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Schwimmend in die Freiheit
Von Alfred Waldenmayer
Die politische und wirtschaftliche Situation in der Zeit der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, die meine Generation im Denken und Handeln geprägt hat, war begleitet von Terror, Gefängnis und Tod. Der Fröhlichkeit beraubt, blieben oft Selbstaufgabe und Resignation. Von denen, die bereit waren, das Leben aufs Spiel zu setzen, ist einigen die Flucht in den Westen geglückt. Mir auch. Dies ist meine Geschichte.
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Meine Kindheit verbrachte ich in Guttenbrunn (Z umänischen Teil des Banats. Die Umgangssprache war Deutsch, und zwar ein Dialekt, der dem in der Gegend von Weinheim und Fürth im Odenwald sehr ähnlich ist. Schon 1927 wurden die ersten Kontakte zu unserer heutigen Patengemeinde, Fürth im Odenwald, geknüpft. Ich besuchte die deutsche Grundschule in Guttenbrunn. Als hyperaktives Kind löcherte ich meine Erzieher ständig mit Fragen. In meiner Unbekümmertheit brachte ich meine Lehrer manches Mal in Erklärungsnot, zum Beispiel mit der Frage: „Warum haben wir keinen Religionsunterricht in der Schule, wie es bei Mama der Fall war?“ In der 5. Klasse stellte ich die Frage: „Warum hatte Rumänien einen deutschen König?“
Der Gipfel war, als ich in der Geschichtsstunde darauf hinwies, dass die fünfjährige Verschleppung vieler meiner Nachbarn, Verwandten und Bekannten in sowjetische Arbeitslager (aus meiner Familie vier Personen) in unserem Lehrbuch nicht erwähnt wurde. Die Lügen des Systems waren mir damals noch nicht bewusst, dafür war ich noch zu jung. Ich vermisste einfach die Logik; mich störte, dass Tatsachen verschwiegen wurden, die eigentlich keiner vergessen konnte, schon deswegen nicht, weil die Ereignisse erst gut zehn Jahre zurücklagen.
Mit meinem ständigen Bohren hatten meine Eltern, Lehrer und später meine Vorgesetzten am Arbeitsplatz ihre liebe Not, und ich den Ärger. Als ich 14 Jahre alt war, zog ich nach Temeswar und besuchte das deutsche Gymnasium in der Josefstadt. Die Stadt im Südwesten Rumäniens, bis zu meiner Flucht mein Wohnsitz, war kultureller Mittelpunkt des Banats, dank der vier großen Volksgruppen - Deutsche, Rumänen, Ungarn und Serben - und mehr als einem halben Dutzend kleinerer Gruppen, die friedlich zusammenlebten und die Last der Diktatur gemeinsam ertrugen. smus erfuhr eine gewisse Lockerung. Ein ungemeines Glücksgefühl hatte mich erfasst, ebenso meine Eltern. Ein junger Präsident löste die alten Machthaber ab, in mir keimte die Hoffnung auf mehr Freiheit und Gerechtigkeit auf. Bei meinem nächsten Besuch in Guttenbrunn - ich fuhr fast regelmäßig jedes zweite Wochenende zu meinen Eltern diskutierten wir am Abend euphorisch über den Wandel in der Politik. Mein
Großvater saß in einer Ecke und drehte sich eine Zigarette. Er hörte uns aufmerksam zu, obwohl ich eher den Eindruck hatte, er wäre gelangweilt. Nach zwei miterlebten Weltkriegen kannte er die Falschheit der Politik sowie die Ohnmacht des Volkes. Die Debatte dauerte eigentlich gar nicht lange, dann wurde es still in der Küche. Aus seiner Sitzecke neben dem Ofen schaute Großvater zu uns herüber, sein Gesichtsausdruck war finster, seine Stimme klang rau. Er sagte etwas, was ich nicht glauben wollte: „Das ist ein Verbrecher“. Seine Aussage sollte sich schneller bewahrheiten, als uns allen lieb war. Es wurde noch stiller, und ich vernahm das Ticken der Wanduhr wie Ohrfeigen. Meine Eltern schauten mich verdutzt an, wir trauten unseren Ohren nicht, wir dachten, Großvater habe den Sinn der Sache nicht verstanden. Etwas aufgeregt hakte ich nach: „Hast du das jetzt ernst gemeint Opa, oder etwa nicht kapiert, was sich da tut? Wie kannst du so etwas behaupten?“
Er sagte nur: „Ich habe schon einmal erlebt, dass ein Staatsmann sein Volk betrogen hat. Mäuse fängt man am schnellsten mit einem guten Köder“. Dann verschwand er in seinem Zimmer. Ein mulmiges Gefühl blieb in mir zurück, und für einen kurzen Moment dachte ich mir, was ist, wenn er doch recht hat? Dieser Gedanke war beileibe nicht abwegig. Dieser einfache Mensch, der zwei Weltkriege erleben musste, hatte mir schon in meiner Kindheit durch seine große Lebenserfahrung vieles beigebracht, was in keinen Büchern zu lesen war. Nicht selten war ich über seine Treffsicherheit erstaunt. Umso mehr befürchtete ich, dass er recht haben könnte und die erhoffte Wende in der Politik nicht stattfinden werde. Trotzdem: Man spürte eine allgemeine Euphorie, die Menschen fassten neue Hoffnung, eine Art Aufbruchstimmung machte sich bemerkbar. Doch alles zerbröckelte schneller, als man glaubte.
Die zunächst tolerierten selbstständigen Kleinbetriebe wurden geschlossen, der kulturelle Freiraum wurde immer mehr eingeengt. Lieder in englischer Sprache durften nur noch 20 Prozent des Repertoires ausmachen. Die nationalen Minderheiten wurden benachteiligt, selbst in Sportklubs achtete man darauf, dass deren Anteil entsprechend niedrig gehalten wurde. Der gefürchtete Sicherheitsapparat Securitate wurde unbemerkt ausgebaut. Seine Existenz war zwar bekannt, was sich aber nun entwickelte, übertraf jede Vorstellung. Er wurde zum Schrecken aller Bürger; ich sollte auch noch früh genug mit ihm Bekanntschaft machen.
Es waren die wilden Jahre der 68er, deren Gedankengut über illegal eingeführte Zeitschriften und westliche Rundfunksender zu uns herüberschwappte. Der deutschen Sprache mächtig, hatten wir Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen einen Vorteil gegenüber den ungarischen und rumänischen Bürgern. Die Serben waren durch die damalige Offenheit Jugoslawiens zum Westen auch sehr gut informiert. Durch die multikulturelle Vielfalt ihrer Bewohner, das rege kulturelle Leben, die vielen mehrsprachigen Schulen und die
traditionsreiche Universität, war Temeswar eine Hochburg des Fortschrittes. Dies hat auch die Staatsmacht sehr schnell erkannt und alles besonders gut beobachten lassen. In dieser Stadt hat übrigens 1989 der blutige Umsturz in Rumänien seinen Anfang genommen, der mit dem Tod des Diktators Nicolae ndete.
Der Geheimdienst tritt auf
Schon Mitte der 1950er Jahre beginnen die ersten deutschen Familien, Anträge zur Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu stellen, da viele ihrer Angehörigen infolge des Krieges dort wohnten. Die Repressalien seitens der Behörden wuchsen ständig, man hörte immer mehr von Verhören bei der Securitate, ja sogar von Festnahmen. Eines Tages kam ich nach Hause, ein hochgewachsener, blonder junger Mann stand vor meiner Tür. Ich sprach ihn auf Deutsch an, zu meiner Überraschung hat er mich nicht verstanden. Ein Blonder muss doch ein Deutscher sein, dachte ich, aber ich hatte mich getäuscht. Er zog einen Ausweis aus seiner Jackentasche und stellte sich vor: „Ich bin Leutnant der Securitate und möchte mit Ihnen sprechen“. Mein Puls stieg etwas an, es war meine erste Begegnung mit den Wölfen. Ich beruhigte mich schnell, ich hatte bisher noch keinerlei Erfahrung mit dem Sicherheitsapparat. Mit dem guten Gewissen, nichts Unrechtes getan zu haben, könne mir auch nichts passieren, dachte ich mir. Diesem Trugschluss sind in jener Zeit viele unschuldige Bürger zum Opfer gefallen. Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, dass die an mich gerichteten Briefe aus dem Ausland zensiert wurden, und nun wollte er wissen, warum, weshalb und mit wem ich im Briefwechsel stand. Ich sagte ihm höflich, dass ich gegen kein Gesetz verstoßen hätte, und bot ihm meine Korrespondenz zum Lesen an, um so jeden Verdacht einer Gesetzeswidrigkeit zu entkräften.
Als Großmaul aufzutreten wäre sicher der falsche Weg gewesen. Er hat mir dann nahegelegt, den Briefwechsel mit dem Ausland einzustellen, was ich sofort abgelehnt habe. Schließlich war es nicht verboten, Briefkontakt mit Personen in anderen Ländern zu unterhalten. Nachdem er sämtliche Briefe noch einmal angesehen hatte, lesen konnte er sie nicht, weil er des Deutschen nicht mächtig war, ging er wieder. Nun wusste ich, ich stehe unter Beobachtung. Dieses Mal war es ein kleiner Fisch, der mich kontaktiert hatte, die größeren sollten noch kommen.
Ende der 1960er Jahre stellten immer mehr Familien Ausreiseanträge. Immer mehr Freunde, Bekannte und sogar Verwandte erhielten die Ausreisegenehmigung. Dazu gehörte auch eine Familie Biebert aus meinem Heimatdorf Guttenbrunn, die zwölf Jahre lang auf diesen Tag warten musste. Damals ahnte ich noch nicht, dass fast zehn Jahre später diese Familie auch die meine sein würde. Ich nahm die Entwicklung ohne große Emotionen, jedoch mit Interesse wahr. Be-
sonders berührt hat es mich aber erst, als die ersten Freunde auswanderten, nach kurzer Zeit zu Besuch kamen und über das Leben in der Freiheit erzählten. Den Wunsch, selbst das Land zu verlassen, hatte ich damals noch nicht. Einer der Gründe war meine große Liebe zu einer Frau, die ich schon seit meiner Kindheit kannte. Es klingt vielleicht unglaublich, aber für mich gab es nichts Wichtigeres als die Nähe zu ihr. Diese Liebe hatte meine charakterliche Entwicklung entscheidend beeinflusst.
Ich nenne sie Erna. Eine räumliche Trennung von ihr konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Die mit mehreren Unterbrechungen sechsjährige Beziehung stand aber unter keinem guten Stern. Eine besonnene junge Frau, geradlinig im Denken und Handeln, und ich, ein Kindskopf, passten einfach nicht zusammen. Wir hatten keine gemeinsamen Interessen. Doch meine Liebe zu ihr war stärker als der Verstand, und mein Egoismus ließ die Frage nicht zu, wie sie sich in dieser unglücklichen Gefühlswelt wohl fühlen mag. Sie war die Klügere von uns beiden, erkannte die Zukunftslosigkeit dieser Beziehung und beendete diese im Frühjahr 1971. Damit hat für mich eine unvorstellbare Leidenszeit begonnen, die mehrere Jahre anhielt. Vielleicht aber war es auch der Beginn meiner geistigen Reife.
Noch viele Jahre später erschien sie mir in meinen Träumen. Allmählich vollzog sich eine Wandlung in meiner Denkweise. Ich habe begonnen, die Gefühle anderer mehr zu achten, andere Menschen mehr zu respektieren und deren Meinung zu akzeptieren. Das war ein längerer Prozess, den ich damals nicht bewusst wahrnahm. Zuerst aber wurde ich immer mehr zum Zyniker; ich nahm nichts ernst, weder meine Umwelt noch meine Arbeit, und schon gar nicht die Politik. Selbst mein Leben war mir nichts wert.
Wilde Partys interessierten mich mehr als alles andere, zum großen Ärgernis meiner Eltern. Nebenbei besuchte ich die Technikerschule für Maschinenbau und schloss diese im Herbst 1971 ab. Um das süße Leben auskosten zu können, bewarb ich mich um einen Ferienjob als Reiseleiter am Schwarzen Meer. Die letzten zwei Sommer machte ich Urlaub am Schwarzen Meer und hatte von dem süßen Leben an der Küste einen Vorgeschmack bekommen. Nun wollte ich die Suppe mit dem Schöpflöffel essen.
Ende Mai bekam ich eine Stelle als Reiseleiter in Mangalia, in einem der schönsten Urlaubsorte an der rumänischen Schwarzmeerküste. Die ersten zwei Wochen betreute ich Urlauber aus der Tschechoslowakei. Endlich kam der Tag, an dem ich die erste Gruppe aus der Bundesrepublik Deutschland zugeteilt bekam. Ich war im Hochrausch der Gefühle. Alles lief wunschgemäß, bei herrlichem Wetter hatte ich auch einmal Zeit, an den Strand zu gehen, und abends wurde ich häufig von meinen Gästen zum Essen eingeladen. Ein paar Deutsche Mark Trinkgeld bekam ich auch. Annahme von Trinkgeld war nicht untersagt, dafür aber der Besitz von Devisen. Dieses Gesetz habe ich bis heute nicht ver-
standen.Eines Nachmittags nach Dienstschluss ging ich ins Hotel, um zu entspannen. Ich stieg in den Aufzug. Bevor sich die Tür schloss, sprang ein gut gekleideter Herr, der vorhin gelangweilt neben dem Aufzug stand, zu mir in die Kabine. Ich war zwar überrascht, schenkte ihm jedoch keine weitere Aufmerksamkeit. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, stellte er sich vor: „Ich bin von der Securitate, lass dir nichts anmerken, wir gehen jetzt auf dein Zimmer“. Ich glaubte, mein Herz klopfen zu hören, auf so etwas war ich nicht vorbereitet.
Wir setzten uns an den Tisch, und er kam sofort zur Sache: „Ich weiß, dass du Deutsche Mark hast, aber deswegen bin ich nicht hier. Du kannst damit in den Intershops einkaufen, größere Summen musst du jedoch abgeben, und zwar mir“. Auf so eine unsinnige Bemerkung habe ich nicht geantwortet. Nun kam er zum eigentlichen Grund seines Besuches. Zuerst sprach er vom Klassenfeind, vom Imperialismus, von der Dekadenz des Westens, von der Infiltrierung unserer sauberen Gesellschaft mit faschistischem Gedankengut. Alles klang wie von einem Tonband abgespielt, wer weiß, wie oft er dieses schlechte Märchen schon erzählt hatte. Mir war es auch nicht neu. Ich saß wortlos da und wartete, was weiter kommen sollte. Dass ich ihn nicht ernst genommen habe, musste er mir ansehen, als Unterlegener schwieg ich jedoch. Ob er selbst an diesen Unsinn glaubte?
Gelangweilt schaute ich ihn an, mit einem Blick auf meine Armbanduhr gab ich ihm zu verstehen, was ich dachte. Nun kam er zum eigentlichen Thema. Als Bürger dieses Staates müssten wir den Schutz des Landes als oberstes Gebot betrachten. Er erwartete eine Antwort. Mit Kopfnicken stimmte ich dem zu, um endlich meine Ruhe zu haben. Dies war für ihn der richtige Moment, um zur eigentlichen Sache zu kommen. Die Nähe zu meinen Gästen sollte ich dazu nutzen, herauszufinden, wer unserem sozialistischen System durch sein Verhalten Schaden zufügen könnte. Als Reiseleiter hätte ich das Vertrauen der Gäste, und deshalb würden diese keinen Verdacht schöpfen. Jetzt begriff ich erst, worum es hier ging. Ich sollte zum Spitzel der Securitate werden. Im Gegenzug versprach er mir Schutz, wenn ich mit Devisen erwischt werden sollte.
Für mich kam eine Spitzeltätigkeit nicht in Frage. Aus taktischen Gründen habe ich ihm zugesagt, Gravierendes zu melden. Gezielt jemanden zu provokanten Äußerungen zu animieren, habe ich entschieden abgelehnt. Er hat meine persönliche Einstellung akzeptiert, ich sollte jedoch wöchentlich oder nach eigenem Ermessen auch häufiger anonyme Berichte schreiben und diese in einem unbeobachteten Moment unter die Türspalte seines Zimmers schieben. Er wisse schon, von wem diese kämen. Er wohnte in demselben Hotel, in dem ich untergebracht war. Ich wusste nun, dass sehr viele Mitarbeiter der Securitate auf das gesamte Personal angesetzt waren, um dieses zu Informanten zu machen. Diese Erkenntnis hat mich so erschüttert, dass ich in jedem Mitarbeiter und Angestellten einen Spitzel sah. Wie ich heute weiß, war es auch so.
In jenem Sommer lernte ich eine bildhübsche Tschechin namens Nadja kennen. Sie war so alt wie ich und die Tochter der tschechischen Chefreiseleiterin. Warme Sommernächte wurden zu heißen Liebesnächten, beobachtet vom Mond und der Securitate. Es war zum ersten Mal nach meiner Trennung von Erna, dass ich wieder eine innere Zuneigung zum weiblichen Geschlecht verspürte. Das sexuelle Verlangen hatte auch in meiner schmerzlichsten Zeit nicht nachgelassen. Wir verbrachten eine wunderschöne Woche miteinander, und sie versprach mir, mich in Temeswar zu besuchen.
Ein paar Tage später, ich hatte gerade neue Gäste vom Flughafen abgeholt, stand mein Schatten an der Eingangstür des Hotels und sprach mich mit leiser Stimme an, ohne mich dabei anzusehen. „Du hast noch keinen Bericht abgegeben.“ Genauso unauffällig, ebenfalls im Flüsterton, antwortete ich: „Morgen“. Am nächsten Tag gab ich, wie vereinbart, meinen Bericht ab, der recht kurz und nichtssagend war. Einige Tage später wartete er wieder vor meiner Tür, um mit mir zu sprechen. Kurzum, er war mit meinem Bericht nicht zufrieden. „Tut mir leid“, habe ich gesagt, „mehr kann und will ich nicht tun. Ich bin als Reiseleiter und nicht als Spitzel angestellt. Sie werden von mir keine Berichte erhalten, ich könnte sonst nicht mehr in den Spiegel schauen, ohne hineinzuspucken“. Das Gespräch zog sich noch eine Weile ergebnislos hin, ich wurde sichtlich aggressiver und hatte keine Furcht. Der Kragen ist mir geplatzt, und ich sagte ihm höflich, aber viel zu laut: „Ich bin kein Spitzel, sie bekommen keine Berichte mehr von mir“.
Zwei Tage später wurde ich zum Hotelchef bestellt und ohne Angabe von Gründen entlassen. Man drängte mich dazu, selbst zu kündigen, ansonsten würde ich weder meinen ausstehenden Lohn noch die Reisekosten erstattet bekommen. Nach sechs Wochen, Anfang Juli, war mein Traum vorbei und ich um eine Erkenntnis reicher. Auf meine Frage, warum mir gekündigt wird, hat man mir nicht geantwortet. Meine Zeit als Reiseleiter war für immer vorbei. Nun wusste ich aus persönlicher Erfahrung, dass man in diesem System nur Vorteile genießen kann, wenn man mitmacht. Ich erinnerte mich an meinen ehemaligen Banknachbarn aus meiner Gymnasialzeit, der seit mehreren Jahren regelmäßig in den Sommerferien als Reiseleiter tätig war. Der Gedanke, dass er ein Spitzel sein könnte, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Später habe ich erfahren, dass er einer war. Ich blieb noch einige Wochen als Privatperson am Schwarzen Meer und schlug mich mit Devisenschmuggel einigermaßen durch. Wegen meiner ausgezeichneten Deutschkenntnisse genoss ich das Vertrauen der deutschen Urlauber, die von rumänischen Geldwechslern auf dem Schwarzmarkt sehr oft betrogen wurden. Ich arbeitete vertrauenswürdig: Ich händigte die rumänischen Lei im voraus aus und nahm später, nach Überprüfung des Betrages durch die Urlauber auf dem Zimmer, die D-Mark entgegen. So viel Vertrauen wiederum stieß teilweise auf Verwunderung; ich selbst hatte jedoch nie Zweifel an der
Ehrlichkeit der Deutschen. Ich bezahlte für die Deutsche Mark die Hälfte dessen, was die Ganoven anboten, doch es war immer noch mehr als der offizielle Kurs. Durch die Weiterempfehlung riss der Faden nie ab, und bald hatte ich keine Lei mehr. Ich musste selbst Deutsche Mark verkaufen, selbstverständlich zu einem höheren Preis, als ich dafür bezahlte. Von dem Gewinn konnte ich recht gut leben. Der verbotene Geldwechsel war ein gefährliches Spiel. Um dieses Risiko zu minimieren, deponierte ich meine Devisen bei Urlaubern, denen ich vertraute. Im Falle einer Durchsuchung hätte man bei mir nur kleinere Summen gefunden, wofür keine Strafe zu erwarten gewesen wäre. Es gelang mir, das Geld nach Deutschland zu schicken, und so konnte ich zur Freude meiner Eltern eine Gefriertruhe kaufen, deren Wert für die Familie unschätzbar war. Zehn Jahre später, bei der Ausreise meiner Eltern, musste diese als Bestechungsobjekt an einen hohen Beamten abgegeben werden.
Ein Jahr darauf habe ich das Spiel wiederholt, und so kam ich zu dem begehrtesten Objekt, das es in jener Zeit gab: einem Auto. Es war ein Statussymbol, dessen Wirkung ich voll ausnutzte. Mein NSU-Prinz hatte vermutlich eine größere Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht als ich, aber uns gab es nur zusammen. Nicht wenige hatten Spaß mit uns beiden, nicht selten gab es aber auch Ärger.
Ende Juli fuhr ich heim nach Temeswar, um mich für die Abschlussprüfung zum Maschinenbautechniker vorzubereiten. Obwohl schon 23 Jahre alt, saß ich immer noch meinen Eltern auf der Tasche. Die Entlassung aus dem Reiseleitergeschäft hat mich mehr geärgert, als ich mir eingestehen wollte. Es erfüllte mich mit Stolz, den Verlockungen des „angenehmen“ Lebens nicht verfallen zu sein, dem Regime die Stirn geboten zu haben und sauber geblieben zu sein.
