susanne Paul (geboren 1937) ist im Besitz eines Passes für den sogenannten kleinen Grenzverkehr, der ihr erlaubt, nach Serbien zu fahren, um einzukaufen und kleine Geschäfte abzuwickeln; sie aber auch verpflichtet, noch am selben Tag heimzukehren. Nach der gelungenen Flucht sucht Marlene Nagys Va-

ter, Franz Paul, eine Möglichkeit, um seiner Frau nach Deutschland folgen zu können. Über den Schwiegersohn, Johann Stein (geboren 1954), kommt die Verbindung zu Mitvater Peter Stein und zu Basilius zustande. Peter Stein will allerdings lediglich Franz Paul, seinem Mitvater, helfen. Er will eigentlich nicht, dass sein Sohn mit dem Schwiegervater flüchtet. Wenn er das gewusst hätte, wäre er nie mit dem Vorschlag an Franz Paul herangetreten - wird er später seinem Sohn sagen. Den ersten Schub schafft Basilius am 6. April 1981 über die Grenze bei Tschawosch: Franz Paul, dessen Tochter Hannelore (geboren 1961), Johann Stein, Franz Hoffner, Johann Paul, der allerdings nicht mit Franz Paul verwandt ist, und einen unbekannten Rumänen. Aus Franz Pauls Familie bleiben lediglich Tochter Marlene wegen ihrer beiden Kinder und die Oma daheim in Kleinbetschkerek, der Rest folgt Basilius zur Grenze. Zweieinhalb Jahre dauert es, bis Marlene Nagy zusammen mit ihren beiden Töchtern und der Oma die Ausreisegenehmigung erhalten werden. Doch auch nur deshalb, weil es ihr Anfang September 1983 gelingt, dem rumäni-

Anna und Mathias Hell mit Anna Kilzer in Pforzheim schen Staatschef Nicolae Ceauşescu bei einem Besuch in der Banater Hauptstadt Temeswar einen Brief mit ihrem Anliegen zu überreichen. Ihre vorhergehenden Anträge sind angeblich stets verlorengegangen. Um den Brief überreichen zu können, mischt sich Marlene Nagy mit ihrer drei Jahre alten Tochter auf dem Arm unter die zum Jubeln zusammengetriebene Menschenmenge am Straßenrand. Nach der geglückten Übergabe führen Mitarbeiter des Geheimdienstes Securitate Marlene Nagy und ihre Tochter ab in eine Schule in der Stadtmitte, wo sie zusammen mit vielen Gleichgesinnten den ganzen Tag festgehalten und verhört wird, allerdings ist der Umgangston ausnahmsweise höflich. Nachdem Ceauşescu seine Rede gehalten hat, lässt der Geheimdienst die Festgehaltenen laufen. Als Marlene Nagys Eltern zum ersten Mal nach der Flucht nach Rumänien fahren, lässt der Geheimdienst sie spüren, wie er mit Leuten wie ihnen umzugehen pflegt. Grenzbeamte schikanieren sie, die Mutter muss sich ganz ausziehen. Weil die Grenzer ihre Pässe nicht abstempeln, schicken die ungarischen Kollegen die beiden zurück nach Rumänien. Die beiden geraten in Panik, denn sie wissen nicht, weshalb die Ungarn sie zurückgewiesen haben.

Im Mai 1981 organisiert Basilius den zweiten Grenzübertritt; und danach den dritten mit Matz Hell, seiner Frau Anna aus Kleinbetschkerek, mit Peter Dietz aus Sankt Andreas, Anna Kilzer aus Jahrmarkt (geboren 1937) und Karl Loth aus Temeswar. Diese dritte Flucht unter Basilius' Regie hat Anna Kilzer am 27. August 1982, ein Jahr nach der Ankunft in Deutschland, in Schönstatt auf'm Berg aufzuschreiben begonnen. Am 27. Juni führt Basilius 16 Frauen und Männer an die Grenze. Zu ihnen gehören auch Anna und Matz Hells Töchter mit den Schwiegersöhnen: Anni (1953) und Hans Krier (1951), Katharina (geboren 1958) und Hans Szabo (geboren 1952), ferner Magdalena und Toni Szabo aus Überland. Auch Krier schildert Basilius als vorsichtigen Mann. Die Leute, die er über die Grenze schleust, sucht er stets selbst aus. Von denen, die er akzeptiert, darf keiner auf eigene Faust jemanden mitbringen. Das verbietet er jedem. Über das Zusammenwirken von Basilius mit Grenzoffizieren berichtet Hans Krier: „Kurz vor der Grenze standen wir plötzlich im Scheinwerferlicht. Doch passiert ist nichts. Ich bin mir sicher, die haben uns gezählt, damit sie wussten, welchen Anteil sie von Basilius zu bekommen hatten.“ Am 3. September 1981 führt Basilius 18 Frauen und Männer an die serbische Grenze. Dabei ist auch Johann Pauls Familie: seine Frau Anna und die Töchter Sieglinde und Inge. Und dann, am 29. September, dem Tag, als die Securitate Basilius verhaftet, geht die Erfolgsgeschichte zu Ende; sie hat lediglich einen Sommer gewährt.

Anna Kilzer: Abschied nach der letzten Maiandacht

Ja, ja, es war schon ein ereignisreiches Jahr, das Jahr 1981. Mitte Mai fing es an, da hörte ich zum ersten Mal davon, dass sich meine Wünsche, nämlich nach Deutschland auszureisen, verwirklichen sollten; also ein Hoffnungsschimmer. Als ich aus dem Urlaub, den ich in dem Kurort Slănic Moldova verbracht hatte, zurückgekehrt war, da hörte ich mit Verwunderung, dass Anna Hell Urlaub genommen hatte. Denn sie hatte nichts von Urlaub erwähnt. Nun, wir hatten uns nicht mehr getroffen, und ich war sehr erstaunt, als eines Morgens die Gabor in den Lagerraum kam und mir sagte, Tante Anni ist am Eingangstor, sie sucht dich und Seppi Guth. Ich rief Seppi, und wir gingen zum Tor, wo Anna Hell wartete. Was sie uns zu sagen hatte, war phänomenal. Geradeheraus fragte sie uns, ob wir mitkommen wollten, denn Matz, ihr Mann, hat jemanden gefunden, der uns über die Grenze bringt. Seppi bedauerte, er habe keine 20 000 Lei. Ich hatte keine Bedenken, ich sagte sofort, ich gehe mit, wenn die Flucht nicht übers Wasser führt. Komisch an der ganzen Sache war: Während wir unsere Flucht besprachen, kamen unsere „Herren“ einer nach dem anderen zur Arbeit und marschierten an uns vorbei. Wir sagten noch, wenn die wüssten, was wir besprechen - das würde die umhauen.

Anna sagte mir noch, dass wir uns am Donnerstag treffen und dann zu Basilius gehen werden, wo alles besprochen wird. An Christi Himmelfahrt trafen wird uns also alle: Da waren Familie Hell, ich, ein Kollege von Mathias und Peter Dietz aus Sankt Andreas. Basilius fragte uns, wann wir gehen wollten, am Montag, dem 1. Juni, oder am Mittwoch. Wir waren uns alle einig: Wenn wir gehen, dann so schnell wie möglich; denn eine so schwerwiegende Angelegenheit sollte man ganz rasch hinter sich bringen, um nicht noch lange darüber nachzudenken und eventuell Angst zu bekommen, so dass man im letzten Augenblick abspringt. Basilius sagte uns nun, wir sollten uns Essen für zwei bis drei Tage in eine kleine Tasche packen, die jeder selber tragen kann, denn auf einem solchen Weg kann einem niemand helfen; jeder hat genug mit sich selbst zu tun. Ich packte also eine Tasche mit etwas Unterwäsche, Handtuch, einem Paar Schuhe und sonst dem Allernotwendigsten. Das war am Sonntag, dem 31. Mai, und am Montag sollte das große Abenteuer beginnen. Der Entschluss fiel uns nicht leicht, denn wir mussten alles zurücklassen, und man weiß ja nie, wie eine solch illegale Sache ausgeht. Man musste damit rechnen, erwischt zu werden. Und was einem dann blüht, wussten wir alle nur zu genau. Zur selben Zeit war mein Bruder Georg aus Deutschland zu Besuch, er hatte für mich 5000 Mark mitgebracht. Ich sollte versuchen, mit dem Geld einen gültigen Pass zu bekommen, um legal ausreisen zu können. Ich hatte tatsächlich jemanden gefunden, der die Sache mit dem Pass geebnet hätte, doch jetzt hatte ich kein Interesse mehr daran, was ich meinem Bruder aber nicht sagen konnte, denn der hätte mir abgeraten, und das konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Es war für mich doch einfacher, 20 000 Lei zu bezahlen, statt 5000 Mark Schulden bei der Ankunft in Deutschland zu haben. Doch zurück zum Tag vor dem Weggehen. Es war Sonntag, der 31. Mai. Mein Bruder Franz mit Familie war auf einer Hochzeit. Ich lud meine Schwester zu mir ein, denn ich wollte nicht weggehen, ohne es ihr zu sagen und ohne mich von ihr zu verabschieden. Sie kam, und dabei war auch Renate. Doch die schickte ich zu Anni Marx, damit wir uns ungestört unterhalten konnten. Meine Schwester war nicht begeistert von meinem Vorhaben, aber als sie sah, dass ich fest entschlossen war, da wünschte sie uns gutes Gelingen. Am Abend war die letzte Maiandacht. Seppi, unser Kantor, fragte mich: „Was sollen wir singen“. Da Anna Tasch auch da war, wünschte ich mir „Immaculata“ und „Stern im Meere“, denn ich wollte den Jahrmarktern etwas Schönes zum Abschied singen. Zum letzten Mal sangen wir, Anna und ich, gemeinsam das Solo „Jungfrau, Jungfrau sündenlos und makelrein, las uns diesem Schutz empfohlen sein und höre mein Flehen, neige dein Antlitz, gib meiner Herrin Friede und Heil“. Ich glaube, so innig und schön wurden diese Lieder noch nie gesungen. Etwas war anders - alle haben es gemerkt, auch Anna hat es gefühlt, wie sie mir nachträglich schrieb. Nach der Maiandacht sagte ich zu Susi Tassinger, komm, lass uns

zu Lissi Küchler hinüber gehen. Susi wusste ja, dass es mein letzter Abend daheim war. So sprachen wir noch ein paar Minuten mit Lissi, die keine Ahnung von meinen Plänen hatte, aber sie war mir ein guter Kumpel auf der Arbeit und auf dem Heimweg von der Arbeit. Darum wollte ich sie noch einmal sehen. Das war der letzte Abend daheim. Für Montag, den 1. Juni, hatte ich die Schicht getauscht. Ich musste weg von der Spätschicht, weil wir uns um 19 Uhr bei Basilius treffen sollten. So fuhr ich denn in der Früh zur Arbeit, um 15 Uhr war ich wieder zu Hause. Als ich angekommen war, sagte mir meine Schwägerin Lissi, wir müssen noch zur Post, dein Koffer ist angekommen. Den hatte ich nämlich im Dezember in Slănic Moldova in die Post gegeben, und jetzt, nach sechs Monaten, ist er angekommen, gerade an einem so wichtigen Tag. Auf dem Weg zur Post machte ich noch einen Sprung in die Kirche, denn noch nie hatte ich die Hilfe des himmlischen Vaters so dringend nötig wie in der bevorstehenden Nacht. Ich wollte auch Dank sagen für alle Gnaden und Gaben, die ich hier in diesem Gotteshaus empfangen habe, wollte Abschied nehmen, und vor allem unser Vorhaben in die Hände Gottes und seiner heiligen Mutter legen. Und dann waren sie auch tatsächlich bei uns, haben uns beschützt und geleitet. Deo gratias. Als ich zu Hause war mit meinem verloren geglaubten Koffer, da kamen auch schon Hilde und Seppi, die mich mit dem Auto nach Temeswar bringen sollten. Ja, bis hierher war alles noch gut, aber nun wurde es ernst. Alles fing an, Gestalt anzunehmen, es hieß nun, von Bruder und Schwägerin Abschied zu nehmen. Es war nicht leicht, denn die Sorge, wie wird es ausgehen, lastete auf uns. Ich sagte ihnen, wenn ihr nichts hört, sind wir glücklich durchgekommen, denn wenn wir in Rumänien geschnappt werden, muss uns der Ortspolizist abholen. Und das erfahrt ihr dann sofort. Werden wir in Jugoslawien gefasst, kann ich mich nicht melden, dann müssen wir ins Gefängnis, und das ist ein gutes Zeichen. Eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss und Händedruck, und ich verließ für immer mein Elternhaus, in dem ich eine arme, aber frohe und glückliche Kindheit und Jugendzeit verlebt habe. Wir kamen auf die Straße, und wer stand da, der Joschi und der Sepp, unsere Nachbarn. Um ihren Fragen nach dem Wohin zu entgehen, rief ich ihnen ein Servus zu und stieg rasch ins Auto, denn niemand durfte etwas von meinem Vorhaben wissen. Sie waren die letzten, die ich im Dorf sah. Die Fahrt in die Stadt verlief ziemlich schweigsam, jeder hing seinen Gedanken nach. In Temeswar trafen wir Anna Hell. Wir fuhren gemeinsam in den Stadtteil Mehala. Die Männer kamen mit der Straßenbahn. Es musste jedes Aufsehen vermieden werden. Dann kam der Abschied von Hilde und Seppi - ein schlimmer Moment, denn sie waren die letzten, die ich von meiner Familie sah. Beide weinten, denn sie hingen an mir, sie hatten Angst um mich. Sie blieben so lange stehen und winkten, bis wir um die erste Ecke verschwunden waren.

