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Der geldgierige Schaffner

Von Anton Wambach

Wir waren eine Gruppe von sieben bis acht jungen Burschen. Zu Hause waren wir in Tschanad, im Dreiländereck Jugoslawien/Rumänien/Ungarn. Wir trafen uns fast allabendlich, um Karten zu spielen oder sonst etwas zu unternehmen. Tagsüber hatte jeder seine Arbeit, meist etwas, was mit Landwirtschaft zu tun hatte. Einer davon, Hans Jung, war mit seinen Eltern 1944 wegen der Kampfhandlungen im Dorf geflüchtet und bis nach Deutschland gelangt. Nach dem Krieg ist die Familie heimgekehrt. Er erzählte oft von seinen schönen Erlebnissen in Deutschland. Eines Abends sprachen wir auch davon, ob wir nicht ins „Reich“ sollten, Anton Wambach weil wir Deutsche in Rumänien keine Zukunft hätten. Allmählich fassten wir einen Plan. Hans Jung, Joschka Wolf, Toni Koreck und ich beschlossen, über die Grenze zu flüchten. Mit Geld und Lebensmitteln von daheim ausgerüstet, sollte es losgehen.

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Wir hatten beschlossen, am 25. Februar 1950 mit dem 4-Uhr-Zug in Richtung jugoslawischer Grenze abzufahren. Die nur zwei Kilometer entfernte ungarische Grenze kannten wir gut, aber die Ungarn hätten uns, bei Gefangennahme, ausgeliefert. Von den Jugoslawen war Anfang der 1950er Jahre so etwas nicht zu erwarten, denn der Konflikt Tito-Stalin war in vollem Gange, und zwischen Rumänien und Jugoslawien tobte eine schmutzige Diffamierungsschlacht.

Am Abend des 24. Februar 1950 verabschiedeten wir uns bei Joschka zu Hause von den Kameraden mit einem Hühner-Gulasch. Nachdem sich der Großteil der Kameraden nach 23 Uhr verabschiedet hatte, waren nur wir vier und Joschkas Bruder noch anwesend. Wir sprachen über alles Mögliche, so auch über die Flucht. Bis dahin wusste außer uns vieren keiner etwas von unserem Vorhaben. Gegen 0.30 Uhr ging auch Joschkas Bruder schlafen. Wir vier versuchten, noch ein wenig am Tisch sitzend zu schlafen, was aber nicht gelang. Samstag, um 3.30 Uhr, machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Der von einer Dampflok gezogene Zug fuhr um 4 Uhr ab. An der übernächsten Station, Großsanktnikolaus, mussten wir umsteigen in den Zug in Richtung Valkan (Valcan), dem letzten Ort vor der jugoslawischen Grenze. Wir mussten eine Zeitlang warten, bis

der Anschlusszug kam. Genug Zeit für uns, um Fahrkarten zu lösen. Um unsere Spur zu verwischen, hatten wir in Tschanad lediglich bis Großsanktnikolaus gültige Fahrkarten gelöst.

Der Bahnbeamte am Schalter lehnte es ab, uns Fahrkarten zu verkaufen, weil unsere Personalausweise für den jugoslawischen Grenzbereich nicht gültig waren. Doch der Zug, mit dem wir weiterfahren wollten, kam eben eingefahren, und wir überlegten, ob wir unser Vorhaben bleiben lassen sollten. Während wir noch überlegten, kam ein Schaffner aus dem Zug und fragte uns auf Rumänisch, wo wir hinfahren wollten, und wir antworteten: „Nach Valkan“. Weiterhin wollte er wissen, ob wir schon Fahrkarten hätten, und als wir dies verneinten, machte er uns den Vorschlag, uns auch ohne Karten mitzunehmen, wenn wir ihm den Fahrpreis direkt bezahlten. Wir waren froh darüber und sagten zu. Mit einem Stock zeigte er über die Schulter auf einen Waggon mit Plattform im hinteren Teil des Zuges und forderte uns auf, sobald der Zug anfuhr, dort aufzuspringen.