In Melancholie verfallen, schrieb ich Nadja einen sehnsüchtigen Brief, ohne auf die Vorkommnisse einzugehen. Da musste man vorsichtig sein, denn die Briefe wurden zensiert. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und hat mich sehr überrascht. „Du bist sehr traurig, was ist geschehen? Ich komme Dich besuchen und werde Dich trösten“, schrieb sie in einem nicht allzu ernst gemeintem Ton. Bei dieser schönen Nachricht verflog meine schlechte Stimmung, der Trost einer so schönen Frau war mir mehr als willkommen. Ich fieberte dem Moment sehnsüchtig entgegen, in dem ich sie wieder in die Arme schließen konnte. Nun wusste ich, dies war mehr als ein Urlaubsflirt. Zum ersten Mal verspürte ich eine leichte innerliche Lösung von Erna, obwohl ich sie immer noch liebte. Es kam der Tag, besser gesagt die Nacht, in der Nadja mit der Bahn übermüdet in Arad ankam. Überwältigt von Gefühlen, brachte ich kein Wort hervor. Wir schauten uns in die Augen, umarmten uns und genossen schweigend den Augenblick. Sie blieb drei Wochen bei mir, Zeit genug, um ihr mein Elternhaus, mein Heimatdorf Guttenbrunn, meine Stadt Temeswar sowie das nähere Umland zu zeigen. Vor allem Temeswar lag mir am Herzen, in dieser
Stadt war einiges los, dort pulsierte das Leben, die Kultur, dort waren meine Freunde, dort kannte ich jeden Winkel. Die vielen Parks, die schöne habsburgisch geprägte Stadtmitte, luden zu Spaziergängen ein. Sie war beeindruckt von den historischen Bauten, den alten Denkmälern und der schönen Lage dieser Stadt. Der Bega-Kanal schlängelt sich nahe dem Zentrum entlang, an dessen Ufern sich Kneipen und Sommergärten befanden, in denen man bei fast mediterranem Klima bis spät in die Nacht verweilen konnte.
Über dieser friedlichen Idylle brauten sich dunkle Wolken zusammen. Nadja lernte einige meiner Freunde kennen und staunte nicht schlecht, als einer, auf meine Bitte hin, plötzlich slowakisch sprach. Er gehörte zur slowakischen Minderheit, die es, wie wenig bekannt, in dieser Region gibt. Eines Tages, es war ein herrlicher Sommertag, saßen Nadja und ich in einer Konditorei am BegaUfer und tranken Kaffee bei einer echten Marlboro, die ich schwarz besorgt hatte. Als meine Kaffeetasse leer war, benutzte ich sie als Aschenbecher, das war so üblich und, wie man heute sagen würde, „cool“. Ich bezahlte, und wir blieben noch eine Weile sitzen. Die Bedienung kam, um den Tisch abzuräumen. Sie stellte ihr Tablett darauf, sammelte alle Gläser und Tassen ein, dann kippte sie den Inhalt des Aschenbechers über das eingesammelte Geschirr. Anschließend nahm sie drei weitere Aschenbecher von den Nachbartischen und goss deren Inhalt ebenfalls darüber. Ein benutzter Kaugummi, eine mit Lippenstift gefärbte Serviette und Kuchenreste kamen dazu. Sie wünschte noch einen schönen Tag und verschwand damit in der Küche. Das war Routine einer geschulten Kellnerin. Wie von einer Tarantel gestochen, sprang meine Freundin auf und entfernte sich einige Schritte. Mit dem Rücken zu mir blickte sie regungslos auf den Fluss. Ich merkte, dass sie verärgert war, aber warum? Was habe ich getan? Habe ich sie unwissentlich beleidigt? Alle diese Fragen gingen mir blitzartig durch den Kopf. Wir spazierten am Ufer entlang, und sie sagte mir den Grund ihrer Verärgerung. Das Entsorgen der Asche meiner Zigarette in die leere Tasse war für meine Freundin ein grobes Vergehen und ein Erziehungsmangel; das, was die Bedienung danach machte, fast ein Schock. Dann bekam ich eine Lektion in Benehmen, die ich gerne annahm. Ich war froh, dass es nichts Schlimmeres war.
Nach etwa einer Woche fragte ich sie: „Na, was sagst du zu meiner Stadt? Was hast du für einen Eindruck?“ Ich erwartete lobende Worte, doch ich sollte etwas ganz anderes zu hören bekommen. Nadja kam zwar auch aus einem sozialistischen Land, dessen Lebensstandard höher war als der in Rumänien. Mit ernster Mine sagte sie: „Ihr seid arm, sehr arm, Gott sei Dank, wisst ihr es nicht. Deine schöne Stadt ist schmutzig und stinkt. Die Menschen haben kein Benehmen, und viele sind schlecht gekleidet“ . Diese Wahrheit wurde mir erst bewusst, als ich sie zu hören bekam. Damals sah ich das nicht so, aber ich habe darüber nachgedacht und nie wieder Zigarettenkippen in einer Kaffeetasse ent-
sorgt. Eines Abends, wir waren beide sehr gut gelaunt, der Alkoholpegel war auch schon erhöht, fragte ich sie, ob sie meine Frau werden wolle. Ohne nachzudenken, fiel sie mir um den Hals und sagte lachend ja. Wir lachten beide, und eine wilde Liebesnacht nahm ihren Anfang. Am nächsten Morgen, noch leicht verkatert, sagte ich zu ihr „Hei, Nadja, wir sind verlobt“. „Ich weiß“, sagte sie und lachte. Wir waren verunsichert. Ist es Ernst oder Spiel? Keiner konnte die Lage richtig einschätzen, und ich beschloss, dieses alberne Getue zu beenden. Ihr Deutsch war sehr gut, so dass es keine Missverständnisse gab. Ich packte sie an den Schultern, schaute ihr in die Augen und sagte: „Sieh mich an, willst Du mich heiraten, das ist kein Spiel mehr, willst du meine Frau werden?“ Selbstsicher und überzeugend sagte sie ja. Ich werde sofort die Scheidung einreichen, wenn ich nach Hause komme.
Wir schwiegen beide eine Weile, dann bahnte sich eine außergewöhnliche Situation an, die ihre Meinung über den Sozialismus verändern sollte. Du musst mich so schnell wie möglich besuchen kommen, damit meine Familie dich kennenlernt. Die Mutter kannte ich schon vom Schwarzen Meer her. „Ich kann dich nicht besuchen, da ich keinen Reisepass habe und auch keinen bekommen werde.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf und sagte: „Die Tschechoslowakei ist doch ein sozialistisches Bruderland, wieso dürft ihr nicht dahin reisen?“ Ich antwortete: „Wir dürfen zwar einen Antrag stellen, das werde ich auch tun, jedoch werden diese Anträge meistens abgelehnt“.
In solchen Augenblicken verspürte ich Wut auf das ganze verlogene System und fühlte mich wie in ein Korsett geschnürt. Ich brauchte frische Luft, und wir gingen spazieren. Wir waren beide wortkarg, jeder hatte seine eigenen Gedanken. Ich fasste ihre Hand und bemerkte das Zittern. Sie schaute mich an, und ich sah Mitleid in ihrem Blick. Unsanft sagte ich: „Ich brauche kein Mitleid, Verlierer sind zu bemitleiden, ich bin keiner. Und eines schwöre ich bei Gott, ich komme aus diesem Gefängnis heraus“ .
Damit hat mein Kampf gegen die Behörden begonnen, den ich verlieren sollte. Es kam die Zeit ihrer Abreise, und ich blieb mit meinen Gefühlen zurück. Nach einigen Tagen des Nachdenkens musste ich feststellen, dass mir außer der Hoffnung nichts geblieben ist. Die Abschlussprüfung stand in einem Monat bevor, eine Arbeitsstelle hatte ich noch nicht gefunden, 16 Monate Militärdienst warteten auf mich, und ich hatte keine Schulter, an der ich mich hätte anlehnen und ausweinen können. „Nur jetzt nicht schlapp machen“, sagte ich mir. Ende September legte ich die Abschlussprüfung zum Maschinenbautechniker ab. Durch die Bekanntschaften meines Vaters und durch Bestechung bekam ich einen Arbeitsplatz im Elektromotoren-Werk, eine der größten Fabriken in Temeswar.
Das größte Problem, das mir noch bevorstand, war der Militärdienst. Wegen meiner langen Studienzeit war ich ursprünglich zurückgestellt worden. Ich ging
zur Einberufungsstelle und meldete mich freiwillig zum Militärdienst, um diese Last endlich los zu werden. Wiederum war es mein Vater, der seine Beziehungen spielen ließ und dafür sorgte, dass ich den Einberufungsbefehl für Februar nächsten Jahres erhielt.
Es näherte sich das Jahresende und damit die Zeit des Rückblickes. Ich stellte mit Stolz fest, dass ich mein Leben allein meistern kann, ich hatte weder Laster noch Süchte und bekam immer mehr Selbstvertrauen. Allmählich festigten sich mein Charakter und meine Persönlichkeit. Mein Hass auf den Kommunismus wurde immer größer. Trotz meiner Verbitterung habe ich meine Fröhlichkeit und den Humor nicht verloren. Die wirtschaftliche Lage war in jener Zeit noch viel besser als in den folgenden Jahren.
Der Briefwechsel mit Nadja war rege. Zu Silvester kam sie wieder zu Besuch und brachte die notwendigen Unterlagen, um den Heiratsantrag zu stellen. Der Eltern, dass die Sache ernst war und äußerten Bedenken. Von diesem Vorhaben ließ ich mich nicht mehr abbringen, denn ich hatte ein ganz anderes Ziel vor Augen: Deutschland. Als rumänischer Staatsbürger in der Tschechoslowakei wohnhaft, war ich für beide Staaten wenig von Nutzen. Somit würde ich mit meinem rumänischen Pass auch in die Bundesrepublik reisen können, um danach dem Kommunismus Adieu zu sagen.
Das neue Jahr hatte kaum begonnen, und ich bekam den Einberufungsbefehl für Februar. Es kam so, wie ich es geplant hatte. In der Regel dauerte es ein Jahr, bis eine Entscheidung über eine Heiratsgenehmigung gefällt wurde. Fest überzeugt, die Heiratsgenehmigung zu erhalten, rechnete ich mit meiner vorzeitigen Entlassung vom Militärdienst. Mit diesem Gedanken war die Zeit leichter zu ertragen. Im Vorfeld hörte ich viel von den Missständen und den Schikanen, denen die Rekruten vorwiegend während der ersten Hälfte ihrer Dienstzeit ausgesetzt waren. Nun durfte ich es am eigenen Leibe erleben. Mit 24 war ich einer der ältesten Wehrpflichtigen; ich war der einzige Deutsche und gehörte zu den wenigen mit Abitur. Dadurch war ich bei den Offizieren gefragt, weil ich in der Lage war, deren Büroarbeit zu erledigen. Schon auf der Fahrt zur Einheit, im Zug, hat ein Begleitoffizier eine Schriftprobe von mir genommen und unterzog mich einem lächerlichen Intelligenztest. Die Ergebnisse gab er in der Kaserne an hohe Offiziere weiter; später erwies sich das als großer Vorteil und Erleichterung im Dienst.
Mein deutscher Stolz hatte es nicht zugelassen, mittelmäßig zu sein, ich war vom Ehrgeiz gepackt, meine Volksgruppe in allen Bereichen würdig zu vertreten. Die schlimmsten Schikanen und die schwersten Aufgaben konnten mich nicht klein kriegen. Nach fünf Monaten hatte ich das schlimmste Problem besiegt, und zwar den ständigen Hunger. Der Magen hatte sich anscheinend der spärlichen und einseitigen Kost angepasst. Ausgang gab es keinen, Lebensmittel
konnte man auch keine kaufen. Der Kontakt nach draußen beschränkte sich auf den Briefwechsel. Mit meiner Verlobten durfte ich nur über meine Eltern korrespondieren. Sie brachten mir bei ihren Besuchen die Briefe mit, und ich gab ihnen die meinen, um sie weiterzuleiten. Bei meinen Kameraden war ich sehr beliebt, für einige Analphabeten schrieb ich Briefe, anderen brachte ich das Zähneputzen bei und nicht wenigen das tägliche Waschen der Genitalien. Da nur einmal in der Woche geduscht werden durfte, sah ich keine andere Möglichkeit, als das Waschbecken dazu zu benutzen. Es war äußerst ungewöhnlich und anfangs lustig anzusehen, wie immer mehr in Reih und Glied vor den Waschbecken standen und meinem Beispiel folgten. Ein Zigeuner gestand mir, noch nie in seinem Leben geduscht, geschweige denn Ganzkörperpflege betrieben zu haben. Dafür hatte er aber alle seine sichtbaren intakten Zähne mit Goldbrücken überziehen lassen. Als Statussymbol. Nach der Grundausbildung sollte ich eine sechsmonatige Ausbildung zum Unteroffizier absolvieren, um als Reserveoffizier entlassen zu werden. Ich musste mich dagegen wehren, denn als Unterleutnant wäre ich zum Geheimnisträger geworden und eine Ausreisegenehmigung noch schwieriger zu erhalten gewesen. Ich schilderte einem Oberstleutnant meine Lage und offenbarte meinen Willen, das Land zu verlassen, sobald ich die Genehmigung dafür bekäme. Ich verlangte, den militärischen Abschirmdienst umgehend darüber zu informieren und mich von geheimen Tätigkeiten während meiner Dienstzeit zu entbinden.
Täglich angetrieben von 5 bis 22 Uhr, verging das Jahr wie im Zeitraffer. In der Silvesternacht stand ich Wache. Der Dienst dauerte von Mitternacht bis 3 Uhr. Einsam, über mir der klare Sternenhimmel, ging ich auf und ab. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, meine Gedanken waren bei Nadja, und ich ließ die Zeit Revue passieren. Letzten Silvester war sie bei mir, und wir feierten glücklich den Rutsch ins neue Jahr. Heute stehe ich allein hinter einer Mauer und starre zu den Sternen. Was für ein Kontrast. Ein Jahr zuvor blickte ich voller Hoffnung und Zuversicht auf das neue Jahr. War es eine Vorahnung, was kommen würde? Es war nicht die Langeweile, auch keine Wehmut oder Sehnsucht nach meiner Familie, was ich empfand, es war einzig und allein der Drang nach Freiheit, der mich wieder einmal befallen hatte. Zum Himmel blickend, sah ich den Polarstern, den Großen und den Kleinen Wagen, und dabei dachte ich mir: „Es gibt viele Menschen, die dieselben Sterne sehen, jedoch nicht aus einer Perspektive hinter Stacheldraht“. Dieses Mal konnte man das wörtlich nehmen. Ich hatte das Bedürfnis, zu schreien, meine Fesseln zu sprengen und mich irgendwie von der psychischen Umklammerung zu befreien. Ich umklammerte meine geladene Kalaschnikow noch fester und biss die Zähne aus Frust zusammen. Es war kurz vor 3 Uhr, als ich jenseits der Mauer Stimmen hörte. Es war der Regimentskommandeur mit seiner Familie, der eben von einer Silvesterfeier nach Hause kam. Ich habe ihn sofort an der Stimme erkannt.
Da musst du was tun, schoss es mir durch den Kopf, und Unfug treiben ist ja mein Spezialgebiet, auch heute noch. Dazu brauche ich nicht viel zu überlegen, der ist einfach zum richtigen Zeitpunkt da. Hellwach, in Lauerstellung, wartete ich, bis die Gruppe sich auf etwa drei Meter genähert hatte. Dann schrie ich mit voller Kraft: „Halt, wer da?“ Eine Frau schrie laut auf vor Schreck, der Kommandeur fluchte und schrie: „Bist du verrückt geworden?“ Ich antwortete nicht, wir hatten auch keinen Blickkontakt, und er konnte mir auch nichts antun. Durch diese Aktion fühlte ich mich sehr erleichtert, meine Traurigkeit war einer kleinen Schadenfreude gewichen. Einige Minuten später wiederholte sich das gleiche Spiel, nur diesmal war es meine vorschriftsmäßige Wachablösung.
Es war Ende März, als meine Einheit in die Karpaten zu einem Arbeitseinsatz verlegt wurde. Inmitten dieser schönen Landschaft befand sich ein undefinierbares Straßenlabyrinth, dessen Sinn keiner von den Soldaten kannte. Wir schufteten den ganzen Tag und fielen vor Müdigkeit beinahe um. Wir betonierten Straßen und errichteten Entwässerungskanäle, wobei Schaufeln und Pickeln unsere einzigen Werkzeuge waren. Keiner wusste, was hier entstehen sollte; eines war jedoch klar, es musste sich um ein militärisches Objekt handeln. Da erinnerte ich mich an mein Gespräch mit meinem Oberstleutnant und bat um eine Audienz. Ich machte ihn aufmerksam auf meine besondere Lage, dass ich das Land demnächst verlassen werde. Drei Tage später wurde ich in die Kaserne zurück geschickt.
Ab April kamen keine Briefe mehr, was mir zu denken gab. Eines Tages besuchte mich meine Mutter und überreichte mir zögernd, mit ernster Mine einen Brief von Nadja. Darin teilte sie mir mit, dass sie die Beziehung zu mir abbrechen muss. Dem Druck ihrer Familie und aller Verwandten und Bekannten konnte sie nicht länger standhalten, insbesondere weil ich Deutscher bin. Bis dahin wusste ich nicht, dass die Deutschen bei den Tschechen noch immer sehr verhasst waren. Enttäuscht war ich vor allem von meiner Mutter, die mir den Abschiedsbrief lange verschwiegen hatte. Sie wollte mir die Hoffnung auf Freiheit so lange wie möglich nicht zerstören. Somit war der Traum von der vorzeitigen Entlassung ausgeträumt. Ich hatte noch vier Monate Restzeit zu überstehen, und ehrlich gesagt, Soldat zu sein machte mir mittlerweile Spaß. Anfang Juni wurde ich eines Tages zu einem Gespräch vorgeladen. Ein Herr in Zivil stellte sich mir als Offizier des Militärischen Abschirmdienstes vor. Er bot mir Platz an und sagte mir, er sei einzig und allein meinetwegen gekommen. Schon wollte ich sagen: „Das ehrt mich aber“. Das konnte ich aber aus zweierlei Gründen nicht tun: Zum einen darf ein Soldat mit einem Offizier nur sprechen, wenn er gefragt wird oder wenn er sich vorher die Erlaubnis einholt, zum anderen hatte ich den Verdacht, dass es sich um eine brisante Sache handelt, dann wäre jedes unnötige Wort zu viel. Gespannt und gelassen wartete ich auf seine Fragen. Er kam gleich zur Sache und sagte mir in einem überraschend ruhigen
und sachlichen Ton: „Mir wurde gesagt, Sie wollen das Land verlassen. Stimmt das?“ Ich antwortete: „Ja, Herr Hauptmann, das will ich, es ist ja nicht verboten“ . Natürlich nicht, sagte er und erklärte mir die Folgen einer Fahnenflucht. Diese waren mir bestens bekannt, worauf ich antwortete: „Herr Hauptmann, Sie müssen sehr viel über mich wissen, auch dass ich eine gute schulische Ausbildung habe und meine Wehrpflicht bisher zur vollen Zufriedenheit aller meiner Vorgesetzten erfüllt habe. So dumm kann ich also nicht sein, dass ich so kurz vor meiner Entlassung mindestens zwei Jahre Militärgefängnis riskieren werde“. Zu meiner Überraschung packte er seine Mappe ein und sagte, ich könne gehen. Ich grüßte und ging in einem leichten Bogen zur Ausgangstür, man durfte einem Offizier ja nicht den Rücken kehren. Bevor ich die Tür erreicht hatte, rief er meinem für Rumänen schwer aussprechenden Namen: „Waldenmayer!“ „Zu Befehl, Herr Oberst“. Etwas heiter sagte er: „Mach keine Dummheiten fünf vor zwölf“. Ich grüßte wortlos und ging. Mein Eindruck war, der Mann hat eigentlich seine Pflicht getan. Ein Gedanke ließ mich nicht mehr los: Das Spinnennetz um mich wird immer dichter. Sie sind überall, sie kreisen mich ein und jagen mich. Sie werden versuchen, mich zu erniedrigen und zu erpressen. Sie werden mich verfolgen und bedrohen. Es ist da, du siehst es nicht, und du kannst dich nicht dagegen wehren. Aus einem Spinnennetz gibt es kein Entkommen. Was bleibt dir weiter übrig, als das Terrain zu verlassen?
Fristgerecht und menschlich sehr verändert wurde ich im Juni ins Zivilleben entlassen. Eigenschaften wie Eigendisziplin, Teamfähigkeit und Verantwortung für andere zu übernehmen waren mir vor dem Militärdienst fremd. Nun besaß ich sie, und zwar für immer. Viele dieser Eigenschaften haben zum Gelingen meiner Flucht beigetragen. Nun wurde ich allmählich auch in meiner Denkweise erwachsen, ganz geschafft habe ich es aber auch bis heute nicht. In jenem Sommer genoss ich meine Freiheit und beschloss, erst einmal die letzten Monate zu verarbeiten und über meine Zukunft nachzudenken. Im Kreise meiner Freunde wurde ich herzlich begrüßt, einige Partys wurden nachgeholt. In dieser Zeit habe ich die Liebe nicht vermisst. Die weibliche Gesellschaft während meiner Militärzeit hat mir aber sehr gefehlt. Nun waren sie wieder da, die schönen Frauen. Die weichen Stimmen, Körper, die gestreichelt werden wollen, und Seelen, die die Liebe suchen.
Die wirtschaftliche Lage Mitte der 1970er Jahre wurde zusehends schlechter, was die Regierung dazu bewog, für die Erteilung der Ausreisegenehmigung deutscher Familien von der Bundesrepublik Deutschland Kopfgelder zu kassieren. Bis zu 15.000 Familien durften jährlich nach Deutschland ausreisen. Es hat sich ein gewaltiger Korruptionsapparat gebildet, vom Dorfpolizisten bis hin zur Passbehörde, die hohe Summen für leere Versprechungen kassierten und dabei viele ausreisewillige Familien um ihre letzten Ersparnisse brachten. Die Reihen in meinem Bekanntenkreis haben sich zu lichten begonnen. Dabei dachte ich
immer öfter über die Zukunft der einst so starken deutschen Gemeinde nach, die sich allmählich auflöste. Die verlassenen Häuser der ausgewanderten Familien wurden von Rumänen besetzt, die im Vergleich zu den ansässigen Rumänen den Umgang mit der deutschen Minderheit nicht kannten. Das früher gut funktionierende Miteinander geriet ins Wanken, selbst die alteingesessenen Rumänen kamen mit den neuen Siedlern nicht zurecht.