Es war aber doch nicht so leicht, wie es anfangs schien, etwas lag schwer auf meiner Brust: die Ungewissheit, was wohl in der kommenden Nacht geschehen wird. Wird das Unterfangen gelingen? Nun, ich tat das einzig Richtige, das man in solch einer Lage tun kann. Ich habe mich und meine Begleiter der Liebe Gottes empfohlen, es möge sein Wille geschehen. Auch dem Schutz seiner lieben Mutter habe ich uns empfohlen, und siehe, wir wurden nicht enttäuscht. Sie waren immer bei uns. Danke. Als Anna und ich bei Basilius ankamen, waren die Männer schon dort, und da war auch noch der Karl Loth, auch er war mit von der Partie. Nun waren wir alle zusammen. Für sie alle war es noch schwerer, denn sie ließen Frau und Kinder zurück, und die Anna und der Matz ihre Kinder, Enkel und die Mutter. Um 21 Uhr war es soweit: Es kam der Fahrer, der uns bis ins letzte Dorf vor der Grenze bringen sollte. Wir verließen nun getrennt Basilius' Wohnung, denn wir durften auch hier kein Aufsehen erregen. Basilius und Karl gingen voraus, Peter und ich folgten, Anna und Matz waren die letzten. Der Fahrer bat Peter und mich an der Ecke in den Wagen, Anna und Matz ein Stück weiter. Wir fuhren bis zum Hauptbahnhof. Ich blieb im Auto, die anderen nahmen ein Taxi bis ins 10 Kilometer südlich von Temeswar gelegene Schag.

Querfeldein

Als wir dort ankamen, stiegen Anna, Matz und Peter wieder zu uns ins Auto. Und nun ging die Reise los. Es war schon abenteuerlich, wie wir quer durch die Dörfer fuhren, die Mitte meidend, damit wir nicht gesehen werden, denn wir waren schon im Grenzgebiet. Die Namen der Dörfer, durch die wir gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Nur an Tschakowa kann ich mich noch erinnern. Wir erreichten das letzte Dorf, Tolwadin. Dort hieß es, das Auto rasch und lautlos verlassen. Der Fahrer musste zurück nach Temeswar, ohne gesehen zu werden. Wir mussten den letzten Weg zu Fuß antreten. Es war 23 Uhr. Wir kamen gut voran und gingen feldeinwärts; ungeackerte Flächen wechselten sich ab mit Gerstenäckern, die von tiefen Kanälen durchzogen wurden, ferner mit Stoppelfeldern und gras- und distelbewachsenen Parzellen. Dann standen wir vor einem breiten, mit Schweinemist gefüllten Graben. Wir mussten durch. Bis zu den Knien waren wir verdreckt. Um jedes Geräusch zu vermeiden, mussten wir die Schuhe ausziehen. Zunächst ging alles gut, aber allmählich tauchten Probleme auf. Das Gelände bereitete uns Schwierigkeiten: Es ist nämlich nicht einfach, barfuss durch Stoppeln, Disteln, Dornen und über trockene Schollen und durch Wassergräben zu gehen. Allmählich wurden die Fußsohlen wund. Meine Schuhe hatte ich in einem Kornfeld abgestellt, da sie mir zu schwer geworden waren. Ich hatte ein Paar Reserveschuhe dabei. Wir mussten rasch vorankommen, konnten aber fast nicht mehr auftreten. Und dann geschah es auch schon: Plötz-

lich hat Anna schlapp gemacht; sie konnte einfach nicht mehr, bei jedem Schritt ging sie in die Knie, und Matz hatte seine liebe Not mit ihr. Er redete ihr gut zu, wir hätten es doch bald geschafft, wir müssen vorwärts, denn zurück ist es ebenso gefährlich wie nach vorn. Und wenn wir es schaffen, sind wir in Freiheit, schau, wie die Anna Kilzer so mutig voranschreitet. Matz hat es tatsächlich geschafft, die Anna hat sich wieder gefangen. Während der ganzen Diskussion gingen wir pausenlos weiter, denn um 2 Uhr mussten wir an der Grenze sein. Als Anna wieder in Ordnung war, fing es mit mir an. Ich fiel immer mehr zurück. Bei jedem Schritt ging ich in die Knie, manchmal berührte meine Hand den Boden. Es war, als ob ich über Nägel ging. Und nun musste sich Matz meiner annehmen. Er sagte: „Schau einmal, wir haben es doch bald geschafft. Bisher ging doch alles gut, und wir werden es schaffen, weil wir es wollen, schau, die Anna ist wieder obenauf. Du wirst es auch können.“ Ich sagte ihm, lieber würde ich 10 000 Mark Schulden machen, als diesen Weg gehen. Jetzt mischte sich Anna ein. Sie forderte die Männer auf, meine Tasche zu tragen. Sie taten nämlich so, als ob sie nicht mitgekriegt hätten, dass Anna und ich große Probleme hatten. Ja, wenn der Matz nicht gewesen wäre, ob das ganze für uns auch so gut ausgegangen wäre? Ich war froh, als wir uns wieder einmal auf den Boden legen mussten; es war eine kleine Verschnaufpause, die gut tat. Basilius hielt Ausschau nach seinen Kumpeln, die Lichtsignale geben sollten, aber noch war es nicht soweit. Wir kamen noch über einige Wassergräben, Brücken, an verlassenen Schafställen vorbei. In der Ferne waren die Lichter der Grenzerhäuschen zu sehen. Am schauerlichsten war das Bellen der Hunde, es klang in der Nacht bedrohlich. Es schien uns wahrscheinlich doppelt so laut, weil unsere Nerven zum Zerreißen angespannt waren. Es war bald 2 Uhr, wir näherten uns der Grenze. Ich erlebte die längsten Stunden meines Lebens. Endlich - wir lagen auf dem Boden - sahen wir das Lichtsignal aus einem Gebüsch hochsteigen. Wir wussten, unsere Helfer sind in der Nähe. Sie hatten uns das Zeichen gegeben, weiterzugehen, es droht keine Gefahr, der Weg ist frei. Mit neuem Mut gingen wir vorwärts, doch da drang plötzlich Motorengeräusch an unsere Ohren. Wir warfen uns zu Boden, es war in einem Gerstenfeld, hielten den Atem an und lauschten und warteten. Es waren vielleicht noch 50 Meter bis zur Grenze. Es hatte den Anschein, als kämen die Scheinwerfer des Traktors genau auf uns zu. Doch zu unserer Erleichterung bog er nach links ab. Wir atmeten auf, noch einmal gut gegangen. Nun lagen wir da, Basilius gab uns die letzten Ratschläge mit auf den Weg, denn hier trennte er sich von uns und musste den ganzen Weg zurückgehen. Er gab uns einen Schluck Schnaps aus der Flasche - es war der erste in meinem Leben -, dann fragte er uns, ob wir noch laufen können. Wir sagten, nicht ohne Schuhe. Da durften wir die Schuhe zu unserer großen Erleichterung wieder anziehen, denn unsere Fußsohlen waren wund, sie schmerzten unheimlich bei

jedem Schritt. Mit den Schuhen an den Füßen fühlten wir uns fast wie neu geboren. Basilius küsste uns zum Abschied und wünschte uns für den weiteren Weg viel Glück. Er kam uns noch dreimal nachgelaufen und bat uns immer wieder, uns ja links zu halten, wenn wir über dem Graben sind, denn rechts macht der Graben eine Biegung, und ehe wir uns versehen, sind wir wieder in Rumänien. Wir waren bald über dem Graben, hatten somit die Grenze überschritten. Wir waren auf der rettenden Seite. An Ausruhen war aber nicht zu denken. Wir gingen weiter, immer weiter durch mannshohes, fingerdickes Gestrüpp, das die Serben hier an der Grenze gepflanzt hatten. Vom Tau wurden wir ganz nass. Endlich hatten wir das Gestrüpp hinter uns. Jetzt mussten wir uns entscheiden: Gehen wir nach rechts oder nach links. Peter und Karl wollten nach rechts. Matz aber nach links. Anna meinte, weil die zu zweit diese Ansicht vertraten, hätten sie recht. Matz regte sich auf und sagte, dann geht doch mit, ich gehe in die andere Richtung. Er ging los, und alle folgten ihm. Und siehe, er war auf dem richtigen Weg. Wir erreichten den Feldweg, von dem Basilius gesprochen hatte. Plötzlich sahen wir einen großen Schatten vor uns. Weil wir dachten, vor uns ist ein Grenzerstützpunkt, wichen wir in einen Obstgarten zur Rechten aus. Wir setzten uns auf einen Baumstamm, denn das Gras war nass. Wir froren gewaltig, denn wir waren durchnässt. Meine Strümpfe hingen in Fetzen von den Beinen. Ich schnitt sie einfach ab. Sie waren Teil einer Strumpfhose. Diesen Rest bewahre ich noch heute als Andenken an die gelungene Flucht auf. Bald begann es zu dämmern. Ein neuer Tag zog herauf - was wird er bringen? In der Gewissheit, das Schlimmste hinter uns zu haben, sind wir mit neuem Mut aufgebrochen, nicht bevor wir uns vergewissert hatten, was es mit dem in der Nacht gesehenen Schatten auf sich hat. Der Schatten entpuppte sich als gestapelte Baumstämme. Weil von denen keine Gefahr drohte, konnten wir den Weg fortsetzen. Wir gingen bis zum Fluss Bersau, der im Banater Bergland auf rumänischer Seite entspringt, fast ganz kanalisiert ist und etwa 100 Kilometer nördlich von Belgrad in die Temesch mündet, die sich wieder kurz hinter der serbischen Hauptstadt in die Donau ergießt. Wir gingen auf dem Damm und wollten ein bis zwei Dörfer hinter uns bringen, um im dritten einen Bus in Richtung Belgrad zu nehmen. Geld hatten wir, Matz und Anna jugoslawisches, ich Deutsche Mark. Doch aus unseren Plänen wurde diesmal nichts. Nachdem wir uns in einem Graben gereinigt hatten, gingen wir weiter.

Die Grenzer staunen

Plötzlich tauchte ein alter Mann auf einem Fahrrad auf, blieb stehen, um uns anzusprechen. Er wusste genau, woher wir kamen, fuhr zurück ins Dorf und meldete uns bei der Grenztruppe an. Die Grenzer kamen uns schon bald entge-

gen, um uns in Empfang zu nehmen. Wir blieben ganz gelassen, denn wir wussten, dass wir nicht an Rumänien ausgeliefert werden. In Konak nahm ein Grenzer unsere Personalien auf, aber alle Anwesenden sahen uns erstaunt an. Doch wir kannten den Grund nicht. Dann endlich rückte einer heraus mit der Sprache: Wir waren alle so sauber. Alle anderen kamen stets verdreckt an. Wir klärten sie auf: Unsere dreckigen Kleider lagen auf einem Haufen am Kanal, wir hatten uns umgezogen. Dann wunderten sie sich, dass zwei Frauen in Annas und meinem Alter, wir waren Mitte 40, dabei sind. Sonst kämen auch viele Frauen über die Grenze, aber stets nur junge. Die Grenzer übergaben uns der Polizei. Ein Richter verurteilte uns zu je 20 Tagen Gefängnis. Die Polizei brachte uns in ein gemischtes Frauen- und Männergefängnis nach Großbetschkerek. Bei der Einlieferung mussten wir all unsere Sachen abgeben: Geld, Essen, nur die Taschen mit der Wäsche durften wir behalten. Bei der Entlassung bekamen wir alles zurück, es fehlte nichts. Wir wurden von den Männern getrennt. Ein junger Gefängniswärter, der sich über meinen Rosenkranz lustig gemacht hatte, brachte uns hinauf, wo wir uns eine Zelle aussuchen durften. Da war eine kleine Zelle, in der zwei Jugoslawinnen eingesperrt waren. Wir entschieden uns aber für die größere mit sechs Betten, denn wir sagten uns, darin ist mehr Luft. Als die Inhaftierten vom Spaziergang zurückgekehrt waren, stellte sich heraus, dass in unserem Zimmer noch zwei junge Frauen aus Rumänien untergebracht waren: Lissi und eine Rumänin aus dem Grenzstädtchen Hatzfeld. Am ersten Tag gab es Bratkartoffeln mit gebratenem Speck. Oh, habe ich zu Anna gesagt, da kann man es aushalten. Wir suchten uns also je ein Bett aus für die Nacht. Die Tage im Gefängnis hatten ihren Anfang genommen. Jeden Morgen machte ich einen Strich an die Wand, um nicht die Zeitrechnung zu verlieren Wir mussten um 4 Uhr aufstehen, um 7 Uhr kam das Frühstück. Es gab Kaffee, manchmal Tee, ich mochte beides nicht. Aber wir bekamen sehr gutes Brot, immer frisch, ein ziemlich großes Stück, das hat wunderbar geschmeckt. Nach ein paar Tagen nahm man uns die Fingerabdrücke, dann mussten wir eine Erklärung abgeben, warum wir geflüchtet sind. Ein netter junger Herr hat uns in dem Raum, in dem wir waren, den Fernseher eingeschaltet und uns gesagt: „Schreibt, ihr braucht euch nicht zu beeilen.“ Nach langer Zeit kam er wieder und sagte: „Nun müsst ihr aber gehen, ich kann euch nicht länger hier behalten.“ Nach einigen Tagen wurde Anna wieder als erste gerufen, dann kam ich an die Reihe. Wir kamen zu einem Herrn, der gut Rumänisch sprach und Rumänien gut kannte, wie aus seinen Fragen zu ersehen war. Der wollte alles genau wissen, wie es in Rumänien ist und warum wir weggegangen sind, ob es nicht doch politische Gründe gebe. Er wollte auch wissen, ob jemand uns zur Grenze geschleust hat, ob es nicht vielleicht Basilius war. Natürlich lautete unsere Antwort nein, unsere Männer hätten Kompass und Karte gehabt, wir brauchten niemanden, denn wir seien keine Jugendlichen mehr.

