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Im lecken Schlauchboot über die Donau
Von Klaus Schneider
Ich schreibe diesen Bericht für meine Kinder. Sie leben in einem freien Land; es ist für sie selbstverständlich, heute nach Österreich zum Skilaufen zu fahren und nächste Woche genauso, ohne große Formalitäten, nach Australien oder Brasilien zu fliegen. Heute sind es auf den Tag genau 25 Jahre seit meiner Flucht aus Rumänien, über die Donau und Jugoslawien nach Österreich. Das war in einem anderen Jahrhundert. In ein paar Jahren wird man vielleicht ganz vergessen haben, dass es im 20. Jahrhundert nicht nur Klaus Schneider zwei Kriege gegeben hat, Massenvernichtung und Vertreibung, sondern dass lange Zeit nach diesen Ereignissen Menschen immer noch gezwungen waren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um frei leben zu können. Deshalb schreibe ich das jetzt nieder, bevor auch meine Erinnerungen verblassen.
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Hermannstadt, Donnerstag, 10. November 1977: Heute sind wir aufgebrochen; endlich ist es soweit, endlich. Heute fahren wir von Hermannstadt nach Bukarest, um Vasile abzuholen. Wir, das sind Hermann und ich, Fahrer ist Stefan. Und von Bukarest geht es weiter, an die Donau, endlich geht’s an die Donau, an die jugoslawische Grenze; wir wollen über den Strom setzen und über Jugoslawien in den Westen gelangen.
Ich versuche, herauszufinden, seit wie vielen Jahren ich Fluchtpläne schmiede, wahrscheinlich, seit ich 20 Jahre alt geworden bin, also seit 1966. Immerzu Fluchtpläne, keine Aktion, nur Pläne, Träume vom freien Westen, von Reisen, von Autos oder von Booten. Ja, damals muss es passiert sein, als ich 20 war, ich war schon Student und arbeitete im Sommer als Reiseleiter am Schwarzen Meer. Touristen, die mit Neckermann oder Quelle in Mamaia ihren Billigurlaub verbrachten, hatten mich infiziert. Und das war ich möglicherweise seit meiner Geburt, hieß es doch schon im Elternhaus, wenn ein Ding mal gut und schön war, „das ist aus Deutschland“. Mutters Bruder, Onkel Kurt, war in Deutschland; er war Ingenieur bei Siemens, dort war alles so gut und schön, und dorthin wollte ich natürlich auch. Um alles zu erklären, müsste ich recht weit ausholen.
Lassen wir es, ich wollte sowieso nur eines: weg. Dorthin, wo all die herrlichen Autos herkamen, die ich am Schwarzen Meer bewunderte. Dahin, wo man sich einfach in einen Flieger setzt und in einem Tag in Australien sein kann.
Das war bei mir zur fixen Idee geworden, ich dachte an nichts anderes mehr. Ich wusste, dass ich keine Chance auf eine legale Ausreise hatte, die hatte so gut wie niemand. Mein Respekt vor Gesetzen, vor der Obrigkeit war, typisch für den Sozialismus, immer recht gering gewesen, war es doch ein Unrechtsregime, das uns eingesperrt hielt. Wenn ich dem nicht legal entfliehen konnte, dann eben illegal. Aber ich wusste, wie gefährlich das ist: Denn die Grenzer schießen, erst danach geben sie den Warnschuss ab.
Ich werde nichts riskieren, ich werde mit einem Boot davonsegeln, in die Türkei, das ist ein Nato-Land. Auf dem Meer schießen sie nicht auf mich, denn wenn sie mich entdecken, holen sie mich leicht ein, mit ihrem Schnellboot, wozu sollten sie schießen?
Man hörte von jungen Männern, die es schwimmend über die Donau nach Jugoslawien geschafft hatten. Verrückte, in Jugoslawien sind sie nicht einmal sicher, sondern werden, wenn sie aufgegriffen werden, zurückgeschickt, in den rumänischen Knast. Und immer wieder werden welche erschossen, andere ertrinken, zum Beispiel mein Freund Hermann, ja, der hat es auch versucht. Ist mit zwei Freunden, zwei Brüdern, im Oktober 1972 über die Donau nach Jugoslawien geschwommen. Einer der beiden Brüder ist nicht mehr aus der Donau herausgekomme drüben angekommen; sie haben sich durch das Land bis vor Triest durchgeschlagen, am anderen Ende von Jugoslawien. Und dort hat man sie geschnappt, als sie über die grüne Grenze nach Italien wollten. Sie waren zwei Jahre im Gefängnis von Neuschloss, wo viele Grenzverletzer einsaßen. Dort lernten sie viel in Sachen Flucht, denn sie saßen den ganzen Tag beieinander und erzählten.
Schon seit den 1960er Jahren schmiedete ich Fluchtpläne. Mein erster Plan hatte mit Götz Bordon zu tun. Das war 1968, ich war 22 und hatte gerade mein Physik-Studium hinter mir. Allerdings wollte ich nicht als Physiklehrer arbeiten, es zog mich mit Macht in die Tourismus-Branche, wo ich schon seit 1966 in den Sommerferien im staatlichen Touristikamt als Reiseleiter für deutsche Bundesbürger tätig war. Es war eine reizvolle Kombination: im Sommer am Schwarzen Meer, im Winter im Kronstädter Skigebiet. Und dazu der unschätzbare Westkontakt, freizügige Touristinnen, nicht die störrischen oder heiratslustigen Rumäninnen.
Götz war elf Jahre älter als ich, auch er träumte wie fast alle in meinem Freundeskreis von einem Leben im Westen. Er hatte das Studium abgebrochen und wollte sein Brot als Skilehrer für Westtouristen in den Karpaten verdienen, im Sommer zog es auch Götz ans Schwarze Meer. Wir hatten gemeinsame Hobbys, interessierten uns für Autos, für Boote und Wasserski. Ich half ihm, Arbeit im Tourismus zu bekommen, ich hatte schon Beziehungen. Wir fassten Vertrauen zueinander und kamen auf Fluchtpläne zu sprechen. Er hatte als erster die Idee, mit dem Boot übers Schwarze Meer in die Türkei zu flüchten. Al-
lerdings sollte es ein gut motorisiertes Schlauchboot sein, jemand aus dem ten sollte es mitbringen. Damit könnte man in einer Stunde so weit weg von der Küste sein, dass keine Gefahr mehr drohte. Danach nur noch nach Süden halten, dann wäre man nach 350 Kilometern in der Türkei. Aber Götz war ein Theoretiker, er träumte, er unternahm nichts.
Geschäfte mit Touristen
Ich war anders, wenn ich schon träume, muss ich auch etwas tun. Als erstes musste Geld her, nicht zu wenig. So ein Boot kostete eine Menge Geld. Man konnte, wenn man Kontakte zu Touristen hatte, gute Geschäfte machen; ich fing klein an, aber es lief gut, es lief sogar sehr gut, trotzdem es verboten war, mit Westgeld überhaupt in Berührung zu kommen, geschweige denn bei Touristen rumänisches Geld in Deutsche Mark umzutauschen. Die Mark gab ich an meine guten Schmugglerfreunde weiter, zu einem viel besseren Kurs. Das war richtig lukrativ.