Die Geldgier des Schaffners hat uns unerwartet weitergeholfen. Er machte uns darauf aufmerksam, dass der Bahnhof von Valkan taghell erleuchtet sei und die Grenzer ernst kontrollierten. Bevor der Zug den erleuchteten Abschnitt erreicht, werde er langsam fahren. Dann würde er kommen und für uns die dem Bahnhof gegenüberliegende Tür aufschließen. So geschah es auch, und wir sprangen aus dem langsam fahrenden Zug einer nach dem anderen hinaus, den Bahndamm hinunter und in die dunkle Nacht. Nach etwa 200 Metern blieben wir stehen und schauten zurück zum Bahnhof. Dieser war noch hell erleuchtet, und alles schien normal zu sein. Nachdem am Bahnhof die Lichter gelöscht waren, gingen wir weiter, querfeldein in die dunkle Nacht, gegen Westen, wo wir die Grenze vermuteten. Wir fanden eine unverschlossene Weingartenhütte, in der wir ein bisschen gegessen und geraucht haben. Wir hatten Brot und Wurst für etwa zwei Tage dabei. Zigaretten hatten wir sogar für vier Wochen, aber keinen Tropfen Trinkwasser. Auf einem Feldweg suchten wir nach tiefen Wagenspuren, zerschlugen das Eis darin, um an das bisschen Wasser zu kommen, das wir aus den Händen tranken. Als es hell wurde, sahen wir vor uns den Ort Valkan, ein Dorf, wie viele im Banat. Wir gingen jeweils zu zweit ins Dorf. Gleich am Ortseingang war eine Kaserne der Grenzschutzpolizei mit einem Posten vor dem Tor. In Sichtweite dieses Postens haben wir uns zusammen auf eine Bordsteinkante gesetzt und Zigaretten geraucht. Wir saßen und standen da, ohne recht zu wissen, wie es weitergehen sollte. Wir wurden unsicher, nicht zuletzt wegen der vielen Soldaten. Joschka fragte einen zufällig vorbeigehenden Mann, einen älteren Rumänen, wo Herr Bender - aus der Phantasie geboren - wohne. Der Mann erwiderte, er kenne diesen Namen nicht, aber er zeigte auf ein Bauernhaus im Hintergrund und meinte, dort wohne ein Deutscher, vielleicht könne der uns weiterhelfen. Wir gingen zu diesem Haus und trafen einen Mann um die 50 Jahre alt und alleinstehend. Seine Familie war nach Deutschland geflüchtet, als

er noch in Kriegsgefangenschaft war. Als wir ihm unser Vorhaben schilderten, bekam er sichtlich Angst. Er bat uns, mit ihm in den leer stehenden Pferdestall zu kommen, damit wir nicht gesehen werden, weil schon öfter Fluchtwillige entdeckt und verhaftet worden waren. Hätte man uns bei ihm gefunden, so wäre er als Fluchthelfer bestraft worden.

Er führte uns auch auf den Dachboden, schob einen Dachziegel hoch und erklärte uns den Verlauf zweier Bahndämme. Der eine führte geradeaus ins nächste Dorf, war stillgelegt, die Gleise bis zur Grenze waren entfernt worden. Der zweite führte quer zum anderen wie ein großes T, war in Betrieb und lag hart an der Grenze in Jugoslawien. Wir waren mit dieser Auskunft zufrieden und hörten nur noch halb zu, als er von Schießen und gefährlich sprach. Auch sagte er noch, wenn alles so einfach wäre, wäre er schon längst zu seiner Familie gegangen. Zum Abschied wies er uns noch an, auf dem Dachboden zu bleiben und erst bei Dunkelheit sein Grundstück zu verlassen, damit er keine Schwierigkeiten bekomme. Wir versprachen dies, gaben ihm noch unser restliches rumänisches Geld, und er verließ uns. Wir hatten ein wenig von unserem Vorrat gegessen, geraucht und auch ein bisschen geschlafen. Als wir erwachten, war es schon dunkel, und wir machten uns auf den Weg. Nach einer Weile stießen wir in der Dunkelheit auf einen Bach und gingen nun an diesem entlang weiter, immer auf der Suche nach Gegenständen, mit deren Hilfe wir trockenen Fußes den Bach überqueren könnten. Nach einer Weile fanden wir einen Feldweg mit einer Brücke. Wir überquerten den Bach und erreichten auch bald den stillgelegten Bahndamm, dem wir folgten. In der Dunkelheit konnten wir schon den neuen Bahndamm auf jugoslawischer Seite ausmachen. Wir erreichten ein abgeerntetes Maisfeld, auf dem noch das in kegelförmige Haufen zusammengestellte Laub stand. In einem solchen Laubhaufen versteckten wir uns und schliefen vor Erschöpfung ein. Der Pfiff einer Dampflokomotive und das Geräusch eines Zuges rissen uns jäh aus dem Schlaf. Wir krochen, noch schlaftrunken, heraus und sahen einen Zug an der Grenze entlangfahren, wie es uns der Mann gesagt hatte, etwa einen Kilometer vor uns.