Von unseren Männern wussten wir nichts, nur in welchem Zimmer sie waren. Sie haben es uns angezeigt, indem sie den Wasserkrug in ihr Fenster stellten, wenn wir auf dem Hof waren. Weil Anna fürchterlich hustete, wussten sie stets, wann wir draußen auf unserem täglichen Spaziergang waren. Dieser Husten hat schon immer in der Fabrik in Temeswar angekündigt, dass Anna kommt. Und jetzt blieb das Echo nicht aus: Ihr Mann hustete zurück, so dass es sogar dem Posten auffiel. Aber so wussten wir, wo sie sind, denn sonderbarerweise wechselte der Krug von einer Ecke in die andere. Was wir nicht wussten, war, dass die Männer kein einziges Mal in den 20 Tagen ihre Zelle verlassen durften. Sie hatten den Kübel im Zimmer, mussten auf dem Fußboden schlafen und hatten nur eine Decke. Uns ging es hingegen sehr gut. Der Direktor war sehr nett zu uns, er sprach ziemlich gut Deutsch und unterhielt sich zum Ärger der Jugoslawinnen mit Anna und mir. Eines Tages bat er uns - es war kein Befehl -, sein Büro sauber zu machen. Wir putzten die Fenster, saugten und wischten Staub; wir taten es gerne, denn es war eine Abwechslung vom Gefängnisalltag. Im Gefängnis lernten wir, wie zermürbend Langeweile sein kann. Auch den Blumengarten durften wir hacken, das tat gut, wir waren draußen an der frischen Luft, und die Zeit verging schneller. Eines Tages, wir putzten eben den Flur, da kamen unsere Männer. Sie mussten ihre Fingerabdrücke abgeben und durften nicht mit uns sprechen. Wir konnten nur kurz winken, dann waren sie auch schon an uns vorbei. Sie waren ganz gelb um die Nase. Doch warum, das konnten wir erst später verstehen, als sie uns erzählten, dass sie nie aus der Zelle hinaus durften. Eigentlich bekamen wir alles Nötige: Seife und Handtuch, wir hatten auch kaltes und warmes Wasser. Und einmal in der Woche, samstags, durften wir auch duschen; das war wie ein Fest. Um 12 Uhr kam das Mittagessen, es war fast immer genießbar. Nur die Fische aß ich nicht, aber wir hatten ja Brot, so dass wir keinen Hunger leiden mussten. Um 18 Uhr bekamen wir das Abendessen, und um 21 Uhr mussten wir noch einmal beim Appell stramm stehen. Dann durften wir schlafen gehen. Das waren lange Tage. Oft haben wir „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Ich glaube, ich werde in meinem ganzen weiteren Leben auf dieses Spiel verzichten. Auch während des Tages konnten wir uns schlafen legen, mussten aber auf den Beinen sein, wenn der Wärter kam - wir durften uns nicht dabei erwischen lassen.

Abgeschoben

Eines Tages putzten wir wieder einmal die Büros, als Nachschub ankam; somit waren wir schon fünf in unserer Zelle. Es war eine junge Rumänin namens Geta. Als erste kam Lissi frei, so dass wir wieder vier waren. Mit den Neuzugängen wurde unsere Unterwäsche immer weniger. Wir mussten allen etwas davon

abgeben, denn sie kamen mit leeren Händen. Wir hatten zwar auch nicht viel, doch wir teilten das Wenige, das uns geblieben war. Die beiden Jugoslawinnen stritten sich immer dann, wenn es ums Putzen ging. Wir hatten da keine Probleme, packten alle an, und dann waren wir auch rasch fertig. Auch der Flur musste gewischt werden. Wenn der erzählen könnte, wie oft wir darauf auf und ab gegangen sind, gesungen und gebetet haben, wir hatten ja so viel Zeit. Als Geta elf Tage da war, wurde sie gerufen. Ihre Zeit war noch nicht um, wir ahnten aber schon, dass sie den Rumänen ausgeliefert wird. Auch sie sagte gleich mit aschfahlem Gesicht: „Die schicken mich zurück.“ So war es auch. Nach diesem Vorfall kam der Direktor wieder zu uns und sagte: „Macht euch keine Sorgen, ihr geht da hin, wohin ihr wollt. Geta ist mit einer Gruppe Zigeunern gekommen, und wenn nur einer in einer Gruppe Dreck am Stecken hat, werden alle den Rumänen übergeben. Ihr aber braucht keine Angst zu haben.“ Als sich unsere Haft dem Ende näherte, besuchte uns der Direktor erneut, es war am Sonntag, unserem vorletzten Tag. Er kam, um uns zu sagen, dass wir am nächsten Tag frei sein werden. „Eure Zeit ist um“, sagte er, „wir müssen euch leider länger hier behalten, ob wir wollen oder nicht.“ Es klang so, als ob er sich entschuldigen wollte, weil wir bei ihm eingesperrt waren. Und er fügte hinzu: „In dieses Zimmer werde ich einen Fernseher stellen als Erinnerung an euch.“ Er hat Wort gehalten. Die Hell-Mädchen, die Töchter von Matz und Anna, die mit Basilius' nächstem Schub die Grenze überschritten haben, konnten es bestätigen. Sie fanden den Fernseher schon in dem Zimmer vor. Am Montag war es dann soweit: Im Laufe des Vormittags wurden wir gerufen; wir hatten schon alles in die Taschen gepackt und nahmen nun Abschied von unseren Leidensgenossinnen, die noch bleiben mussten. Als wir hinunter kamen, waren die Männer schon da. Sie sahen gar nicht gut aus, besonders Karl war ganz grau im Gesicht. Sie sind die ganze Zeit nicht an die frische Luft gekommen. Aber auch sie waren froh, alles gut überstanden zu haben; niemand hatte ernsten Schaden genommen. Wir verließen Großbetschkerek. Die Fahrt ging Richtung Padinska Skela, etwa 20 Kilometer nördlich von Belgrad gelegen. Es war eine ziemlich lange Fahrt. Anna und ich saßen vorne bei den Polizisten, die Männer hinten im abgeschlossenen Raum. Das erste Stockwerk in diesem Gefängnis war ein von der UNO betreutes Auffanglager für Flüchtlinge. Als wir in Padinska Skela in der Zelle waren, sagte ich zu Anna, hier hätte ich es nicht so lange ausgehalten wie in Großbetschkerek. Es war ein kleiner Raum mit vier Betten und einem WC. Hier trafen wir ein Mädchen aus Klausenburg, das mit seinem Bruder durchgegangen war. Die beiden wollten nach Australien. Weil aber nur selten ein Flugzeug Richtung Australien flog, mussten die beiden wochenlang in dem Gefängnis ausharren. Dann kam noch eine Rumänin hinzu, so dass alle Betten belegt waren. Die war aber unser Glück, denn die Toilette, wenn man die so nennen kann, war sehr verdreckt. Und dementsprechend war

auch die Luft in der Zelle verdorben. Die Neue krempelte die Ärmel hoch und säuberte die Toilette. Manch einer hätte sich dabei die Gelbsucht eingehandelt. Auch hier gab es reichlich zu essen, hauptsächlich Bohnen, so dass wir nie Hunger litten. Als ich am Abend ins Bett geklettert war, Anna schlief unten und ich oben, da fand ich auf der Matratze wieder bekannte Namen, die ich schon in Großbetschkerek gelesen hatte. Darunter war auch der Name von Susi, daneben standen Ankunfts- und Abfahrtsdatum. Da wusste ich: Wir bleiben nur eine Nacht hier. In der Nacht auf einmal Geräusche: Es begann zu glucksen und zu stinken. Die Toilette war übergelaufen. Die ganze Zelle stand unter Brühe. Wir trommelten an die Zellentür, bis die Aufseherin kam. Wir wollten hier raus. Erst wollte sie uns nicht hinaus lassen, aber die kannte unsere Anna nicht. Die sagte zu ihr, ich sei am Magen operiert worden, wenn mir etwas passiere, sei sie dafür verantwortlich. Wir durften raus, setzen uns auf eine Bank im Hof oder liefen umher, was uns gut tat. In der Hoffnung, dass dies unsere erste und letzte Nacht in Padinska Skela ist, hatten wir unsere Sachen schon gepackt und warteten. Als wir da auf der Bank saßen, da war es mir, als sähe ich unsere Männer über den Hof zum Tor gehen. Ich rief Anna zu, hier gehen unsere Männer. Wir liefen schnell zurück in die Zelle, um nachzusehen, ob wir nichts vergessen haben. Und dann war auch schon die Stunde der Erlösung da. Unsere Aufseherin kam und sagte auf serbisch „dva Anna“, die zwei Anna. Da zogen wir frohen Herzens los. Die Männer waren schon an der Pforte. Sie und auch wir mussten zum letzten Mal angeben, warum und wann und wie wir die Grenze passiert haben. Dann kam Olga, eine UNO-Mitarbeiterin. Sie hat uns abgeholt, um uns nach Belgrad zu bringen. Sie zeigte uns, wie wir zur deutschen Botschaft gelangen. Und dann ging es direkt zur UNO. Dort waren noch ein paar Fragen zu klären. Dann machten wir fünf uns auf den Weg zur Botschaft. Ohne Schwierigkeiten haben wir sie gefunden, wir wurden auch gleich eingelassen, man hat schon auf uns gewartet. Als alle Personalien und Daten aufgenommen waren, bat man uns in einen Raum, wo wir eingeschlossen waren. Nach ein paar Stunden brachte man uns die inzwischen fertigen Reisepässe und Geld. Jetzt tat sich uns schon eine andere Welt auf. Wir haben in einem schönen Hotel gebadet, gegessen, geschlafen und gefrühstückt. Danach haben wir alles für die Reise nach Deutschland eingekauft. Olga gab uns unsere Fahrkarten, und am Abend traten wir die große Fahrt in die Freiheit und in eine neue Heimat an. Die Zöllner an der jugoslawisch-österreichischen Grenze merkten sofort, woher wir kamen, und wussten, dass es bei uns nichts zu kontrollieren gab. Wir schliefen etwas, als aber der neue Tag heraufzog, waren wir hellwach, denn da konnten wir schon die in den Himmel ragende österreichische Bergwelt bewundern. Es war eine bezaubernde Landschaft, durch die wir fuhren. Bald war auch die Grenze nach Deutschland überschritten, und wir fuhren durch das schöne

Bayern direkt nach München. Dort mussten wir umsteigen in einen Zug nach Nürnberg. Wir hatten aber keine Ahnung, dass der Zug, den wir bestiegen hatten, ein Intercity ist, unsere Fahrkarten dafür aber nicht gültig waren. Nach einigem Hin und Her durften wir unbehelligt in Nürnberg aussteigen. Der Schaffner wünschte uns auch noch alles Gute für die Zukunft. So sind wir wohlbehalten am 25. Juni 1981 in Nürnberg angekommen. Wir gingen zur Bahnhofsmission, und eine Frau brachte uns zur Straßenbahn, die am Durchgangslager vorbeifährt. Weil das Lager aber überfüllt war, steckte mich der Mann vom Dienst in ein Zimmer mit den Hells. Er sagte zu Matz: „Ich meine es gut mit Ihnen, Sie dürfen mit zwei Damen in einem Zimmer schlafen.“ Es machte uns nichts aus, denn wir waren die besten Freunde, die es auf Erden gab. Dann begann der Papierkrieg. Am Wochenende fuhren Anna und Matz nach Forchheim, wo Annas Schwester wohnte, und ich war bei den Dutscheks. Als wir uns am Montag trafen, hatten die Hells schon ein Stadtfest gefeiert. Sie hatten eine Landsmännin bei sich, die uns half, die Fragebogen auszufüllen. Und im Eilverfahren hatten wir unsere Papiere. Es schlug die Stunde der Trennung. Die Hells fuhren nach Forchheim, wo sie sich inzwischen ein neues Heim geschaffen haben. Ich fuhr nach Hamburg, wo mein Bruder nach dem Krieg geblieben ist. Ich traf am 1. Juli in der Hansestadt ein. Am 1. August 1982 zog ich nach Memhölz ins Allgäu. Wo Peter und Karl sind, weiß ich nicht.