In Rumänien galt: Privat ist man korrekt, den Staat muss man linken, wo es geht. Das machten im Prinzip alle, inklusive Geheimdienst, Partei und Polizei. Das machte den ganzen Kommunismus rumänischer Prägung fast liebenswert.
Zurück zu den Geschäften: Ich war inzwischen mit dem Studium fertig, hatte es mit Ach und Krach beendet. Ich war ab Sommer 1970 am Schwarzen Meer und im Winter im Skigebiet. Für die Übergangsjahreszeiten hatte ich einen noch lukrativeren Job: Jagdreiseleiter. In Rumänien gab es herrliche Jagdreviere und sehr gute Trophäen. Im Westen gab es Jäger, die viel bezahlten, um einen kapitalen Hirsch zu erlegen. Und diese Leute waren äußerst spendabel, wenn der Hirsch, der Bär oder der Auerhahn fielen. Die Geschäfte liefen also sehr gut.
Ich schickte das von Touristen erwirtschaftete Westgeld heimlich nach Deutschland, wo mir ein guter Freund, Bankkaufmann, ein Konto eingerichtet hatte. Mit dem Geld sollte das Schlauchboot gekauft werden. Ich hatte so viel, dass es in Rumänien zu einer Eigentumswohnung gereicht hätte. Aber wer wollte eine Eigentumswohnung in Rumänien?
Meine Schmugglerfreunde waren hauptsächlich Stelian und Hellmut. Hellmut war Hermanns Bruder. Ich hatte zuerst Hellmut kennengelernt. Er war ein etwas zu harter Typ und auch schon einmal im Gefängnis gewesen, weil er Polizisten verprügelt hatte.
Er kaufte hauptsächlich Antiquitäten auf, die er an holländische und rumänische Fernfahrer weiterverkaufte, die nahmen sie in den Westen mit und machten ein gutes G machte Hellmut Geschäfte. Um Fernfahrer zu werden, musste man ein Jahres 1973 wurde ich Segellehrer in der neuen Neckermann-Segelschule am Schwarzen
Meer. Das war ein feiner Job. Im Sommer 1973 lehrte Robert mich segeln. Damit hat die erste Katastrophe begonnen. Robert war Ski- und Segellehrer bei Neckermann, als Tiroler hatte er bei mir sofort einen Stein im Brett. Er hatte viel Charme, war sehr selbstsicher, all das imponierte mir. Natürlich weihte ich ihn schnell in meine Fluchtpläne ein; er versprach, zu helfen. Ich sah mich schon winters als Skilehrer in den Alpen und sommers als Segellehrer auf Mallorca. Ja, sagte ich mir, dieses Leben werde ich im Westen führen, auch wenn ich kein großes Ski-Ass war.
Die Fluchtpläne wurden konkreter, aber die Route übers Meer habe ich auf Roberts Rat verworfen. Er wollte einen Freund in München, nennen wir ihn Ivo, dazu überreden, eine Urlaubsreise nach Mamaia zu buchen und nach der Einreise mein Foto in seinen Pass einzubauen. Mein Foto sollte schon den Prägestempel aufweisen, die Fälschung sollte schon im Vorfeld in Deutschland erfolgen. Mit diesem Pass sollte ich zu einem Tagesausflug nach Istanbul aufbrechen.
10.000 Mark verschwunden
Der Freund wolle 10.000 Deutsche Mark dafür haben; so viel hatte ich inzwischen in Deutschland auf meinem Konto. Ich wollte erst zahlen, wenn ich den Pass in Händen hielt. Robert brachte mir die 10.000 Mark von einer MünchenReise mit. Das Geld versteckte ich in der Kammer der Segelschule.
Nur eine Woche später sollte Ivo kommen. Zu jener Zeit kam auch mein Geschäftsfreund Hellmut ans Schwarze Meer, um einen größeren Betrag Deutsche Mark in Empfang zu nehmen, die er in Hermannstadt zu einem horrenden Kurs in Lei umtauschte. Es war für uns beide sehr lukrativ. Hellmut traf eines Abends in Mamaia ein, wir tauschten das Geld, er sollte am Morgen wegfahren. Er schlief bei mir im Zimmer, er war schon seit einiger Zeit in den Fluchtplan eingeweiht. Als ich spät nachts ins Zimmer kam, schlief er schon, ich weckte ihn und sagte noch: „Das Geld ist da, und nächste Woche bin ich weg“. Er stand am Morgen früh auf und fuhr nach Hermannstadt.
Als ich an diesem Tag meinen Schatz suchte, war der Sack leer. Ich durchsuchte die ganze Kammer, aber das Geld, es war in einem Etui gewesen, war weg. Die Katastrophe. Bis heute weiß ich nicht, wer es gewesen war. Das war der erste Fluchtversuch, der schon im Vorfeld gescheitert ist.
Im Winter 1973/74 war ich wieder Jagdreiseleiter. Und im Mai 1974 war ich wieder in Mamaia, als Segellehrer.
Mein zweiter Versuch, zu entkommen, hat mit Walter aus Kiel, dem neuen Segellehrer-Kollegen von Neckermann, zu tun. Es war der Sommer der FußballWeltmeisterschaft, und wir waren alle glücklich, dass Deutschland FußballWeltmeister geworden war. Walter und ich wurden sofort Freunde. Es war eine sehr schöne Zeit mit Walter, wir hatten es uns richtig schön eingerichtet in unse-
rer Segelschule, mit Floß und Motorboot; auch die Geschäfte liefen blendend, für Walter und für mich. Dann kam die zweite Katastrophe. Im Sommer 1974 hat mich jemand verraten. Mein loses Maul, meine Vertrauensseligkeit, all das hat mir schon immer zu schaffen gemacht. An einem Abend kamen zwei Typen beim Abendessen ins Restaurant und nahmen mich mit.
Im Büro der Wirtschaftspolizei fragten sie mich, wo ich das Westgeld verstecke. Alles Leugnen half nicht. Ich war kein Held, ich wusste, wenn man es freiwillig herausrückt, konnte man ohne Verurteilung davonkommen. Sie holten die 800 Mark ab, die ich in der Segelkammer in einem Sack hatte. Danach musste ich auch mein rumänisches Geld, immerhin 32.000 Lei (etwa 5.000 Mark) abliefern. Ich kam in Untersuchungshaft und wurde vernommen.
Wir waren zu dreizehnt auf sieben Betten verteilt, ich teilte das Bett mit einem Hirten, einem Messerstecher, der einem Autofahrer die Ohren abgeschnitten hatte, weil dieser ihm ein paar Schafe totgefahren hatte. In der Zelle war auch ein Leichenschänder, ein Tatare, der für Kurzweil sorgte, weil er ständig erzählte, wie er die Leichen fledderte. Auch ein Strichjunge war darunter, der hatte ein Privileg: Er hatte das Bett für sich allein, da jeder sich vor ihm ekelte. Aber sonst war er ein armes Schwein, da all diese Betrüger oder Verbrecher ihn ständig beleidigten, sich lustig über ihn machten oder sogar tätlich wurden.