Der Freiheitsgedanke verfolgte mich immer mehr und bestimmte letztendlich mein Leben. Inzwischen war ich fest entschlossen, meine Zukunft nicht in Rumänien zu planen. Dazu durfte ich mich nicht emotional binden, mit anderen Worten keine Familie gründen. Das würde mir bei dem Versuch, das Land illegal zu verlassen, nur hinderlich sein und mich seelisch zusätzlich belasten. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Fluchtversuch erwischt oder sogar erschossen zu werden, war sehr groß. Doch darüber machte ich mir weniger Gedanken, ich wollte nur noch weg. Es gab nur zwei Möglichkeiten: legal oder illegal. Die erste Möglichkeit schied aus, da ich keine Verwandten ersten Grades in Deutschland hatte. Dies war die Bedingung, um überhaupt einen Ausreiseantrag stellen zu können. Die zweite Methode war die, mit einem Touristenvisum einen Verwandten zu besuchen und nicht zurückzukehren. Dann konnte der Rest der Familie nach zwei bis drei Jahren nachreisen. Es war die sicherste Methode, unversehrt zu bleiben. Die Mutter meines Freundes Gerhardt (Gery) Backin hatte sich für diese Variante entschieden, und so durften im April 1977 er und sein Vater ausreisen.
Meine Mutter war damals Chefin eines wichtigen Vorzeigebetriebes und hatte durch ihre Position eine gute berufliche Beziehung zum ersten Sekretär des Kreises Temesch. Das war der mächtigste Mann im Landkreis, und ich sah darin eine Chance, durch seinen Einfluss ein Besuchervisum für meine Mutter zu erhalten. Meine Mutter war der festen Überzeugung, dass es kein Problem für sie wäre, ein Visum zu bekommen. Nun wollte ich meine Mutter überzeugen, diese Gelegenheit wahrzunehmen und einen Pass für Deutschland zu beantragen. Ich versuchte noch einmal, ihr die allgemeine Lage, vor allem die Perspektivlosigkeit der deutschen Volksgruppe und insbesondere die meine darzustellen. Entsetzt von meinem Plan, hat sie in einem sehr bestimmenden Ton meinen Vorschlag abgelehnt, worauf sich ein erbittertes Wortgefecht zwischen uns entwickelte. Schließlich verließ ich voller Groll unser Haus in Guttenbrunn und fuhr nach Temeswar zurück. Nun wusste ich, dass diese Möglichkeit ausschied. Meine Eltern konnte ich nicht für meine Sache gewinnen. Im Gegenteil, beide glaubten immer noch, dass alles nicht so schlimm sei. Irgendwie konnte ich ihr Handeln auch verstehen. Beide in guter beruflicher Stellung, über 50 Jahre alt, wollten sie ihren kleinen Wohlstand nicht für eine unsichere Zukunft in Deutschland eintauschen. Bei mir war das anders. Ich fragte mich, wie meine Zukunft aussehen wird. Ich stand am Anfang meines
Berufslebens. Mittlerweile war ich 25 Jahre alt, ein anderer Weg musste gefunden werden. Ich hatte schon wieder eine Idee. 1969 war meine Tante überraschenderweise nach Deutschland übersiedelt. Sie war zusammen mit meinen Eltern im Arbeitslager in der Ukraine und hatte seit meiner Geburt eine innige Beziehung zu mir, die heute noch besteht. Als Kind und Jugendlicher verbrachte ich stets einen Teil der Sommerferien bei ihr in Temeswar. Sie behandelte mich wie ihr eigenes Kind. Auch nach ihrer Ausreise riss der Kontakt zu ihr nicht ab. Im Sommer 1976 hatte sie zu einem Familientreffen am Schwarzen Meer eingeladen. Von Deutschland aus reservierte sie die nötigen Zimmer, und alle freuten sich aufs Wiedersehen. So ein Urlaub, und dazu noch kostenlos, war allen willkommen.
Die geplante Scheinheirat platzt
Dieses Treffen wollte ich nutzen, um eine andere Möglichkeit zu finden, das Land zu verlassen. In einem vertraulichen Gespräch schilderte ich ihr unter Tränen meine Verzweiflung, die sie auch verstand. „Wie kann ich dir helfen?“ hat sie gefragt. „Ich habe einen Plan“, sagte ich. „Suche eine junge Frau, die bereit wäre, für einen gewissen Geldbetrag mit mir eine Scheinehe einzugehen.“ Sie musste nicht lange nachdenken, dann sagte sie: „Ich kenne eine junge Frau, mit der werde ich sprechen“ . Es war eine Nachbarin, die alle Voraussetzungen dafür erfüllte. Ledig, ungebunden und bedürftig. Voller Hoffnung genoss ich die weiteren Urlaubstage und verbrachte einige Zeit mit meiner alten Beschäftigung, dem Devisenhandel. Diesmal lief ich nicht Gefahr, erwischt zu werden, da meine Tante das Geld aufbewahrte. Meine letzten Worte beim Abschied waren: „Vergeis mich nicht, hol’ mich hier raus“.
Es dauerte nicht lange, und der erste Brief kam mit der positiven Nachricht, dass Monika bereit sei, mir zu helfen. Um kein Aufsehen bei der Securitate zu erregen - die Briefe wurden zensiert -, hatten wir vereinbart, nichts Auffälliges zu schreiben. Brisante Nachrichten wurden von Besuchern aus dem Westen über die Grenze geschmuggelt. Ich stellte einen Antrag auf Heiratsgenehmigung. Die Prozedur war sehr kompliziert, und es dauerte fast ein halbes Jahr, bis alles erledigt war. Ich arbeitete im Dreischichtbetrieb in der Firma „Elektromotor“ und versuchte, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Es gab täglich neue Nachrichten über Freunde oder Bekannte, die eine Ausreisegenehmigung erhielten, oder Personen, denen die Flucht in den Westen gelungen war. Aber auch Nachrichten über Gefangennahmen oder Erschießungen an der Grenze waren nicht selten. Einen Arbeitskollegen, dem die Flucht nach Jugoslawien gelungen war, haben die Serben nach einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe zurückgeschickt. Nach der Auslieferung haben Grenzsoldaten ihn krankenhausreif geschlagen, nach seiner Genesung übernahm ihn die Securitate. Im Keller der
Dienststelle schlugen mehrere Beamte abwechselnd stundenlang auf ihn ein. Mit Platzwunden und entstelltem Gesicht musste er weiter arbeiten und wurde zur Abschreckung der ganzen Belegschaft vorgeführt.
Es verging kaum ein Tag, an dem das Thema Ausreise nicht auf der Tagesordnung war. Ganz gleich, ob Deutsche, Rumänen oder Ungarn, alle beteiligten sich an den Diskussionen. Ein Hauch von Neid, besonders der Rumänen, war deutlich zu erkennen. Unzufrieden mit dem Leben und der Politik, hatten nur sehr wenige Rumänen das Glück, die ersehnte Freiheit in einem anderen Teil der Welt zu erlangen. Der Preis dafür war hoch. Die Heimat einmal aufgegeben, mussten sie eine fremde Sprache erlernen, sich einem anderen Kulturkreis anschließen und als Staatenlose oder Asylanten oft viele Jahre fern der Heimat leben. Sie lebten in Freiheit, aber nach neuen Regeln und Gesetzen. Waren diese Menschen auch innerlich frei? Ich glaube nicht.
Im Laufe der Jahre wagten immer mehr diesen Schritt; einer von ihnen war der Führer unserer Fluchtgruppe. Wir Deutschen hatten es wesentlich einfacher. Wir kamen zurück zu unseren Wurzeln, wir kamen in das Land unserer Ahnen, deren Sprache und Kultur wir seit 200 Jahren pflegten und auch unter schwerstem politischen Zwang nicht aufgegeben haben. Schon einmal, unter der Habsburger Monarchie, hat man versucht, die Banater Schwaben zu Ungarn zu machen, was nicht gelungen ist.
Im Frühsommer des nächsten Jahres schrieb mir Monika, dass sie als Reiseleiterin bei einer großen deutschen Reisegesellschaft am Schwarzen Meer arbeiten werde, so dass wir uns nun auch persönlich kennenlernen könnten. Ich war sehr gespannt, wie sie aussieht und wie sie charakterlich sein mag. An eine dauerhafte Ehe habe ich nicht gedacht. In dieser Zeit hatte ich eine Freundin, die mich sehr liebte und der ich teilweise verfallen war. Sie hieß Marika und arbeitete in demselben Betrieb wie ich. Es war eine seltsame Verbindung, sie war Ungarin, ich Deutscher, und wir unterhielten uns auf Rumänisch. Es war lustig anzuhören, wie wir uns auf Rumänisch mit ausgeprägtem Akzent unterhielten, ich mit deutschem, sie mit ungarischem. Meine Ausreisepläne und Fluchtgedanken vor meiner Freundin geheim zu halten war aus zweierlei Gründen eine große Belastung für mich. Zum einen wollte ich sie nicht kränken, zum anderen hatte ich Gewissensbisse, was für ein Schurke ich doch bin. Ich wusste, dass eines Tages die Zeit der Trennung kommen würde, so oder so, da wir sehr unterschiedliche Charaktere waren und überhaupt nicht zusammenpassten. Auch das kulturelle Niveau war ungleich, und ich habe mich oft gefragt, warum er diese Beziehung nicht beende. Einige Male habe ich es versucht, doch ich bin ihrem verführerischen Blick und ihrem hohen Sexappeal jedes Mal erlegen.
Im Juli fuhr ich ans Schwarze Meer und traf Monika. Eine große Frau, Mitte 20, mit blondgelocktem Haar stand vor mir. Ich stellte mich vor, und ein wenig überrascht schaute sie mich an, da sie auf meinen plötzlichen Besuch nicht vor-
bereitet war. Es musste alles geheim bleiben, dadurch konnte ich meinen Besuch nicht ankündigen. Sie lud mich auf ihr Zimmer ein, und ich durfte mich nach einer langen anstrengenden Reise duschen. Sie sagte, ich könne für die Dauer meines Aufenthaltes bei ihr übernachten, somit war eine aufwendige Herbergssuche überflüssig. Ich hatte nur eine Woche Urlaub, aber er reichte, um die Vorgehensweise der Eheschließung zu besprechen. Am nächsten Tag arbeitete sie mit den Reisegruppen, während ich es mir am Strand gemütlich machte. Die Zeit verging im Schneckentempo, ich langweilte mich und konnte an nichts Freude haben. Zu wirr waren meine Gedanken, die Ungewissheit, wie sie reagieren würde, belastete mich. Müde kam sie nach einem 14-Stunden-Tag von der Arbeit. Zum Ausklang des Tages tranken wir Rotwein auf dem Balkon, und ich musste ansehen, wie eine schöne Frau in einem durchsichtigen Überhang mir gegenüber saß und mir lächelnd zuprostete. Ich brannte vor Verlangen, mit ihr zu schlafen, doch sie wehrte geschickt jeden Annäherungsversuch ab. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit mir spielte.
Es waren noch drei Tage bis zu meiner Abreise. Am ersten Abend ergab sich nicht die passende Gelegenheit, mein wichtigstes Problem, Scheinehe, mit ihr zu besprechen. Ich hatte ein unheimliches Verlangen, mit ihr zu schlafen. Durch unbedachtes Handeln kann man viel kaputt machen, sagte ich mir, so dass ich die zweite Nacht ebenfalls allein zu Bett ging. Das war fast schon Folter, erst spät nach Mitternacht schlief ich ein. Am nächsten Tag war ich allein unterwegs und verbrachte die meiste Zeit am Strand. Der Gedanke, wie ich in ihr Bett gelangen könnte, ließ mich nicht los, ich malte mir die tollsten Strategien aus und vergaß fast, wofür ich eigentlich gekommen war. An diesem Abend beschloss ich, über unsere Heirat zu sprechen. Auch diesmal saßen wir auf der Terrasse bei Rotwein. Es war überhaupt nicht aufregend, weil alles nur ein Geschäft war und Gefühle keine Rolle spielten. Es hat nicht lange gedauert, und alles war besprochen. Wir tranken auf ein gutes Gelingen, und ich küsste sie auf die Wange.
Nach ein paar Gläsern Wein war mein Begehren wieder da, doch das Spiel vom Vorabend schien sich zu wiederholen, und so kam es auch. Ich musste wie ein Bettler mit leerer Mütze allein zu Bett gehen. Die Zeit rannte mir davon, und ich erkannte, dass alles Buhlen umsonst war. Es war der letzte Abend und meine letzte Chance. Wir saßen wieder wie gewohnt auf dem Balkon und tranken Wein. Ich hatte längst gemerkt, dass der Alkohol keine positive Wirkung auf mich hatte, und entschloss mich, auf der Basis menschlicher Vernunft doch noch mein Ziel zu erreichen. Ich schaute sie an und sagte: „Du hast doch sicherlich bemerkt, wie ich dich begehre, lass uns doch, ohne jegliche Verpflichtung, einmal miteinander schlafen. Wir lieben uns zwar nicht, aber wir könnten beide Spaß daran haben“. Sie lächelte, kam zu mir und küsste mich auf die Wange. Ich hielt sie fest und zog sie sanft auf meinen Schoß. Danach küsste ich sie auf
den Mund. Meine Geduld hat sich gelohnt, jetzt ist die Katze im Sack, habe ich mir gedacht und füllte die leeren Weingläser nach. Nur nichts überstürzen. Endlich wurde mir das Reden doch zu viel, ich hörte ihr nicht mehr zu, meine Gedanken drehten sich nur noch um Sex. Wir standen angelehnt an das Geländer des Balkons und schauten in die Nacht. Ich küsste sie, und sie lies es geschehen. Begeisterung ihrerseits konnte ich zu meinem Bedauern nicht erkennen. Dann kam sie näher, nahm mein Gesicht in beide Hände, küsste mich auf die Wange und sagte: „Das war’s“. Es war das Ende eines rätselhaften Abends, an den ich noch lange denken musste. Die Frauen sind eben ein ewiges Geheimnis, das wir nicht ergründen können. Das macht sie vielleicht so attraktiv. Am nächsten Morgen haben wir uns verabschiedet. Ich sollte sie nie wieder sehen.
Zurück in Temeswar, nahm der Alltag seinen gewohnten Lauf. Eines Tages hat mein Chef mich wieder zu sich ins Büro bestellt. Ich erhielt die Aufforderung, umgehend bei der Securitate vorzusprechen. Es war schon das dritte Mal, dass ich zu einem Gespräch vorgeladen wurde. Leise fluchend verließ ich den Raum. Zur Routine kann so eine Vorladung nicht werden, jedes Mal hatte ich ein Kribbeln im Bauch, denn man wusste nie, was einen erwartet. Diesmal brachte man mich in einen Keller. Es gab kein Fenster, die Wände waren aus rohem Beton, eine schwere Tür schloss sich hinter mir. Ein alter Holzschreibtisch mit einer Stehlampe und zwei Stühle standen in einer Ecke. Ich wartete. Es verging eine Viertelstunde, als die Tür aufging und ein Hüne mit schwarzem Haar und braungebranntem Gesicht mir freundlich die Hand reichte. Höflich bot er mir Platz an, als wäre ich sein Freund. Er stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor. Major. Nun wusste ich, das ist ein anderes Kaliber als die bisherigen Handlanger mit niedrigem Dienstgrad. Aber ich wusste auch: Ich hatte nichts Unrechtes getan. Nach einer Weile des Schweigens griff er in die Schublade und schob mir einen Schreibblock und einen Kugelschreiber zu. Ich schaute verunsichert zu ihm hinüber, sagte aber kein Wort. Die Ohnmacht ließ in mir Wut hochkommen, und ich versuchte, dies zu verbergen.
Nun begann er in einem protokollarischen Ton, einige Fragen zu stellen, auf die er die Antwort längst kannte: Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort, Arbeitsplatz. Aha, dachte ich mir, eine Akte wird angelegt. Er fragte mich allgemeine Dinge, zum Beispiel, was ich in meiner Freizeit tun würde und über Kontakte zu Ausländern. Meine Antworten waren ehrlich, und jedes Mal habe ich betont, dass ich damit nicht gegen geltendes Recht verstoße. Dann sprach er meinen Heiratsantrag an und wollte wissen, warum ich ihn gestellt habe. Ich sagte, ich sei verliebt und wolle die Frau eben aus diesem Grund heiraten. Ich war selbst von meiner kaltschnäuzigen Lüge überrascht. Er erzählte im Flüsterton von den schönen Mädchen in Rumänien, die quasi auf so einen hübschen Kerl wie mich warten würden. Er kam mit seinem nach billigem Rasierwasser riechenden Gesicht immer näher, was mich anekelte. Trotz seines nach Knoblauch stinkenden
Atems beugte ich mich ein wenig vor. Meine Nasenspitze berührte fast sein Gesicht, und ebenfalls im Flüsterton sagte ich: „Sie haben recht, Genosse Major, aber ich liebe sie nicht, all die schönen Mädchen“. Er hat wohl gemerkt, dass ich das ganze Geschwätz nicht ernst nahm und sprang plötzlich auf, schrie mich wie ein Irrer an: „Du gehst jetzt sofort zum Friseur und meldest dich anschließend bei mir. Ich gebe dir zehn Minuten“.
Überrascht und völlig verunsichert schaute ich ihn an und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sah keinen Zusammenhang mit unserem Gespräch. Ich stand da und rührte mich nicht von der Stelle. Dann packte er mich mit seinen riesigen Händen am Nacken und stieß mich zur Tür hinaus. Nochmals schrie er: „Zehn Minuten“. Ich wusste, er hatte sich verarscht gefühlt, aber er konnte mir nichts anhängen. So rächte er sich auf diese Weise. Beim Friseur hatte ich den Eindruck, dass der schon wusste, welcher Kunde ich war. Fast mitleidvoll fragte er mich, ob ich freiwillig hier sei. Meine schulterlange Haarpracht war in Nullkommanichts weg, ich sah aus wie eine gerupfte Henne. Ich ging zurück und meldete mich an der Pforte. Wieder wurde ich abgeholt und in den Keller geführt. Sein hämisches Grinsen und die spöttischen Bemerkungen zeigten mir, wie recht- und hilflos ein Mensch sein kann. Seinem Spott ausgeliefert, stand ich da und hatte nur noch einen einzigen Gedanken. Der Zorn, den ich nicht zeigen durfte, zermürbte mich, und ich wusste, dass dies beabsichtigt war. Instinktiv spürte ich, dass er einen Anlass suchte, auf mich einzuprügeln. Diesmal hatte ich Angst. Mein Gesichtsausdruck war regungslos. Anstatt demütig auf den Boden zu blicken, schaute ich ihm in die Augen. Tränen der Wut flossen über meine Wangen, die ich nicht wegwischte. Das gefiel ihm gar nicht, aber es gab keinen Grund, den Gummiknüppel zu benutzen. Zum Schluss legte er den Schlagstock am Halsansatz auf meine linke Schulter und sagte: „Wenn du es wagst, das Land illegal zu verlassen, dann wirst du mit dem da Bekanntschaft machen“. Aus seiner Sicht gedemütigt, verließ ich nach Aufforderung den Raum. Als ich mich von meinem Stuhl erhob, sah ich die erste Seite meiner neu angelegten Akte. Rechts oben war ein Foto von mir, dasselbe hatte ich meinen Bewerbungsunterlagen beigelegt. Anschließend schlenderte ich durch die Stadt, ich hatte nur noch einen Gedanken: Raus aus diesem Land, egal, wie und ganz gleich, wie hoch das Risiko sein mag. Ich klammerte mich an die Möglichkeit der Eheschließung.
Es vergingen einige Wochen, und eines Tages, kurz vor Weihnachten, kam die frohe Botschaft von meiner Mutter, dass meine Heiratsgenehmigung erteilt worden ist. Das Gefühl kann man nicht beschreiben, das man dabei empfindet. Freiheit, ein neues Leben beginnen, und allen Frust vergessen. Schlimm war nur: Ich durfte mit niemandem darüber sprechen. Alles weitere musste ohne Aufsehen abgewickelt werden. Die kalte Dusche kam zwei Wochen später, meine Tante schrieb mir, Monika sei verlobt und ziehe das Heiratsversprechen
zurück. Ich stand da und konnte so viel Pech nicht begreifen. Jahrelange Arbeit, Geduld und Hoffnung waren dahin. Zum ersten Mal fühlte ich eine bittere Enttäuschung und ein Gefühl der Hilflosigkeit. Fast hätte ich resigniert. In dieser Zeit hatte ich nicht mehr die Kraft und den Willen, an weiteren Plänen zu arbeiten.
Mein Freund Gery Backin wartete auf die Ausreisegenehmigung, die schon als sicher galt. Er war stets über alles, was ich unternahm, informiert und versuchte, mich aufzumuntern. In meiner Verzweiflung flehte ich ihn an, in Deutschland alles zu tun, um mich aus Rumänien herauszuholen. Er versprach es mir, worauf ich wieder einen Hoffnungsschimmer sah. Im April 1977 verließen er und sein Vater die alte Heimat auf legale Weise, um mit der Mutter, die sie seit drei Jahren erwartete, wieder vereint zu sein. Seine neue Heimat wurde Regensburg.
Der Abschied von meinem besten Freund war einer der schwersten Momente in meinem Leben. Es war keine Trauer, sondern nur Wehmut, die mich ergriff. Aber nun hatte ich jemanden, von dem ich wusste, er würde alles Mögliche tun, um mich herauszuholen. Ich machte mir auch keine Gedanken, auf welche Art und Weise das geschehen sollte. Und dann ging alles plötzlich sehr schnell. Eine Reihe glücklicher Zufälle, eine perfekte Organisation und ein fehlerfreies Zusammenspiel vieler Komponenten machten eine spektakuläre und vielleicht einzigartige Flucht dreier sehr unterschiedlicher Personen möglich.
Der Weg in die Freiheit
Am 14. August 1978, es war ein Montag, hatte ich Frühschicht. Damit mein Fernbleiben vom Arbeitsplatz am Tag der Flucht so spät wie möglich Aufsehen erregt, habe ich für diese Woche die Schicht mit meinem Kollegen am Qualitätsprüfstand getauscht. Am nächsten Tag sollte ich um 15 Uhr wieder den Prüfstand übernehmen, doch ich erschien nicht an meinem Arbeitsplatz. Meine Zuverlässigkeit war meinen Kollegen bekannt, deshalb konnte es für sie nur einen Grund für mein Nichterscheinen geben, nämlich, dass ich krank sei. Darauf habe ich spekuliert, meine Vermutung hat sich bewahrheitet. Als nach zwei Tagen noch immer keine Krankmeldung eingegangen war, hat man versucht, mich telefonisch zu erreichen. Als nach drei Tagen immer noch keine Nachricht von mir vorlag, versuchten Angestellte des Personalbüros, meine Eltern zu kontaktieren. Diese konnten auch keine Auskunft geben, da sie nicht wussten, wo ich war. Meiner Freundin habe ich gesagt, dass ich mit meinem Cousin Dan für ein paar Tage zu meinen Eltern nach Guttenbrunn fahren würde. Weil auch meine Freundin befragt wurde, ergab sich ein verdachtvoller Widerspruch.