Wir orientierten uns neu. Inzwischen sahen wir den Grenzverlauf deutlich. Der alte Damm hörte etwa 150 Meter vor dem neuen auf. Rechts vom alten Damm, etwa 300 Meter entfernt, befand sich ein rumänischer Grenzerstützpunkt mit einem hohen Wachturm davor. Vor uns lag der neue Damm, und gegenüber dem rumänischen Grenzerstützpunkt war auf jugoslawischer Seite ebenfalls ein Grenzerstützpunkt, vor dem ein Soldat Posten stand. Es wurde uns plötzlich klar, wenn wir auf dieser Seite des alten Dammes blieben, konnte uns das Maschinengewehrfeuer vom Wachturm erreichen. Wir stiegen also über den alten Damm, und halb gehend, halb laufend näherten wir uns gebückt und im Schutze des Dammes der Grenze. Plötzlich, wir hatten vielleicht noch 500 Meter bis zur Grenze, tauchte eine rumänische Zwei-Mann-Patrouille auf. Als die

Soldaten uns sahen, blieben sie stehen und beobachteten uns eine Weile. Als sie jedoch die Waffen von der Schulter nahmen und durchluden, machten wir kehrt und liefen zurück über den Damm. Wir überlegten gemeinsam die neue Situation und wussten nicht so recht, was nun zu tun wäre. Weil die Soldaten uns nicht mehr sahen, zogen sie weiter ihres Weges. Diesseits des Dammes war ein Entwässerungsgraben, vielleicht einen halben Meter tief, mit niederem Gebüsch aus trockenem, etwa zwei Meter breitem Unkrautbestand. Jetzt musste alles schnell gehen. Wir beschlossen, im Entwässerungsgraben zur Grenze in Gänsereihe zu laufen. Etwa 20 Meter vor der Grenze sahen wir dicht neben uns einen Graben, der mit Reisig abgedeckt war. Wir wussten, dass der neue Bahndamm in Jugoslawien lag, aber nun sahen wir auch, dass die Grenze schon ein Stück davor verlief. Der jugoslawische Posten sah uns kommen und kam uns entgegen, um uns den Weg abzuschneiden. Als wir die Grenzlinie überschritten hatten, rief er „stoj“ (Halt), doch wir liefen weiter und wollten den Bahndamm hinauf. Erst als er sein Gewehr durchgeladen hatte und zu schießen drohte, blieben wir stehen. Wir sahen auf der Stirnseite seiner Fellmütze einen roten Stern mit Sichel und Hammer und dachten, es sei ein Russe auf rumänischer Seite. Weil ich von meinem Lehrmeister Serbisch gelernt hatte, konnte ich mich mit dem Soldaten so recht und schlecht verständigen.