Zu all dem kam die Hitze im Keller und ständig brennendes Licht. Weckzeit war um 4.30 Uhr, jeder kam einzeln fünf Minuten in die Toilette, Zähneputzen in der Hocke auf dem WC. Das Essen rührte ich in den ersten Tagen überhaupt nicht an, nach zwei Wochen jedoch schmeckte es ausgezeichnet. Ich saß den ganzen Tag in der Zelle mit weiteren zwölf Mann und hatte nichts zu tun, als mir Gaunergeschichten anzuhören. Eine Viertelstunde pro Tag gab es Freigang im Gefängnishof, 25 Quadratmeter groß, oben Gitter. Nach zwei Tagen wurden wir kahl geschoren.
Ich hatte hauptsächlich mit zwei Polizeioffizieren zu tun, mit Herrn em Chef, Herrn Stama. Ich erwähne ihre Namen, sie sind mir nach einigem Nachdenken wieder eingefallen, und ich möchte sie auch nicht vergessen, verkörperten die beiden doch all das, was den Rumänen so liebenswert macht. Um freizukommen, musste man einen weiteren Schmugglerkollegen angeben, der dann wiederum festgenommen wurde und Geld abliefern sollte. Die Kette sollte nicht abreißen, so dass der Staat fortlaufend Kasse machen konnte. Ich war nach einigen Tagen in der U-Haft zum Ergebnis gekommen, dass ich jemanden anschwärzen musste, um mir die bis zu acht Jahre Gefängnis zu ersparen. Im Nachhinein erfuhr ich, dass das Bluff war. Die Herren eröffneten mir: sieben bis acht Jahre Knast, oder jemanden nennen, der dann automatisch vor Knast geschützt war. Dass ich selber von jemandem angezeigt worden war und deshalb auch geschützt war, wurde mir nicht gesagt. Aber wen sollte ich anzeigen? Meinen eigenen Bruder, für den ich auch Geld tauschte,
ohne daran zu verdienen, oder Stelian oder Hellmut, Hermanns Bruder, von dem noch die Rede sein wird, oder Dan? So schuftig das nun klingen mag, ich entschied, meinen Bruder als Empfänger von Westgeld anzugeben. So blieb der Schaden in der Familie, und ich konnte ihn nach der Freilassung aus dem Gefängnis entschädigen. Paul hatte sein Auto verkauft, er wollte ein anderes, natürlich aus dem Westen, und brauchte Westgeld. Auch er wurde verhaftet, er gab das Geld ab, musste aber auch einen nennen, und das war dann Hellmut. So war auch Hellmut darin verwickelt. Hellmut war aber ein Schlitzohr. Er hatte Erfahrung im Umgang mit der Polizei, er bestach die beiden Herren. Am Ende kamen wir alle frei, der Staat hatte hübsch kassiert; ich sollte noch einen Restbetrag von Westgeld aus Deutschland nach Rumänien bringen lassen und abgeben. Nach vier Wochen war ich frei und musste Mamaia verlassen.
Im Herbst 1974 fuhr ich noch zweimal nach Konstanza ans Schwarze Meer. Im Gepäck hatte ich acht Felljacken, die es nur mit Beziehungen gab; Hellmut besorgte diese Jacken für die beiden Herren Poli und ich fuhr per Anhalter nach Konstanza, um sie abzuliefern. Die Herren bezahlten korrekt, ich war bei ihnen zum Essen eingeladen, wir schieden als Freunde.
Bevor ich Mamaia verlassen habe, steckten Walter und ich noch die Köpfe zusammen. Er wollte mir helfen, auszureisen. Er schlug vor, ich sollte Gertje, seine Freundin, heiraten. Das war ein Projekt nach Walters Geschmack. Im Februar 1975 kamen Walter und Gertje in die Schulerau zum Skilaufen, um die Dokumente zur Heirat mit mir einzureichen. Doch der Geheimdienst Securitate wusste, dass das nur eine Masche war. Mein Heiratsantrag wurde abgelehnt.
Nach der Verhaftung und Freilassung war ich ein Gezeichneter. Natürlich durfte ich nicht mehr mit Westtouristen arbeiten, ich wurde Physiklehrer. Wieder zu Hause in Stolzenburg (Slimnic) bei Hermannstadt, erzählte ich meiner Mutter alles, worauf sie meinte: „Wie gewonnen so zerronnen, nun hast du alles verloren, dein Geld und deinen feinen Job“.
Im November 1975 lernte ich beim Skilaufen Ute kennen. Rote Haare, grüne Augen, ich war sofort verliebt wie noch nie. Ute wurde meine erste Freundin; ich hatte bis dahin nur Abenteuer mit Touristinnen gehabt, alle zwei Wochen ein neues Abenteuer, oft auch Überschneidungen, das ließ sich nicht vermeiden. Ute wollte auch nach Deutschland, wo schon ihre Schwester Vicky mit Wolfi lebte. Vicky war durch Heirat mit Wolfi ausgewandert. Wolfi wiederum konnte noch 1970 aufgrund der Tatsache, dass sein Vater in Deutschland lebte, legal auswandern. Auch Ute wollte heiraten und ausreisen. Das war in Rumänien unter den Siebenbürgern eine beliebte Masche. Aber bei Ute war es angeblich ernst. Ich fand schnell heraus, dass es nicht so ernst war. Gemeinsam mit ihr schmiedete ich Pläne für eine Zukunft im Westen.
Im Frühjahr 1977 kam die Absage auf meinen Heiratsantrag mit Walters
Freundin Gertje; und da war mir klar, dass ich nichts zu erwarten hatte. Mein Versuch, mittels Heirat auszureisen, war nun Makulatur, das Geld war schon lange weg, es blieb mir nur noch die harte Tour, die Flucht über die Donau. Wenn die Flucht danebenging, hatte ich nichts zu lachen.
Inzwischen war es Frühjahr 1977 geworden. Ute wartete auf die Genehmigung, einen Münchner heiraten zu dürfen. Am 4. März 1977, am Tag, als das Erdbeben Rumänien erschütterte und viele das Leben kostete, war ich mit ihr in Bukarest, in Audienz beim Staatsrat, um den Stand ihres Heiratsantrages auszuloten. Schon am Schalter sagte man ihr: „Fahren Sie nach Hause, die Genehmigung ist unterwegs“.
Wir fuhren am Nachmittag des 4. März mit der Bahn zurück nach Hermannstadt. Am Abend mussten wir in Kronstadt umsteigen, und in der Bahnunterführung bebte plötzlich die Erde. In Kronstadt war es nicht schlimm, aber in Bukarest, wo wir herkamen, stürzten Hochhäuser ein.
