5 minute read
Schlupfloch Karatschi
Ewald Vollmann:
Die Erleuchtung kommt Ewald Vollmann ausgerechnet bei den Olympischen Spielen in Moskau. Schon seit Jahren sucht er nach einer Möglichkeit, dem kommunistischen Rumänien den Rücken zu kehren. Doch geboten hat sich bis Sommer 1984 keine. Ausgerechnet in der Sowjetunion, dem angeblichen Arbeiter- und Bauernparadies, zeigt ihm sein Zimmerkollege im Hotel das Schlupfloch, das er auf dem Weg in die Freiheit nutzen könnte. Ewald Vollmann, Maschinenbauingenieur und Abteilungsleiter im Betrieb „Electrobanat“ in der Banater Hauptstadt Temeswar, wollte schon immer Olympische Spiele erleben. Seit er aber weiß, dass der Westen die Spiele in Moskau wegen des Einmarschs der Sowjets in Afghanistan boykottiert, ist er nicht mehr begeistert von der Reise in den Osten. Doch im nachhinein erweist sich der Ausflug nach Moskau als Glücksfall. Schon einmal schien eine Flucht greifbar nahe. Ewald Vollmann saß in einem Bus mit der Rugby-Mannschaft des Temeswarer Studentensportklubs Politechnica. Doch am Morgen, kurz vor der Abfahrt, nehmen Geheimpolizisten ihm und einem deutschen Kollegen die Pässe ab. Die Mannschaft fährt ohne sie westwärts. Und nun sitzt er mit dem Zimmerkollegen in Moskau, und der erzählt ihm, was er auf einer China-Reise erlebt hat. Wegen der schlechten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China in jenen Jahren legen die Flugzeuge, die Peking anfliegen, nicht mehr in Russland Zwischenlandungen ein. Die Piloten müssen jetzt zum Auftanken der Flugzeuge Karatschi anfliegen. In der pakistanischen Hafenstadt Ehrung in Temeswar: Ewald Vollmann hat am Arabischen Meer, nordwestlich des mit Politechnica Temeswar den Titel eines rumänischen Landesmeisters gewonnen. Indus-Deltas gelegen, bestehe die Möglichkeit, sich aus dem Staub zu machen. Ewald Vollmann, geboren am 26. Oktober 1942 in Sanktanna, das geographisch zu Siebenbürgen gehört, dessen Einwohner sich aber von der Siedlungsgeschichte her zu den Banater Schwaben zählen, stellt im Betrieb den Antrag,
Advertisement
dass der Rat der Werktätigen ihm die China-Reise genehmigen möge. Als er die Kollegen in diesem Gremium, in dem auch er sitzt, mit seinem Ansinnen konfrontiert, schlägt ihm Spott entgegen. Die Kollegen wissen, dass er nie in den Westen fahren darf. Doch Ewald Vollmann entgegnet lächelnd, China sei sein Westen, er fahre eben dorthin. Was die Reise denn koste, wollen die Kollegen noch wissen. 15 000 Lei, sagt Ewald Vollmann. Den wahren Preis will er nicht nennen. Denn 45 000 Lei sind in jener Zeit ein kleines Vermögen. Und bei dieser Zahl hätte vielleicht jemand Verdacht schöpfen können. Der Rat der Werktätigen, die Partei, die Polizei und der Geheimdienst sagen nicht nein. Sie lassen Ewald Vollmann, den einstigen Rugby-Spieler und rumänischen Landesmeister, in Richtung Peking fliegen. Über Bukarest geht es mit einer Schweizer Boeing 474 nach Asien. Bei der Zwischenlandung in Karatschi sieht sich Vollmann schon nach Möglichkeiten um, wie er verschwinden könnte. Er erkennt sofort, wie er den Transitraum problemlos verlassen kann. Die Toiletten im Transitraum sind defekt, deshalb dürfen die Passagiere ohne Kontrolle den allgemein zugänglichen Teil des Flughafens betreten. Ewald Vollmann weiß genug. Er will jedenfalls die teuer bezahlte China-Reise mitmachen, um erst auf der Rückreise durchzubrennen. Er erlebt einen schönen Flug über die Spitzen des Himalaja, genießt die unsagbare Stille, die trotz des Motorengeräuschs über den Achttausendern herrscht. Er sieht, wie arm die Chinesen leben. Er spricht auch heute