Doch zurück zu jenem Samstag, meinem vorletzten Arbeitstag: Wir saßen in der Pause zusammen und diskutierten wieder über die Ausreise der Deutschen
in die Bundesrepublik. Immer mehr durften das Land verlassen, der Ausverkauf hatte begonnen. Der Neid der Rumänen war nicht zu übersehen und zu überhören. Mein Wunsch, nach Deutschland zu gelangen, war vielen meiner Kollegen bekannt. Dafür wurde ich immer wieder belächelt und verspottet, da mein gescheiterter Heiratsversuch mittlerweile bekannt war. Ein Kollege stellte zum Schluss die zynische Frage: „Na, Deutscher, wann fährst du nach Deutschland?“ „Morgen“, habe ich geantwortet, und wir lachten überlaut. Es klang wie ein guter Scherz, so war es auch von mir beabsichtigt. Keiner hat bemerkt, dass meine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Mein Mitlachen war echt und falsch zugleich. In diesem Moment dachte ich: „Ihr armen Schweine, in ein paar Tagen wird euch das Lachen vergehen, und ihr werdet Hilfe brauchen, euren Unterkiefer hochzuklappen“. Einer meiner Freunde klopfte mir mitleidsvoll auf die Schulter und sagte: „Sei nicht traurig Fredy, auch dein Tag wird einmal kommen“. „Ja“, sagte ich, „vielleicht schon morgen“. Dann ging ich an meinen Arbeitsplatz und war mit meinen Gedanken allein.
Und so war mein letzter Arbeitstag: Um 15 Uhr war Schichtwechsel. Meine beiden Kollegen übergaben mir routinemäßig den Prüfstand, und wir besprachen kurz, was an diesem Tag zu tun sei. Ich arbeitete unauffällig, mit erhöhtem Tempo, nach getaner Arbeit fragt keiner, wo der Kontrolleur ist. So konnte ich schon vor Schichtende nach Hause gehen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.
Um 18 Uhr war Brotzeitpause. Ich verließ die Firma unbemerkt, indem ich über eine Mauer auf das Nachbargrundstück sprang. So konnte mich der Pförtner nicht weggehen sehen. Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, weil mir mein Führerschein wegen eines Verkehrsdeliktes für einen Monat entzogen worden war. Auf dem Heimweg traf ich einen Freund aus meiner Clique. Es war ein Ungar, dem ich voll vertrauen konnte. Ihm sagte ich kurz und bündig: „Heute Nacht werde ich einen Fluchtversuch unternehmen, grüße bitte alle meine Freunde“.
Der Ton und das Vibrieren meiner Stimme ließen keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit meiner Aussage. „Du spielst mit deinem Leben“, sagte er, „aber ich wünsche dir viel Glück dabei.“ Er meinte es ehrlich.
In meiner Wohnung war nichts Auffälliges erkennbar. Ich hatte meine bescheidene Ausrüstung schon vorbereitet und im Schrank versteckt, so dass meine Freundin Marika keinen Verdacht schöpfen konnte. Sie bestand aus einem grünen Rucksack, einem Fernglas und einem Kompass. Mein Proviant war recht bescheiden: eine Salami, ein Glas Pfirsichkompott und Beruhigungstabletten von meinem Hausarzt. Die Kleidung war unauffällig, ich achtete auf gute Tarnfarben: Eine graugrüne Hose, einen grünen Parka und ein Paar alte Tennisschuhe. Die neuen, extra dafür gekauften Sportschuhe verursachten mir beim Probegehen Blasen.
19 Uhr: Gery war mit seinem Opel Kadett GTE schon bei mir. Wir unterhielten uns über ein Erkennungszeichen in Jugoslawien. Ich fand schnell eine Lösung, in der Nacht geht das nur über die Autoscheinwerfer. Wir mussten das Fahrzeug identifizieren, ohne es zu sehen, und uns danach bemerkbar machen. Dazu habe ich den rechten Nebelscheinwerfer abgeklemmt, die Wahrscheinlichkeit, dass ein zweites Fahrzeug nach Mitternacht mit drei Scheinwerfern sehr langsam die Straße entlang fährt, hielt ich für unmöglich. 20 Uhr: Dan und sein Freund Alex aus Kronstadt waren noch immer nicht angekommen, wir wussten aber, dass sie unterwegs waren. Gery, meine Freundin Marika und ich standen vor unserem Haus und warteten auf die Ankunft meines angeblichen Cousins. Meiner Freundin hatte ich gesagt, dass wir noch an diesem Abend zu meinen Eltern nach Guttenbrunn fahren würden. Damit wollte ich bei ihr Misstrauen vermeiden.
Sie war an diesem Tag sehr unruhig und verhielt sich auch nicht wie sonst. Gery und ich waren äußerlich sehr ruhig, doch innerlich sehr angespannt. Das Warten auf Dan und Alex zehrte an unseren Nerven. Die Sorge um meine Eltern ließ mir keine Ruhe, und ich entschied mich, einen mir sehr vertrauten Menschen über meine bevorstehende Flucht einzuweihen. Falls etwas schief ging, sollten meine Eltern von ihm Bescheid erhalten. Es war ein Rumäne; er wohnte im selben Haus, außerdem kannte er meine Eltern sehr gut. Ich bat ihn, nach vier Tagen meine Eltern aufzusuchen und sie über unsere Flucht zu informieren. Er war sehr überrascht und versprach mir, dies zu tun. Er sagte: „Fredy, tu das nicht, hast du vergessen, was im Juni passiert ist?“ Mir war damals nicht bewusst, dass ich ihn unwillkürlich zu meinem Komplizen gemacht hatte.
Ich ging wieder auf die Straße, wo Gery neben seinem Auto stand. Meine Freundin, die ihn sehr gut kannte, stand bei ihm und weinte. Als ich mich ihnen näherte, beendete sie das Gespräch und rannte in die Wohnung. Ich fragte, was geschehen sei, warum sie weinte. Gery sagte mir, sie hätte ihn angefleht, mich nicht mitzunehmen, sie hätte Angst, mich zu verlieren. In den drei Wochen der Vorbereitung war ich sehr vorsichtig, um mich nicht durch mein Verhalten zu verraten. Drei Monate zuvor hatte ich mir eine Eigentumswohnung im Nachbarhaus gekauft, die ich renovierte. Selbst als ich mich für die Flucht entschieden hatte, habe ich die Renovierungsarbeiten planmäßig fortgeführt, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Nun sagte der Instinkt dieser Frau, dass sie ihre Liebe verlieren wird, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gab. In jenem Augenblick wusste ich nicht, was ich sagen sollte, ich war sehr verblüfft. Deshalb habe ich so getan, als hätte ich nichts bemerkt. Ihr hilfloser Blick tat mir sehr weh. Ich wusste, ich habe sie belogen und im Stich gelassen. Unabhängig vom Ausgang dieser Aktion wird für sie und für mich ein neues Leben beginnen. Ich wusste auch, das war das Ende einer unglücklichen Beziehung, die schon seit drei Jahren dauerte. Eine Beziehung, getragen von Liebe und Leidenschaft, zer-
stört durch Untreue und Eifersucht. Das Schicksal hat mir zur Trennung verholfen, zu der ich allein nicht fähig war. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Bei aller Gefühlsregung mussten wir zur Tagesordnung übergehen und mit den Vorbereitungen fortfahren. Ein Päckchen mit Kleidern hatte ich schon vorbereitet und legte diese in Gerys Wagen. Jenseits der Grenze würde ich außer einer nassen Badehose nichts besitzen. Meinen Personalausweis hatte ich in Folie wasserdicht verpackt, um ihn später bei der Überquerung der Donau vor Nässe zu schützen. Ein paar Mark gab ich Gery zur Aufbewahrung. 21 Uhr: Gery und ich standen immer noch auf der Straße und warteten auf die Ankunft von Dan und Alex. Die Abfahrt zur Grenze war für 23.30 Uhr vorgesehen, weil Kid bis 23 Uhr arbeiten musste.
Nach einer belanglosen Unterhaltung kam endlich ein hellgrauer Wagen der Marke Dacia mit Kronstädter Kennzeichen um die Ecke gefahren. Wir wussten, das sind unsere Freunde. Wir haben uns herzlich umarmt, um den Anschein zu erwecken, dass wir uns schon lange kennen. Ich habe Dan als meinen Cousin vorgestellt, und der fragte gleich, wie es Onkel und Tante geht und wann wir sie besuchen werden. Ich sagte, sie warten schon, wir fahren heute noch nach Guttenbrunn. Dann haben wir eine Kleinigkeit gegessen und uns gegenseitig gemustert. Dan erzählte von seinem großen Hobby, dem Schwimmen. Ich sagte, ich sei auch ein recht guter Schwimmer, besonders gern mag ich Nachtschwimmen. Dass ich fit für die anstrengenden folgenden Tage sein werde, musste er bemerkt haben. Meine Freundin und meine Vermieterin, die ebenfalls anwesend waren, unterhielten sich miteinander in ungarischer Sprache. Sie hatten kein Interesse an unserem Gespräch, und das war gut so. Es war von Anfang an klar, dass Dan der Kopf dieser Aktion war. Er strahlte Sicherheit und Selbstbewusstsein aus. Kid und ich waren Trittbrettfahrer auf dem Zug in die Freiheit.
Dann die große Überraschung: Gery wollte mich unter vier Augen sprechen und gestand mir, dass Dan noch gar nicht wisse, dass Kid mitkommen wird. Fünf Wochen zuvor war Gery zusammen mit seiner Freundin bei Dan, um den Fluchtplan zu besprechen, wobei sich Gery anbot, ihn von Jugoslawien nach Deutschland zu bringen. Die Bedingung war, er solle mich mitnehmen. Damit war Dan einverstanden. Von Kid hat er ihm nichts gesagt, aus Angst, er würde sich weigern, sie mitzunehmen. Ursprünglich wollte Dan am Tag nach Gerys Besuch in Kronstadt zur Grenze aufbrechen. Gerys Hilfsangebot erleichterte die Probleme jenseits der Grenze erheblich, so dass er seinen Aufbruch auf den 14. August verschob. Diesem glücklichen Zufall habe ich es zu verdanken, dass ich an der Flucht teilnehmen konnte. Wir waren fertig mit dem Packen, Alex und Dan drängten zum Aufbruch. Da war noch die Sache mit Kid zu klären. Wir mussten Dan überzeugen, auch Kid mitzunehmen. Überrascht von der neuen Situation sah er sich hintergangen und war verärgert. Es muss mit dem Tod gerechnet werden, und er wollte die Verantwortung für ein minderjähriges Mädchen
nicht übernehmen. Er weigerte sich vehement, das Mädchen mitzunehmen. Nach längerem Zureden gelang es Gery unter Androhung, alles platzen zu lassen, Dan dazu zu bewegen, Kid doch mitzunehmen. Dass sie erst seit zwei Wochen mehr schlecht als recht schwimmen konnte, haben wir ihm verschwiegen. Aufgrund der neuen Situation forderte Dan von uns, einige Regeln zu beachten. Gemeinsam, in Abwesenheit von Kid, sie war in der Arbeit, trafen wir folgende Vereinbarungen: Unsere Familiennamen und Adressen werden wir untereinander nicht bekanntgeben, um bei einer eventuellen Festnahme nichts über den anderen aussagen zu können. Wir haben geschworen, bei einem Unfall mindestens 24 Stunden im Gelände zu verharren, ohne Hilfe herbeizurufen, um die Flucht der anderen nicht zu gefährden. Letzter Punkt: Im Wasser ist jeder auf sich selbst angewiesen, droht einer zu ertrinken, wird ihm nicht geholfen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Das waren harte Übereinkünfte, doch Dan hatte schon Erfahrung mit so einer Situation. Es war sein zweiter Fluchtversuch. Beim ersten, mit seinem Bruder, musste er wegen eines verstauchten Knöchels aufgeben. Sein Bruder schaffte es allein, die Donau zu überqueren und heil nach Deutschland zu gelangen. 22 Uhr: Kid war noch in der Firma. Die letzte Stunde vor dem Aufbruch hatte begonnen. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Kids Rucksack mit der Schwimmweste hatten wir auch schon umgeladen, ferner einen Kanister mit 20 Liter Benzin. Dann fiel mir ein, dass wir auch zwei Fischkonserven im Gepäck hatten, jedoch keinen Öffner. Ich ging in die Wohnung und wollte mein Taschenmesser aus der Schublade holen. Da fiel mir ein Küchenmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge auf. Das kann man vielleicht gut gebrauchen, dachte ich und nahm es mit. Gery stand neben mir, als ich es in meinen Rucksack einpacken wollte. Er fragte mich leicht entsetzt: „Was willst du mit dem Messer?“ Ich führte meinen rechten Zeigefinger an meine linke Halsschlagader, machte eine Bewegung nach rechts und sagte, es könnte Leben retten. Er nahm es und warf es in den Garten unseres Nachbarn. „Du bist ja verrückt“, sagte er. Ich sah meinen Irrtum schnell ein und lachte über meine Unüberlegtheit. Die Andeutung mit dem Zeigefinger sollte ein Scherz sein, was auch mein Freund so sah, aber die Situation war viel zu ernst, um darüber zu lachen. Tatsache ist, dass selbst ein harmloses Taschenmesser bei einer Verhaftung als Waffe angesehen wird und die Folgen dadurch nur noch schlimmer wären. In meiner Aufregung habe ich mein Taschenmesser dann doch vergessen, das sollte sich rächen.
Um 23.30 Uhr holten wir Kid aus der Firma ab, sie hatte Spätschicht. Wir verabschiedeten uns von Gery und seinen Eltern in der Hoffnung auf ein Wiedersehen in zwei Tagen. Dieses Wiedersehen dauerte dann doch etwas länger. Kid und ich stiegen in den Dacia ein und fuhren am Bahnhof und an meiner Firma vorbei in Richtung Innenstadt. Ich nahm Abschied von meiner Lieblings-
stadt und zweiten Heimat, in der ich die letzten 16 Jahre gelebte hatte und viele Freunde und Erinnerungen zurückließ. Obwohl ich mich nach diesem Moment lange gesehnt hatte, fühlte ich mich sehr aufgewühlt. Meine Freunde bleiben hier, ich mach mich aus dem Staub wie ein Verräter. Viele schöne Erlebnisse gingen mir durch den Kopf, aber auch die Verhöre im Keller der Securitate. Ich dachte an die Schikanen am Arbeitsplatz wegen meiner Weigerung, Mitglied der kommunistischen Partei zu werden. Ich dachte an meine Freundin, die zu Hause vor dem Fernseher saß und vielleicht hoffte, dass ihre Ahnung eine Täuschung wäre. Im dunklen Wagen konnte keiner meine Tränen sehen. Die holprige Straße deutete darauf hin, dass wir den Stadtrand erreicht hatten. Sie rüttelte mich aus meiner Lethargie und holte mich in die Realität zurück.
Unserem Fahrer Alex und Dan war diese Stadt gleichgültig. Sie hatten keine Beziehung zu ihr, ihre Gedanken waren mit Sicherheit ganz wo anders. Ab jetzt lag das Gelingen der Flucht zum Großteil in ihren Händen. Alex hatte die Verantwortung, uns ins Grenzgebiet zu bringen und an einer ausgesuchten Stelle auszusetzen. Dan hatte von Beginn an die Führungsrolle, und zusammen mussten wir allein mit Hilfe eines Kompasses und viel Glück an die Donau gelangen. Wir hatten zwar einen Plan, jedoch konnte keiner wissen, ob dieser auch durchführbar sei. Wir glaubten daran, es kam aber ganz anders. Es war eine sternenklare Nacht, der Vollmond stand einsam am Himmel, kein Wölkchen minderte seine Leuchtkraft. Die Landschaft zog an uns vorbei. Ab und zu sprachen wir belangloses Zeug, um die Monotonie einigermaßen zu unterbrechen. Mittlerweile war Mitternacht vorbei, von Müdigkeit war nichts zu spüren. Zu hoch war die Anspannung. Einsam fuhren wir durch Lugosch (Lugoj), Kids Heimatstadt, in Richtung K Zufall, dass Kids Geburtsort auf unserer Route lag. So konnte auch sie sich in Gedanken von ihrer Stadt und ihrer Familie verabschieden. Was muss wohl im Kopf eines 19jährigen Mädchens vorgehen, das sich auf einer lebensgefährlichen Reise befindet, zu Mitternacht an ihrem Geburtshaus vorbeifährt, in dem die Eltern und der kleine Bruder, nichts ahnend, friedlich schlafen?
Ich saß neben ihr auf dem Rücksitz und konnte ihre Aufregung spüren. Bisher sehr ruhig, neigte sie ihren Kopf näher zum Fenster und beobachtete wortlos die vorbeiziehenden Gebäude. Ich streichelte über ihr Haar und sie begriff meine tröstende Geste. Bald schon fuhren wir wieder in die Einsamkeit der Nacht, die mir gespenstisch vorkam. Es mussten wohl zwei bis drei Stunden vergangen sein, als der Fahrer plötzlich abbremste und sich mit Dan aufgeregt unterhielt. Ich bekam lediglich mit, dass wir die Hauptstraße bald verlassen müssten. Sie waren sich nicht mehr sicher, welcher Weg der richtige war. Die Fahrt wurde auf einem unbefestigten Forstweg fortgesetzt. Die Bäume um uns herum wirkten wie tanzende Gespenster im Mondlicht. Ich hatte das Zeitgefühl schon längst verloren, was in dieser Situation auch keine Rolle mehr spielte. Alex und
Dan stiegen immer wieder aus, um die Umgebung zu erkunden. Mitten im Wald und im Dunkeln sah alles gleich aus. Endlich waren sich beide sicher, die richtige Stelle erreicht zu haben. Auch das war kein Zufall, die beiden hatten diese Stelle bei der Vorbereitung der Flucht ausgesucht. Wir stiegen aus, nahmen unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum und betankten den Wagen mit dem mitgebrachten Benzin. Alex, der Fahrer, verabschiedete sich von uns mit einer innigen Umarmung und verschwand im Dunkel der Nacht. Ursprünglich wollte er an dieser Flucht selbst teilnehmen, inzwischen hatte er aber die Ausreisegenehmigung in die USA erhalten. Wäre unsere Flucht misslungen, hätten ihm die Behörden seine Ausreise wegen Fluchthilfe verweigert und er wäre verurteilt worden. Er hatte diese Fahrt für seinen Freund riskiert. Ursprünglich war die Fahrt ins Grenzgebiet mit meinem Wagen geplant, doch zwei Tage vor der Abreise streikte mein „Moskwitsch“; er konnte so schnell nicht repariert werden.
Von nun an hieß es, alles oder nichts, ein Zurück war unmöglich. Der Mond stand noch voll am Himmel. Selten habe ich mich so hilflos und ausgeliefert gefühlt wie in dieser Stunde. Ich vertraute der guten Vorbereitung unseres Führers Dan, und obwohl ich nicht sehr fromm bin, bat ich um die Hilfe Gottes. Keiner von uns hat an ein Scheitern gedacht. Unser Optimismus war ungebrochen und nahm uns die Angst. Ich hatte zwar Beruhigungstabletten dabei, die ich mir für die Überquerung der Donau aufbewahrte. Jetzt hieß es, die zuvor auswendig gelernte, vage Wegbeschreibung umzusetzen. In der kommenden, spätestens in der darauf folgenden Nacht war ein Treffen mit Gery am jugoslawischen Ufer vereinbart. Der Treffpunkt war genau gekennzeichnet, so dass wir uns nicht verfehlen konnten. Sollten wir das nicht schaffen, so würde er mit seinen Eltern zurück nach Deutschland fahren, in der Gewissheit, die Flucht sei missglückt.
Querfeldein zur Donau
Nach kurzer Orientierung verließen wir den Waldweg und gingen querfeldein. Der Kompass und das Fernglas waren nun unsere besten Freunde. Vorerst brauchten wir den Kompass nicht, da wir glaubten, zu wissen, in welche Richtung wir gehen mussten. Die Landschaft war sehr hügelig, jedoch spärlich bewachsen. Weite Wiesenflächen boten gute Fernsicht, Fichtenwälder und Baumgruppen gute Deckung. Dorniges Gestrüpp und Sträucher behinderten das zügige Vorankommen. Steile Hänge zwangen uns oft zu großen Umwegen, wodurch viel Zeit verloren ging. Wir waren kaum drei Stunden unterwegs, als ich meine beiden Begleiter durch das dichte Gestrüpp nicht mehr sehen konnte. Ich hielt an und war ganz still, um sie zu orten, jedoch vergeblich. Wir hatten ausgemacht, uns nur im Flüsterton zu verständigen, was mich daran hinderte, den Kontakt durch lautes Zurufen wieder herzustellen. Die Angst packte mich
dann aber sehr schnell, ich musste den Anschluss schnell wieder finden. Durch immer lauteres Zurufen haben wir nach kurzer Zeit wieder zueinander gefunden. Obwohl meine beiden Freunde nicht einmal zehn Meter von mir entfernt waren, konnte ich sie weder sehen noch hören. Dies war uns eine Lehre für den weiteren Weg. Wir beschlossen, von nun an Sichtkontakt zu halten. Sollten wir uns dennoch trennen, dann kehren wir an den Ort zurück, wo wir zum letzten Mal beisammen waren.