Auch die Eltern meines Freundes Dan sind ums Leben gekommen. Dan - und Tennislehrer, auch er war im Winter in den Bergen und im Sommer am Schwarzen Meer. Auch so ein Glücksritter, wie ich einer bis 1974 gewesen war. Aber Dan hatte Glück, bei dem Erdbeben war er nicht in Bukarest, sondern im Gefängnis in Neuschloss, 500 Kilometer nördlich. Dan hatte mit seinem Freund Vasile im Herbst 1976 versucht, über die Donau zu flüchten; sie waren auf dem Strom geschnappt worden, ein Patrouillenboot hatte sie aufgegriffen. Im März 1977 saß er mit Vasile im Gefängnis und lernte, wie man es besser macht.
Dan durfte nicht einmal zum Begräbnis seiner Eltern fahren. Er hatte Familie, zwei Kinder, aber Dan wollte zu seiner Geliebten nach Paris. Die war reich, verheiratet mit einem armenischen Millionär. Dan und Vasile hatten Glück, dass sie nicht erschossen worden sind; wären sie schon in der Nähe des serbischen Ufers gewesen, hätten die rumänischen Grenzer zweifellos auf sie geschossen. Dan und Vasile kamen nach einer Generalamnestie im Mai 1977 frei. Vasile kannte ich nicht. Dan wollte es noch einmal versuchen, er war verrückt nach der Armenierin.
Ich sollte ihm helfen mit meinen Beziehungen zu Deutschen. Dan versuchte, mich zu überreden, mitzumachen. Ich hatte Angst vor der Donau, Angst wegen der Überwachung und wegen des Schießbefehls; meine Idee war, entweder elegant über das Meer zu fliehen, denn vor dem Meer hatte ich keine Angst, oder es mit einem gefälschten Pass zu versuchen. Ute würde ausreisen, sie hatte schon die Heiratsgenehmigung, es müssten nur noch ein paar Papiere eintreffen. Ich wollte nichts unternehmen, bevor Utes Fall geklärt war. „Dan, ich mach nicht mit, ich warte noch“. Für Dan war ich ein Feigling, er sagte noch: „Ihr Deutschen seid alle Feiglinge, Hitler könnte mit euch heute keinen Staat mehr machen, es tut mir leid, dich eingeweiht zu haben, wehe dir, du erzählst jemand
etwas“. Und ich hörte ab Juni 1977 nichts mehr von ihm. Erst im August 1978 besuchten wir ihn in Frankreich und konnten uns aussprechen.
Ute erhielt die Genehmigung, auszuwandern, ohne zu heiraten. Ihr „Verlobter“ hatte inzwischen in Deutschland geheiratet. Trotzdem war er so nett, Ute ein Papier zu schicken, in dem stand, dass er schwer krank wäre und nicht zur Heirat nach Rumänien reisen könnte. Die Heirat müsse in Deutschland stattfinden. Bei mir wollte keine Freude aufkommen, obwohl Teil eins unseres Plans in Erfüllung gegangen war. Denn zwischen Ute und mir wird zunächst der Eiserne Vorhang stehen.
Für Ute und mich war es ein schwerer Abschied auf dem Flughafen BukarestOtopeni. Nach dem Start des Flugzeugs wollte ich Dan sprechen, um ihm mitzuteilen, dass ich bereit war, alles zu riskieren, obwohl ich das Gegenteil versprochen hatte.
Von Daniela, Dans Frau, erfuhr ich, dass Dan seit zwei Wochen in Deutschland war. Daniela, die meine Verzweiflung sofort erkannt hatte, machte mir aber neue Hoffnung. Sie wolle mit Vasile Bolos sprechen, mit dem Dan zum ersten Mal durch die Donau geschwommen war. Vasile sei aber auch bei einem zweiten Versuch gefasst worden, weil niemand in Serbien auf ihn gewartet hatte, um ihm weiterzuhelfen.
Nach mehreren Wochen meldete sich Daniela telefonisch mit der Nachricht, dass Vasile mir helfen wolle. Vasile Bolos, klein, dunkelhäutig und anfangs misstrauisch, stets ernst, lachte nie, hatte einen stechenden Blick, er war ein Zyniker. Sind das die Spuren der Gefängnisjahre? Ich fuhr in jenem Herbst immer wieder zu ihm. Ich hatte Glück, allmählich vertraute Vasile mir. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Vasile wollte eigentlich nicht mehr weg. Er brauchte nur Geld, weil er eben ein Haus baute, das viel Geld kostete. Deshalb wollte Vasile mit seinen Grenzgänger-Erfahrungen lediglich ein bisschen Geld verdienen.
Ich sagte Vasile, dass auch mein Freund Hermann gerne mitginge. Hermann und ich hatten in der Zwischenzeit die Köpfe zusammengesteckt und die Idee geboren: Wir sollten die Donauüberquerung in einem Schlauchboot bei Neumond versuchen. Hermann saß noch der Schock von Oktober 1972 in den Kno ebens auf dessen Bruder gewartet hatte. Seit damals wusste er, zum Schwimmen ist es im Herbst zu kalt, aber mit einem Gummiboot, das man in einen Rucksack stauen kann, könnte die Flucht gelingen. Wir hatten in Hermannstadt einen Freund, genannt Bürste, der ein kleines Schlauchboot verkaufen wollte, nur 150 Lei sollten es kosten. Das Boot trägt drei Personen, Paddel sind dabei, sagte er uns.
Aber da war noch etwas. Vasile hatte zwei Freunde, die auch weg wollten. Jetzt waren wir schon zu viert. Das größte Problem war aber noch zu lösen: Wir brauchten einen Fluchthelfer auf dem anderen Ufer der Donau, der an maximal
drei Nächten eine Strecke von zehn Kilometern abfahren sollte, um uns aufzulesen. Wir wollten Zweige auf die Straße legen, damit er uns findet.
Aber ich wusste Rat: Jetzt war mein alter Schmuggler-Busenfreund Constan eschäftstüchtig und verheiratet mit einer Dänin, so dass er ausreisen konnte.
Sofort nach der Ausreise nach Dänemark war Stelian nach Rumänien zurückgekehrt, in Dänemark war das Leben zu langweilig: Er wollte lieber in Rumänien studieren, hauptsächlich das Wesen der rumänischen Frau. Däninnen waren langweilig, fand durfte in den Devisengeschäften einkaufen, hatte ein Auto, einen Citroën DS, so einen, der die Scheinwerfer beim Einlenken mitdrehte. Alle meinten, der ist ein Spitzel, wie sonst würde die Securitate tatenlos zusehen bei all seinen Geschäften. Er fuhr in den Westen, wann er Lust hatte, kam mit beladenem Wagen zurück thelfer. größeren Betrag, weil er sein Studium der Wirtschaftswissenschaften bezahlen musste, je Studienjahr waren 4.000 Deutsche Mark fällig. Ich versprach ihm das estimmt.
Als Vasile den Namen Constantin Stelian hörte, ist er mir fast an die Gurgel asile sagte nein.