Memhölz, den 28. Oktober 1982

P.S. Obwohl ich sicher bin, dass ich dieses Abenteuer nie vergessen werde, habe ich es trotzdem aufgezeichnet, um es in späteren Jahren nochmals lesen zu können, um mir nochmals vor Augen zu führen, wie und unter welchen Umständen ich nach Deutschland kam. Ja, ja, es war ein ereignisreiches Jahr, das Jahr 1981.

Anna Kilzer, die in Temeswar in der Strumpffabrik beschäftigt war, hat bis zur Pensionierung als Krankenhausstationshelferin in Deutschland gearbeitet.

Ein Bündel Hunderter für den Treckerfahrer

Eigentlich wären die beiden Töchter des Ehepaars Hell und ihre Männer am liebsten gemeinsam mit den Eltern geflüchtet. Doch Basilius lehnt diesen Wunsch im Mai ab. Er vertröstet sie auf das nächste Mal. Leicht ist es Anna und Hans Krier nicht gefallen, Kleinbetschkerek zu verlassen. Sie lassen ihre fünf und sieben Jahre alten Kinder zurück. Das Haus ist frisch renoviert. Kaum sind Anna und Mathias Hell zwei Wochen von zu Hause weg, kommt Hans Kriers Schwager eines Abends mit Basilius im Trabant vorgefahren. Basi-

lius will seine nächsten Kunden kennen lernen. In einem ersten Gespräch will er erkunden, ob er ihnen vertrauen kann. Er schärft ihnen ein, dass sie mit niemandem über das Vorhaben sprechen dürfen, aber auch keinen Unangemeldeten am Fluchttag mitbringen dürfen. Basilius behält es sich vor, die Kunden selbst auszusuchen. Ein zweites Mal sieht Krier den Fluchthelfer am 26. Juni in dessen Wohnung in Temeswar. Dabei ist ein Verwandter. Basilius teilt den beiden mit, dass es am nächsten Tag losgeht. Als Krier Basilius' Wohnung verlässt, hat er noch ein ungutes Gefühlt. Er weiß nicht, ob er und seine Frau mitgehen sollen. Denn sie wissen noch immer nicht, ob die Eltern in Sicherheit sind, entweder in Jugoslawien oder in Deutschland. Doch zu Hause empfängt ihn seine Frau mit einem Telegramm in der Hand und der Nachricht, dass die Schwiegereltern gut in Nürnberg angekommen sind. Hans und Anna Krier fassen neuen Mut, sie werden am nächsten Tag die Flucht antreten. An diesem 26. Juni fragt eine Nachbarin Anna Krier in der Dorfbäckerei: „Und wann brennt ihr durch?“ Anna Krier antwortet ihr: „Morgen.“ Als sie nach Hause kommt und ihrem Mann das sagt, meint er nur: „Du hast recht. Morgen gehen wir.“ Basilius hat den 27. Juni, einen Samstag, als Fluchtdatum festgelegt. Anna und Hans Krier lassen die beiden Kinder bei den KrierGroßeltern zurück und wagen die Flucht. Am Sonntag beim Kirchgang fragen die Kinder die Oma, wo denn die Eltern seien. Die Oma greift zu einer Notlüge und macht den Kindern weis, sie wären in den Banater Wallfahrtsort MariaRadna gefahren und werden bald mit einem großen Ball als Geschenk zurückkehren. Anna und Hans Krier fahren am Fluchttag mit verschiedenen Zügen nach Temeswar, damit niemand Verdacht schöpfen kann. Nach der Geldübergabe lädt Basilius die beiden, ferner Anna Hells Schwester und Schwager in seinen Trabant und fährt in Richtung serbischer Grenze. Er lässt sie in einem Maisfeld aussteigen, wo sie warten müssen, bis er wiederkommt und den Start zur eigentlichen Flucht gibt. Vor Anbruch der Dunkelheit ist Basilius da und bittet die inzwischen eingetroffenen 16 Frauen und Männer, auf den hinter einen Trecker gespannten Anhänger zu steigen. Hans Krier sieht, wie Basilius dem ziemlich verängstigten Treckerfahrer ein Bündel Hundert-Lei-Scheine als Beruhigung in die Hand drückt. Danach geht es los bis zu dem Weg, wo eine in die Flucht nichteingeweihte Patrouille vorbeikommen soll. Dort lässt er den Treckerfahrer absteigen und setzt sich selbst ans Steuer. Er fährt querfeldein, bis es nicht mehr weitergeht. Alle 16 auf dem Anhänger wissen, dass sie bis spätestes 3 Uhr an der Grenze sein müssen. Wenn sie es nicht schaffen, müssen alle zurück. Das hat ihnen Basilius eingeschärft. Zu Fuß geht es durch Sonnenblumenfelder, durch Mais. Ab und an müssen sich alle zu Boden werfen, warten, dann wieder einmal stehen bleiben. Sie warten auf ein Zeichen mit der Taschenlampe. Es bedeutet, dass die Luft rein ist und keine Gefahr besteht.

Sie erreichen einen Kanal, müssen jetzt auf dem schräg abfallenden Ufer marschieren, die Schuhe haben sie in den Händen. Basilius läuft oben am Ufer und nimmt ab und an einen Schluck aus der Whisky-Flasche. Sie bleiben ein letztes Mal stehen und warten auf zwei Mann, die mit einem Motorrad kommen und laut singen sollen, als Zeichen, dass die Flucht fortgesetzt werden kann. Dann taucht ein Grenzoffizier in Zivil auf. Er hat zwei Mann bei sich, die zu der Flüchtlingsgruppe stoßen. Sie haben freies Feld vor sich, Scheinwerfer erleuchten es hell wie ein Fußballstadion. Es ist der Augenblick, den Krier auf dem zweiten Grenzgängertreffen in Ulm beschrieben hat. Die am Geschäft beteiligten Grenzoffiziere zählen die Schäfchen, sie wollen nicht betrogen werden. Dann geht es durch einen letzten Kanal. Sie durchschwimmen ihn und passen auf, dass ihre Taschen mit der sauberen Kleidung nicht durchnässt werden. Die Flüchtlinge müssen noch eine Stunde durchhalten, dann sind sie in Serbien und folgen dem Bersau-Damm. Einheimische verraten sie an die Grenzer. Ein Richter verurteilt sie in Setschan zu 20 Tagen Gefängnis wegen illegalen Grenzübertritts, die sie in Großbetschkerek im Gefängnis absitzen müssen. Über das Gefängnis Padinska Skela geht es weiter nach Belgrad ins UNO-Büro, wo ihnen Olga nach drei Tagen gültige provisorische UNO-Flüchtlingsausweise ausstellt. Als sie in der deutschen Botschaft ankommen, fragt ein Beamter, ob sie die sieben Personen seien, die Olga angekündigt hat. Mit Ersatzpässen kehren sie zurück ins UNO-Büro, Olga besorgt ihnen in der österreichischen Botschaft Durchreise-Visa. Mit Geld von der deutschen Botschaft, das sie wie alle Flüchtlinge in den nächsten zwei Jahren zurückzahlen müssen - dazu haben sie sich schriftlich verpflichtet -, kaufen sie sich bis Nürnberg gültige Einsenbahnfahrkarten und treten die Reise in Richtung Westen an. Anna und Hans Kriers Kinder treffen am 20. Dezember, ein halbes Jahr später, in Deutschland ein.

28 Mann in einem Schub

Anfang Juli 1981 kommt Sepp Herbst von der Arbeit heim nach Billed und will sich den Schweiß abduschen, den der heiße Sommertag ihm aus den Poren getrieben hat. Der Rettungsfahrer will auf dem Weg ins Badezimmer noch die Tür an der Bibliothek schließen, weil sein Sohn Hans dort mit Freunden sitzt. Er will nicht stören. Dann fällt das Wort Grenze. Das macht ihn hellhörig. Entgegen seiner Art lauscht Josef Herbst. Jetzt möchte er genau wissen, was sich sein Sohn, dessen Vetter Helmut Lay, Hans Hahn junior und Horst Lenhardt zu sagen haben. Denn inzwischen wird auch in Billed in der Banater Heide fast nur noch über Auswandern oder Flucht gesprochen. Der Auswanderungsgedanke hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Sie sehen, wie ihre Nachbarn und Freunde das Land verlassen. Die letzten der rund 300 000 Deutschen, die noch an eine Zukunft in Rumänien geglaubt haben, sind inzwischen auch bereit,

nach Deutschland umzusiedeln. Viele sind zu allem entschlossen. Denn seit Spätsommer 1980 sind die Läden im ganzen Land leer. Der Strom ist rationiert und in den meisten Ortschaften zwischen 20 und 22 Uhr komplett abgeschaltet. Die Leute sitzen zu Hause bei Kerzenlicht und warten auf bessere Zeiten. Ceauşescu verkauft alles ins Ausland, um Rumäniens Schulden zu begleichen, auch seine Deutschen. Die Juden sind längst an Israel verkauft. Die Lebensmittelknappheit, die Mangelwirtschaft tragen dazu bei, dass sich immer mehr Manschen in Rumänien mit dem Gedanken tragen, das Land zu verlassen, koste es, was es wolle. Wer als Deutscher legal ausreisen will, muss Schmiergeld zahlen, will er vor anderen den Pass in der Hand halten. Mittelsmänner sammeln das Geld und liefern es in Bukarest an höchster Stelle ab. Wer jedoch keine Verwandten im Westen hat, muss sich etwas anderes einfallen lassen. Da bleibt meist nur der illegale Grenzübertritt übrig. Selbst Personen aus der DDR tauchen an der rumänisch-jugoslawischen Grenze auf, haben aber mangels Ortskenntnissen kaum eine Chance zu fliehen. Über die Not, die inzwischen im Rumänien Ceauşescus herrscht, gibt Hans Hahns Tagesbuch Auskunft. Der am 9. Januar 1962 in Billed geborene Hahn notiert unter Freitag, 3. Juli 1981: Nach Temeswar gefahren, kleine Einkäufe machen, die bis zum Schluss wirklich klein blieben. Von der Josefstadt bis ins Neubauviertel Circumvalaţiunii kaufte ich nur zwei Kilogramm Tomaten. Nur um eine Einkaufstasche zu bekommen, lief ich eine halbe Stunde. Mal hatten sie kein Wechselgeld, mal keine Taschen. Wollte einkaufen: Butter, Zucker, Kaffee, Fleisch, Käse, Margarine, Honig, Milchpulver, Toilettenpapier, Schokolade, doch leider war von all dem in ganz Temeswar nichts zu finden. Heißer Julitag. Heute weiß Hans Hahn noch genau Bescheid, wie es damals war: „Normalerweise standen auf meiner Einkaufsliste auch Bestellungen der Nachbarn, die keine Zeit hatten, ins 25 Kilometer entfernte Temeswar zu fahren, um einzukaufen. Ich fuhr gewöhnlich mit einem Bummelzug um 5 Uhr los und war gegen 6 Uhr auf dem Hauptbahnhof in Temeswar. Die Zeit bis zum Schulbeginn um 8 Uhr verbrachte ich mit Schlangestehen vor Kaufhäusern, für manchmal 250 Gramm Butter.“ Sepp Herbst duscht vorerst nicht, geht in den Garten, um mit seiner Frau über das zu sprechen, was er eben gehört hat. Elisabeth und Sepp Herbst kommen zu dem Schluss, dass sie mit den Eltern der drei anderen Jugendlichen sprechen müssen. Josef Herbst macht die Runde im Dorf. In der Altgasse hat Hans Hahn senior einen Tipp: Ein Verwandter seiner Frau, der im Nachbarort Kleinbetschkerek zu Hause ist, kennt einen Ausweg. Katharina Hahn sucht ihren Verwandten auf, der Peter Stein aus Denta kennt, der als Nachwächter auf der Kanalbaustelle an der serbischen Grenze arbeitet. Peter Stein stellt die Verbindung zu Fluchthelfer Basilius her. Sepp Herbst besucht Basilius in Temeswar in einem

Wohnblock neben dem Pulverturm. Basilius nennt ihm den Preis: 20 000 Lei für jeden Flüchtling. Sepp Herbst lädt die vier fluchtwilligen Jugendlichen und deren Väter zu sich nach Hause in die Vertgasse ein. Sie werden sich rasch einig. Alle wollen mit, lediglich Horst Lenhardt nicht. Er will nicht ohne seine Freundin weg. Es steht nun fest: Zur Flucht bereit sind Josef und Hans Herbst (geboren 1963), Hans Hahn senior (1931) und Hans Hahn junior (1962), Matthias (1931-2003) und Helmut Lay (1961) - jeweils Vater und Sohn -, Jakob Lenhardt (1937), und als achter stößt Josef Stadtfeld (1946) dazu. Als Patenonkel will Josef Herbst Stadtfeld die Fluchtchance bieten. Von der Möglichkeit, das Land illegal verlassen zu können, erfährt Hans Hahn junior am 21. Juli 1981. Die Tagebucheintragung an jenem Dienstag beginnt folgendermaßen: Eine großartige, sensationelle Nachricht. Marlene Paul, eine entfernte Verwandte aus Kleinbetschkerek, erzählte Mutter, dass es einen Mann gebe, der Personen nach Jugoslawien schmuggle. Wenn einer von unserer Familie mitmachen möchte, soll er sich bei ihr melden, denn vor dem 1. August wird gestartet. Jetzt gibt es noch Zwistigkeiten bei uns: Ich will allein fahren, und Vater will auch mitkommen, aber was wird aus den anderen? Die Schwester muss zur Schule, Mutter kocht und pflegt Oma und Opa. Und wer arbeitet? Je Person sind 25 000 Lei zu zahlen, also ein Spottpreis gegen andere, die 60 000 bis 100 000 Lei zahlen. Ich kann mein Gefühl gar nicht ausdrücken, wenn ich denke, nur noch einige Tage in Rumänien bleiben zu müssen.