Es war schon 11 Uhr, und unser großer Anhaltspunkt, ein Fernsehturm, war noch immer nicht in Sicht. Die Zeit verstrich sehr schnell, und wir kamen zu dem Schluss, dass wir an der falschen Stelle ausgesetzt worden waren. Unser mühevoll auswendig gelernter Plan war ab sofort Makulatur. Wir beschlossen, mit Hilfe des Kompasses an die Donau zu gelangen. Die Donau ist die Südgrenze des Landes, also war es nicht schwer, die Richtung zu halten. In der Mittagshitze kamen wir zügig voran. Wir peilten ein Ziel an und versuchten, dieses auf dem kürzesten Weg zu erreichen. Das waren Hügel, Berge, aber auch Bäume und Sträucher. Größere Freiflächen passierten wir kriechend durchs hohe Gras, um nicht gesehen zu werden. Dan und ich gingen abwechselnd auf Erkundungstour und beobachteten intensiv mit dem Fernglas die Gegend. Die beiden anderen warteten in Deckung auf die Rückkehr oder auf ein Zeichen, zu folgen. Manchmal stiegen wir auf Bäume, um einen besseren Überblick zu haben. Am Fuße eines Berges mussten wir eine große Wiese überqueren. Wir beobachteten das zu passierende Gelände, und vor allem die Umgebung. Diesmal waren wir nicht allein. Am Berghang sahen wir zwei Männer, die nach unserer Einschätzung mähten. Selbst mit unserem Fernglas konnten wir nicht eindeutig erkennen, ob es Soldaten oder Bauern waren. Die zu überquerende Wiese war sehr breit, und die Sicht vom Bergrücken auf unsere Strecke sehr gut. Das Risiko, entdeckt zu werden, schätzten wir als gering ein, da die beiden mit ihrer Arbeit ausreichend beschäftigt waren und wenig Interesse an ihrer Umgebung zeigten. Ungefähr in der Wiesenmitte stand ein Weidenbaum, umgeben von hohen Sträuchern. Diese Deckung benutzten wir als Zwischenstation. Dan nahm das Fernglas und robbte zur Weide. Aus diesem guten Versteck behielt er die Männer im Auge und gab dem nächsten das Startzeichen. Bei vermuteter Gefahr gab er abermals ein Zeichen, und wir hielten in der Bewegung inne. Erst als erneut ein Zeichen von ihm kam, setzten wir den Weg fort. Endlich war es geschafft, wir waren in Deckung. Dasselbe Spiel wiederholte sich im nächsten Abschnitt, bis wird den Waldrand erreicht hatten. In der Mittagspause merkten wir, dass unsere Vorräte recht spärlich waren, die Blechkonserven konnten wir nicht öffnen, da keiner von uns ein Messer dabei hatte. Also mussten wir sie wegwerfen. Wir hatten auch nur eine Flasche Wasser mitgenommen, die bei der großen Hitze schnell verbraucht war. Mein Glas Pfirsichkompott sollte uns noch große Dienste leisten. Die Hartwurst stillte zwar den Hunger, förderte aber um-
so mehr den Durst. Die Pausen, die wir einlegten, waren sehr kurz, weil die Zeit drängte. Wir marschierten recht zügig durch den Wald, da tauchte überraschend ein Schäferhund auf. Wo ein Hund ist, ist auch sein Herr. Wir wussten, dass wir in großer Gefahr waren. Der Hund kam uns entgegen und bellte ununterbrochen. Gutes Zureden half nichts, ich nahm einen dicken Ast und schleuderte ihn gegen das Tier. Treffen wollte ich ihn nicht, da er sonst aufheulen würde. Zu unserer Überraschung lief der Hund weg. Dan folgte ihm und stellte fest, dass sich eine kleine Schafherde auf der Wiese neben dem Wald auf uns zu bewegte. Nun mussten wir umkehren und einen großen Bogen um die Herde schlagen. Das bedeutete erneut Zeitverlust. Hinter dem Bergrücken ging es steil abwärts, wir hatten Mühe, uns auf den Beinen zu halten. Teilweise rutschten wir auf dem Hintern und hielten uns an Wurzeln und Pflanzen fest. Am Ende des Hanges gelangten wir auf eine breite befestigte Straße, die wir überqueren mussten. Die Straße war aus dem Berg gehauen, wir konnten sie an dieser Stelle nicht verlassen. Wir waren völlig schutzlos, hinter jeder Kurve konnte ein Fahrzeug auftauchen. Diesmal hatte ich zum ersten Mal Angst. Nach unendlich langen Minuten fanden wir eine passende Stelle, an der wir die Straße verlassen konnten. Mit vereinten Kräften gelang es uns, den Hang zu erklimmen und im Schutz der Bäume zu verschwinden. Der Gang in diesem unebenen Gelände verursachte Schmerzen in den Fußgelenken. Wenn wir einmal ein ebenes Teilstück passierten, war das eine Wohltat für die Füße.
Immer öfter mussten wir kurze Pausen einlegen, da unsere Kräfte zusehends schwanden. Kaum saßen wir einige Minuten, um uns zu erholen, schon trieb uns eine innere Stimme zum Weitergehen an. Der Wald war sehr licht, was die Orientierung erleichterte, die Deckung hingegen war umso schlechter. Die Straße in Sichtweite, marschierten wir am Hang entlang südwärts. Auf einmal vernahmen wir Stimmen. Kaum 50 Meter von uns entfernt tauchten wie aus dem Nichts zwei Grenzsoldaten auf. Jeder hatte eine Versorgungskanne auf dem Rücken, ich kannte diese aus meiner Militärzeit. Wie erstarrt blieben wir ohne Deckung stehen und wagten kaum zu atmen. Die beiden Soldaten gingen langsam an uns vorbei und plauderten miteinander. Wir sahen wegen des Steilhanges nur ihre Oberkörper. Eine kurze Drehung ihres Kopfes hätte genügt, um uns zu entdecken. In diesem Augenblick haben wir die Ewigkeit erlebt. Wir beschlossen, tiefer in den Wald zu gehen, um besseren Schutz zu haben. Geplagt vom Durst, öffnete ich in einer Pause unser Pfirsichkompott. Das Glas war schneller leer als offen. Ich hob es auf, es sollte uns noch gute Dienste leisten. Nun blieb uns nur noch die würzige Hartwurst als Proviant.
Es war früher Nachmittag. Wir peilten den nächsten Berg an, in der Hoffnung, dahinter liege die Donau. Unser Tempo wurde immer langsamer, doch keiner hat geklagt. Wir schwitzten und hechelten, aber der Wille verlieh uns eine un-
heimliche Ausdauer. Man bedenke, dass wir seit mehr als 30 Stunden nicht mehr geschlafen hatten. Wir erreichten das anvisierte Ziel, diesen verdammten Berg, doch die Enttäuschung war groß, als eine weitere Bergkette in gehöriger Entfernung zu sehen war. Enttäuscht setzten wir uns erst einmal auf den Boden. Wieder hieß es, anpeilen, Wegstrecke erkunden, Gelände überprüfen und immer wieder auf Mensch und Hund achten. Die Abweichungen von unserer Südrichtung mussten wir wegen der vielen Hindernisse und Geländestrukturen immer wieder ausgleichen. Die zurückgelegte Strecke wurde dadurch erheblich länger. Am Fuße des Berges angelangt, machten wir noch einmal Rast. Der Durst wurde immer schlimmer und verdrängte den Hunger.
Holzfäller schöpfen Verdacht
Es ging wieder bergauf, und seltener bergab. Wir überquerten wieder eine Straße, und wieder ging es steil nach oben. Unsere Kräfte waren derart geschwunden, dass wir beim Aufstieg nach ein paar Metern immer wieder kleine Pausen einlegen mussten. Wir hielten uns an Wurzeln und an Ästen fest, um vorwärts zu kommen. Wir wollten den Bergrücken schnell erreichen, in der Hoffnung, endlich die Donau zu sehen. Zumindest hofften wir auf eine flache Wegstrecke, damit sich unsere geschundenen Füße erholen konnten. Als wir endlich oben ankamen, erlebten wir den größten Schock auf unserer Flucht. Acht Holzfäller saßen in geselliger Runde und machten Brotzeit.
Wir hatten sie nicht bemerkt und auch nicht gehört. Nun standen wir vor ihnen, wie gelähmt. Mit dieser Situation hatten wir zwar gerechnet, aber gehofft, dass sie nicht eintreten werde. Genau so überrascht waren auch die Arbeiter. Sie erschraken bei unserem Auftauchen, einer sagte: „Das sind Flüchtlinge“. Dan flüsterte mir und Kid zu: „Keine Angst, ich habe alles im Griff“. Wir gingen auf die Männer zu, grüßten freundlich, und Dan sagte: „Wir wollen nach Pescari, (der einzige Ort in dieser Gegend) meinen Freund Ion Moculescu besuchen“. Überrascht von dem, was er sagte, standen Kid und ich sprachlos da. Einer der Arbeiter fragte seinen Kollegen: „Ist das nicht der Bürgermeister von Pescari?“ Mich überraschte Dans Story, ich konnte aber nichts damit anfangen. Allmählich begriff ich, dass sie ein Teil seines Planes war; er hatte sich das für solch eine Begegnung ausgedacht. Er erzählte vom Sohn des Bürgermeisters, mit dem er befreundet wäre und der ihn eingeladen hätte. Er kannte Namen und Details aus dessen Familie, was bei den Männern eine positive Wirkung hinterließ. Das anfängliche Misstrauen uns gegenüber ließ anscheinend bei einigen etwas nach. Sie waren von den Kenntnissen über ihren Bürgermeister so überrascht, dass sie zu zweifeln begannen. „Wie seid ihr hierher gekommen?“ fragte einer. Dan antwortete mit sicherer Stimme: „Wir sind per Anhalter mit einem Lkw bis in die Nähe gekommen, der Fahrer hat uns empfohlen, über diesen Berg zu gehen,
in zwei Stunden würden wir im Dorf sein“. Nun entstand eine Diskussion zwischen den Arbeitern, und alle empörten sich über die Frechheit des Fahrers, uns so zu veräppeln. Sie gaben uns Empfehlungen und Hinweise, alle redeten durcheinander, so dass man kein Wort verstehen konnte. Endlich ergriff ihr Chef das Wort, stand auf und kam auf Dan zu: „So, jetzt sage ich euch, wohin ihr gehen müsst Am sichersten ist es, wenn ihr auf dieser Straße bis AltMoldowa (Moldova Veche) geht und um 18 Uhr den Bus nach Pescari nehmt. Zu Fuß durch den Wald werdet ihr das Dorf nicht finden“.
Nicht weit entfernt von unserem Standort war eine Straße zu sehen, von der der freundliche Mann sprach. Wir bedankten uns herzlich für die Hinweise und verabschiedeten uns höflich. Wegen meines deutschen Akzentes habe ich mich an den Gesprächen kaum beteiligt, um nicht noch mehr Misstrauen zu erwecken. Wir entfernten uns entsprechend den Empfehlungen und trachteten, schnell aus dem Blickfeld dieser Leute zu verschwinden. Wir waren schon einige Schritte entfernt, als ich einen sagen hörte: „Glaubt mir, das sind doch Flüchtlinge“. Diese Begegnung brachte uns eine wichtige Information. Nach den Darstellungen der Arbeiter kannte Dan unseren genauen Standort. Es war verblüffend, wie genau er sich die Landkarte eingeprägt hatte.
Nachdem wir außer Sichtweite waren, änderten wir die Richtung und suchten Deckung im Wald. Das war jedes Mal ein Problem, weil Büsche oder Sträucher selten waren. Endlich ist es uns gelungen, eine Stelle zu finden, um im Schutz des Waldes zu verschwinden. Beeindruckt von dem Wissen über den Bürgermeister, fragte ich, wie er zu diesen Informationen kam. „Das ist eine lange Geschichte, bei passender Gelegenheit werde ich sie euch erzählen.“ Nachdem wir uns wieder in Sicherheit fühlten, beschlossen wir, an einer Wasserstelle zu rasten. Der Durst plagte uns, und die Beine brannten. Es dauerte aber nicht lange, und wir fanden im Wald ein Rinnsal, kaum einen halben Meter breit und nur etwa eine Handbreit tief. Das Wasser war frisch und floss recht schnell. Ich legte mich auf den Bauch, um zu trinken, doch der Durst verwandelte sich in Ekel, als ich sah, welche Tiere sich darin wohlfühlten. Asseln, Würmer und verschiedene Larven hatten hier ihren Lebensraum. Trotzdem war der Durst stärker als der Ekel, und vorsichtig schlürfte ich einen Schluck nach dem anderen, in der Hoffnung, keines dieser niedlichen Tiere aufzusaugen. Da kam mir plötzlich eine Idee. Ich entfernte an einer geeigneten Stelle die vermoderten Blätter und Holzreste aus dem Bett und grub mit den Händen eine kleine Mulde. Nach ein paar Minuten war die trübe Brühe weg, und das Wasser wurde kristallklar. Nun konnten wir das kühle Nass genießen, ohne Furcht, uns an Larven zu verschlucken.
Wir nutzten die Gelegenheit, unsere strapazierten Füße zu kühlen und eine längere Pause einzulegen. Die Lage musste neu eingeschätzt werden. Unser Ziel, die Donau, noch am selben Tag zu erreichen, wurde immer unwahrscheinlicher. Bei seiner Fluchtvorbereitung hatte Dan die Gegend anhand von Landkarten und auf Donauschifffahrten genau erkundet. Auch mit dem Wagen war er mehrmals im Grenzgebiet und suchte nach Möglichkeiten, in die Sicherheitszone hineinzugelangen. Aus dem Gespräch mit den Forstarbeitern konnte er unseren Standort nun sehr genau einschätzen. Die Donau musste etwa sechs Kilometer Luftlinie entfernt sein. Das hieß für uns, noch mindestens die dreifache Strecke zu gehen, was in unserem Zustand nicht möglich war. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, die Überquerung der Donau auf den nächsten Tag zu verschieben. Diese Entscheidung hat uns vielleicht das Leben gerettet. Ab jetzt konnten wir das Tempo drosseln und längere Pausen einlegen. Ohne Zeitdruck war die psychische Belastung nicht mehr so groß. Die Nacht durften wir nicht in unmittelbarer Nähe der Grenze verbringen, das Hinterland war gerade richtig dafür. Jetzt war die Gelegenheit für Dan, uns die Geschichte vom Bürgermeister von Pescari zu erzählen. Abermals konnten wir nur staunen, mit welcher Akribie er seine Flucht schon vor zwei Jahren vorbereitet hatte.
Bei seinen Erkundungen über die Möglichkeiten, unbemerkt von den Grenzsoldaten an die Donau zu gelangen, hatte er festgestellt, dass dies nur durch das Hinterland, über die Berge, möglich war. Dort gab es keine Sicherheitszäune oder ähnliche Befestigungen. Die Grenzer gingen davon aus, dass kaum einer es wagte, durch dieses unwirtliche und schwierige Gelände viele Kilometer zu marschieren, um dann die kräfteraubende Donauüberquerung zu beginnen. Die Mehrheit der Flüchtlinge sucht den kürzesten, womöglich den schnellsten Weg zur Grenze. An allen Grenzen waren die Zufahrtsstraßen und Wege schon 20 Kilometer davor durch Schlagbäume und Militärposten gesichert. Bewohner der Ortschaften innerhalb der Grenzzone durften die Schlagbäume nur nach Vorzeigen des Ausweises passieren, soweit sie dem Grenzposten nicht persönlich bekannt waren.
Was macht man als Flüchtling, wenn man von Bewohnern im Grenzgebiet gesehen wird? Und wie in unserem Fall auch noch misstrauisch befragt wird? Man braucht eine glaubwürdige Geschichte. Das Misstrauen kann man nur entschärfen, wenn man sich glaubhaft als Verwandter oder Freund eines Ansässigen verkaufen kann. Den größten Bekanntheitsgrad hat der Bürgermeister, dieser sollte als Trojanisches Pferd herhalten. Auf seiner Erkundungstour fuhr Dan in die Dorfkneipe von Pescari. Er gesellte sich zu den Gästen, alle Ortsan-
sässige, und gab einen aus. Durch geschicktes Fragen erfuhr er alles über den Bürgermeister, ohne einen Verdacht zu erwecken. Besonders wertvoll waren die Informationen über dessen Sohn Ion, den er den Waldarbeitern gegenüber als seinen Freund bezeichnete. Mit diesen Daten bastelte er eine glaubhafte Geschichte zurecht, die uns mindestens für kurze Zeit als unverdächtig erscheinen ließ. Ich bin mir heute fast sicher, dass unsere Darstellung von den Waldarbeitern später als Lüge erkannt wurde und dass sie uns dem Grenzschutz verraten hatten. Die Bevölkerung in der Grenzzone wurde zur Denunziation potenzieller Flüchtlinge durch Androhung von Strafen gezwungen. In jener Nacht fand eine große Suchaktion an der Donau statt, genau in dem Grenzabschnitt, in dem wir übersetzen wollten. Unser Freund Gery beobachtete das ganze Geschehen vom jugoslawischen Ufer aus, wie er uns später erzählen sollte.
Mein Glaube an das Gelingen war durch diese Darstellung noch mehr gewachsen. Es ist unvorstellbar, wie viel Zeit und Energie dieser Mann in die Vorbereitung der Flucht investiert hatte. Insgesamt waren es drei Jahre. Das musste Früchte tragen. Die Ruhe, die er ausstrahlte, übertrug sich auch auf uns, das war auch vonnöten. Kid war erst 19 Jahre alt, hatte sich komplett untergeordnet und mit viel Ruhe und ohne zu jammern oder sich zu beklagen, sämtliche Schwierigkeiten ertragen.
Bevor wir erneut aufbrachen, füllte ich das leere Kompottglas mit Wasser. Es war sehr unbequem, das volle Glas ohne Deckel in einer Hand zu tragen und aufzupassen, dass es nicht kippt oder aus der Hand gleitet. Die leere Wasserflasche hatten wir leider zurückgelassen. Die Abendsonne wurde schwächer, die Temperaturen wurden immer angenehmer. Der Zeitdruck war weg, und die Anspannung löste sich allmählich. Ich genoss zum ersten Mal die Schönheit der Natur, für die ich bisher kein Auge hatte. Wir beobachteten, wie mehrere Bauern ihre Heuwagen beluden und nach Hause fuhren. Das waren die Zeichen des Feierabends. Wir setzten unseren Weg mit gedrosseltem Tempo, fast im Spaziergang fort. Unserem Kompass folgend, kamen wir zügig voran. Die untergehende Sonne glühte wie ein riesiger Feuerball im Westen. Ich sagte: „Seht das Feuer am Himmel, das ist unser Ziel“. In meiner guten Laune hatte ich nicht an das Feuer aus einer Maschinenpistole gedacht, das genau so wahrscheinlich war wie das Erreichen der ersehnten Freiheit.
In der kühlen Dämmerung fiel uns das Gehen leichter als in der Hitze des Tages. Das Gelände war nicht mehr so schwierig, wir durchschritten eine Hochebene mit wenigen Steigungen. Die Erkenntnis, dass die Bauern nun zu Hause waren, nutzten wir, um noch eine beachtliche Strecke zurückzulegen. Unsere Konzentration ließ nach, aber auch die Gefahr, gesehen zu werden, verringerte sich. Obwohl es noch relativ hell war, konnten wir den Kompass immer schlechter lesen. Schließlich wurde die Anstrengung so groß, dass wir uns entschlossen, eine geeignete Stelle zum Übernachten zu suchen. Auf einer Anhöhe,
inmitten dichten Buschwerks, fanden wir eine kleine freie ebene Fläche. Der Platz reichte aus, um eine bequeme Schlafposition einzunehmen. Es war nicht einfach, eine gut geschützte Stelle zu finden. Es war schon 22 Uhr, bis wir endlich zur Ruhe kamen.
Wir ließen den Tag noch einmal Revue passieren. Der Mond erhellte das Gelände, und ich hatte den Eindruck, dass der Tag der Nacht nicht weichen wollte. Unsere Rucksäcke als Kopfunterlage nutzend, legten wir uns eng aneinander, um uns gegenseitig zu wärmen. Das Mädchen nahmen wir in die Mitte, was ihr mehr Sicherheit verlieh. Alles war so selbstverständlich, wir handelten fast instinktiv, und es bedurfte nur weniger Worte bei unseren Entscheidungen. Wir unterhielten uns nicht mehr lange, wir waren müde. Mit unseren Jacken deckten wir uns zu, so dass wir wie ein einziges Knäuel dalagen. Die Luft wurde immer feuchter und merklich kühler. Der Vollmond erhellte die Umgebung, und wieder sah man, wie schon in der Nacht zuvor, gespenstische Schatten. Dazu heulte der Kauz, und man spürte, dass die Zeit der Nachttiere anbrach. Es mag romantisch gewesen sein, aber genossen habe ich das nicht. Ich hätte lieber in Sicherheit, in einem bequemen Bett geschlafen. In dieser Gegend gibt es Skorpione und giftige Schlangen, Vipern, von deren Existenz ich wusste. Darüber habe ich mich aber nicht geäußert. Mit diesem unguten Gefühl versank ich schneller, als ich es mir vorgestellt hatte, in einen kurzen, aber tiefen Schlaf.
Es war gegen 5 Uhr, als ich erwachte und mich aus der Enge befreite. Dan und Kid erwachten ebenfalls, und nun machten sich die Anstrengungen des Vortages als Muskelkater bemerkbar. Nach einigen Lockerungsübungen ging es uns besser, Jammern war tabu. Dan ging auf Erkundungstour, während Kid und ich in unserem Versteck warteten. Es dauerte sehr lange, bis er zurückkam, ich wurde schon unruhig. Er brachte gute Nachrichten, im angrenzenden Wald war ein Bach, die Stelle war sehr gut geschützt. Kein Weg, keine Straße weit und breit, ideal für die Morgentoilette. Wir waren mitten im Niemandsland. Der Bach war kaum einen Meter breit, das Wasser sauber und frisch. Ich säuberte einen Teil des Bachbettes von Verunreinigungen und Kleingetier, wie ich es bereits gelernt hatte, und bat zum Waschbecken. Es war noch sehr früh, und wir hatten Zeit, unsere müden Füße zu pflegen und zu kurieren. Obwohl wir am Vortag sehr wenig gegessen hatten, verspürten wir keinen Hunger. Vor allem der Gedanke an die einzige Hartwurst, die wir noch hatten, ließ uns den Appetit vergehen. Der Durst danach wurde jedes Mal zur Qual. Wir beschlossen trotzdem, reichlich davon zu frühstücken und viel zu trinken. Die Salami machte die Runde von Mund zu Mund, ein Messer zum Zerteilen hatten wir nicht. Wir gingen im Schutz des Waldes weiter, und nach etwa zwei Stunden stießen wir wieder auf einen Bach. In der länger als geplanten Pause beschlossen wir, uns von unserem überflüssigen Gepäck zu trennen. Auf zwei Rucksäcke und auf unsere Jacken konnten wir verzichten. Jetzt brauchten wir eine geeignete Stelle, um
unser Gepäck zu vergraben. Das erwies sich als komplizierter als gedacht. Der Boden war steinhart und die Humusschicht sehr dünn. Außerdem hatten wir kein Werkzeug zum Graben. Wir suchten Äste oder Steine, aber wir fanden nichts Brauchbares. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir unsere Sachen verstecken konnten. Den Großteil haben wir mit Ästen und Laub zugedeckt. Mit ein paar Steinen beschwerten wir den Haufen, so dass er fast wie ein Grabhügel aussah. Zwischendurch tranken wir immer wieder von dem frischen Wasser, in der Hoffnung, Durst vorbeugen zu können. Die Zeit verging sehr schnell, und der Drang, loszumarschieren, wuchs.