Ich musste einen anderen Helfer finden. Ich tat nichts mehr anderes, als zu suchen. Ich war Lehrer in einer Schule, aber in diesem Herbst sehr häufig krank. Essen konnte ich auch nicht mehr, ich wurde ein Strich in der Landschaft. Ute schrieb ich etwa zwei Briefe täglich, und sonst lief ich durch Hermannstadt, stets auf der Suche nach einem Fluchthelfer. Hermann war es, der einen gefunden hat, den auch ich kannte. Kurt, ein Landsmann, der vor einigen Jahren offiziell ausgereist war, auch einmal zu flüchten versucht hatte und deshalb im Gefängnis gewesen war, wollte uns aber nicht helfen. In unserer Verzweiflung kam mir die Idee: Stelic rgestellt. In den Lagebesprechungen ließ Vasile inzwischen durchblicken, dass er vielleicht doch auch mitkommen werde. Bei all diesen Besprechungen war seine Frau dabei, machte ihm Mut, er sollte mitgehen, weil es in Rumänien keine Zukunft gebe. Sie wolle mit den Kindern ausharren, um ihm nach Amerika zu folgen.
Der Besuch mit Kurt bei Vasile wurde zum Dialog zwischen zwei Männern, die im selben Knast waren. Vasile war mit Kurt einverstanden. Heute sage ich mir noch: Hätte ich kein Vertrauen in meine rumänischen Freunde, in Dan, Stelian und Vasile, der halber Zigeuner war, gehabt, wäre mir die Flucht nie gelungen. Man muss sich auch manchmal mit richtigen Gaunern einlassen. Ich stehe zu meinen Freunden, auch heute noch.
Am 10. November 1977 sind Hermann und ich mit einem weiteren Freund, Stefan, ein Ungar aus Seklerburg (Miercurea Ciuc), dessen Vater Polizist war, mit seinem Wagen nach Bukarest gefahren. Stefan war eingeweiht. Wir holten Vasile in Bukarest ab und fuhren am 11. November in Richtung Donau. Unterwegs wollten wir noch einen Kompass kaufen. Im Gepäck war das Gummiboot, die Paddel schauten aus dem Rucksack heraus. Stelian hat sich unabhängig von uns nach Jugoslawien begeben.
Vasiles Kumpel nahmen die Eisenbahn, um an einer Haltestelle etwa zehn Kilometer nördlich der Donau auszusteigen. Die beiden sollten sich vom Bahnhof zu einem Parkplatz durchschlagen, wo wir sie zwischen 23 und 1 Uhr treffen wollten, um in die Svini -Berge loszumarschieren. Nach einer Übernachtung in einer Hütte wollten wir am 13. November, einem Sonntag, ans andere Donauufer übersetzen. Wir hatten diesen Tag ausgewählt, weil das Fußballländerspiel Rumänien gegen Jugoslawien anstand, ein Qualifikationsspiel zur Weltmeisterschaft 1978. Unsere Hoffnung: Die Grenzer und die meisten Bewohner des Grenzgebietes sitzen vor dem Fernseher, und wir können leicht zur Donau gelangen. Unser Plan: Wir wollten in dem Donau-Nebenfluss Mraconia das Boot zu Wasser lassen, um nicht die Straße am Donauufer überqueren zu müssen.
Vasile war noch immer nicht entschlossen, ob er mitkommt. Die Hälfte seines Führerlohns hat er von uns bekommen, die andere Hälfte sollte er nachher von Hellmut, Hermanns Bruder, erhalten.
Straßensperre we
tlich von Bukarest, gerieten wir in eine Stra Stadt auf Arbeitsbesuch war, wurden alle Autos kontrolliert. Wir kamen durch, das Schlauchboot ist nicht aufgefallen.
Den Kompass, den wir noch kaufen wollten, kriegten wir nicht mehr. Denn wir mussten uns beeilen; um 23 Uhr sollten wir etwa zehn Kilometer nördlich der Donau im schönen Cernatal vor der Ortschaft Topletz den Parkplatz finden, Vasile kannte die Stelle. Dort sollten wir die beiden anderen Mitstreiter treffen. Wir sind rechtzeitig angekommen. Stefan hat uns abgesetzt und ist sofort weggefahren.
Wir versteckten uns und warteten. Es verging eine Stunde, zwei, drei, aber es kam niemand. Wir sollten Vogellaute von uns geben, damit sie uns finden. Auch dafür war Vasile zuständig. Wir haben erst später erfahren, was passiert war. Die beiden wurden schon am Bahnhof beim Aussteigen aus dem Zug von den Grenzern gefasst. Was sie erzählt haben, wissen wir nicht, aber wir glauben, dass sie uns nicht verraten haben. Jetzt waren wir nur noch drei. Vasile ließ durchblicken, dass er mit uns gehen werde.
Aber noch etwas zum Thema Abschied: Ich hatte meinem Vater erzählt, ich ginge ein paar Tage in die Berge, ohne mich großartig von ihm zu verabschieden, und in der Schule war ich krank gemeldet. Vasiles Familie wusste Bescheid. Hermann hatte sich von seiner großen Familie ganz offen verabschiedet, hatte aber in der Firma nichts gesagt. Dies war ein grober Fehler. Man wusste in seiner Fabrik, dass er es noch einmal wagen werde, über die Grenze zu gehen. Denn wer einmal infiziert war, kam nicht davon los.
Wir stiegen auf den Berg, nach zwei Stunden Marsch durch die Dunkelheit fanden wir die Scheune. Va -Berge. Der 12. November 1977 war ein herrlicher Herbsttag. Wir kamen gut voran, wir hatten Essen, Getränke und das Gummiboot im Rucksack. Keine Menschenseele war zu sehen, die Hirten weg, und doch war jemand unterwegs.
Ein Männlein mit schwerem Rucksack begegnete uns. Wo geht ihr hin, liebe Leute, was treibt euch in die Berge um diese Jahreszeit? Einheimische wurden belohnt, wenn sie halfen, Grenzgänger im Vorfeld zu fassen. Vasile ließ sich gar nicht auf eine Diskussion mit ihm ein, sondern ging sofort zum Gegenangriff über: „Was hast du im Rucksack, pack aus“ . Erst wussten wir nicht, warum er das Männlein gar so heftig anging. Doch er fuhr fort: „Pack sofort aus, oder wir helfen dir, du Wilddieb“ . Der Wilddieb verschwand, schneller, als wir bis drei zählen konnten. Wie hatte Vasile das bloß geahnt. Er sagte, zu dieser Jahreszeit, allein mit Rucksack, ohne Axt, das konnte nur ein Wilddieb sein. Wir setzten unseren Weg fort. An einer Quelle füllten wir unsere Flaschen und übernachteten unter freiem Himmel.
Am Abend des folgenden Tages wollten wir es wagen. Wir brachen auf. Nach einigen Stunden hatten wir aber die Orientierung verloren. Wir suchten, Berg rauf, Berg runter, endlich fanden wir eine Markierung an einem Baum. Die Zeichen stammen nach Vasiles Angaben noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als dieser Teil Rumäniens noch zu Österreich-Ungarn gehört hatte.
Vasile kannte sich nach zwei Fluchtversuchen gut aus.Wir fanden unseren Weg wieder, die Markierungen in einem Abstand von einem halben Kilometer führten der Mraconia, dem Donaunebenfluss, entgegen.