Mit erhobenen Händen standen wir also vor ihm. Während er uns mit einer Hand durchsuchte, fragte ich so gut ich konnte, ob wir in Jugoslawien seien. Als er dies bejahte, fiel uns ein Stein vom Herzen. Der Soldat gab uns zu verstehen, dass wir fünf Schritte vor ihm in Richtung Gebäude gehen sollten. Mit dem Gewehr im Anschlag führte er uns ab. Am Grenzerstützpunkt nahmen uns zwei andere Soldaten in Empfang. Nachdem wir durchsucht waren, führten sie uns ins Innere des Hauses, es war wohl der Aufenthaltsraum der Grenzer. Wir nahmen an einem langen Tisch mit Bänken Platz, und sie gaben uns Kaffee und dazu Weißbrot. Es kamen noch weitere Soldaten, wohl aus Neugier, dazu, einer davon konnte besser Rumänisch als ich Serbisch. Er erklärte uns, welches Glück wir gehabt hätten. Unter anderem sei der Fallgraben, den wir im Vorbeigehen gesehen hatten, schon vielen Leuten vor uns zum Verhängnis geworden. Sie hatten vom Fenster aus unsere Flucht beobachtet und wussten, dass wir es geschafft hatten, als wir am Fallgraben vorbei waren, denn der rumänische Scharfschütze war noch nicht auf seinem Posten auf dem Wachturm.

Nach einer Stunde begleitete uns ein Soldat hinaus zur Toilette. Als die rumänischen Soldaten uns vier sahen, wurde es drüben sehr laut. Sie nannten uns Verbrecher und Verräter des Sozialismus, fluchten gehörig und drohten, zu schießen. Der Soldat, der uns begleitete, rief um Verstärkung, so dass noch zwei Soldaten mit Maschinenpistolen herbeieilten. Inzwischen war auch der rumänische Wachturm besetzt, und der Soldat bedrohte uns mit der Maschinenpistole und zornigen Gesten. Gegen Mittag wurde es nochmals sehr laut auf der rumä-

nischen Seite. Ein serbischer Soldat rief uns ans Fenster, und wir sahen, dass zwei berittene hohe Offiziere angekommen waren. Es hörte sich an, als ob da die Prügelstrafe vollzogen würde.

Wir erhielten ein warmes Mittagessen und wurden danach von einem bewaffneten Soldaten zu einer Polizeistation in ein Dorf gebracht. Der Weg über die Landstraße war menschenleer. Wir versuchten vergeblich, mit dem Soldaten ins Gespräch zu kommen. Einen Sicherheitsabstand von fünf Schritten hielt er stets ein. Nach der Übergabe an einer Polizeistation konnten wir uns frisch machen und bekamen auch Kaffee zu trinken. Dann ging es mit einem anderen Soldaten weiter in den nächsten Ort, ein Kleinstädtchen mit Gefängnis. Als Emigranten wurden wir besser behandelt als die Strafgefangenen und kamen auch alle vier in eine Zelle.

Die Polizisten nannten uns „Rumuni“ (Rumänen) und waren freundlich. Gelegentlich erhielten wir auch mal einen Essens-Nachschlag zu der mageren Tagesration. Nach einer Woche wurden wir zum Bahnhof gebracht und in einen Zug gesetzt. Wir kamen nach Großbetschkerek (Zrenjanin) in ein größeres Gefängnis. Dort wurden wir getrennt und in Zellen zu Strafgefangenen gebracht. Joschka und ich blieben zusammen in einer Zelle mit vier einheimischen Strafgefangenen. Hans und Toni Koreck kamen jeder in eine andere Zelle und konnten auch mit niemandem reden, weil sie kein Serbisch verstanden. Auch dort hatten wir Privilegien gegenüber den Häftlingen. Wir bekamen zwar mehr zu essen, aber nicht ausreichend, und hatten mehr Freigang im Hof. Unsere Zelle war etwa vier mal drei Meter groß. Neben der Eingangstür standen ein Waschtisch und ein Eimer mit Wasser. Auf der anderen Seite der Tür stand ein offener Eimer zum Urinieren. Im Hintergrund gab es in Kniehöhe über die ganze Breite ein zwei Meter langes Holzpodest, das am hinteren Ende etwas erhöht war, was das Liegen erleichterte. In der Wand gegenüber befand sich ein Fenster von 80 Zentimetern im Quadrat. Jeder Insasse bekam eine Pferdedecke. Zum Schlafen hatten sich immer zwei zusammengetan und eine Decke als Unterlage und eine zum Zudecken verwendet. Wir lagen in der Reihe dicht nebeneinander. Wenn einer sich umdrehte, mussten sich auch alle anderen wenden. Wenn einer die Knie anzog, mussten alle anderen das auch tun. Es war für uns unerfahrene Jungen eine harte Zeit. Etwa 16 Tage waren wir dort untergebracht. Zu essen gab es immer das gleiche: morgens eine Schale Malzkaffee und ein Stückchen Brot, mittags und abends je eine Kelle dünne Bohnensuppe und ein Stückchen Brot. Auch hier hatten wir Vergünstigungen; je nach Laune oder Möglichkeit der Köche bekamen wir gelegentlich Nachschlag. Außerdem bekamen wir ab und zu ein paar Zigaretten, denn die unseren waren uns zusammen mit unserer Habe abgenommen worden. Toni war in einer Zelle neben der Küche, daher wurde er öfter geholt, um zu helfen; dann bekam er auch zu essen. Hans hatte es am schlechtesten, denn er war allein unter 20 Strafgefangenen.