Mittwoch, 22. Juli 1981: Nichts Wichtiges getan. Nachts konnte ich gar nicht richtig einschlafen, und morgens war ich schon um 7 Uhr wach, obwohl Schulferien sind. Ich fahre noch zu meinem Freund Horst, der hat, glaube ich, Dinar, mit denen kann man sich in Serbien gut durchschlagen und wird vielleicht nicht von der Polizei gestellt.

Donnerstag, 23. Juli 1981: Unsere Nachbarin, die Leni-Tant, wird schon in Deutschland sein. Sie ist Mittwochmorgen legal abgereist - nach mindestens fünf Generationen Nachbarschaft steht das Haus nun leer.

Samstag, 25. Juli 1981: Das Tagebuch ist 10 Monate alt. Morgen ist in Kleinbetschkerek Kirchweih, dann fahren Schwester, Mutter und Vater hin und hören gleichzeitig, wann die Abfahrt geplant ist. Heute regnet es.

Mittwoch, 29. Juli 1981: Gestern Abend war auf Jugoslawien II die Show mit John Denver und seiner berühmten Country-Musik. Die ganze Band bestand eigentlich aus ihm, dann Johnny Cash, Glenn Travis Campbell und Roger Miller. Die Show dauerte 50 Minuten. Heute war den ganzen Tag über miserables Wetter.

Donnerstag, 30. Juli 1981: Einer der schönsten Tage dieses Jahres und überhaupt vielleicht. Ein Mann brachte uns die Nachricht. Sie lautet: Abfahrt nächste Woche. Ich fuhr angeln. Also noch einige Tage in Rumänien. Herrlich ist das… Heute Abend sagte mir Mutter noch, dass die Abfahrt Montag, 3. August,

oder Dienstag, 4. August, erfolgt. Sepp Herbst ist mit Lenhardt und dem Nachrichtenüberbringer nach Temeswar gefahren, um Genaues zu erfahren. Sie werden bald zurück sein.

Freitag, 31. Juli 1981: Bis 12 Uhr geschlafen; ich dachte, heute kommt mein Freund Fredi nach Billed zum Angeln. Nachmittags spielte ich ein wenig Tennis, später fuhr ich zu Horst. Höchstwahrscheinlich geht es den 4. August los. Also noch vier Tage.

Samstag, 1. August 1981: Morgens in der Sonne gelegen und am Nachmittag gebadet und ferngesehen. Morgen in der Früh kommt endlich Fredi, dann gehen wir noch einmal angeln.

Sonntag, 2. August 1981: Fredi war um 9 Uhr da, dann gingen wir drei - auch Horst ist gekommen - nochmals gemeinsam angeln. Fredi fing einen etwa 250 Gramm schweren Hecht. Zwei andere sind ihm entwischt. Nachmittags waren wir ein Bier trinken. Ja, auch der Antialkoholiker Horst trank sein Bier. Es war auch sehr heiß heute. Fredi fuhr um 22 Uhr nach Hause; er kommt aber Mittwoch noch mal, da bin ich vielleicht nicht mehr hier. Allein Horst informierte ich von diesem Unternehmen. Noch zwei schlaflose Nächte liegen vor mir, dann ist es soweit. Wenn ich nur wüsste, wie es ausgehen wird.

Montag, 3. August, 1981: den ganzen Tag herumgetrödelt. Abends kam die Nachricht, dass morgen nicht das große Abhauen sein wird, sondern vielleicht Mittwoch oder Donnerstag.

Dienstag, 4. August 1981: Natürlich bis Mittag geschlafen. Nachmittag reparierte ich noch das Fahrrad, und abends fuhr ich zu Horst; da trafen wir auch Hans-Dieter, der zu Besuch aus Deutschland hier ist. Wir blickten mit dessen mitgebrachtem Feldstecher in den sternenklaren Himmel oder hörten Musik. Um 2 Uhr war ich daheim.

Mittwoch, 5. August, 1981: Bis Mittag geschlafen, da berichtete mir Vater, dass wir morgen Nachmittag abfahren. Wir treffen uns um 16 Uhr am Pulverturm. Das Wetter ist herrlich, etwa 28 Grad. Der Mond ist noch eine Sichel, etwa der fünfte Tag nach Neumond. Er wird uns nicht stören, denn nach Mitternacht wird er verschwunden sein. Heute Abend wurde auf der Sauerländer Hutweide noch ein Fußballspiel ausgetragen. Es spielten in der einen Mannschaft Horst Breitenbach, Walter Engrich, Hans Koch, Alfred Krauser und noch zwei kleinere Jungen; bei uns spielten: Werner Muttar, Fredi Szélpál, Hans Muttar, Hans-Dieter Frick, Gerhard Mann, ich und noch ein kleiner Junge. Horst Röhrich ist ja als Antisportler bekannt; er stand abseits und schaute zu. Endresultat 4:0 für uns. Das Wetter war ideal.

Donnerstag, 6. August, 1981: Freie Fahrt. Hier hören die Tagebuchaufzeichnungen vorerst auf. Die nächste Eintragung macht Hans Hahn junior am 23. Januar 1982. Nach fast fünf Monaten hab' ich

heute mein Tagebuch endlich wiederbekommen. Mutter hat es mit den SchillerMädchen mitgeschickt, die in Rumänien zu Besuch waren… Am letzten Tag schrieb ich mit großen Buchstaben: AUF WIEDERSEHEN IN DEUTSCHLAND! IN DER FREIHEIT! Und nun will ich schildern, was seit dem 6. August 1981 geschehen ist: Es war der Tag unseres Aufbruchs. Hans Herbst und ich sollten um 1 Uhr am Bahnhof in Billed sein und mit dem Zug nach Temeswar fahren. Es war 11 Uhr. Noch etwa eine Stunde bis zum Abschied. Wir aßen in aller Ruhe zu Mittag, unsere Taschen waren vollgepackt und wogen zusammen vielleicht 16 Kilogramm. Um 12 Uhr kam Maria Hirth, unsere Nachbarin, und wollte noch etwas von Mutter… Es war schon langsam Zeit, dass ich mich auf den Weg machte. Vater fuhr um halb zwei mit dem Autobus, damit es nicht auffiel. Endlich ging unsere Nachbarin, und kurz darauf verabschiedete ich mich von Mutter, Schwester und Großvater. Großmutter lag schon ein halbes Jahr lang im Bett und wusste nichts mehr von der Welt. Mir war klar, dass ich sie niemals mehr sehen werde. Mutter und meine Schwester Ilse begleiteten mich auf die Straße und winkten mir nach. Ich hatte den Eindruck, als wäre dies mein erster Schultag und nicht der Weg in meine Zukunft, in die Freiheit. Obwohl es verboten war, jemanden in unsere Fluchtpläne einzuweihen, konnte ich nicht widerstehen, meinem besten Freund Horst unser Geheimnis anzuvertrauen. Wir trafen uns auf dem Bahnhof, wo auch Hans Herbsts Bruder Fredi wartete. Der Zug kam, ich stand auf der Treppe und gab noch jedem die Hand, zuerst Fredi, der von allem nichts wusste, dann Horst. Beide winkten uns noch nach. Um 16 Uhr sollten wir alle am Pulverturm sein. Hans und ich waren als erste dort, dann kamen Jakob Lenhardt, mein Vater, Hans Herbsts Vater, Helmut Lay mit seinem Vater und Sepp Stadtfeld. Jeder stand an einem anderen Platz, und dieser wurde oft gewechselt. Nur Hans und ich saßen auf einer Bank und hatten den ganzen Platz im Auge. Auf der anderen Straßenseite war Sepp Herbst, der den Vermittler spielte. Er wusste auch, wo der Mann wohnte, der uns in die Freiheit bringen sollte. Im Augenblick warteten wir auf einen Mann mit einer grünen Mütze, der aus einer bestimmten Richtung kommen sollte. Als dieser auftauchte, folgte Sepp Herbst ihm und kam nach kurzer Zeit wieder zurück. Das Geld musste eingesammelt werden, jeden kostete die Freiheit 20 000 Lei. Als die 160 000 Lei beisammen waren, trug Sepp Herbst sie in einen Wohnblock, aus dem er nach kurzer Zeit wieder herauskam. Er hatte das Geld abgegeben und einige Informationen bekommen. Wir nahmen unsere Taschen und gingen in Richtung Hauptbahnhof. Was Hans Hahn junior nicht weiß, ergänzt Sepp Herbst: Nach der Übergabe schickt Basilius seinen Sohn mit dem Geldbeutel an einen unbekannten Ort. Der Fluchthelfer informiert Herbst, dass jeder aus seiner Gruppe sehen muss, wie er

nach Tschakowa gelangt. Treffpunkt ist ein Maisfeld vor der Ackerbauschule. Dort sollten sie auf zwei Wagen der Marke Dacia warten. Die acht Billeder machen sich auf den Weg zum Temeswarer Hauptbahnhof. Dort besteigen sie zwei Taxis, deren Fahrer das Geschäft illegal betreiben. Josef Herbst mit seinem Sohn, mit Schwager Matthias Lay und dessen Sohn Helmut sitzen im Wagen eines Deutschen. Der Fahrer will wissen, woher die vier kommen und was sie in Grenznähe wollen. Josef Herbst, der neben dem Fahrer sitzt und nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen ist, sagt, sie wären Kanalbauer aus Großscham und hätten einen freien Tag, um einzukaufen. Josef Herbst hat Glück: Er nennt den Namen eines Mannes in Großscham. Der Mann ist zufällig der Onkel des Fahrers. Die Fahrt bis in die Nähe der Ackerbauschule verläuft problemlos.

Treffpunkt Maisfeld

Doch jetzt lassen wir Hans Hahns Tagebuch wieder sprechen: Nachdem die Taxen zurückgefahren waren, schlenderten wir auf einem planierten Feldweg. Nach kurzer Zeit kam ein gelber Wagen angefahren, der Fahrer machte uns Zeichen, ins Maisfeld zu gehen. Dort warteten wir, bis die zwei angekündigten Wagen kamen. Gegen 19.30 Uhr tauchte erneut ein Wagen auf, der Fahrer hupte kurz. Sepp Herbst lief auf den Feldweg und kam gleich zurück. Er sagte nur „auf“, wir sprangen alle hoch, griffen nach unseren Taschen und marschierten los. Wir gelangten in ein anderes Maisfeld; in einer Lichtung stand ein Traktor mit Anhänger. Ein Mann kam näher und gab das Zeichen, aufzusteigen. Um uns herum bewegte sich plötzlich das gesamte Maisfeld. Wir trauten unseren Augen nicht: Von allen Seiten stürmten Menschen aus dem Feld und liefen zu dem wartenden Traktor. Die gehörten glücklicherweise alle zu uns. Viele von ihnen kannten wir, einer war sogar aus Billed: Hans Mumper. Sepp Herbst erinnert sich außerdem an Josef Paul mit Frau Anna und Tochter Isolde, Karl Schibinger mit seiner Frau Helga und seiner Schwester Ilse, Hedwig und Josef Muth aus Kleinbetschkerek, Karl Schäfer und Josef Schneider aus Neubeschenowa und Rudolf Kastel, zwei Frauen aus Temeswar, einen Rumänen und eine Frau mit einem etwa zwölfjährigen Jungen aus Temeswar. Hans Hahn schreibt weiter: Auch eine Frau, im sechsten Monat schwanger, war dabei. Die hatte drei Monate im Gefängnis gesessen, wegen versuchten Grenzübertritts. Auf dem Anhänger waren wir 26 Leute (tatsächlich waren es 28 Mann, der Herausgeber), und wenn uns die Flucht gelingen würde, so wäre das der größte Coup, von dem ich je gehört habe. Der Anhänger war mit Stroh ausgelegt, auf dem wir alle lagen oder geduckt hockten. In der Traktorkabine waren drei Männer, darunter unser Führer Basilius, ein hoher, schlanker Mann mit