Ich war entspannt und dachte zurück an all meine Fluchtpläne. Jetzt war ich dabei, genau den Plan auszuführen, den ich immer verworfen hatte.
Auf einmal hörten wir Hundegebell, Stimmen, Holzfällergeräusche. Es war weit weg, aber wir liefen den Berg hinunter, versteckten uns und warteten. Es gab zwar keine Ortschaften in der Umgebung, aber wir durften nicht in Donaunähe gesehen werden. Wir gingen, und bald kam die Zeit, die Bootsfahrt vorzubereiten. Es war wohl 18 Uhr, wir waren im Tal der Mraconia, fünf Kilometer talwärts war die Donau. Wir hatten uns fürs Paddeln entschieden. Wir wollten alles liegenlassen, was wir nicht mehr brauchten. Vasile bestand darauf, dass wir unsere Messer mitnahmen. Seiner Meinung nach sollten wir bewaffnet sein,
denn wenn wir plötzlich einem ängstlichen jungen Grenzer begegnen sollten, würde der sofort schießen. Deshalb: Bevor wir ins Gras beißen, sollte er draufgehen. Vasile meinte, die Messer könnten wir wann immer wegwerfen.
Der Bach war ausgetrocknet. Wir mussten zu Fuß weiter. Nach einem Marsch von einigen Kilometern erreichten wir die Stelle, wo wir das ausgetrocknete Flussbett queren mussten. Schon wieder Hundegebell, diesmal ganz nahe. Uns stockte der Atem. Wir kehrten um und warteten, bis es stockdunkel war, wagten kaum noch zu sprechen und bewegten uns ganz vorsichtig. Wir umgingen die Hunde in großem Bogen.
An der Stelle, wo der Bach Wasser führte, weitete sich das Tal, und das Flüsschen wurde zum See, an dessen Ufer ein Campingplatz war. Wir erkannten kleine weiße Campinghäuschen, rings um den See hohe Berge, darüber der sternenklare Nachthimmel. Es war kalt geworden. Wir hatten das Boot noch nicht zu Wasser gelassen. Wir pumpten es auf, doch es war leck; aus der Bodenkammer entwich Luft. Wir fanden das Leck, der Verkäufer hatte es mit Tesafilm verklebt. Doch Vasile wusste Rat: „Wir gehen zur schmalsten Stelle der Donau, das ist bei Dubova, wir brauchen zwei bis drei Stunden. Dort ist die Donau nur 500 Meter breit, dafür muss das Boot, so wie es ist, ausreichen. Wenn es uns so nicht trägt, dann schwimmen wir eben, eventuell hält es über den halben Fluss. Ich kenne die Stelle.“
Zwei Jahre später, im August 1979, bin ich zurückgekehrt an diese Stelle, wo die Mraconia in die Donau mündet. Genau dort saß ein Grenzposten in einem Türmchen mit geschulterter Maschinenpistole. Klar, dass an einer Stelle, wo der Nebenfluss in die Donau mündet, die Straße über eine Brücke führen musste. Und weil Brücken wichtige Punkte sind, die bewacht werden, sitzen dort Soldaten. Wenn unser Boot kein Loch gehabt hätte, wären wir die Mraconia hinuntergepaddelt, direkt vor die Kalaschnikow des Grenzsoldaten. Wie gut, dass es Betrüger gibt, die einem ein kaputtes Schlauchboot verkaufen.
Der erste Termin war schon verstrichen. Stelian hat um 24 Uhr das Donauufer abgefahren. Den Termin 6 Uhr können wir ebenfalls nicht einhalten, wir haben noch einen Fußmarsch vor uns.
Wir finden uns in der Dunkelheit sehr schlecht zurecht, die Taschenlampe versagt, die Batterien sind leer. Es ist nicht zu fassen, Vasile findet den Weg auch in der Dunkelheit, und in der Früh legen wir uns erschöpft auf den Zementboden einer zugigen Hütte. Jetzt sind wir hoch über der Donau, nur noch 20 Minuten Fußmarsch, und wir wären unten. Aber wir verschieben alles auf morgen. Wir wollen schlafen, nichts als schlafen.
Am 14. November 1977 sind wir in der Nähe von Dubova an der Donau. Die Moral ist nicht mehr so gut. Hermann klagt über Erschöpfung, Vasile sagt nichts. In der Nähe der schmalsten Stelle warten wir den Abend ab. Wir müssen die Hütte verlassen und uns im Wald verstecken. Das Gelände ist felsig, das
Ufer steil, wir sind am Eisernen Tor, am Donaudurchbruch durch die Karpaten. Durst plagt uns. Hier oben gibt es keine Quellen. Wir haben noch zwei Fleischkonserven. Hermann spricht von aufgeben. Jetzt bin ich es, der wütend wird. Wir halten durch.
Um 21 Uhr schleichen wir den steilen Weg hinunter. Vorne Vasile, dahinter zwei Gestalten mit dem aufgeblasenen Schlauchboot. Der Weg ist voller trockener Blätter, und wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein. Wir können tief unten die Donau erahnen. Trotz der Dunkelheit erkennen wir die steilen Konturen der Felsen, senkrechte Wände, am Tag muss es ein gigantischer Anblick sein. Zwei Jahre später werde ich eine ganze Nacht den Anblick bei Vollmond auskosten, allerdings vom anderen Ufer aus.
Plötzlich Hundegebell, Stimmen, diesmal direkt von unten, direkt von der Donau. Wir stehen 300 Meter über dem Strom und lauschen. Es hört sich nach einer Suchaktion an. Wir sehen ein Schiff, das im Schneckentempo stromaufwärts fährt. Es könnte auch ein Wachboot sein.
Wir müssen uns zurückziehen. Hab ich euch gleich gesagt, meint Hermann. Der dritte Termin, der um 24 Uhr, ist auch verpasst. Wir legen uns noch einmal unter den Schlafsack, zu dritt, eng aneinander gepresst. Es ist sehr kalt. Der Himmel ist sternenklar. 15. November, 3 Uhr; der letzte Versuch. Wir stehen benommen auf, packen alles ein und schleichen wieder in der gleichen Formation hinunter. Es herrscht absolute Stille. Die Spannung steigt. Es dauert ewig, wie lang sind 300 Meter? Dann die Spalte, durch die wir hinabsteigen müssen. Wir gelangen in der Dunkelheit zur Donau, lassen das Boot zu Wasser. Wir steigen ein. Das Boot trägt uns auch ohne Luft in der Bodenkammer. Die Schuhe ziehen wir aus, wenn wir ins Wasser müssen, können wir barfuß besser schwimmen. Vasile und ich paddeln. Wir sind kaum 20 Meter weg vom Ufer, da blinkt oben ein Licht auf.