Dan hatte es gar nicht eilig und dämpfte meine Ungeduld. Wir sollten nicht zu früh die Donau erreichen, denn die Überquerung konnte sowieso erst um Mitternacht stattfinden. Meine Ungeduld war schon so groß, dass Dan den Start endlich freigab. Nachdem ich das Kompottglas mit Wasser gefüllt hatte, marschierten wir los. Bald mussten wir den Wald verlassen und durch meterhohes Gras eine Lichtung durchqueren. Die Senke lag im Morgennebel. Das Gras dampfte, und nach ein paar Schritten waren wir bis zu den Hüften vom Tau durchnässt. Es war sehr unangenehm und kalt in dieser Senke. Doch allmählich entfaltete die Sonne ihre Kraft und trocknete unsere Kleider überraschend schnell. Vor uns erstreckte sich wieder ein Bergrücken von Osten nach Westen, und wieder lautete die Frage: „Ist dahinter die Donau?“ Unser Schritt wurde immer schneller, wir wollten Gewissheit haben. Da weit und breit keine Menschen zu sehen waren und eine gewisse Routine einsetzte, ließ die Konzentration merklich nach. Und immer wieder war es Dan, der uns daran erinnerte, dass wir uns nicht auf einem Ausflug befanden. Wir sprachen kaum miteinander, was sehr langweilig war. So gingen mir skurrile Gedanken durch den Kopf, unter anderem das beliebte Spiel Räuber und Gendarmen aus meiner Kindheit. Einer jagt den anderen, und der Gute wird gewinnen. Jetzt war es genau so spannend, aber kein Spiel mehr, und der Gewinner stand nicht fest. Es war schon 10 Uhr, und wir waren noch keinem Menschen begegnet. Endlich sind wir auf der anvisierten Bergkuppe angekommen. Die Sicht nach Süden war uns durch hohes, dichtes Gestrüpp versperrt. Wir mussten wieder auf einen Baum klettern, um freie Sicht zu haben. Kleiner und sportlicher als ich, erledigte meistens Dan diese Arbeit. Ich diente als Steigleiter. An seiner Mimik konnte ich erkennen, dass er keine guten Nachrichten hatte. Er sagte: „Etwa ein Kilometer von hier ist ein Berg, dahinter muss die Donau sein“. Ich konnte diesen Satz nicht mehr hören und begann zu zweifeln, ob wir uns nicht verirrt hätten.
Aufgeregt nahm ich den Kompass, schüttelte ihn und drehte mich im Kreis. Ich zweifelte schon an dessen Funktion, aber die Nadel zeigte immer in eine Richtung. Die Sonne schien uns ins Gesicht, es gab keinen Zweifel, wir waren auf dem richtigen Weg südwärts. Wir machten wieder eine Pause, um nicht zu schnell an die Donau zu kommen. Wir standen umher, betrachteten die Umge-
bung, und ich merkte, dass etwas anders war als bisher. Ich konnte es mir nicht erklären, deshalb habe ich auch nichts gesagt. Plötzlich sagte Dan: „Riecht ihr das Wasser“? Jetzt wusste ich, was anders war, die erhöhte Luftfeuchtigkeit war deutlich zu spüren. Auch der Geruch war merkwürdigerweise anders als bisher. Die Donau musste ganz nahe sein. Erleichtert und voller Zuversicht brachen wir auf. Eine leichte Brise ließ das Laub der Bäume rascheln. Die Geräusche der Natur sind in dieser Einsamkeit besonders gut wahrnehmbar, selbst unsere spärliche Unterhaltung im Flüsterton erschien in dieser Einsamkeit störend. Die ungewohnte Stille wurde plötzlich durch einen langgezogenen tiefen Ton unterbrochen. Er war sehr leise, aber alle hatten ihn gehört. Wir wussten, es war das Signalhorn eines Schiffes. Nun hatten wir Gewissheit, wir waren unserem Ziel sehr nahe.
Unsere Euphorie spornte uns an, das Tempo zu erhöhen. Das Gelände war nicht mehr so steil, und so kamen wir zügig vorwärts. Allein die Hitze machte uns zu schaffen, aber daran hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. Wir spitzten die Ohren in Erwartung eines weiteren Signals. Es hatte zwar keine Bedeutung, aber es klang wie Musik in unseren Ohren. Um 11 Uhr erreichten wir den Bergrücken. Durch das dichte Gestrüpp konnte man nichts erkennen. Wir trafen auf einen Trampelpfad, an den Spuren konnte man sehen, dass dieser Weg nur selten benutzt wurde. Wir nahmen an, dass es hier oben keine Grenzpatrouillen gab, trotzdem war äußerste Vorsicht geboten. Wir achteten auf eventuelle Signaldrähte, die bei Berührung die Grenzer alarmiert hätten. Der kurvenreiche Weg versperrte die Sicht in alle Richtungen, und da wir nicht wussten, wo wir uns befanden, gingen wir einfach gegen Westen. Dan ging allein voraus und erkundete die Umgebung, im Gewirr der Pflanzen verloren wir uns schnell aus den Augen. Nach einem verabredeten Pfeifsignal kamen Kid und ich nach.
Unsere Vorsicht war nicht übertrieben, wie sich später herausstellte. Der Bergrücken wurde breiter, so dass sich größere ebene Flächen nordwärts erstreckten. Immer wieder, es war schon langweilig, spähten wir mit unserem Fernglas in alle Richtungen. Ich hatte eben diese Aufgabe übernommen und blickte in unsere Marschrichtung, nach Westen. Um nicht zu zittern, legte ich mich auf den Boden, stützte mich auf die Ellenbogen und hielt das Fernglas fest umklammert. Gründlich durchsuchte ich das Gelände scheibchenweise und achtete vorwiegend auf alles, was sich bewegte. Ich wollte gerade aufstehen, da hatte ich etwas wahrgenommen. Ich winkte Dan heran und gab ihm das Fernglas. Tatsächlich, ein Mann kam uns entgegen. Wir dachten zuerst, es sei ein bewaffneter Soldat. Bei näherem Betrachten stellten wir fest, dass es ein Jäger in Begleitung seines Hundes war. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war wegen des Hundes besonders groß. Wir mussten uns schnell ins Hinterland zurückziehen. Der Hund durfte unsere Witterung nicht aufnehmen. Wir rannten wieder eine beachtliche Strecke zurück und warteten sehr lange, bis wir uns wieder
vorwagten. Die Donau hatten wir noch immer nicht gesehen, wir wussten aber, dass wir ihr sehr nahe waren. Die Frage, wie breit sie sein mag, war nun unsere nächste Sorge. Wir erreichten eine Stelle, an der unser Pfad nach Süden abknickte. Die Deckung an diesem Abschnitt war sehr schlecht, trotzdem gingen wir vorsichtig weiter. Das Gras war kurz und von der Hitze der Sonne vertrocknet. Vorsichtig beobachteten wir die Umgebung und konnten keine Auffälligkeiten feststellen. Es war um die Mittagszeit, die Sonne brannte unbarmherzig, als wir um die Kurve bogen. Ein virtueller Vorhang tat sich auf, und zu unseren Füßen lag gemächlich und still fließend die Donau. Erstarrt blickten wir auf das Wasser und die Umgebung.
Ein Gefühl der Freude einerseits und des Schreckens andererseits überkamen mich und Kid. Die Freude, das Ziel endlich erreicht zu haben, wurde durch die unendliche Breite des Flusses gewaltig gedämpft. Ich war ein guter Schwimmer, aber ich zweifelte, ob ich diese Strecke ohne Hilfsmittel schaffen würde, diese hatte ich aber nicht. Ich wusste, dass es kein Zurück gab, und egal, was passieren mag, ich musste es riskieren. Kid, die erst vor vier Wochen schwimmen gelernt hatte, war ebenso sprachlos. Dan erkannte unsere Ratlosigkeit und unseren Schrecken. Er war ein ausgezeichneter Menschenkenner und ließ uns nicht lange leiden. Er sagte: „Keine Angst, da müssen wir nicht rüber“. Bei seinen Vorbereitungen vor zwei Jahren hatte er als Tourist die Donau befahren und kannte deren Verlauf sowie die Beschaffenheit des Ufers. Er erkannte unsere Position und erklärte uns, dass wir etwa drei bis fünf Kilometer zu weit westlich angekommen seien. Das ist leicht zu schaffen, die Zeit ist kein Druckfaktor mehr. Weiter flussabwärts wird die Donau wesentlich schmäler, dort müssen wir sie überqueren. Der erste Schock war überwunden. Dans akribische Vorbereitung kannten wir mittlerweile, und so gab es keinen Grund, an seinen Aussagen zu zweifeln. Er schilderte uns den Verlauf des Ufers auf den nächsten fünf Kilometern, und wir staunten nicht schlecht, welche Kleinigkeiten er sich eingeprägt hatte und wiedergeben konnte.
Nach einer Pause gingen wir, langsam dem Lauf des Stromes folgend, gegen Osten. Wir hatten die Donau nur selten im Blickfeld, da unser Weg hinter Sträuchern und Felsgruppen verlief. Von Zeit zu Zeit stießen wir auf eine Lichtung, die den Blick aufs Wasser freigab. Es war herrlich anzusehen, wie das Flussbett, genau so wie Dan es beschrieben hatte, merklich schmäler wurde. Es war ein reger Schiffsverkehr, wobei sich das tiefe Motorengeräusch relativ leise anhörte. Von der Uferstraße konnten wir nur selten kleinere Abschnitte einsehen. Das erste Ziel, heil an die Donau zu gelangen, hatten wir erreicht. An diesem unwirtlichen Bergrücken konnten wir außer diesem Trampelpfad keine Spuren menschlicher Einwirkung feststellen. Auf dem letzten Teilstück sahen wir auch keine Bauern oder Hirten. Wir folgerten daraus, dass es in der Nähe keine menschliche Siedlung gab. Die innere Anspannung löste sich wieder. Das
hatte zur Folge, dass der Hunger und Durst zurückkamen oder dass wir sie wieder fühlten. Wir hatten noch ein Stück Hartwurst, die keiner mochte. Inmitten einer Sträuchergruppe stand ein Apfelbaum, und wir freuten uns sehr darüber. Endlich etwas zu essen. Die Früchte waren klein und hart, der erste Bissen reichte, um die Ungenießbarkeit festzustellen. Es waren unreife Wildäpfel. Enttäuscht gingen wir weiter und hielten Ausschau nach Beeren oder genießbaren Äpfeln. Tatsächlich fanden wir einen Baum mit schlecht schmeckenden Früchten, doch die Angst vor eventuellen Magenbeschwerden ließ uns nur wenig davon verzehren.
Gegen 16 Uhr erblickten wir am jenseitigen Ufer unseren mit Gerys vereinbarten Treffpunkt: Die weiß-rote Signalstange mit aufgesetzter roter Lampe konnten wir mit freiem Auge erkennen. Gery hatte uns gesagt, dass die rote Lampe nachts pulsierend leuchtet. Jetzt mussten wir uns nur noch eine geeignete Stelle zum Überqueren suchen. Das Ufer auf jugoslawischer Seite ist unregelmäßig, flach, mit üppigem, aber niedrigem Pflanzenwuchs. Das rumänische Ufer ist begradigt und gut befestigt, eine asphaltierte Straße führt am Ufer entlang. Wir fanden eine Stelle, die alle Voraussetzungen zur Überquerung erfüllte. An dieser Stelle war das Ufer ausgebuchtet. Dieser Teil der Straße war aus beiden Richtungen nicht einsehbar. Wir konnten aber das Licht der sich nähernden Autos schon erkennen, bevor sie um die Kurve bogen. Dadurch hatten wir genügend Zeit, um in Deckung zu gehen. Der Berghang war nicht sehr steil und an diesem Abschnitt fast bis zum Straßenrand mit Mais bepflanzt. Im Schutze der Maispflanzen konnten wir aus nächster Nähe die Straße beobachten. Durch den Verlauf des Flusses konnten wir die Strömung zu unseren Gunsten nutzen. Am anderen Ufer, etwa 200 Meter flussabwärts, ragte eine beachtliche Landzunge, ähnlich einer Halbinsel, weit in das Flussbett hinein. Wenn wir es schaffen sollten, diese zu erreichen, würden wir uns eine lange Schwimmstrecke ersparen. Idealere Bedingungen konnte es nicht geben.
Nun mussten wir erkunden, ob sich in unserer näheren Umgebung menschliche Behausungen befanden. Den östlichen Teil des Geländes kannten wir schon, da kamen wir her. Nach zwei Stunden war alles klar, in unserer Umgebung befand sich weder Haus noch Hütte. Nichts deutete auf menschliche Spuren hin, so dass wir beruhigt die Nacht abwarten konnten. Der obere Teil des Hanges war mit Sträuchern bewachsen, die an das Maisfeld angrenzten. Dorthin zogen wir uns zurück; wir hatten nach allen Seiten eine gute Sicht, ohne selbst gesehen zu werden. Der Boden war sonderbarerweise recht locker, und es gelang uns, eine kleine Mulde zu graben, in die wir uns hineinlegten. Die Tarnung war hervorragend, wir wurden eins mit unserer Umgebung. Jetzt stand ein schwerer Teil unserer Flucht bevor, der Kampf gegen die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit und darüber hinaus bis Mitternacht. Keine Gespräche, ab und zu eine Bemerkung, und immer wieder der Blick auf die Uhr. Trotz der Müdigkeit
konnten wir nicht schlafen. Die Freiheit vor Augen, sie war keine 250 Meter von uns entfernt, verstrich die Zeit im Schneckentempo. Dan war wie immer der Ruhepol. Diese Ruhe übertrug sich auch auf mich, was notwendig war, denn mit meinem cholerischen Temperament verliere ich meistens schnell die Geduld. Wir lagen reglos da und starrten in den Himmel. Zeitweise schlossen wir die Augen, und jeder machte sich so seine eigenen Gedanken. Ich zog mein Hemd aus und legte es als Sonnenschutz über den Kopf. Ich war kurz eingenickt. Ich musste wohl schlecht geträumt haben, denn ich erschrak grundlos. Mein Herz raste, und einen Augenblick war ich völlig orientierungslos. Durch den Adrenalinstoß war meine Müdigkeit wie weggeblasen. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich kaum eine halbe Stunde geschlafen hatte. Mir kam diese kurze Schlummerzeit viel länger vor. Die Langeweile packte mich wieder, ich konnte sie nicht loswerden. Unruhig schaute ich mal rechts, mal links, dann wieder gegen den Himmel. Mein Blick blieb an Dan hängen. Er lag regungslos neben Kid und hielt ein kleines schwarzes Buch in der Hand. Sein Gesicht lag im Schatten des Buches. Merkwürdig, dachte ich und starrte wieder zum Himmel. Auf so eine gefährliche Reise ein Buch mitzunehmen hat doch keinen Sinn. Ohne nochmals hinzusehen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich ahnte, welches Buch es war. Es war die Bibel.
Ein bisher unbekanntes Gefühl kam in mir auf, ich hatte plötzlich Tränen in den Augen. Ich verspürte einen Schub neuer Kräfte und einen unbändigen Willen, den letzten Schritt erfolgreich zu vollenden. Der Glaube, dass es uns allen dreien gelingen würde, die Donau heil zu überqueren, war jetzt stärker als jemals zuvor. Der letzte Rest von Unsicherheit und Angst waren wie weggeblasen, und eine innere Ruhe machte sich in mir breit. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass meine Sorge in den beiden Tagen zuvor nur dem Erreichen der Donau galt. Das Durchschwimmen empfand ich als den einfacheren Teil. Jetzt, beim Anblick des gigantischen Stromes mit dem regen Schiffsverkehr erkannte ich die Gefährlichkeit der bevorstehenden Aktion. Tief im Inneren hatte ich Angst.
Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, der Mond stand bereits als weiße Kugel am Himmel, und wir warteten auf die Dunkelheit. Allmählich dämmerte es, und die Schiffe hatten schon ihre Positionsleuchten eingeschaltet. Die Schönheit der Landschaft war unbeschreiblich. Romantikstimmung kam nicht auf. Der Mond wechselte allmählich die Farbe, und bald leuchtete er wie ein großer Feuerball am Himmel. Sein Licht spiegelte sich im Wasser wie ein Band, das die beiden Ufer miteinander zu verbinden schien. Ich beobachtete das Schauspiel ständiger Veränderung von Licht und Schatten. Das Band wurde mit zunehmender Dunkelheit immer heller. Ich starrte wie gebannt darauf, die Bewegung der Wellen verlieh dem Schauspiel einen Hauch von Leben. Es sah aus wie eine Einladung, diese Lichtstraße zu betreten. Ich sah den Weg in die Freiheit. Ab 22 Uhr beobachteten wir die Küstenstraße genauer. Durch das angrenzende
Maisfeld konnten wir unbemerkt bis nahe an den Straßenrand gelangen und den Verkehr aus nächster Nähe beobachten. Im halben Stundenrhythmus wechselten Dan und ich uns beim Beobachten der Straße ab. Anschließend analysierten wir die Lage, um eventuelle Schlüsse zu ziehen. Unser besonderes Augenmerk galt vor allem dem Autoverkehr und den Schnellbooten der Grenzer. Die Scheinwerfer der heranfahrenden Autos konnten wir schon erkennen, bevor sie um die Kurve bogen, so wie wir es vermutet hatten. Da im Grenzgebiet kaum Privatautos unterwegs sind, war es dementsprechend ruhig. Nur selten kamen Militärfahrzeuge vorbei, wir konnten aber keine Regelmäßigkeit dabei feststellen. Um 23 Uhr war der Schiffsverkehr schon sehr stark eingeschränkt und nahm stetig ab. Bis dahin hatten wir auch keine Boote des Grenzschutzes gesehen, es kam uns merkwürdig vor, aber es konnte uns nur recht sein. Die Zeit verging im Schneckentempo, und der Drang, endlich ins Wasser zu steigen, war übermächtig. An unserem Beschluss, erst um Mitternacht zu starten, hielten wir eisern fest, und das war richtig so. Der Schiffsverkehr war um diese Zeit fast eingestellt, und das Brummen der Motoren wurde durch die Naturgeräusche ersetzt. Kurz vor Mitternacht gingen Dan und ich gemeinsam zum letzten Mal an unseren Beobachtungsplatz und schauten uns noch einmal die Lage an. Eine Route festzulegen, erschien zwecklos, denn man konnte die Strömung des Wassers nicht einschätzen. Es ging uns nur darum, mit möglichst wenig Kraft, die Fließgeschwindigkeit nutzend, so schnell wie möglich ans andere Ufer zu gelangen. Selbst auf jugoslawischer Seite hätten wir keine Chance gehabt, dem rumänischen Grenzschutz zu entkommen. Mit diesen Erkenntnissen gingen wir zurück in unser Versteck.
Der Sprung ins Wasser
Um 24 Uhr hieß es: „Auf geht’s!“ Wir legten Kid die Schwimmweste an, den Rucksack ließen wir einfach liegen. Dann gingen wir durch das Maisfeld bis zum Straßenrand. Dan und ich waren noch bekleidet. Nach einer letzten Ausschau überquerten wir die Straße und sprangen über die Böschung ins Flussbett. Der Wasserspiegel war sehr niedrig, ein Teil des Flussbettes war trocken. Dan und ich zogen unsere restlichen Kleider aus und bedeckten diese mit Steinen. Meinen Personalausweis und ein paar Deutsche Mark hatte ich wasserdicht in eine Plastikfolie verpackt und in meiner Badehose gesichert. Die Socken behielt ich an, um am anderen Ufer einen besseren Schutz für meine Füße zu haben. Etwa 30 Meter vom Ufer entfernt ragten Weidenkronen und Sträucher aus dem Wasser. Das Gestrüpp sah aus wie eine undurchdringliche Schattenwand, verlief in Fließrichtung und war mindestens 50 Meter lang. Hervorragend geeignet als Zwischenstation und Start in die Strömung, war das unser letzter Sammelpunkt. Im seichten Wasser schwammen wir unserem ersten Ziel entgegen.
In diesem Dickicht waren wir unsichtbar. Die Donau war an dieser Stelle nicht tief, wir konnten noch stehen und verbrauchten keine zusätzliche Energie. Jetzt besprachen wir die weitere Vorgehensweise. Dan sollte vorausschwimmen, Kid in der Mitte, und ich sollte den Schluss bilden. Wir hatten folgendes überlegt: Dan als bester Schwimmer achtet auf die Route und die Strömung. Kid als ungeübte Anfängerin sollte ihm möglichst folgen, ohne sich Gedanken über die Orientierung machen zu müssen. Meine Aufgabe bestand darin, möglichst in der Nähe von Kid zu bleiben, unabhängig davon, ob es ihr gelang, den Anschluss zu halten oder nicht. Ich sollte ihr eine gewisse Sicherheit geben, damit sie bei eventueller Gefahr nicht in Panik gerät. Bei dieser Gelegenheit erinnerte mich Dan an unsere Vereinbarung. Er sagte wörtlich: „Wir haben vereinbart, in einer Notsituation im Wasser nicht zu helfen. Jeder ist für sein Schicksal und Leben selbst verantwortlich“. „Fredy“, sagte er, „das war nur zur Abschreckung gesagt, sollte es zu einem Zwischenfall kommen, so werden wir alles tun, um zusammen ans rettende Ufer zu gelangen“. Kid stand abseits und hörte nicht, was er mir sagte. Mich hat diese Aussage nicht überrascht, denn ich hatte schon lange seinen einwandfreien Charakter und seine Hilfsbereitschaft erkannt. Dass er es ernst meinte, sollte sich bald bestätigen.