schwarzen Haaren, der angeblich eine Pistole und ein Infrarotfernglas bei sich hatte. Die Flüchtlinge kommen an einem Posten vorbei, der schon weit vor der Grenze aufgestellt ist. Statt einen Bahnübergang zu benutzen, biegt der Treckerfahrer rechts ab, um durch ein ausgetrocknetes Bachbett unter der Bahnlinie hindurchzufahren. Es geht vorbei an einem verlassenen Hof, einer Pußta. Alle sind still, nichts ist auf dem Anhänger zu hören. Nach etwa einem Kilometer feldeinwärts steigen alle vom Anhänger, und Basilius beginnt alles einzusammeln, das beim Gehen Geräusche verursachen könnte, einschließlich Schlüssel und Münzen. Die Sonne beginnt zu sinken. Doch die Flüchtlinge warten, bis es richtig dunkel ist. Dann bittet Basilius alle, ihm im Gänsemarsch zu folgen. Am Friedhof des Dorfes Dolatz bleibt er mit der Mannschaft stehen. Es ist das Dorf, aus dem am 28. August 1979 der Pfarrer zusammen mit seiner Köchin und der Kirchweihjugend, 21 Mann, über die Grenze geflüchtet sind. Aus dem Straßengraben neben der Friedhofsmauer taucht eine Gestalt auf. Der Mann hat sein Gesicht geschwärzt, er will unerkannt bleiben. Er ist Offizier der Grenztruppe. Aus einer Kanne teilt er Wasser aus. Dann lässt er zwei Flaschen Whisky rund gehen, der Alkohol soll den Flüchtenden Mut machen. Sepp Stadtfeld erkennt die Lage sofort und meint zu Sepp Herbst, am besten sei es, unmittelbar dem Unbekannten zu folgen, denn der kenne sich hier aus. Und wenn der verschwinden sollte, wisse man sofort, dass Gefahr drohe. Die Billeder sammeln sich hinter dem Offizier. In großem Bogen umgehen sie Dolatz. An einer Straße taucht plötzlich Scheinwerferlicht auf. Ein Polizist auf einem Motorrad fährt vorbei, bemerkt die Flüchtenden aber nicht. Der Grenzoffizier winkt die Flüchtlinge über die Straße. Der Fluchtweg führt jetzt durch einen der vielen Kanäle. Es ist der schwierigste Teil des Weges: Die Ufer fallen schräg ab, und die Kanalsohle ist mit Schlamm bedeckt. Doch sie lassen auch den Kanal hinter sich, kommen durch ein Sonnenblumenfeld, über einen leeren Acker und durch ein Stoppelfeld. Der Fluchtweg führt im Zickzack durch die Felder. Für Hans Hahn junior ist das Sonnenblumenfeld der schwerste Teil der Strecke. Er hält fest: Es war ein Feld mit schweren, reifen Sonnenblumen. Diese schlugen uns gegen den Kopf, die Brust, die Arme und Beine; dabei musste man den Vordermann noch im Auge behalten. Das Tempo war hoch. Mein Vater rutschte ein paar Mal aus und fiel hin. Auf einmal blieben wir stehen und mussten unsere Schuhe ausziehen und in die Hand nehmen. Wir hüpften mehr, als wir gingen auf diesem trockenen Boden. Wir erreichten wieder einen Kanal. Es war mittlerweile schon etwa eine Stunde nach Mitternacht, und nun kam der schwierigste Teil des Weges. Wir mussten entlang der steilen Uferböschung gehen, denn im Kanal stand Wasser. Wir gingen etwa eine halbe Stunde lang, Schuhe und Taschen in den Händen. Plötzlich fiel die Frau, die mit dem Jungen

auf der Flucht war, und verletzte sich am Fuß. Doch sie musste weiter, so sehr sie auch jammerte. Sogar ich rutschte manchmal aus und kam in bedrohliche Nähe des Wassers. Wie muss es der schwangeren Frau ergangen sein, fragt Hans Hahn im Tagebuch. Sepp Herbst erinnert sich weiter: Die Flüchtenden kommen in nur 100 Metern an einem Grenzposten vorbei. Und kaum haben sie ihn passiert, ist der Grenzoffizier wie vom Erdboden verschwunden. Jetzt übernimmt Basilius das Kommando. Er führt sie etwa 300 bis 400 Meter weiter, zeigt ihnen die Richtung an und sagt, dort liegt Jugoslawien. Hans Hahn schreibt: Ich biss öfters die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Endlich standen wir auf offenem Feld und atmeten zwei Sekunden auf. Die Sicht war schlecht, wir konnten nur die Erde unter uns sehen. Wir waren jetzt nahe am Ziel. Es war ein zwei Meter breiter, fein geebneter Streifen, auf dem die Grenzposten am nächsten Tag eventuelle Fußabdrücke erkennen konnten. Dieser wurde jeden Morgen kontrolliert. Wir überquerten ihn, ohne dass uns jemand anhielt, und gelangten wieder an einen Kanal, der mit Schlamm gefüllt war. Dort blieb Basilius stehen und gab jedem, der an ihm vorbeikam, einen Klaps. Er sagte, dass hinter dem Kanal die Freiheit auf uns warte. Wir brachen bis zu den Knien in den Schlamm ein, doch alle erreichten das andere Ufer. Basilius war schon verschwunden. Jetzt erst zogen wir die Schuhe wieder an. Es war etwa 3 Uhr. Wir waren also vier Stunden unterwegs. Nach einigen Minuten erreichten wir einen etwa 50 Meter langen hohen und etwa 3 Meter hohen Busch, der eher einem Dickicht glich. Beim Nahekommen erkannten wir, dieser Wildwuchs war voller riesiger Dornen. Dagegen waren Rosendornen gar nichts. Wir versuchten, das Dickicht - es muss wohl zehn Meter breit gewesen sein - an einigen Stellen zu durchbrechen, doch es gelang uns nicht. Sollten wir gerade am letzten Hindernis scheitern? Beim Versuch, diese unvorstellbare Wand zu durchdringen, machten wir durchaus einen Riesenlärm. Da fasste sich der kräftige Sepp Stadtfeld ein Herz und brach die Äste mit bloßen Händen um. Später stellte sich heraus, dass seine Hände mit Dornen gespickt waren; er blutete sicherlich fürchterlich, was man bei dieser Dunkelheit nicht sehen konnte. Wir folgten ihm alle hinterher, obwohl wir kaum zwei Meter in der Minute zurücklegten. Das Reisig knisterte und krachte, als würde eine Horde Wildscheine hindurchlaufen. Auf einmal war Sepp Stadtfeld, der noch immer an der Spitze war, verschwunden. Wir schauten nach unten und entdeckten ihn zwei Meter unter uns im Kanal. Wir sprangen ihm alle nach, und sogar ich hatte Mühe, am anderen Ufer hochzuklettern. Ich griff nach dem Gras an der Böschung und zog mich hinauf. Wir halfen einem nach dem andern ans andere Ufer. Schließlich waren wir alle oben und somit in Jugoslawien. Mein Vater und Rudolf Kastel, der Ingenieur aus Temeswar, zogen erst jetzt ihre Schuhe wieder an. Ihre Füße waren voller Dornen, und das Herausziehen anzusehen

war schon grauenhaft. Ein Teil der Flüchtenden hält sich an Basilius Rat und umgeht das hohe Gestrüpp auf der rechten Seite. Bald sind auch die letzten kleinen Hindernisse überwunden, und die Flüchtenden sehen einen jugoslawischen Grenzstein, erinnert sich Sepp Stadtfeld. Kaum sind sie auf der rettenden Seite, stellt Hans Hahn junior fest, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen haben. Was der junge Mann anhand der Sterne feststellt, bestätigt Rudolf Kastels Kompass. Hätten sie die Route nicht korrigiert, wären sie nach Rumänien zurückgegangen. Sie erreichen die kanalisierte Bersau und teilen sich in zwei Gruppen auf. Zu den acht Billedern gesellen sich Victor Căliniuc, Rudolf Kastel und die Frau mit dem zwölfjährigen Jungen. Weil die Frau nicht schwimmen kann, lassen sie ihr Vorhaben fallen, am anderen Ufer weiterzugehen. Der neunte Billeder, Hans Mumper junior, bleibt bei der anderen Gruppe und wird zusammen mit sieben weiteren Personen nach Tagensanbruch den Bus in Richtung Belgrad besteigen. Dort angekommen, sprechen sofort Taxifahrer die Flüchtlinge an. Sie erkennen sofort an deren schmutzigen Kleidung, dass hier Grenzflüchtlinge eingetroffen sind. Sie bieten ihnen an, sie zum Preis von 100 Dinar zur deutschen Botschaft zu fahren. Am 7. August hat für diese acht die Flucht begonnen, am 8. August ist sie mit der Ankunft in Nürnberg zu Ende. Noch etwas rascher sind die Schibingers. Verwandte aus Österreich, die eben zu Besuch waren, haben auch die Grenze überschritten, allerdings legal, und erwarten sie mit dem Wagen an der ersten Bersau-Brücke. Im Tagebuch hält Hans Hahn ferner fest: Wir gingen entlang der Bersau, und bald hatten wir kein Trinkwasser mehr. Vom langen Fußmarsch hatten wir jetzt Durst und tranken Wasser aus der Bersau. Gegen Morgen legten wir uns auf zusammengetragenem Stroh schlafen. Ich konnte nicht viel schlafen, denn es war sehr kalt, auch war das Stroh nass vom Tau. Nach zwei Stunden setzten wir den Weg fort. Wir hatten bisher etwa 40 Kilometer zurückgelegt. Unser Ziel war die deutsche Botschaft in Belgrad. Bisher umgingen wir die Dörfer, um nicht gefasst zu werden, aber der Durst plagte uns immer mehr, und wir entschlossen uns, in ein Dorf zu gehen, um Wasser nachzufüllen. Wie Sepp Herbst berichtet, marschiert die Gruppe der Billeder bis zu einem Bahnwärterhaus, um Wasser zu trinken und den Bus in Richtung Belgrad zu nehmen. Als die ersten das Wärterhaus verlassen, fährt ein Auto vor. Fünf Minuten später haben Polizisten in Zivil die Grenzgänger umstellt. In der nächstgelegenen Dorfkneipe in Konak müssen sie an Tischen mit verdreckten Tischdecken Platz nehmen. Rudolf Kastel entledigt sich des Ausschnitts seiner jugoslawischen Militärkarte, indem er sie unter die Tischdecke schiebt. Hans Hahn junior sieht in der Kneipe zum ersten Mal in seinem Leben einen Farbfernseher. In Rumänien gab es so etwas noch nicht. Am Nachmittag geht es in Begleitung mit einem Bus in Richtung Setschan.

Durch ein nicht ganz geschlossenes Fenster entledigt sich Kastel des Kompasses. In Setschan verurteilt ein Richter die Aufgegriffenen im Schnellverfahren wegen illegalen Grenzübertritts zu drei Wochen Gefängnis. Die drei Wochen müssen sie in Großbetschkerek absitzen. Die örtliche Polizei fährt die Verurteilten in zwei mit Blechverschlägen versehenen Kleinbussen dorthin. Sie sitzen dicht gedrängt wie die Heringe, je sechs Mann in einem Auto. Die Sonne brennt erbarmungslos auf die Dächer; die Insassen glauben, verdursten zu müssen. Am Abend erreichen sie das Gefängnis in dem Banater Städtchen Großbetschkerek. Eine Glocke, gegossen in Temeswar, der Hauptstadt des Banats, begrüßt sie. Sie stammt noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, der Zeit der österreichischen Krone, als das Banat noch nicht dreigeteilt war. Die Neuankömmlinge müssen alles abgeben, was sie besitzen: Geld, Uhren, Messer, Schmuck, Schnürsenkel und Gürtel. Das Gefängnispersonal notiert alles peinlich genau. Hans Hahn junior lassen sie nicht einmal die Unterhose. Hans Hahn berichtet weiter im Tagebuch: Wir wurden alle in Zelle 18 eingesperrt. Dort warteten schon die drei jungen Männer aus der Gruppe hinter uns, die bereits vorher gefasst worden sind. Die vier Frauen, darunter auch die schwangere, kamen in eine andere Zelle, der zwölfjährige Junge in ein Kinderheim. In der Zelle waren wir zu 13 Personen: Sepp Herbst mit Sohn Hans, Mathias Lay mit Sohn Helmut, Vater und ich, Jakob Lenhardt, Sepp Stadtfeld, Rudolf Kastel, Victor Căliniuc, Josef Schäfer, Karl Schneider und Josef Muth. Die Zelle war etwa 16 Meter lang, 9 Meter breit und 4 Meter hoch. Die Fenster waren vergittert, und die Tür aus Eisen hatte zwei Öffnungen: ein Guckloch und einen Spalt, um Essen zu fassen. In der Zelle standen ein Tisch, eine kurze Bank und zwei eiserne Schränke. Das WC war in der Ecke eingemauert, jedoch ohne Tür. Es war ein Plumpsklo, und darüber gab es einen Wasserhahn, woraus wir auch das Trinkwasser entnahmen. Am ersten Tag wurde mir übel, ich musste mich erbrechen; das Bersau-Wasser war wohl schuld. Später wurden noch andere aus unserer Gruppe krank, die ebenfalls das Kanalwasser getrunken hatten. Montags und dienstags wurden wir einzeln zum Verhör gebracht. Wir gaben aber nicht viel preis. Soweit Hahns Tagebuch. Unter den Verhörten ist auch Rudolf Kastel. Die Ermittler wissen, dass er als Ingenieur am gemeinsam von Rumänien und Jugoslawien gebauten Wasserkraftwerk Eisernes Tor beschäftigt war. Die Polizisten wollen hören, wie seine serbischen oder kroatischen Arbeitskollegen heißen und womit sie sich beschäftigen. Ferner sind sie an Schwachpunkten oder von der rumänischen Seite böswillig eingebauten Schwachstellen interessiert. Auf dem Tisch liegen Zeichnungen, die Kastels Unterschrift tragen. Leugnen ist nutzlos. Die Polizisten behaupten, dass ein kroatischer Arbeitskollege in Temeswar dem rumänischen Geheimdienst Securitate im Verhör gesagt habe, Kastel sei Geheimnisträger für