Vasile beruhigt uns, es sei lediglich ein Signal für die Schifffahrt. Das Boot schwimmt im Zickzack, aber wir erreichen das andere Ufer. Um 4 Uhr sind wir in Jugoslawien. Wir haben es geschafft; es ist der 15. November 1977. Das Ufer ist steil, wir ziehen uns an Ästen das Ufer hinauf, das Boot lassen wir im Gebüsch hängen. Vasile fällt ein Schuh ins Wasser. Wir erreichen die geteerte Straße, auf der aus dem Tunnel um 6 Uhr Stelians Auto auftauchen soll. Vasile erwartet Kurt. Ich will nichts sagen, es soll eine Überraschung für ihn sein, wenn Stelian kommt. Ich hole Wasser aus dem Fluss, und wir trinken. Das Wasser schmeckt herrlich.
Wir legen wie vereinbart Zweige auf die Straße. Ab 5 Uhr setzt Verkehr ein. Nach jedem Auto muss ich die Zweige herrichten. Jetzt kann ich zum ersten Mal in meinem Leben Rumänien von außen betrachten. Ich bin 31 Jahre alt und noch nie im Ausland gewesen, weil ich nie durfte. In mir kommen unbeschreibliche Triumphgefühle hoch, es ist noch nicht geschafft, aber wir haben das
Schwerste hinter uns. Eine Minute vor 6. Ein Licht im Tunnel, ganz langsam nähert es sich, da taucht es auf, das weiße Auto. Wir erwarten einen weißen Citroën mit drehenden Scheinwerfern. Jetzt muss er die Lenkung einschlagen, huschen da die mitdrehenden Scheinwerfer nicht über die Felsen? Oder ist es ein Traum?
Das Auto kommt näher, noch fünf Meter zu meinen Zweigen, er blinkt rechts. Es ist Stelian. Heraus aus den Büschen, und rein in Auto. In ein paar Sekunden sind wir weg. Nach drei erfolglosen Fahrten hatte Stelian die Hoffnung schon fast aufgegeben, uns noch anzutreffen. Ihm erschienen die Zweige wie ein Wunder, und er war fast erschrocken, als aus den Büschen drei dunkle Gestalten aufs Auto zustürmen.
Im Auto Stelian zu Vasile: „Du hast mich also für einen Spitzel gehalten?“ Vasile murmelt sich etwas in den Bart. Stelian: „Na gut, dann mal los, zur serbischen Polizei“. Vasile: „Fahr zu, du Gauner, wir sind hier noch in Gefahr“.
Stelian: „Hier Jungs, Whisky, Kaffee, Hühnchen, alles von meiner Freundin, für euch. Ich hatte solche Angst, ich würde das Zeug selber essen müssen“.
Es war ausgemacht, dass Stelian uns nach Belgrad zur deutschen Botschaft fahren sollte, doch davon wusste Vasile nichts. Vasile wusste, dass ihm die deutsche Botschaft als Nichtdeutschem nicht helfen würde. In Hermanns und meinem Wehrpass stand fein säuberlich: Nationalität Deutsch, Staatsbürgerschaft Rumänisch. Und die hatten wir dabei.
Vasile wollte über die grüne Grenze nach Österreich gehen. Hermann ließ sich von ihm überreden, mitzumachen. Ich aber argumentierte: „Wenn zwei von uns dreien deutsche Pässe bekommen, und der Dritte es allein über die grüne Grenze versucht, ist es sicherer als zu dritt. Zwei wären sicher drüben und könnten dem dritten helfen“. Doch ich kam nicht durch.
Wir waren übermüdet, wir hatten dem Whisky zugesprochen, und es kam zum Zerwürfnis, ja zum Streit. Ich wollte nichts mehr riskieren, jetzt nicht mehr. Hermann ließ sich von dem seiner Meinung nach stärkeren Partner überreden, Stelian dachte an sein Geld, er sollte für die Fahrt nach Belgrad 4.000 Mark erhalten.
Im deutschen Konsulat in Agram
Wir verschoben die Entscheidung, es gab noch das deutsche Konsulat in Agram. Stelian verlangte für die Fahrt durch Jugoslawien zusätzliche 1.000 Mark; ich versprach sie ihm. Ich hatte natürlich kein Geld, aber in Österreich hoffte ich, das Problem mit Hilfe meiner Verwandten in Deutschland zu lösen. 100 Kilometer vor Agram teile ich meinen Entschluss mit, keinen weiteren Grenzübertritt zu wagen. Hermann wird nachdenklich. Vasile schweigt, doch plötzlich meint er: „Du hast recht, es ist doch besser, wir
gehen zum Konsulat. Dann seid ihr beide sicher drüben. Wenn es bei mir nicht klappt, werdet ihr mir später helfen.“ Wir erreichen Agram gegen Abend und finden das Konsulat. Wir passieren mehrere Sperren. Ein freundlicher Herr empfängt uns, er glaubt mir meine Geschichte. Er sieht eingehend meinen Wehrpass ein und meint: „Da haben Sie aber Mut gehabt, den mitzunehmen, wenn man sie erwischt hätte, wäre alles schlimmer gewesen“.
Ich teile ihm Adresse und Telefonnummer meiner Verwandten in Deutschland mit, ich habe sie mir gemerkt. Der Botschaftsangehörige verspricht, alles zu überprüfen, und lässt meine beiden Freunde hereinbitten. Ich bin kurz allein im Zimmer, es läuft leise Musik, und ich schließe die Augen. Wenn ich sie öffne, sehe ich das Bild von Walter Scheel, dem Bundespräsidenten, an der Wand. Ich bin in Deutschland, ich bin in der Bundesrepublik Deutschland.
Kurz darauf sind wir alle vier, Vasile, Stelian, Hermann und ich, mit dem Konsul zusammen, der uns mitteilt: „Die beiden Deutschen bekommen morgen deutsche Reisepässe. Machen Sie am Automaten heute noch Fotos. Morgen um elf kriegen Sie die deutschen Pässe. Der Rumäne soll das Grenzhäuschen in einem Bogen von etwa einem Kilometer umgehen, die Grenze ist dort nicht überwacht. Der Rumäne darf aber nicht nach Deutschland einreisen, er muss sich in Österreich stellen“.
Der Konsul warnt uns ausdrücklich davor, ihm nach Deutschland zu verhelfen. Wir versprechen es. Vasile sagt, er wolle gar nicht nach Deutschland, sondern nach Amerika. Danach schickt uns der Konsul ins Hotel International mit einer Bescheinigung, dass wir unsere Pässe verloren hätten. Doch er gibt uns weitere Anweisungen: „Gehen Sie zu Fuß über die Grenze, der Wagen soll eine Viertelstunde später nachkommen. Sie dürfen nichts bei sich haben, außer dem deutschen Pass, kein Papier, kein Geld, gar nichts“.
Nachher sprechen wir darüber. Vasile ist tief beeindruckt: „Toll diese Deutschen. Zum einen ein zivilisierter Ton, zum anderen exakte Anweisungen, detaillierte Angaben. Neam „Siehst du, auch ich bin mächtig stolz auf mich und auf Deutschland“, antwortete ich Vasile. Heute sage ich, dass ich im Herzen Rumäne bin und die Rumänen liebe. Auch jetzt habe ich fast nur Rumänen als Freunde. Wenn ich Vasile, einem halben Zigeuner und halben Rumänen, wenn ich Stelian einem „Bukarester Gauner und Halsabschneider“ (so Vasile), wenn ich Dan, einem Playboy, und auch Andrei Bilciurescu, von dem noch die Rede sein wird, nicht vertraut hätte, was wäre aus meinen Fluchtplänen geworden? Die beiden Freunde, die ich vielleicht zu Unrecht verdächtigt hatte, mir 1973 das ganze Geld gestohlen zu haben, das waren ein Siebenbürger Sachse und ein Österreicher, keine Rumänen.