Aus der Perspektive des Schwimmers schien das jugoslawische Ufer unendlich weit weg zu sein. Man sieht aus einer Perspektive knapp 20 Zentimeter über dem Wasserspiegel kaum noch dreidimensional und kann Entfernungen nicht einschätzen. Bei Tag ist das nicht so auffällig wie bei Nacht. Das beunruhigte mich nicht, denn diese Erfahrung hatte ich schon bei meinem Nachtschwimmtraining in den vergangenen Wochen gemacht. Der Aufenthalt im Gestrüpp dauerte nur wenige Minuten, in denen wir uns noch einmal gegenseitig anfeuerten. Dann kam das Kommando zum Aufbruch. „Auf geht’s“, sagte er und schwamm los. Wir folgten im Abstand von etwa zwei Metern. Immer den Vordermann im Blickfeld, schwammen wir in die Mitte des Stromes. Schon nach ein paar Metern merkte ich, dass meine Socken hinderlich waren und immer größer wurden, so als hätte ich Schwimmflossen an. Endlich hatte ich genug davon und zog sie aus. Wir kamen zügig voran, und ich war erstaunt, wie ruhig das Wasser war. Der Abstand zwischen uns wurde etwas größer. Auf einmal sah ich, wie Kid sich um die eigene Achse drehte und Schwierigkeiten hatte, die Richtung zu halten. Ich beschleunigte das Tempo, um näher an sie heranzukommen. Wie von Geisterhand verspürte ich einen kräftigen Ruck und verlor für einen kurzen Moment ebenfalls das Gleichgewicht. Nun wusste ich, warum sich Kid drehte. Wir hatten die Fahrrinne erreicht, in der die Strömung stärker war. Wir konnten aber schnell in eine stabile Lage zurückkommen. Ich verlor Dan aus den Augen, zu sehr war ich mit dieser Situation beschäftigt. Nach Absuchen der Wasseroberfläche fand ich ihn, er war höchstens zehn Meter von uns entfernt. Sein professioneller Schwimmstil brachte ihn schneller
voran, als wir folgen konnten. Die Wasseroberfläche war trotz der starken Strömung sehr unruhig. Die kleinen Wellen reflektierten das Mondlicht in alle Richtungen, im Wechselspiel von Licht und Schatten konnte man unsere Köpfe schon nach wenigen Metern kaum noch erkennen. Ich musste mich Kid nähern, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Unter diesen Verhältnissen waren wir aus 20 bis 30 Metern nicht mehr zu erkennen. Ich spürte, dass ich zu ermüden begann und versuchte einen gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Ich änderte ständig meinen Schwimmstil, mal Brust, mal Kraul, dann wieder Rücken. Dadurch wurden abwechselnd andere Muskelpartien beansprucht, während die ermüdeten sich erholen konnten. Der Abstand zu Kid wurde immer größer, sie schwamm zu viel mit der Strömung. Ich war fast auf gleicher Höhe mit ihr, jedoch etwas näher am Ufer. Das Atmen fiel mir immer schwerer, ich versuchte nun, auch meinen Atemrhythmus stabil zu halten. Wir waren wohl in der Mitte der Donau angelangt, denn beide Ufer schienen unendlich und gleich weit weg zu sein.
Das monotone Schwimmen wurde langweilig. Ich rief Kid zu: „Wie geht es dir?“ „Alles in Ordnung“, antwortete sie, und das beruhigte mich. Dann schwamm ich im gleichen Trott weiter. Wir waren schätzungsweise eine halbe Stunde im Wasser und über der Mitte der Donau. Theoretisch waren wir schon über der Grenze. Es waren keine Schiffe oder Motorboote der Grenzwacht unterwegs, mit ihren starken Scheinwerfern hätten sie uns mit Sicherheit gesehen. Wir näherten uns sehr langsam dem jugoslawischen Ufer. Ein Motorboot hätte diese Strecke in ein paar Minuten zurückgelegt, und sollten die Grenzer uns entdecken, hätten wir keine Chance, zu entkommen. Es ist vorgekommen, dass Flüchtlinge mutwillig von Booten überfahren oder auf jugoslawischer Seite eingefangen wurden. Solche Gedanken setzten neue Kräfte frei. Dan tauchte überraschend in meiner Nähe auf, etwa zehn Meter zu meiner Rechten. Ich wusste, er wollte mir etwas sagen. Etwa 100 Meter weiter war unser Ziel, die Halbinsel, deutlich zu erkennen. Sie ragte weiter in das Flussbett hinein, als wir geschätzt hatten. Wenn wir diese Spitze erreichen, können wir uns viel Weg und Zeit sparen. Dan machte mich auf die Situation aufmerksam, und ich erkannte die Chance. Es war nur eine Frage der Kraft und Ausdauer von mir und Kid. Ich fragte ihn, ob er sich in der Lage sähe, die Halbinsel zu erreichen. Bei seiner Schwimmtechnik und Kondition wusste ich, dass er es schaffen würde. Er bejahte meine Frage, doch ich merkte, dass er Hemmungen hatte, mich und Kid allein zu lassen. Ich sagte ihm, er solle versuchen, an Land zu gelangen, um uns beim Ausstieg aus dem Wasser behilflich zu sein. Ich würde auf das Mädchen aufpassen. Damit war er einverstanden und verabschiedete sich. Er legte los, als hätte er einen Antrieb in den Beinen. Ich näherte mich Kid und sagte ihr Bescheid. Dabei ermunterte ich sie, alle Kräfte einzusetzen, um ebenfalls die Landzunge zu erreichen. Sie wollte es versuchen, aber es war sehr schwer, noch
kräftiger gegen die Strömung anzukämpfen. Ich hielt Ausschau nach Dan, der kaum zu sehen war. Er war auf gleicher Höhe mit mir und schon sehr nahe am Ufer. Bald merkte ich, dass er es schaffen würde. Der Augenblick, als er wie ein Gespenst aus dem Wasser stieg, war überwältigend. Der erste von uns dreien war an Land, und wir werden auch gleich bei ihm sein. Die Landzunge kam schnell näher, aber wir waren noch viel zu weit in der Strommitte. Ich spornte Kid noch einmal an, alles zu geben. Es waren noch etwa zehn Meter bis ans Festland, als wir an der Spitze der Halbinsel von der Strömung vorbei getragen wurden. Kraftlos und erschöpft ließen wir uns vom Wasser tragen. Ich hatte das Gefühl, wieder zurückgespült zu werden. Der Abstand zum Ufer wurde, bedingt durch die Topografie des Geländes, immer größer. Durch den zusätzlichen Kraftaufwand war ich völlig erschöpft und musste mich ausruhen. Ich fragte Kid, ob ich mich an ihrer Schwimmweste festhalten dürfe, doch sie hatte große Angst und wollte das nicht. Das hatten wir bei unserer Vorbereitung auch nicht geübt. Wir waren beide mit den Kräften am Ende, mit dem Unterschied, dass ich mich nicht wie Kid bewegungslos ausruhen konnte. Nach einer kurzen Verschnaufpause sagte ich zu Kid, wir müssen das Ufer ansteuern. Dan folgte uns auf dem Festland, wir konnten seine Silhouette im Mondschein sehen. Die Straße verlief im Gegensatz zur rumänischen Seite weiter im Hinterland. Mit den letzten Kraftreserven peilte ich das Ufer an. Nach ein paar kräftigen Schwimmzügen fühlte ich, wie die Strömung nachließ und das Wasser sehr ruhig wurde. Ich war in der Bucht hinter der Halbinsel. Kurz darauf fühlte ich ein Kribbeln an den Beinen. Es waren Wasserpflanzen, die ich berührte, jetzt wusste ich, dass das Wasser nicht mehr tief sein konnte. Es überraschte mich, weil das Ufer immer noch sehr weit weg war. Aus Angst, an den Schlingpflanzen hängen zu bleiben, schwamm ich über diesen unsichtbaren Teppich, bis ich mit den Händen den Boden fühlen konnte. Erst jetzt richtete ich mich auf, das Wasser war kaum knietief. Ich schrie Kid zu, sie war noch gute 15 bis 20 Meter von mir weg, sie solle bis zu mir schwimmen, ohne sich aufzurichten. Dan war auch schon da, und wir gingen Kid entgegen, um ihr zu helfen.
Erschöpft am serbischen Ufer
Gestützt von Dan, völlig erschöpft, sackten wir nieder und genossen erst einmal den festen Boden unter den Füßen. Wir konnten vor lauter Keuchen nicht sprechen. Nach etwa einer Minute ging es uns schon besser. Ich zeigte mit dem Finger in die Richtung, aus der wir eben gekommen waren, und sagte mit leiser und heiserer Stimme: „Das war unser Gefängnis!“ Wir umarmten uns und hüpften vor Freude. Unser Glück hätten wir in den Himmel schreien wollen, doch wir befanden uns noch immer auf gefährlichem Boden. Aber eines stand fest: Jetzt war unser Leben außer Gefahr. Die Jugoslawen schießen nicht auf Flüchtlinge.
Der prachtvolle Sternenhimmel, von keinem Wölkchen verdeckt, und das Licht des Vollmondes ermöglichten eine gute Sicht. Wir konnten nicht genug davon bekommen und nahmen uns Zeit, die Schönheit unserer ersten Nacht in Freiheit zu genießen.
Nachdem sich der erste Anflug unserer Euphorie gelegt hatte, suchten wir uns eine geschützte Stelle, um zu beraten, wie es weiter gehen sollte. Die Straße war mindestens 200 Meter vom Ufer weg, der Verkehr war spärlich. Nur selten fuhren Autos in beide Richtungen. Wir konnten nur die Scheinwerfer sehen. Viele große und kleine Felsbrocken säumten das Ufer und boten gute Versteckmöglichkeiten. Der Fluchttrieb hatte uns wieder im Griff, unsere Sinne waren zu meinem Erstaunen immer noch so scharf wie vorher. Die Freude über den bedeutendsten Erfolg war grenzenlos. Vor uns lagen noch mehr als 1000 Kilometer und zwei Staatsgrenzen, die wir illegal passieren mussten. Davon eine im Ostblock. Es sollten weitere zwei Tage vergehen, bis wir unser Ziel erreichten. Wir hatten jegliches Zeitgefühl verloren, meine Uhr zeigte 45 Minuten nach Mitternacht. Beim näheren Hinsehen merkte ich, dass sie stand. Das Wasser hatte sie außer Betrieb gesetzt, aber Dans Uhr funktionierte noch. Es war kurz nach 1 Uhr, als wir uns auf den Weg zu unserem Treffpunkt mit Gery machten. Wir hatten vereinbart, dass er nach Mitternacht zu jeder vollen Stunde die Uferstraße abfährt. Anhand der manipulierten Scheinwerfer sowie an seiner langsamen Fahrweise sollten wir seinen Wagen schon von weitem erkennen.
Unser Treffpunkt, die Signallampe, musste etwa drei Kilometer von unserem Standort entfernt sein. In Badehosen und barfuß gingen wir zügig auf der asphaltierten Straße unserem Ziel entgegen. Ab und zu, wenn ein Auto kam, verließen wir die Straße und versteckten uns hinter den zahlreichen Felsbrocken und Gebüschen, die den Weg säumten. Die Temperatur sank von Minute zu Minute, und mit dem Abkühlen des Asphalts wurde es immer ungemütlicher. Die nassen Badehosen verstärkten das Kälteempfinden noch mehr. Ich hatte die Idee, nochmals ins Wasser zu steigen, um mich aufzuwärmen. Das tat ich auch, und es war sehr angenehm. Danach war es aber umso schlimmer. Zitternd legte ich mich auf den noch warmen Asphalt, aber das hat auch nicht viel geholfen. Wir gingen zügig weiter, und schon bald sahen wir die Signallampe, an der wir abgeholt werden sollten. Unseren Treffpunkt mit Gery hatten wir nun sicher erreicht, alles lief anscheinend nach Plan ab. Nun musste nur noch Gery kommen und uns herausholen. In diesem Moment ahnten wir noch nicht, was noch auf uns zukommen würde. Die Zeit verstrich unendlich langsam, auch die zweite Stunde der Nacht war schon vorbei, und Gery war noch immer nicht da. Die Luft kühlte rasch ab, wir hatten Gänsehaut und zitterten am ganzen Leib. Wir versuchten, uns mit leichtem Jogging zu erwärmen, was auch gelang, aber nur von innen. Als Gegeneffekt bildete sich ein Schweißfilm auf der Haut, der sich wie ein Eismantel anfühlte. Das Warten wurde zur Qual.
Es kamen die ersten Zweifel auf, ob wir überhaupt abgeholt werden würden. War unser Freund verhindert? Hat der jugoslawische Grenzschutz ihn gefasst? Diese Möglichkeit bestand sehr wohl. In diese verlassene Einöde verirrt sich kein Tourist, und ein Auto mit deutschem Kennzeichen ist sehr auffällig. Für diesen Fall hatten wir keinen Plan. Wir waren ohne Proviant, ohne Kleidung, in einem Tal, ähnlich einer Sackgasse, gefangen und mussten bis zum Tagesanbruch das Grenzgebiet unbemerkt verlassen. Wegen der geographischen Lage war es aussichtslos, das Binnenland unbemerkt zu erreichen. Wir warteten und warteten, die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Erste Zweifel machten sich breit, und der Gedanke des Scheiterns war nicht mehr zu verdrängen. Die Kälte wurde unerträglich, wir zitterten und konnten kaum noch verständlich miteinander sprechen. Wir dachten nur noch an warme Kleidung und wie wir in dieser Nacht auch ohne Gerys Hilfe aus dem Tal herauskommen könnten.
Mein Gehirn musste wohl eingefroren gewesen sein, als ich einen dummen Vorschlag machte, den Dan zu meinem späteren Erstaunen auch noch widerspruchslos akzeptierte. Mein Plan war folgender: Wir stoppen ein Auto und versuchen, damit zu fliehen. Das Mädchen sollte den Wagen anhalten und wir würden die Insassen zwingen, das Fahrzeug zu verlassen. Alle drei waren wir mit diesem Vorschlag einverstanden, kurze Zeit später legten wir uns am Straßenrand auf die Lauer. Die Nerven zum Zerreißen angespannt und mit einem furchtbar schlechten Gewissen, beobachteten wir einige vorbeifahrende Autos. Unser Wille war größer als der Mut. Als dann ein Bus, der aus der Ferne durch das Gegenlicht der Scheinwerfer als solcher nicht zu erkennen war, an uns vorbeifuhr, erkannten wir die Aussichtslosigkeit unseres Vorhabens. Was passiert, wenn wir einen Bus oder ein Grenzerfahrzeug anhalten würden? Damit war, Gott sei Dank, dieser risikoreiche Plan vom Tisch.
Zur Kälte kam noch ein neues Übel dazu, der Durst. Es gab genug Donauwasser, jedoch zum Trinken wenig geeignet. Auf die Gefahr hin, krank zu werden, haben wir trotzdem ein wenig davon getrunken. In unserer Not sprachen wir nur von warmer Kleidung und flauschigen Decken. Ständig in Bewegung, in engem Umkreis unseres Treffpunktes, wurde das Warten auf die letzte Stunde immer unerträglicher. Ohne es zu merken, entfernten wir uns diesmal weiter von unserem Standort. Im Licht des Mondes, nahe dem Ufer, erkannten wir die Umrisse einer Hütte oder eines Wochenendhauses. Wir beschlossen, in das Haus einzudringen, um uns die notwendigen Kleider zu besorgen. Kid sollte an die Tür klopfen und durch Rufe eventuelle Bewohner um Hilfe bitten. Das Haus lag etwa 100 Meter abseits der Straße. Je näher wir kamen, umso höher stieg mein Puls. In voller Konzentration achteten wir auf verdächtige Geräusche, vor allem auf eventuelles Hundegebell. Nichts war zu hören. Auf den letzten Metern wuchs die Spannung noch mehr. Leise schlichen wir uns an. Der Eingang war auf der uns abgewandten Seite und von weitem nicht einsehbar. Eine Treppe
führte auf eine Terrasse, rechts war die Eingangstür. Dan und ich gingen vorsichtig die Treppe hinauf, und was wir sahen, verschlug uns fast den Atem. An einer Wäscheleine hingen zwei Jacken, die vermutlich zum Trocknen aufgehängt waren. Die eine aus Stoff, die andere aus Kunstfell, beide in einem sehr guten Zustand. Wir nahmen die Jacken und verschwanden. Als erstes bekam Kid die Pelz- und Dan die Stoffjacke. Ich habe gewartet, bis Dan sich aufgewärmt hatte und übernahm schon nach ein paar Minuten die wohlige Wärme. Nun ging es im Rotationsprinzip weiter, so dass keiner mehr frieren musste.
Es war 2.45 Uhr, und unsere Angst wuchs mit jeder Minute. Nach unserer Vereinbarung war dies der letzte Abholtermin, nach 3 Uhr wird Gery nicht mehr kommen. Es gab kaum noch Verkehr. Bei jedem Scheinwerferlicht hinter der Kurve schauten wir wie gebannt auf das nahende Auto. Wir saßen gebückt hinter einer Felsengruppe unmittelbar neben der Straße. Es gab nur noch diese eine Chance, und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis entschieden war, ob wir aus dem gefährlichen Grenzgebiet herausgeholt würden. Wir sprachen kein Wort miteinander und schauten gebannt auf die Kurve, hinter der unser Freund erscheinen sollte. Wieder ein Scheinwerferlicht, dieses Mal viel heller als die anderen davor. Gebannt warteten wir auf das Auto, das nicht erscheinen wollte. Der Lichtstrahl wurde immer länger, die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Ich schaute Dan an, und er erwiderte meinen fragenden Blick. Dachte er dasselbe wie ich? Diesmal war alles anders als bisher, oder war es nur eine Sinnestäuschung wegen der Anspannung?
Langes Warten auf Gery
Dan erkannte meinen verzweifelten Blick und sagte: „Es gibt einen Gott“. In Zeitlupe drehten sich die Scheinwerfer, dem Straßenverlauf folgend, in unsere Richtung. Jetzt leuchten sie uns an. Drei Scheinwerfer in einer hellen Mondnacht, unser Zeichen. Sie näherten sich uns sehr langsam, unser Zeichen. Viel zu langsam für unsere Nerven. Obwohl wir den Wagen nicht erkennen konnten, wussten wir, dass es Gery war. Nun hielt uns nichts mehr in unserem Versteck, wir rannten mit ausgestreckten Armen auf die Straße und winkten dem nahenden Fahrzeug jubelnd entgegen. Plötzlich setzte der rechte Blinker ein, der Wagen hielt vor uns am Straßenrand an. Von den Scheinwerfern geblendet, konnten wir immer noch nichts erkennen. Nun gingen die Lichter nacheinander aus, und jetzt konnten wir ihn sehen, unseren Opel Kadett GTE. Die Tür ging auf, Gery stieg aus, und eine weinende Stimme sagte: „Sie sind alle drei da und gesund“. Es war Gerys Mutter. Die Emotionen waren fast übergroß, und das hatte einen besonderen Grund. Dieser lag in den Vorkommnissen der vergangenen Nacht, als Gery uns zum ersten Mal abholen wollte. Was sich da ereignet hatte, erzählte uns Gery später. Wir umarmten uns nur kurz, für Gefühlsduselei
war jetzt keine Zeit. Im Eiltempo zog jeder seine Kleider an. Dass wir kurzzeitig ohne Deckung waren, hatten wir gar nicht beachtet, es wäre anders auch nicht möglich gewesen. Glücklicherweise kam kein Auto vorbei, niemand hat uns gesehen. Unseren quälenden Durst stillten wir mit reichlich Cola. Nun hieß es: so schnell wie möglich raus aus dem Grenzgebiet.
Wir waren sechs Personen in dem kleinen Wagen, doch das störte uns nicht. Das schöne Donautal haben wir schnell hinter uns gelassen und kamen zügig voran. Es dürfte 5 Uhr gewesen sein, als wir in dem Ort Veliko Gradište ankamen. Am Ortseingang war eine Tankstelle, die um diese Uhrzeit sehr verlassen aussah. Am Straßenrand stand ein Polizist, neben ihm sein Dienstfahrzeug, ein altes, angerostetes Mofa. Wir ahnten nichts Gutes. Tatsächlich erhob er seine Kelle, wahrscheinlich mehr, um seiner Langeweile zu entgehen, und machte uns Zeichen zum Anhalten. Dies hatten wir aber nicht vor, sechs Personen im Auto und ohne Ausweise, das wäre das Ende unserer Reise gewesen. Gery setzte zum Schein den Blinker, fuhr in die Tankstelle, schaltete die Scheinwerfer aus, um in demselben Zug am anderen Ende mit hoher Beschleunigung zurück auf die Straße zu gelangen. Dies war uns eine Warnung für den weiteren Weg durch Jugoslawien. Jetzt erfuhren wir, was sich in der Nacht davor an der Donau abgespielt hatte. Um eventueller Verfolgung zu entgehen, verließen wir die Hauptstraße und benutzten bis nach Marburg an der Drau (Maribor) nur noch Nebenstraßen. Das nahm viel Zeit in Anspruch, aber die Sicherheit hatte Vorrang. Unser nächstes Ziel war Belgrad, wo wir Gerys Vater am Bahnhof absetzten. Wegen Platzmangels musste er mit der Bahn weiterfahren. Wir fuhren nun in die Nähe der österreichischen Grenze. Es gab einen groben Plan, wie wir nach Österreich gelangen sollten, die Details wollten wir erst vor Ort besprechen. Bis zur österreichischen Grenze waren es noch 600 Kilometer, viel Zeit, um zu sprechen.
Es war die Nacht, in der wir die Donau überqueren wollten, den langen Weg bis dahin aber nicht geschafft hatten. Wie abgesprochen, machte Gery ab Mitternacht seine stündlichen Fahrten zum vereinbarten Treffpunkt. Seine Eltern waren dabei. Was sie zu sehen bekamen, ließ sie vor Schreck erstarren. Das rumänische Ufer war auf dem gesamten Abschnitt, an dem wir die Grenze passieren sollten, mit riesigen Scheinwerfern ausgeleuchtet. Die Scheinwerfer waren so stark, dass man den Eindruck hatte, es wäre ein Sommertag mit Sonnenschein. Auf der Donau patrouillierten Schnellboote des Grenzschutzes, ebenfalls mit starken Scheinwerfern ausgerüstet, und beleuchteten teilweise auch das jugoslawische Ufer. Die Küstenstraße war von Militär besetzt, Grenzsoldaten rannten bewaffnet hin und her, es hatte den Anschein, dass hier etwas geschehen ist. Gery und seine Eltern sahen dem Geschehen fassungslos zu. Ihr einziger Gedanke war, dass wir gesucht oder gejagt würden. Ihre einzige Hoffnung war, dass es uns vielleicht gelungen sei, uns zu verstecken, um es die
nächste Nacht zu versuchen. Als Initiator der Flucht hätte sich mein Freund Gery beim Scheitern der Flucht mitschuldig gefühlt. Um 3.30 Uhr stellte er die Suche nach uns ein und fuhr zurück ins Hotel. Jugoslawische Grenzer waren nicht zu sehen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Aufgewühlt von den Ereignissen der vergangenen Nacht, ließen quälende Gedanken und Schuldgefühle den Tag unendlich lang erscheinen. In der Hoffnung auf das Gelingen unserer Flucht wartete er auf die kommende Nacht. Sein auffälliger Wagen, der nun seit zwei Tagen vor dem einzigen Hotel in Golubac stand, weckte die Neugier einiger Bewohner. Es war nicht auszuschließen, dass auch der jugoslawische Grenzschutz seine Aufmerksamkeit dem Fahrzeug und seinem Besitzer widmen würde. Um sich keiner zusätzlichen Gefahr auszusetzen, beschloss Gery, in der kommenden Nacht seine stündlichen Fahrten auf nur eine, und zwar um 3 Uhr, zu reduzieren. Jetzt war klar, warum er so spät gekommen ist. Dies war auch richtig so, denn es ist alles gut ausgegangen. Die Kälte, das Zittern, der Durst, alles war vergessen. In der Nacht zuvor wäre die Flucht gescheitert. Wem der Einsatz galt, wird ein Geheimnis bleiben. Vielleicht war es nur eine Übung der Grenzwache, oder aber die Waldarbeiter hatten uns verraten, und der Einsatz galt uns. Dafür war die letzte Nacht besonders ruhig. Was gestern war, ist heute bedeutungslos, was zählt, ist die Zukunft.