Im Emigrantenlager

Nach 16 Tagen bekamen wir unsere Sachen zurück. Wir wurden in ein Emigrantenlager am Rande der Stadt gebracht. Der Lagerkommandant, ein Offizier, war Zigeuner und sprach Rumänisch; die Zigeunersprache in Jugoslawien ist Rumänisch. Aber er konnte auch gut Deutsch. Als er erfuhr, dass wir gar keine Rumänen, sondern Deutsche waren, sprach er mit uns immer Deutsch, nur bei Verhören sprach er Rumänisch. In diesem Lager waren Ungarn, Albaner, Rumänen, Serben und Deutsche aus Rumänien und Bulgarien. Wir wurden einer Gruppe von gut einem Dutzend Rumänen zugeteilt. In den Abendstunden, nach dem Essen, wurden wir, einer nach dem anderen, zum Verhör zum Kommandanten bestellt. Jeder von uns wurde mehrmals geohrfeigt und geschlagen. Der Joschka bekam am meisten ab. Als einziger von uns vieren wurde ich hier nicht verhört. Am anderen Morgen, beim Appell, konnte ich feststellen, dass wir in guter Gesellschaft waren. Ein Gefängnisdirektor aus Konstanza, Hauptmann Stoic ller Uniform, ein Hauptmann Elekes in Uniformteilen, sein Pilot Vlaicu, den er gezwungen hatte, ihn mit dem Flugzeug außer Landes zu bringen, die Frau eines hohen Offiziers, der zum Verhör in einem anderen Gefängnis war, und viele ande ein Offizier in Zivil. Hier erging es uns sehr schlecht, in jeder Beziehung. Täglich 400 Gramm Brot, eine Kelle Bohnensuppe mittags und eine weitere abends; morgens gab es eine Kelle Malzkaffee. Sonntagsmittags schwammen in der Bohnensuppe bis zu fünf würfelzuckergroße Fleischstückchen. Weil der Hans kein Fleischesser war, gab er mir seine Fleischstücke, obwohl auch er Hunger litt.

Wie in den Gefängnissen vorher wurden uns auch hier die Sachen abgenommen. Zum ersten Mal, seit wir von zu Hause weg waren, konnten wir unsere Unterwäsche und Hemden mit heißem Wasser waschen und uns duschen. Einmal saßen wir im Hof im Schatten eines Baumes und langweilten uns. Da hörten wir plötzlich von weit her ein uns wohlbekanntes Geräusch, das Geräusch einer Dreschmaschine. Daher meinten wir, dass es wohl die Zeit um Peter und Paul wäre. Weil der Hunger mir sehr zusetzte, wurde ich immer schwächer. sich für mich ein, und so bekam ich zwei Wochen lang die doppelte Essensration. Mit der Zeit wurde es auch den anderen Leuten unerträglich; wir traten in Hungerstreik. Eines Morgens holte keiner seinen Kaffee an der Ausgabe ab und das Mittagessen auch nicht. Wir vier waren noch unerfahren, um das Geschehen zu ermessen und machten einfach mit. Nachmittags kamen einige hohe Offiziere. Ein allgemeiner Appell wurde angeordnet und eine Delegation zusammengestellt, die mit den Offizieren verhandelte. Es wurde vereinbart, dass nach und nach alle Insassen, bis auf die Albaner, in Braunkohlebergwerke verteilt werden.