die Bauten am Eisernen Tor, und so gebe es nur zwei Möglichkeiten, falls er nicht kooperativ sei: Er werde längere Zeit in Jugoslawien festgehalten oder aber nach Rumänien zurückgeschickt. In die Gefängniszelle zurückgekehrt, grübelt Kastel Tag und Nacht über seine Situation. Am ersten Abend in Großbetschkerek sieht es noch so aus, als ob die Häftlinge mit Essen verwöhnt werden. Es gibt Weißbrot mit Salami. Doch das ändert sich. Von Tag zu Tag bekommen die Insassen weniger in den Napf. Das Essen ist im August 1981 im Gefängnis von Großbetschkerek karg. In der Suppe schwimmen ein paar Erbsen oder Bohnen. Das Brot ist rationiert. Die jungen Gefangenen haben es am schwersten. Sie sind immer hungrig und versuchen stets, das Endstück des Brotes zu ergattern, denn es sieht nach mehr aus. Zum Schluss müssen sie die Gürtel um einiges enger schnallen. Schlecht ergeht es den Rauchern. Ihnen gehen die Zigaretten aus. Sie beginnen sich aus Zeitungspapier und dem Material eines alten Besens Ersatzzigaretten zu drehen. Sie verbreiten damit einen unheimlichen Gestank in der Zelle. Dann endlich werden sie vom Gefängnispersonal mit serbischen Zigaretten beliefert. Bezahlen müssen sie bei der Entlassung. Hans Hahn schreibt weiter: Zu essen bekamen wir dreimal am Tag. Morgens Kaffee oder Tee mit Brot und Marmelade oder Butter. Zuerst waren wir froh, denn in Rumänien bekam man die Butter nicht mal in den Geschäften. Mittags waren im Blechteller Suppe, Reis oder Bohnen. Abends gab es Brot mit einem Stückchen Wurst oder auch Suppe. Unseren Hunger stillten wir aber mit Wasser. Morgens und nachmittags wurden wir zehn Minuten in den Hof geführt. Tagsüber war es sehr heiß in der Zelle, außerdem hatten wir noch fünf Raucher, die eine Zigarette an der anderen anzündeten. Abends konnte man die Luft mit dem Messer schneiden, und meine Augen brannten fürchterlich. Wir schliefen auf Matratzen, die auf dem Boden lagen. Nachts kamen die Stechmücken durch die offenen Fenster, so dass wir morgens fürchterlich zerstochen waren. Wir schlugen die Mücken tot, und das Blut spritzte nur so aus den Viechern heraus. Nach 20 Tagen sah die Mauer aus, als wäre sie bunt tapeziert. Am 15. Tag brachten sie noch zwei Jungen aus Siebenbürgen zu uns in die Zelle. Den ganzen Tag spielten wir Mühle und Backgammon. Die Figuren und Würfel machten wir aus geknetetem Brot, das wir trocknen ließen. Die Punkte im Würfel färbten wir mit Zigarettenasche. Am 20. Tag wurden wir mit zwei Polizeiwagen abgeführt, aber nicht nach Belgrad, wie wir alle dachten, sondern in ein anderes Gefängnis, nach Padinska Skela, einem berüchtigten Jugendknast. Dort waren die Bedingungen noch schlechter. Das Zimmer glich einem Korridor und hatte 22 Betten. Wir waren anfangs 20 Personen, und nach vier Tagen schon 53, ist in Hahns Tagebuch verzeichnet. Rudolf Kastel kennt andere Einzelheiten von diesem 27. August 1981: Die

Polizeiwagen mit den Flüchtlingen halten plötzlich in einem Seitenweg vor einem Schlagbaum. Ein Holzportal versperrt den Feldweg; auf einer Tafel steht auf serbisch Zatvora, Gefängnis. Das erste Stockwerk im neuen Gefängnis in Padinska Skela ist ein von der UNO betriebenes Flüchtlingsauffanglager.

Von der Hochzeit ins Gefängnis

Die Zustände beschreibt wiederum Hahn: Die Luft roch nach Schweiß und Urin, denn das offene WC nebenan hatte keinen Ablauf. Man pinkelte praktisch in den Urin auf die Erde. Die Decke war voller Fliegen und Spinnen. So viele Fliegen auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen. Die Wände waren mit Dummheiten und Sprüchen übersät. Wir waren 17 Deutsche, der Rest waren Rumänen, manche wussten nicht einmal, wohin sie wollten, Hauptsache raus aus Rumänien. Der Boden war bedeckt mit Staub und Zigarettenstummeln. Wenn nicht einer von uns gekehrt hätte, hätten sich die anderen einfach in den Unrat gelegt. Einer von den Insassen berichtete, wie er mit seinem Saxophon in einem aufgeblasenen Traktorschlauch über die Donau gepaddelt ist. In Jugoslawien spielte er noch auf einer Hochzeit, an der er ungeladen teilnahm, bevor er sich den Behörden stellte. Er berichtete von einem Friedhof auf jugoslawischer Seite, auf dem diejenigen bestattet werden, die nicht lebend ankommen und keine Ausweise bei sich hätten. Viele werden von Grenzerbooten mutwillig überfahren, einige einfach erschossen. In diesem Gefängnis verbrachten wir fünf Tage, bevor wir 17 Deutschen in drei Gruppen nach Belgrad abgeschoben wurden. Zuerst waren die Frauen dran, dann die Väter mit den Söhnen und am dritten Tag der Rest. Victor Căliniuc blieb als einziger aus unserer Gruppe im Gefängnis zurück, und der Abschied von uns fiel ihm schwer. Er sagte, er wolle nach Kalifornien. Er war der einzige Rumäne in unserer Gruppe. Als wir am 1. September 1981 Padinska Skela verlassen haben, um das UNO-Büro in Belgrad aufzusuchen, weinte Căliniuc wie ein Kind. Er durfte das Gefängnis noch nicht verlassen, berichtet Hans Hahn junior. Die frisch Entlassenen sehen ungepflegt aus: die Kleider sind verdreckt, die Unterwäsche ist notdürftig gewaschen. Nach einem kurzen Aufenthalt im UNOBüro bei Olga gehen die Flüchtlinge mit einem Schriftstück in der Hand über einen Boulevard zur deutschen Botschaft. Beim unerwarteten Anblick der rumänischen Fahne - die rumänische Botschaft ist neben der deutschen - laufen sie aus Angst, es könne ihnen im Vorbeigehen noch etwas zustoßen, auf die andere Seite der vielbefahrenen vierspurigen Straße. In der deutschen Botschaft erhalten alle Pässe und Geld, das sie in Deutschland zurückzahlen müssen. Im nahegelegenen Hotel Astoria können sie sich ausruhen. Dort fühlen sie sich regelrecht verwöhnt. Sie freuen sich über ein heißes Bad und saubere Bettwä-

sche. Am 2. September erreichen sie Nürnberg. Und wieder lassen wir Hans Hahns Tagebuch sprechen: Wir schickten sofort ein Telegramm nach Hause, denn unsere Familien wussten wenig von unserem Verbleib. Unzählige Landsleute kamen uns besuchen, und jeder brachte etwas mit. Vater und ich bekamen vom Staat 12 Mark pro Tag. Ich aß mich satt von dem, was man in Rumänien nicht bekommt: Butter, Käse, Schokolade. Im Durchgangslager in Nürnberg blieben wir bis zum 22. September 1981. Ende September ist Basilius' letzter Transport nach Deutschland gekommen. Er hat ungefähr 80 Personen in die Freiheit verholfen. Am 1. November ist meine Großmutter an Altersschwäche gestorben. Sie war 81 Jahre alt. Aus der 28 Mann starken Gruppe ist keiner bekannt, der in der neuen Heimat Deutschland nicht seinen Weg gemacht hätte. Stellvertretend für alle seien drei Beispiele genannt: Josef Herbst arbeitet bis zum Rentenalter bei Mercedes. Josef Stadtfeld ist noch immer als Maurer auf der Baustelle tätig. Hans Hahn junior geht nach einer Lehre als Bankkaufmann ein halbes Jahr nach Irland und anschließend in die USA, um Englisch zu lernen. Er arbeitet im Vertrieb einer US-Firma in Düsseldorf und für eine Maschinenbaufirma in Bad Honnef bei Bonn. Von dort wechselt er zu einem Konkurrenten nach Bologna, Italien, der im Jahr 2000 vom amerikanischen Multi und weltgrößten Baumaschinenhersteller Caterpillar geschluckt wurde. Dort leitet er heute noch als VertriebsManager das Segment Straßenbaumaschinen in Afrika und im Nahen Osten. Er lebt mit seiner Frau Yoko und seiner dreijährigen Tochter in Bologna.

Anna Paul: Mit dem Herrgott im Rucksack in die Freiheit

Es war der 3. September 1981, ein noch warmer Sommertag, als wir uns mit Angst, Hoffen und Bangen von unserer Oma um 17 Uhr verabschiedeten. Unser Ziel war eine ungewisse Zukunft, die im Westen lag. Es war der Tag, an dem das lang ersehnte Verlangen nach Freiheit, nach einem besseren Leben für unsere Kinder wahr werden konnte. Ich hatte eine schwere Kindheit hinter mir. Nach dem Krieg sind wir geflüchtet und im Oktober 1944 in Sankt Pölten in Niederösterreich angekommen. Doch wir sind zurückgekehrt in die alte Heimat. Im Juni 1951 haben uns die Kommunisten in die Donautiefebene verbannt. Dort erlebten wir wieder Hunger und großes Elend. All das hat mein junges Leben geprägt. Daher rührte auch der Wille, zu kämpfen, um meinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. In den 1970er und 1980er Jahren schwoll der Auswanderungsstrom der Rumäniendeutschen rasant an. Jeder meinte, nur noch gegen Bezahlung eines Kopfgeldes das Land verlassen zu können. Wir hatten niemanden, der uns Deutsche Mark dafür geborgt hätte, deshalb war ich als Mutter entschlossen,

einen anderen Weg zu finden. Weil ich lange Jahre auf der Post in Kleinbetschkerek gearbeitet habe, hatte ich großen Anteil am Dorfleben. Ich wechselte aber den Arbeitsplatz, weil unsere jüngere Tochter ein kränkelndes Kind war. Ich wollte mehr Zeit für sie haben und flehte zu Gott, er möge mir den Ort zeigen, wo das Kind gesund werden kann. An meinem 40. Geburtstag und nach 20 Ehejahren hat sich das Leben am 5. April 1981 für meine Familie verändert: Um 18 Uhr war Basilius, unser Fluchthelfer, in Kleinbetschkerek im Haus der Familie Stein. Am Vortag hatte Margarethe Zillich, meine ehemalige Arbeitskollegin von der Post, uns den Kontakt zu Basilius hergestellt. Das Gespräch mit Basilius war erfolgreich. Um 21 Uhr stand fest, dass Johann, mein Mann, das große Risiko auf sich nehmen wird, um nach Serbien zu flüchten. Mit diesem Entschluss hat der große Leidensweg unserer Familie begonnen. Meine Schwiegermutter und ich versuchten den Wochenanfang mit Brotbacken und Saubermachen zu gestalten, wir hatten schlaflose Nächte hinter uns. Mutter war das Herz schwer. Sie hatte ihren Mann im Krieg verloren, und jetzt wollte der einzige Sohn ein großes Risiko eingehen und in die Fremde gehen. Uns beiden fiel die Trennung als Eheleute schwer, weil es Jahre dauern konnte, bis wir uns wiedersehen. Weil mein Mann krank geschrieben war und am Montag, dem 6. April, nach