Wir trinken am Abend noch ein Bier in einer Gaststätte und schmuggeln Vasile, für den wir keinen Pass haben, ins Hotel, in unser Zimmer. Stelian ruft aus
dem Hotelzimmer seine Freundin an, die in Bukarest wie auf Kohlen seinen Anruf erwartet. „Meine Freunde sind hier, sie danken für die Brotzeit.“ Stelian zu uns: „Meine Freundin hat geweint, sie umarmt euch ganz fest“.
Agram, 16. November 1977: Wir kriegen deutsche Pässe. An der österreichischen Grenze geht es ganz schnell; bevor wir unsere schönen grünen Pässe vorzeigen können, sind wir schon in Österreich. Hermann und ich fallen uns in die Arme, Freudentränen rinnen. Der aufgestaute Frust, der Schmerz, die Angst, alles kommt raus, und die Dämme brechen. Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet? Sind es zehn, sind es noch mehr Jahre?
Bald ist auch Stelian da. Wir fahren mit dem herrlichen Citroën auf und ab, wo ist Vasile? Im ersten Freudentaumel haben wir ihn kurz vergessen. Nach einer Stunde picken wir ihn aber auf. Jetzt ist das Glück perfekt. Jetzt müssen wir anrufen: in München, in Bukarest, in Hermannstadt, in Talmesch (T südlich von Graz. Ich rufe Ute in Taufkirchen bei München an. Ich sage ihr nichts von meinen Schulden.
Freude hinter dem Eisernen Vorhang
In Stolzenburg, wo ich zu Hause war, in dem schönen Pfarrhaus, werde ich doch nicht anrufen, ich will meinen Vater nicht schockieren. Er ist einer von alter Statur, der von sich sagt, „ich habe die Pflicht, bei meiner Gemeinde zu bleiben, deine Mutter war hier Lehrerin, die Leute im Dorf haben sie verehrt, was will ich im Westen, ich war von 1936 bis 1940 als Student in Deutschland, dort war es damals überhaupt nicht schön“. Also rufe ich eine Tante in Hermannstadt an und teile kurz mit, dass ich in Österreich sei, sie solle das meinem Vater schonend beibringen, damit er sich auf die Befragung durch die Securitate vorbereiten könne. Das hat ihn damals überhaupt nicht gejuckt, er hat denen gesagt, mein Sohn hat es legal versucht, und ihr habt ihn nicht gelassen, und nun ist er weg.
Der Anruf in Bukarest: Vasiles Familie flippt aus. Schon komische Blüten, die dieses Jahrhundert treibt. Da wird eine Familie für ein paar Jahre geteilt, und es gibt trotzdem Freudentränen.
Und dann der Anruf in Talmesch: Hermann hatte sich von allen verabschiedet. Tumultartige Szenen müssen sich am Telefon abgespielt haben, denn die Securitate hatte schon am 14. November bei seiner Familie angeklopft, als wir -Bergen waren. Hermann hatte in der Firma nichts gesagt, er war einfach weggeblieben. Seine alte Mutter wurde bedroht: „Sie kriegen Ihren Sohn im Sarg wieder, wenn Sie nicht sagen, wohin er fliehen will“. Sie wusste natürlich nichts. Und sein Bruder Hellmut hatte nur Spott für den SecuritateMann übrig. „Sucht ihn doch, ihr wisst ja immer alles.“ Er konnte gut bluffen.
Graz, 17. November 1977: Heute muss ich mich bewähren, Stelian will sein Geld haben. Aber meine Onkel in Lahr, Bietigheim und Berlin haben keine 6.000 Mark für mich, deshalb wende ich mich an Andrei Bilciurescu. Ihm habe ich 1969, als er legal nach Deutschland zu Besuch fahren durfte und einfach nicht mehr zurück nach Rumänien fand, mein ganzes Westgeld mitgegeben, damit er einen leichteren Start in Deutschland hat. Ich hatte ihm das Geld auch nur auf seine blauen Augen hin geliehen.
Andrei schickt seine Sekretärin mit dem Geld. Während wir in einem Restaurant auf sie warten, schreibe ich meinem Vater eine Karte: Ich hatte sie in Hermannstadt ausgesucht und Stelian mitgegeben. Es war eine Karte mit einer Quelle darauf und der dritten Strophe des Gedichts „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“:
„Die Bächlein von den Bergen springen, die Vögel singen hoch vor Lust, was sollt ich nicht mit ihnen singen, aus voller Kehl und frischer Brust.“
Stelian nimmt zwei Stunden später erleichtert 5.000 Mark in Empfang, für uns bleibt ein Tausender übrig, Vasile kriegt neue Schuhe. Für den Übertritt an der österreichischen Grenze hatte er Stelians Schuhe angezogen. Wir steigen in den Zug nach München, Vasile stellt sich in Österreich. Wir haben uns 1985 in Texas wieder gesehen, die ganze Familie wohnte im schönen Eigenheim in der Nähe von Houston.
Hermann und ich kommen am 18. November um 0.35 Uhr auf dem Bahnhof in München an. Ich habe mich nicht abholen lassen, ich wollte es allein nach Taufkirchen zu Ute schaffen; wer es über die Donau schafft, muss auch die S2 nach Holzkirchen finden. Ich trete meine erste S-Bahn-Fahrt an, es ist eine Schwarzfahrt. Ich finde die Wildapfelstraße und bin am Ziel meiner Träume. Am nächsten Morgen spazieren Ute und ich in München über den Marienplatz und sind glücklich wie noch nie.
Jahrzehnte nach diesem Tag habe ich immer noch ab und an Alpträume. Vor kurzem war ich wieder im kommunistischen Rumänien und hatte die Flucht noch vor mir. Dresden, 15. November 2002
Klaus Schneider, geboren am 20. April 1946 in Hermannstadt, ist Pfarrerssohn aus Stolzenburg. Nach dem Abitur studiert er von 1963 bis 1969 Physik in Klausenburg (Cluj); Danach arbeitet er bis 1974 als Reiseleiter und Segellehrer am Schwarzen Meer und in der Schulerau bei Kronstadt, von 1974 bis 1977 ist er Physiklehrer in Hermannstadt. Nach der Flucht studiert er in München
und arbeitet bei Siemens. Von 1980 bis 1997 ist er bei Audi in Ingolstadt als Entwicklungsingenieur tätig. Danach promoviert er an der Universität Transil -Dozent an einer Fachhochschule in Dresden. In den 32 Jahren nach der Flucht war er nebenberuflich als Segellehrer und Hochseeskipper tätig. Nächstes Jahr wird er 65; danach will er nur noch seinem Hobby Segeln nachgehen.