Beim zweiten Transport waren auch wir dabei. Wir wurden von Militär zum

Bahnhof gebracht und in einen Zug gesetzt, der uns am 9. Juli 1950 ins Braunkohlebergwerk Kolubara brachte. Dort trennten sich unsere Wege. Joschka wurde einer Schreinerei zugeteilt, Hans, Toni und ich wurden weitergeleitet in eine nahe gelegene Zeche, wo wir in verschiedenen Schichten unter Tage arbeiteten. Dort bekamen wir Lohn und in einer Kantine ausreichend zu essen auf Lebensmittelkarten. Kleiderkarten bekamen wir keine, weil die Behörden nicht wussten, wie lange wir hier bleiben werden. Es war gegen Ende September, als mich ein mir bekannter Türke von der Donauinsel Ada Kaleh, auf Rumänisch ansprach. Er wollte in den nächsten Tagen ein zweites Mal die Flucht über Triest nach Italien versuchen. Von dort aus könne man legal in alle westlichen Länder reisen. Es sei eine sichere Sache, da er die Lage schon kenne. Nach Rücksprache mit Hans und Toni sagte ich zu. Zwei Türken, ein Russe, Toni und ich machten uns auf den Weg nach Triest. Hans und Joschka wollten es mit anderen Leuten ein andermal versuchen.

Wir gingen zum Bahnhof, und um unsere Spur zu verwischen, lösten wir die Fahrkarten nur bis Belgrad. Dort kauften wir neue Fahrkarten bis Laibach (Ljubljana). Dort wollten wir Karten bis zur Grenzstation lösen, doch es kam alles anders. Als der entsprechende Zug im Bahnhof Belgrad ankam, haben wir uns in ein Abteil gesetzt, das uns leer schien. In einer Ecke saß ein Offizier, der scheinbar schlief. Während der Fahrt kam ein Schaffner und entwertete die Fahrkarten. Es ging alles gut bis kurz vor Laibach, da wurden wir von Miliz kontrolliert und verhaftet. Im Bahnhof Laibach wurden wir aus dem Zug geholt und in eine Schule gebracht. In der Schule war schon ungefähr ein Dutzend Leute verschiedener Nationalität versammelt, die dasselbe Ziel hatten: Triest. Diesen war es ebenso ergangen wie uns, nur früher. Nach kurzem Verhör wurden wir in den Saal zurückgebracht. Dort waren wir elf Tage eingesperrt bei geringer Verpflegung. Eines Abends bekamen wir die Brennholzration für den nächsten Tag nicht. Die in solchen Sachen erfahrenen Männer sagten, das sei ein gutes Zeichen. Am anderen Morgen bekamen wir alle unsere Sachen zurück, wurden zum Bahnhof geführt und in einen Zug gesetzt. An der Grenzstation Sežana wurden wir aus dem Zug geholt. Polizei brachte uns in einen Grenzerstützpunkt.