Nach der gelungenen Flucht: (von links) Jo- Temeswar in die Poliklinik fahren hann, Inge, Anna und Sieglinde Paul musste, hatte er die Möglichkeit, die nötigen Papiere zu besorgen und die 20 000 Lei Fluchthelferlohn von der Bank abzuheben. Unsere Töchter gingen mit ähnlichen Sorgen zur Schule. Mutter und ich schlachteten den alten Hahn, kochten eine gute Suppe und backten Mohnstrudel. Unsere letzte Bratwurst sollte meinem Mann als Wegzehrung mit auf den Fluchtweg gegeben werden. Mein Mann und Sieglinde, unsere älteste Tochter, kamen gegen 15 Uhr von Temeswar nach Hause. Das Essen war serviert, doch uns rutschte kein Bissen die Kehle hinunter. Ich hatte einen Kinderrucksack mit dem Nötigsten gepackt. Neben Bratwurst, Mohnstrudel und Brot hatte ich darin Kleider verstaut, damit sich mein Mann einmal umziehen kann. Zwei Stunden später verabschiedeten

wir uns von unserem Vater. Wir standen alle schluchzend und weinend in der Küche. Ich begleitete meinen Mann auf die Straße. Er setze sich aufs Fahrrad, ein letztes Winken. Mit dem Zug fuhr er in der Abenddämmerung in eine ungewisse Nacht. Mutter und ich versuchten, unsere seelisch sehr mitgenommenen Töchter zu trösten. Als der Himmel seine dunklen Nachtschatten herunterließ, saßen Mutter und ich unter sternenklarem Himmel in der Scheune und beteten den Rosenkranz in alle Himmelsrichtungen, der liebe Gott möge eine schützende Hand über unseren lieben Vati halten. Basilius hatte versprochen, am nächsten Morgen um 4 Uhr bei Marlene zu sein, um uns die Nachricht vom Gelingen der Flucht zu bringen und um seine 20 000 Lei abzuholen. Mein Mann und seine vier Fluchtkameraden sind gut in Serbien angekommen, haben sich aber verirrt und sind der Polizei in die Arme gelaufen. Aus dem Gefängnis in Großbetschkerek konnten sie mit Hilfe eines Wärters nach ein paar Tagen eine Postkarte hinausschmuggeln mit der Botschaft: „Gut angekommen“. Jetzt fiel uns ein Stein vom Herzen. Aber wir hatten uns zu früh gefreut, denn für uns ging der Terror erst los. Fast täglich bekamen wir Besuch von der Polizei und vom Geheimdienst Securitate. Inge, unsere kleinste, war am mutigsten. Immer, wenn der Polizist in der Nähe war, flüchteten Mutter und ich auf den Speicher, und sie verteidigte sich tapfer, sie wisse lediglich, dass Vater in die Poliklinik nach Temeswar gefahren und nicht zurückgekehrt sei. Mit Gottes Hilfe ist unser Vater am 20. April 1981 mit dem Rosenkranz um den Hals, den ihm Mutter zum Abschied gegeben hat, in Forchheim angelangt. Der Frühling war zu Ende, und der Sommer zog durchs Land. Basilius hatte in unserem Dorf eine gute Quelle entdeckt, und ganze Familien flüchteten. Nach dieser Erfolgsserie telefonierte ich mit meinem Mann und fragte ihn, ob es nicht gut wäre, dass ich mit unseren minderjährigen Töchtern Urlaub in Wolfsberg in den Banater Bergen machen sollte. Er hat sofort meinen Plan durchschaut und mir versichert, wenn Basilius verspricht, uns über die Grenze zu führen, dann hält er auch Wort. Nun war der Plan geschmiedet, wir hatten Mut gefasst. Im Juli kam ein Bekannter aus Deutschland zu Besuch und brachte mir einen 16 Seiten langen Brief meines Mannes mit einer Skizze, der in den Ärmel einer Lederjacke eingenäht war. Er gab uns darin Ratschläge, wie wir uns auf der Flucht und in Jugoslawien verhalten sollten. Unsere Tochter Sieglinde, in jenen Tagen in der schönsten Jugendzeit, war verliebt in Harald, der inzwischen längst ihr Mann ist. Mit Harry hatte sie schon mehrere schöne Kirchweihfeste gefeiert. Doch inzwischen war ihm und seiner Familie die Ausreise nach Deutschland geglückt. Also war Sieglindes sehnlichster Wunsch, auch dorthin zu gelangen, wo Harry und ihr Vater schon waren. Harry war in unsere Fluchtpläne eingeweiht. Am Morgen des 3. August 1981, an seinem 18. Geburtstag, holte er seinen Führerschein ab, und um 12

Uhr war er schon mit dem Auto in Richtung Rumänien unterwegs. Als Harry bei uns angekommen war, fuhr er uns in den Wallfahrtsort Maria Radna. Dort hat Mutter für jeden von uns einen Rosenkranz gekauft und nochmals für uns alle vor der Flucht gebetet. Wir waren 18 Personen, die in jener Nacht mit Basilius den Weg an die serbische Grenze antreten sollten. Weil Basilius die Flucht immer wieder verschieben musste, haben wir fast in jeder Nacht unser Gepäck in Harrys Wagen geladen. Er sollte damit nach Serbien fahren, um uns dort zu erwarten. So vergingen die Tage, und ich dachte, dass inzwischen jeder Vogel auf dem Dach erkennen kann, was wir vorhaben. Es war August, die Kinder hatten Ferien, und ich hatte mir Urlaub genommen. Der Abschied fiel mir schwer. Ich musste meine alten, kranken Eltern und meine Geschwister zurücklassen. Also fuhr ich noch einmal zu meiner Schwester nach Billed. Meinen Schwager habe ich gebeten, er möge zu unseren Eltern fahren und sie trösten. Doch für alte Leute gibt es keinen Trost, nur Tränen. Inzwischen waren auch Harrys Eltern mit dem Auto aus Deutschland eingetroffen. Und zwei Tage später, am Donnerstag, dem 3. September, hieß es Abschied nehmen von den Eltern. Das bedeutete, alles aufgeben, was man sich in 20 Jahren Ehe nach vorheriger Enteignung und Verschleppung unter schwierigen Umständen wieder angeschafft hatte. Zum Glück hatten mein Mann und ich die nötigen 80 000 Lei, die wir für die Fluchthilfe zu zahlen hatten. Harry und seine Eltern haben uns in den Autos nach Temeswar gefahren, wo Basilius uns auf dem Josefstädter Marktplatz erwartete. Basilius hat uns 18 in Taxis verfrachtet, und los ging es zur Ackerbauschule nach Tschakowa, wo wir uns im Maisfeld versteckten und auf drei Pfiffe warteten. Nun saß ich da mit zwei minderjährigen Mädchen, Sieglinde war 17 und Inge gerade einmal 13 Jahre alt, um den schweren Fußmarsch nach Serbien anzutreten, gekleidet mit gleichen Lederjacken wie unser Vater bei der Flucht im April. In gleichen Rucksäcken hatten wir ein paar Sachen verstaut: das Kreuz, auf dem mein Mann und ich uns die Ehe versprochen hatten, unseren Trauschein, unsere Geburtsscheine und für jede von uns ein Paar Schuhe und je eine Hose zum Umziehen. Um den Hals trug jede ihren Rosenkranz aus Maria Radna. Mit Gottvertrauen fuhren wir auf einem Anhänger, gezogen von einem Traktor, in Richtung Grenze. Es ging durch Dörfer, über Felder, dann folgte der Fußmarsch, barfuss durch Sonnenblumenfelder, Sumpf und Schlamm. Als wir die Grenze überschritten hatten, folgte ein Verwirrspiel: Der eine wollte hü, der andere hot. Aber Basilius hatte mir den Weg genau beschrieben: Wir müssen einer uns zur Linken gelegenen Baumallee folgen. Diese führt uns zu drei weißen Häusern, und dahinter, nach ein paar Schritten nach links, stoßen wir auf das Flüsschen Bersau. Wenn wir dem Wasserlauf folgen, kommen wir zur Konaker Brücke, wo Harry und seine Eltern auf uns warten wollten. Wir gingen bis 3 Uhr. Alle waren schon erschöpft. Inge, unsere Jüngste, war kraft-

los, sie sagte: „Mutti, ich kann nicht mehr, mein Herz reißt mir ab“. Das veranlasste mich, mit meinen Töchtern zurückzugehen zu den drei weißen Häusern. Ich sagte mir, entweder wir finden Harry oder die serbische Polizei. Als wir die drei Häuser erreicht hatten, ging ich durch ein Gebüsch und war auf dem Bersau-Deich. Allerdings konnte ich die Strömung nicht ausmachen. Die Männer haben sich an den Händen haltend eine Kette an dem steilen Kanalufer gebildet, bis der letzte in Wassernähe war, um eine Zigarrenschachtel zu Wasser zu lassen und die Strömungsrichtung zu ergründen. Mit der Strömung ging es auf dem Deich südwärts. Harry und sein Vater kamen uns schon entgegen. An der Konaker Brücke standen für uns drei Autos bereit. Alle 18 Flüchtlinge wurden darin verfrachtet, und es ging los in Richtung Belgrad. In Harrys Wagen waren wir zu acht. Harry als Fahrer, Inge und ich auf dem Beifahrersitz, Auf der Hinterbank saßen vier Personen, eine weitere lag quer auf deren Beinen. Am 4. September 1981, um 6.30 Uhr, waren wir vor der verschlossenen deutschen Botschaft in Belgrad. Die Botschaft öffnete um 9 Uhr. Wir mussten uns wegen unserer schmutzigen Kleider verstecken und schlichen uns später in kleinen Gruppen an. Als wir endlich eingelassen wurden, fragte ein Botschaftsangehöriger, ob denn die rumänische Grenze in dieser Nacht offen gewesen sei. In kleinen Gruppen wurden wir in Zimmer gesperrt, doch keiner fragte uns, ob wir durstig oder hungrig sind. Gegen Abend starteten wir, ausgestattet mit deutschen Pässen, mit zwei Autos Richtung Westen. Die Strapazen der letzten Tage machten sich jedoch bald bemerkbar. Harry und sein Vater, unsere Fahrer, waren sehr müde. Sie konnten fast nur noch Schritttempo fahren. Am 5. September um 10.30 Uhr erreichten wir das Lager in Nürnberg. Am selben Tag ging es weiter nach Forchheim, wo uns unser Vati empfangen hat. Dort erst stellten wir fest, dass bei ihm die Armut groß war. Es fehlte an allem. Er hatte kein Messer, keinen Löffel, keine Gabel. Auch Kopfkissen fehlten. Wir sind angekommen mit Gottvertrauen, dem Rosenkranz um den Hals und dem Herrgott im Rucksack. Mit dem ersten Geld, das ich in Nürnberg erhalten habe, kaufte ich zwei Rosenkränze als Dank für die Mutter Gottes; der eine war bestimmt für den Altar der Gnadenkapelle in Maria Radna, der zweite für den Marienaltar in unserer Dorfkirche in Kleinbetschkerek. Wir hatten unser Ziel erreicht. Aber es folgten noch drei schwere Jahre mit vielen Tränen, die ich wegen meiner alten Eltern und wegen des Fremdseins vergossen habe.

Verrat

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Das Sprichwort hat auch im Falle des Schlepperwesens seine Gültigkeit. Was am 29. September 1981 passiert, ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf Verrat zurückzuführen. Den

sechsten und letzten Schub bringt Basilius am 29. September 1981 zur Grenze. Zu den acht Leuten gehören Ewald Stock und Walter Vanghele aus Sackelhausen, ferner Helmut Kunzelmann (geboren 1961) aus Neubeschenowa. Die Gruppe teilt sich hinter der Grenze. Der Maschinenbaustudent Stock und drei Mann folgen Basilius' Rat, streben südwärts und gelangen auf dem BersauDamm in die Freiheit. Hinter der Grenze wartet schon Stocks Schwager, um die beiden Sackelhausener nach Belgrad zur deutschen Botschaft zu bringen. Das Vorhaben gelingt. Von Belgrad geht es weiter mit dem Auto nach Rastatt. Den beiden vorauseilenden Sackelhausenern folgen lediglich zwei Mann. Die vier anderen schlagen einen Bogen nach rechts. Einer von ihnen, ein Temeswarer, erklärt, er wolle nicht weiter, berichtet Kunzelmann. Er wolle wissen, wo er sei. Kunzelmann und die beiden anderen wollen ihn nicht zurücklassen. Sie beschließen, zu warten, bis es hell wird, um dann über weiteres zu entscheiden. Als es hell ist, sehen sie rechts von sich zwei Häuser. Sie gehören, wie sich bald herausstellen soll, zu einer Pumpstation. Davor stehen zwei Männer, der eine mit einem Knüppel in der Hand. Der Temeswarer sagt den anderen drei, er wolle die beiden Männer fragen, wo Serbien liege. Er geht los, und die drei folgen ihm zur Pumpstation. Er fragt auf rumänisch nach Serbien und erhält zur Antwort, er solle warten, gleich werde er mit den anderen abgeholt. Als diese Worte fallen, beginnen Kunzelmann und die beiden anderen zu laufen, durchqueren einen tiefen Graben, dahinter ist Serbien. Die Männer vor der Pumpstation halten den Temeswarer, dessen Name keiner kennt, fest. Kunzelmann vermutet, er habe gar keinen wirklichen Fluchtversuch unternommen. Was er die ganze Nacht mit ihnen getrieben habe, sei ein abgekartetes Spiel gewesen. Der Mann ist wahrscheinlich als Verräter in die Gruppe eingeschleust worden. Basilius wird noch am selben Tag verhaftet. Wieder einmal ist ein Schlupfloch an der rumänisch-serbischen Grenze gestopft. Kunzelmann und die beiden mit ihm im letzten Augenblick über die Grenze gelaufenen Gleichgesinnten treffen in einem Maisfeld zwei der schon am frühen Morgen Geflüchteten. Sie setzen jetzt zu fünft den Weg fort, werden aber von serbischen Grenzern gefasst. Was folgt ist bekannt: Gefängnis, deutsche Botschaft, Fahrt nach Nürnberg. Die Securitate misshandelt Basilius fürchterlich. Er wird angeblich zu acht Jahren Haft verurteilt. Doch es gelingt ihm zu flüchten. Er schlägt sich bis nach Italien durch und meldet sich bei Matz Hell, der unter den Leuten, denen Basilius den Weg in die Freiheit gezeigt hat, Geld für den Fluchthelfer sammelt. Basilius gelangt nach Deutschland, besucht auch Mathias Hell; doch inzwischen hat sich seine Spur verloren. Keiner weiß, wo er lebt.

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