noch von einer brutalen Armut. Morgens brennt auf dem Platz des Himmlischen Friedens keine Lampe; Straßenkehrer sammeln auf dem Platz im Zentrum der chinesischen Hauptstadt Exkremente ein. Seit der Landung in Peking, weiß er: Wenn seine Flucht nicht gelingen sollte, kann er froh sein, nicht in China, sondern in Rumänien zu leben, obwohl auch dort seit Herbst 1980 die Geschäfte leer sind. An der 14 Tage dauernden China-Reise nehmen zusammen mit Ewald Vollmann 40 Mann teil. Es ist eine bunte Gesellschaft; sie besteht aus Leuten, die viel Geld verdienen. Dazu gehören Gemüseverkäufer und Ärzte. Das Zimmer auf dieser Reise muss Vollmann mit einem Spitzel teilen. Für sein Fluchtvorhaben schenkt ein Hamburger Rechtsanwalt, der mit einer deutschen Reisegruppe in China weilt, Vollmann 100 Mark. Auf dem Rückflug steigt Vollmann als letzter in die Maschine, damit er in Karatschi als erster das Flugzeug verlassen kann. Er nimmt sein Handgepäck, geht geradewegs zu einem Taxi und bittet den Fahrer, ihn in die Innenstadt zu bringen. Er steigt vor dem Sheraton-Hotel aus. Es ist Mitternacht. Er versucht, spazieren zu gehen, steigt schließlich über einen Zaun und legt sich in einem Garten schlafen. Das ist die richtige Entscheidung, wie er später von einem ehemaligen Rugbyspieler von Jiul Petroşani erfahren wird. Der Sicherheitsbeamte, der auf seinem Zimmer war, hat eine Fahndung ausgelöst mit der Begründung, Vollmann sei ein entlaufener Terrorist. Er sei überall gesucht worden.
Das Flugzeug habe vier Stunden lang gewartet und sei nicht abgefertigt worden. Hätte die Polizei ihn gefasst, wäre er ausgeliefert worden. Denn die Beziehungen zwischen Rumänien und Pakistan waren seinerzeit sehr gut. Am Morgen geht Ewald Vollmann ins Lufthansa-Büro, das er in der Nähe des Sheraton-Hotels ausmacht. Der Dienststellenleiter fährt ihn bereitwillig ins deutsche Konsulat. Der Lufthansa-Mann rät Ewald Vollmann, den beiden Polizisten vor dem Konsulat gegenüber recht forsch aufzutreten. Das tut er und betritt das Konsulat, indem er die Eingangstür richtig zuknallt. Der Konsul ist von den Fluchtplänen Vollmanns nicht begeistert. Doch er nimmt sich seiner an. 56 Tage wird es dauern, bis er den Fall Vollmann gelöst hat. Denn die Pakistani wollen die guten Beziehungen zu Rumänien nicht trüben. Ewald Vollmann schreibt ans Auswärtige Amt, das eine Verbindung zur pakistanischen Regierung in Islamabad herstellt. Schließlich werden pakistanische Polizisten Vollmann in eine Lufthansa-Maschine schleusen, die ihn nach Deutschland ausfliegt. Die Polizisten warten nachts hinter dem Konsulat auf ihn. Er springt über den Zaun; mit dem Polizeiwagen geht es in ein Absteigehotel in der Nähe des Flughafens. Die pakistanischen Polizisten geben seinen auf einen anderen Namen ausgestellten Pass ab und schleusen Vollmann über einen Versorgungsweg in den Flughafen ein. Ewald Vollmann ist besorgt, denn es ist Freitag, und an diesem Tag landet das Flugzeug, das Peking mit Bukarest verbindet, in Karatschi. Doch alle Befürchtungen sind sinnlos, Sicherheitsbeamte bringen ihn zur Lufthansa-Maschine. Als Ewald Vollmann die Treppe zum Flugzeug hinaufgeht, begrüßt ihn die Stewardess mit den Worten: „Guten Tag, Herr Vollmann“. Nach der Landung in Frankfurt am Main kommt Ewald Vollmann ins Lager Friedland, wo sein zweites Leben beginnt, wie er heute sagt.
Nach einem Jahr findet er Arbeit in einer Pforzheimer Firma, die Halbzeuge für die Schmuck- und Elektroindustrie herstellt. Ab 1991 arbeitet er in Stuttgart in einem Betrieb, der Feuerlöschanlagen produziert. Seit Oktober 2007 ist er Rentner.