Abgeschoben nach Italien

Dort wurden wir den Rest des Tages verhört und auf Wertsachen untersucht, die beschlagnahmt wurden. Polizisten und Soldaten waren sehr grob zu uns, nicht nur im Ton, es wurden auch Leute geschlagen. Das waren wohl noch die alten Partisanen. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden wir auf die Straße geführt und in Reih und Glied aufgestellt. Drei schwer bewaffnete Soldaten bewachten uns. Als ein vierter mit höherem Dienstgrad dazugekommen war und Anwei-

sungen gegeben hatte, führten sie uns auf einer Landstraße ab. Wohin, wussten wir nicht. Wir hatten alle Angst, denn es wurde erzählt, dass die Partisanen die Leute zur Grenze führen, um sie „auf der Flucht“ zu erschießen. Als wir in der Dunkelheit an einer Baumgruppe vorbei waren, sahen wir in einiger Entfernung ein Lichtermeer. Wir mussten stehen bleiben. Der Offizier sagte uns in rauem Ton: „Wenn ihr in Richtung Lichter geht, kommt ihr unter einer Hochspannungsleitung durch. Dort beginnt Italien“. Halb gehend, halb laufend, stoben wir auseinander den Lichtern entgegen. Es sah aus wie in einer Mondlandschaft. Es war eine Hochebene mit umherliegenden Steinen und mannshohem Gestrüpp. Fast kein Durchkommen trotz sternenklarer Nacht. Toni und ich blieben immer dicht beieinander. Wir kamen an die besagte Hochspannungsleitung und dachten immerzu: Jetzt werden sie schießen. Aber nichts dergleichen geschah. Nach etwa l00 Metern über Geröll und durch Gestrüpp erreichten wir eine kleine Lichtung. Rechts und links neben uns hörten wir andere laufen. Zusammen mit diesen rasteten wir auf der Lichtung, rauchten eine Zigarette und warteten auf die langsameren, in der Hoffnung, dass sie es auch geschafft hatten. Im Sternenschein war nicht allzu viel zu erkennen. Nach etwa einer halben Stunde waren wir wieder alle zusammen. Alle freuten sich, dass wir heil und gesund den Eisernen Vorhang überwunden hatten. Wir berieten, wie wir weiter vorgehen sollten; wir waren mehr als 20 Personen verschiedener Nationalität. Weil wir uns nicht einig wurden, gingen wir erst einmal auf die vielen Lichter zu. Es war für uns das erste besondere Erlebnis im Westen: Alles war taghell erleuchtet, und es gab keine Soldaten in Grenznähe, auch keine Kontrolle. Im Osten undenkbar.

Nach einer Weile hatten wir eine sehr gepflegte Ausfallstraße mit Gehwegen rechts und links und schöner Beleuchtung erreicht, die jedoch menschenleer war. Wir gingen wortlos weiter in der Hoffnung, irgendwann jemanden zu treffen. Nach einer Weile, es muss gegen Mitternacht gewesen sein, beschrieb die Straße einen leichten Bogen, und danach folgte eine Straßenkreuzung. Ein Uniformierter wollte dort eben die Straße überqueren. Er schien unbewaffnet; wir mussten mehrmals rufen, bis er uns gehört hat. Er blieb stehen, wir gingen zu ihm und sahen, dass er einen Revolver trug. Einer von uns, der meinte, er könnte Italienisch sprechen, versuchte, zu erklären, dass wir gerade aus Jugoslawien kämen und nicht weiter wüssten. Als der Mann das Wort Jugoslawien hörte, musterte er unsere Kleidung. Da wusste er genug. Diesen Eindruck hatten wir zumindest.

Er versuchte, uns zu erklären, dass er italienischer Polizist sei und uns auf die Wache mitnehmen werde. Weil Italienisch und Rumänisch viele Gemeinsamkeiten haben, verstanden wir aus Rumänien viel von dem, was er sagte. Auf der Wache, es war der 14. Oktober 1950, bekamen alle, die wollten, etwas zu essen und zu trinken. Danach folgte ein kurzes Verhör in verschiedenen Sprachen. Es wurde uns gesagt, dass im Ort Opicina (Optschinach) ein Sammellager sei, wo

wir hingebracht werden. Das Lager bestand aus mehreren Holzbaracken aus der Zeit des Krieges. Triest und seine Vororte waren Freistaat unter angloamerikanischer Besatzung. Nach einigen Tagen wurden wir zusammen mit anderen Männern nach Triest in ein Männerheim verlegt. Toni und ich waren im Westen, Joschka und Hans noch in Jugoslawien. In Triest ging es uns relativ gut. Im Lager waren viele Nationen vertreten. Die größte Gruppe waren weißrussische Intellektuelle. Das Essen war gut und abwechslungsreich. Wer wollte, bekam Kleidung und Wäsche aus Spendensammlungen in Amerika. Um auch etwas Geld für Zigaretten, Obst, Kino und mehr zu bekommen, haben wir gelegentlich in den Gärtnereien am Stadtrand gearbeitet. Wir hatten beide die Einreise und Aufenthaltserlaubnis für Deutschland beantragt, doch es dauerte alles lange. Toni wurde ungeduldig und floh auch von hier, er wollte illegal nach Österreich gelangen. An der Grenze wurde er jedoch erwischt und in ein Lager in der Nähe Roms gebracht. Am 6. September 1951 bekam ich meine Papiere, und am 9. September 1951 kam ich mit dem Zug in Freilassing/Bayern an, wo ich weitergeleitet wurde ins Lager Piding.

Meine Flucht war beendet. Auf dem Weg in die Integration fand ich viele, die es gut mit mir meinten. Besonders mein Arbeitgeber, bei dem ich 34 Jahre lang, bis zu seinem Tode, beschäftigt war. In mancher schlaflosen Nacht habe ich daran gedacht: War die Flucht nun ein Fluch oder ein Segen? Für mich persönlich sicher ein Segen, denn vieles, was ich angepackt habe, ist mir auch gelungen. Der Fluch der rumänischen Grenzsoldaten aber traf meine Familie voll. Sie wurde in die Donautiefebene (B haben den Kampf gegen eine Abhängigkeitserkrankung frühzeitig verloren. Wegen dieser Krankheit hat sich auch meine Mutter aufgerieben. Im Sommer 1966 konnte ich sie zum ersten Mal nach meiner Flucht besuchen.

Auch Hans, Joschka und Toni haben sich in verschiedenen deutschen Städten Existenzen aufgebaut und Familien gegründet. Zu Pfingsten 1966 haben wir uns alle vier getroffen, es war das erste und einzige Mal.

Heute, mit einem Abstand von mehr als 60 Jahren, frage ich mich und andere: Wer hat wohl den liebenswerten Eisenbahnschaffner zur richtigen Zeit an die richtige Stelle geschickt? Ohne ihn wären wir nicht einmal aus dem Nachbarort herausgekommen. Oder: Wer hat die Grenzstreife geschickt, um uns zurück auf den richtigen Weg zu drängen? Oder: Wer hat den Scharfschützen von seinem Posten auf dem Wachturm ferngehalten? Oder: Wer hat uns den wegkundigen Türken geschickt? War es unser Schutzengel? Oder der Herrgott selber? Hat uns der Teufel geritten, wie man so sagt? Mit dem Ende der Flucht hatte diese Glückssträhne nicht aufgehört. Wenn ich meinen Lebensweg so anschaue, so spüre ich auch heute noch die schützende Hand über mir.

Ladenburg, im Juni 2004

Anton Wambach, geboren am 18. April 1932 in der Banater Gemeinde Tschanad, musste die Schuhmacherlehre abbrechen, weil seinem Lehrmeister in der kommunistischen Mangelwirtschaft das Material ausging. Er wurde Arbeiter in einer Mühle. In der Bundesrepublik Deutschland war er ein Jahr lang in Weichs bei Dachau in der Landwirtschaft tätig. Nach anderthalb Jahren als Kumpel im Steinkohlebergbau in Gelsenkirchen folgte die Station Ulm, wo er kurze Zeit in einem Baustoffhandel arbeitete. Darauf wechselte er nach Heidelberg, wo er bis zur Rente als Straßenbauer sein Auskommen gefunden hat.

Zum ersten und einzigen Mal haben sich die Flüchtlinge aus Tschanad an Pfingsten 1966 getroffen (von links): Joschka Wolf (Jahrgang 1933), Hans Jung, Toni Koreck und Anton Wambach (alle drei Jahrgang 1932).

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