Ohne besondere Vorkommnisse sind wir gegen 14 Uhr in Marburg angekommen. Wenige Kilometer nach Marburg führt ein Weg zum Grenzübergang Langegg an der Weinstraße. Dieser wurde vorwiegend von Anwohnern des Grenzgebietes genutzt. An dieser Straßenkreuzung stand eine Würstchenbude, wo wir eine Pause einlegten und unser Mittagsmahl einnahmen. Der Massentourismus war voll im Gang, viele Westurlauber fuhren in Richtung Spielfeld oder Adria. In dieser Automenge fielen wir nicht mehr auf und hatten auch keine Angst, kontrolliert zu werden. Nach dem Mittagessen entwickelten wir die Strategie der Grenzüberquerung nach Österreich. Und so sah unser Plan aus: Gery wird uns in die Nähe des Grenzüberganges fahren, von dort schlagen wir einen großen Bogen um den Kontrollpunkt herum und halten uns immer nach Westen. Die Grenze verläuft von Norden nach Süden, so dass wir irgendwann in Österreich ankommen mussten. Danach sollten wir jemanden finden, der uns in diesem Straßenlabyrinth nach Leutschach bringt, wo Gery vor der Kirche auf uns warten wird. Warum Leutschach? Leutschach ist die größte Ortschaft in dieser Gegend und liegt nahe an diesem Grenzpunkt. Die Kirche ist der sicherste Treffpunkt und immer leicht zu finden. Gery mit seiner Mutter werden den regulären Grenzübergang bei Spielfeld nehmen. Wenn alles gut geht, sind wir um 18 Uhr wieder zusammen. Auf seiner Fahrt nach Rumänien hatte sich Gery diesen abseits gelegenen Grenzübergang ausgesucht, um festzustellen, ob es möglich wäre, in diesem Abschnitt die Grenze nach Österreich zu überschreiten. Er stellte fest, dass nur wenig Personal und vor allem keine Soldaten zu sehen
waren. Gleichzeitig prägte er sich wesentliche Merkmale über den Straßenverlauf und die Gegend um den Grenzkontrollpunkt ein. Diese Beobachtungen waren für unsere Planung sehr wichtig. Unser Optimismus war sehr groß, Wörter, wie „vielleicht“, gebrauchten wir nicht. Wir planten und führten aus, als wäre alles Routine. Wir bestimmten die Vorgehensweise und befolgten strikt unsere Beschlüsse. Wir simulierten Gefahrensituationen und versuchten, dafür einen Ausweg zu finden. Zur größten Gefahr werden wir selbst, wenn sich Übermut und Unvorsichtigkeit breit machen. Mit dieser Erkenntnis gingen wir das letzte große Hindernis in die Freiheit an, wohl wissend, dass uns bei einem Misserfolg eine Gefängnisstrafe und womöglich die Abschiebung nach Rumänien drohten.
Wir brachen auf und fuhren auf einer schlechten Landstraße nach Jurski Vrh. Etwa zwei Kilometer hinter der Ortschaft, vor einer Kurve, stiegen wir aus und taten so, als würden wir eine Pause einlegen. Wir mussten uns entscheiden, in welche Richtung wir den großen Bogen um den Kontrollpunkt schlagen sollen: nach Süden oder Norden. Wir marschierten nach Süden. Es war eine Fehlentscheidung. Denn dort verläuft die Grenze in Richtung Ost-West, so dass wir eine erhebliche Strecke parallel zum Grenzverlauf auf jugoslawischer Seite gehen mussten und nach längerer Zeit immer noch nicht in Österreich waren. Wir hielten vergebens Ausschau nach Häusern auf der österreichischen Seite. Auf einer Wiese begegneten wir einem Bauern. Ich erklärte ihm in deutscher Sprache, dass wir Flüchtlinge aus Rumänien seien und nach Österreich wollten. Ängstlich winkte er ab und gab mir zu verstehen, dass er mit uns nichts zu tun haben wolle. Der Schrecken und die Angst in seinem Gesicht konnte ich nicht verstehen. Ich nehme an, der Mann fürchtete sich vor einer Bestrafung, wenn er uns nicht den Grenztruppen melden würde. Ich unternahm trotzdem einen letzten Versuch, um unsere Lage besser einschätzen zu können und sagte ihm, dass ich seine Angst verstehen kann, er solle doch bitte, und dabei faltete ich die Hände, auf meine Fragen wenigstens mit Kopfnicken antworten. Es war ihm anzusehen, dass er uns so schnell wie möglich loshaben wollte. Ich machte es kurz: „Ist da Österreich“? und zeigte nach Westen. Er verneinte kopfschüttelnd. Dann zeigte ich nach Norden und diesmal bejahte er wiederum mit einem kurzen Nicken. Verwundert standen wir da und konnten nicht begreifen, was schief gelaufen ist, denn aus dieser Richtung waren wir gekommen. Dann verschwanden wir in einem Weinberg, der uns gute Deckung bot. Nun mussten wir schnell handeln und die Lage neu bewerten. Die Zeit drängte, denn nach Aussage des Bauern patrouillierten in diesem Gebiet regelmäßig Grenzsoldaten.
Ich machte den Vorschlag, an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren und die Nordschleife zu nehmen. Weitere Versuche über die Südseite würden nur Zeit kosten. Dan stimmte mir zu, und wir gingen an unseren Ausgangspunkt
zurück. Wir legten an Tempo zu und benutzten immer wieder den Kompass, um die Richtung beizubehalten. Das ganze Gebiet war voller Weingärten, die sich auf österreichischer Seite fortsetzten. Die Weinreben boten zwar gute Deckung, aber versperrten auch die Sicht. Wir waren schon eine beachtliche Zeit unterwegs, und der Weinberg schien unendlich zu sein. Da es stetig bergauf ging, kam uns die Strecke doppelt so lang vor, wie sie eigentlich war. Die eingeschränkte Sicht war sehr lästig, und wir hatten nach unserem Empfinden die Orientierung verloren. Diese Sinnestäuschung mussten wir ignorieren und blind dem Kompass vertrauen. Dieser lügt nicht.
Plötzlich sahen wir die Spitzen einiger Tannenbäume, was eine willkommene Abwechslung für das Auge war. Nach kurzer Zeit erreichten wir das Ende des Weinberges auf einer Bergkuppe. Die andere Seite des Berges, also der Weg ins Tal, war bewaldet. Am Waldrand angelangt, trafen wir einen Bauern und eine Bäuerin. Das gleiche Szenarium wie vorhin wiederholte sich. Beide waren verängstigt und warnten uns vor den Soldaten. Jetzt hatte ich meine Erfahrung im Umgang mit so einer Situation und begann, die beiden zu beruhigen. Wir hatten erkannt, dass diese Menschen für uns keine Gefahr darstellten und den Kommunismus vielleicht genauso verachteten wie wir, sie mussten aber mit ihm leben. „Wir sind aus Rumänien und auf der Flucht vor dem Kommunismus, wir wollen nach Deutschland“, habe ich gesagt: „Bitte, zeigt uns, wo Österreich ist“. Der Mann schaute mich an, zögerte einen Augenblick, dann drehte er den Kopf nach links und sagte leise: „Da drüben ist Österreich“. Ich konnte es kaum glauben und fragte noch einmal: „Meinen Sie, dieses Haus auf der Bergkuppe steht in Österreich?“ Er nickte lächelnd, ich hatte den Eindruck, er wisse wohl, dass er eine gute Tat vollbracht hatte. Unsere kleinen Geschenke, die wir mitführten, haben wir ihm überlassen und sind in den Wald geeilt. Wir rannten den Hang hinunter, nach etwa 30 Metern sah ich den Grenzstein. Einsam, grau und vom Zahn der Zeit stark angenagt, ragte er wie ein Relikt aus vergangener Zeit etwa 30 Zentimeter aus dem Boden. Dies war der Moment, in dem ich zum ersten Mal richtig die Freiheit fühlte. Dan und Kid waren auch schon da, wir umarmten uns und tanzten, wie wir es um 1 Uhr schon einmal getan hatten. Ganz gleich, was jetzt noch geschehen mag, die Freiheit wird uns keiner mehr nehmen können, das wussten wir.
Der unscheinbare graue Grenzstein, der schon viele Jahrzehnte unbeachtet im Wald stand, markierte eine Staatsgrenze, aber auch die Grenze zwischen gegensätzlichen Ideologien. Wir ließen uns Zeit und genossen den Augenblick der endgültigen Freiheit. Wieder umarmten wir uns, hüpften vor Freude und ließen unseren Gefühlen freien Lauf. In Anbetracht dieser Sicherheit haben Dan und Kid laut zu jubeln begonnen, worüber ich mich ärgerte. Irgendwie konnte ich den letzten Rest der potenziellen Gefahr nicht verdrängen und mahnte sie zur Vorsicht. Sie ignorierten meine Ermahnung und schrieen weiter. Ein mulmiges
Gefühl, vielleicht war es Angst, kam in mir auf, und so entschloss ich mich, weiterzugehen. Ich rannte den Berg hinunter und erreichte nach ein paar hundert Metern den Waldrand. Meine beiden Freunde kamen langsam nach, offensichtlich hatten sie bessere Nerven als ich. Hinter dem Wald erstreckte sich eine breite Wiese bis zum Fuße eines Weinberges. Ganz oben auf der Bergkuppe konnte ich ein sehr schönes Haus mit der Aufschrift „Schantlhof“ erkennen.
Das Lesen einer Inschrift in meiner Muttersprache gab mir das Gefühl, angekommen zu sein. Im Gegensatz zu meinen beiden rumänischen Freunden hatte dieses Ereignis für mich eine ganz andere Bedeutung. Endlich war ich auf deutschsprachigem Gebiet, mit dem ich durch meine Muttersprache im Herzen eng verbunden war. Ich fühlte mich jetzt schon zu Hause angelangt, obwohl mein Ziel noch nicht ganz erreicht war. Dan und Kid hingegen waren auf fremdem Boden. Ich kam meiner gefühlten Heimat immer näher, während Dan und Kid sich mit jedem Schritt von ihrer trennten.
Nach kurzer Zeit waren beide nachgekommen, und wir marschierten den Berg hinauf. Die Rebstöcke waren sehr hoch, und wir konnten das andere Ende des Weinberges nicht sehen. Nach den Anstrengungen der letzten Tage war der Gang bergauf sehr anstrengend. Ab und zu hielten wir an, um auszuruhen und probierten die Trauben. Mit jedem Schritt wurden die Beine schwerer. Gefahr, verfolgt zu werden, gab es nicht mehr, dafür spürten wir die körperlichen Schmerzen nun umso mehr. Jetzt mussten wir doch endlich ankommen, unsere Ungeduld, das Haus zu erreichen, wurde immer größer.
Endlich waren wir da. Wir standen vor dem Eingang eines riesigen Hofs, den wir zögernd betraten. Es war sehr still auf dem Hof, keine Menschenseele war zu sehen. Um uns bemerkbar zu machen, riefen wir ein paar Mal: „Hallo“. Verunsichert standen wir auf fremdem Grund und wussten nicht, was wir tun sollten. Im Hof standen ein paar Tische und Bänke aus Holz. Müde setzten wir uns hin und warteten. Zwei Garagen mit weit geöffneten Toren ließen vermuten, dass der Eigentümer bald kommen musste. So war es auch, nach kurzer Zeit fuhr ein Mercedes auf den Hof. Ein Mann stieg aus. Er war über unsere Anwesenheit sichtbar überrascht. Er merkte sofort, dass wir keine Gäste oder Touristen waren. Unser Erscheinungsbild ließ ihn sehr misstrauisch dreinblicken. Unrasiert, Schnitt- und Kratzwunden im Gesicht, fremdartige Kleidung, all das waren Gründe, uns gegenüber misstrauisch zu sein. Wir standen auf, und ich ging ein paar Schritte auf ihn zu. Aus sicherem Abstand sagte ich: „Ich heiße Alfred Waldenmayer“, und zeigte ihm meinen Ausweis. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, wir sind Flüchtlinge aus Rumänien, seit drei Tagen unterwegs und wollen nach Deutschland.“ Meine ruhige, etwas schüchterne Stimme sowie mein akzentfreies Deutsch hinterließen offenbar einen beruhigenden Eindruck. Er wirkte jetzt entspannter, reichte mir die Hand und sagte: „Gottfried Liengast“. Für mich war das wie ein erstes „Willkommen in der Freiheit“. Wir führ-
ten ein kurzes Gespräch, dann kam ich gleich zu meinem Anliegen. Er möge uns doch den Weg nach Leutschach zeigen, dort werden wir von einem Freund erwartet. Er bat uns, Platz zu nehmen, und brachte uns eine Schüssel Weintrauben und kühle Getränke. Dann setzte er sich zu uns, und ich erzählte ihm von unserer Flucht. Auf seine wenigen Fragen antwortete ich ehrlich. Nur so konnte ich sein Vertrauen gewinnen, ich hoffte insgeheim, dass er uns zur Kirche fahren würde. Ich gab ihm zu verstehen, dass die Zeit drängt und wir gehen müssten. „Ich fahre euch zur Kirche, wartet hier, ich bin gleich zurück.“ Ich habe meinen beiden Weggefährten alles übersetzt, wir zweifelten nicht an seiner Ehrlichkeit und freuten uns auf das Wiedersehen mit Gery. Wir genossen die Stille und bewunderten die Schönheit der Landschaft. Später erfuhr ich, dass wir im Herzen der Südsteirischen Weinstraße waren. Kid, Dan und ich bewunderten die Sauberkeit und Ordnung, die hier herrschten. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Nach kurzer Zeit kam Herr Liengast mit einem Freund zurück, und wir durften in seinen Mercedes einsteigen. Sein Freund nahm auf dem Beifahrer, wir auf dem Rücksitz Platz. Die Fahrt durch das Labyrinth der Weinstraße war ein kleines Erlebnis und dauerte länger, als wir dachten. An der Kirche stiegen wir aus und bedankten uns noch einmal für seine Hilfe. Beim Abschied gab er mir seine Visitenkarte und wünschte uns viel Glück für die Zukunft.
Sechs Jahre später, ebenfalls im August, machte ich mit meiner kleinen Familie dieselbe Reise in umgekehrter Richtung. Ich besuchte ihn, und Erinnerungen wurden wach. Dann fuhr ich an die Donau. Ich stand am Ufer, an der Stelle, wo ich das Gefühl der Freiheit zum ersten Mal erleben durfte.
Im Zentrum der kleinen Stadt, vor der Kirche, warteten wir auf unseren Freund Gery. Nach unserem Plan hatten wir fast zwei Stunden Verspätung. Das Umherirren an der Grenze hatte uns viel Zeit gekostet, aber auch Gery musste lange an der Grenze warten, so dass wir fast gleichzeitig am Treffpunkt erschienen. Dies war die letzte gefährliche Aktion, die wir gemeistert hatten, ab jetzt fühlten wir uns richtig frei. Die Angst, die wir in uns getragen hatten und von der keiner sprach, war nun weg. Die Anspannung und Konzentration sind aber geblieben. Unsere Reise war noch nicht zu Ende, und wir wussten, dass wir illegal in Österreich waren. Sollten wir gefasst werden, bekämen wir Ärger mit den österreichischen Behörden. Besonders gefährdet waren Dan und Kid, die kein Deutsch sprachen. Weil ich Verwandte in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich hatte, musste ich weniger befürchten. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als wir unsere Reise fortsetzten. Unser nächstes Ziel war Sankt Gilgen am Wolfgangsee. In Sankt Gilgen wohnte seit Kriegsende mein Onkel, den ich bitten wollte, uns bei der Überquerung der österreichisch-deutschen Grenze zu helfen.
Im Juli desselben Jahres war er in Rumänien zu Besuch, und wir hatten einige schöne Abende miteinander verbracht. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihm
von meiner Sehnsucht nach Freiheit und meinem Kummer in diesem Land, das ich als großes Gefängnis empfand. Damals gab es noch keinen konkreten Fluchtplan, somit konnte ich auch nicht ahnen, dass ich sieben Wochen später vor seiner Haustür stehen würde. Eines Abends saßen wir auf der Terrasse und genossen die wohlige Sommernachtswärme. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung sowie von meinem Wunsch, dieses Land zu verlassen. Es war Seelenbalsam, dass mir jemand zuhörte und meine Sorge verstand. In meiner Verzweiflung sagte ich zu ihm: „Johann-Onkel, wenn mir eines Tages die Flucht nach Österreich glückt, würdest du mir helfen, nach Deutschland zu gelangen?“ Er sagte: „Ich tue alles für dich, darauf kannst du dich verlassen“. Seine Worte waren ein willkommener Trost, ich fühlte mich erleichtert. Später, bei der Vorbereitung meiner Flucht, plante ich diese Zwischenstation ein und merkte mir seine Adresse.
Zügig und entspannt fuhren wir zur Autobahn und bewunderten die Schönheit der österreichischen Weinstraße. Mein nächstes Erlebnis war die Autobahnfahrt. Bis dahin hatte ich Autobahnen nur in Filmen gesehen. Die hohe Geschwindigkeit berauschte mich, das gleichmäßige Summen des 105 PS starken Motors war Musik in meinen Ohren. Im Gegensatz zu den gewohnt schlechten Straßen empfand ich die Fahrt als ein Dahinschweben auf einem Luftkissen. Die riesigen Firmengebäude mit ihren überdimensionalen Reklamen, die gepflegten bunten Häuser, die geordneten Gärten und Felder ließen uns aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Die Müdigkeit hatte keine Chance gegen das Adrenalin. Für Gery war das alles selbstverständlich, und er lächelte nur, wenn ich ihm etwas „Besonderes“ zeigte. Das monotone Summen des Motors, das wir als angenehm empfanden, hatte auf unseren Fahrer genau die gegenteilige Wirkung. Nach einer schlaflosen Nacht und einer langen Fahrt wurde er zusehends müder. Ich hatte auf einmal große Lust, selbst zu fahren, und sagte Gery, dass ich ihn gerne ablösen würde. Wir tauschten die Plätze, meine erste Fahrt auf der Autobahn sollte die Krönung jenes Glücksgefühls werden. Zu meiner Enttäuschung kam es anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Als der Tachometer 120 Kilometer in der Stunde anzeigte, umklammerte ich immer verkrampfter das Lenkrad. Immer wieder schaute ich in den Rückspiegel, beobachtete die überholenden Autos und drosselte die Geschwindigkeit, sobald diese die 120er Marke überschritt. Wir kamen in einen Tunnel, wieder eine neue Erfahrung für uns. Die vielen Lichter, der Gegenverkehr, meine Unerfahrenheit auf der Autobahn brachten mich ins Schwitzen. Ich fuhr immer langsamer und musste mir eingestehen, dass meine Fahrkünste nicht besonders gut waren. Wir kamen nicht mehr so schnell voran wie bisher. Bei der ersten Gelegenheit wechselte ich freiwillig auf den Beifahrersitz. Insgeheim haben sich das wohl alle gewünscht. Gerys Müdigkeit war wegen meiner katastrophalen Fahrweise wie verflogen, ab jetzt ging es wieder im normalen Tempo weiter. Die verschwenderische Beleuchtung
der Ortschaften und einzelner Sehenswürdigkeiten faszinierte uns. Trotz der Müdigkeit hatte ich kein Bedürfnis, zu schlafen, die Eindrücke waren überwältigend und beanspruchten meine Sinne aufs äußerste.
Kurz nach Mitternacht sind wir in Sankt Gilgen angekommen. Wir wollten in einer Pension übernachten, um am nächsten Tag meinen Onkel Hans Nerbl aufzusuchen. In einem Hotel machten wir einen letzten Versuch, auch hier wurden wir abgewiesen. Unser Erscheinungsbild war wahrscheinlich die Ursache, dass alle Pensionen angeblich ausgebucht waren, wofür ich völliges Verständnis habe. Ich fragte die Dame an der Rezeption nach dem Weg zu meinem Onkel, die Adresse kannte ich ja. Ausgesprochen freundlich fragte sie mich: „Wen suchen Sie denn?“ Nachdem ich ihr seinen Namen genannt hatte, fragte sie erstaunt: „Der Hans ist Ihr Onkel?“ Ebenso erstaunt antwortete ich kurz: „Ja“.
Es war 2 Uhr, als wir vor seiner Haustür standen, der Name auf dem Klingelknopf ließ meinen Puls ansteigen. Wie wird er auf mein unerwartetes Erscheinen mitten in der Nacht reagieren? Vor ein paar Wochen sprachen wir über ein Wiedersehen in Österreich, woran keiner wirklich glaubte, und jetzt stehe ich da. Ich drückte den Klingelknopf, dabei war ich sehr aufgeregt. Mit Spannung warteten wir eine Weile. Das Treppenhaus war schwach beleuchtet, die Stille der Nacht war unangenehm. Es herrschte eine gespenstische Ruhe, die nur durch das Klingeln unterbrochen wurde. Nach einigen Minuten des Wartens versuchte ich es noch einmal. Ich hielt den Finger lange am Knopf, wir konnten das Signal deutlich vernehmen. Auch diesmal keine Reaktion. Dass er zu Hause war, das wussten wir, denn sein Wagen stand auf dem Parkplatz vor dem Haus. Als auch dieser Versuch erfolglos blieb, beschlossen wir, im Auto zu übernachten. Wir waren mit unseren Kräften am Ende, die Müdigkeit hatte uns übermannt. Im Vergleich zu den beiden vergangenen Nächten, war es hier sehr kalt, kein Wunder, mitten im Hochgebirge. Bevor ich meinen gewohnten Platz einnahm, fiel mein Blick noch einmal auf den Wagen meines Onkels. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Mein Onkel war ein leidenschaftlicher Angler, und wie er mir erzählte, fuhr er fast täglich mit seinem Boot zum Angeln. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er schon sehr früh hinaus auf den Wolfgangsee fuhr, das mussten wir auf alle Fälle verhindern. Also parkten wir quer hinter seinem Wagen, dann konnte er nicht wegfahren. Mein Plan ist voll aufgegangen: Um 6 Uhr kam er und konnte zu seinem Schreck nicht wegfahren. Ratlos sah er sich um und konnte es nicht glauben, dass so ein „idiotischer deutscher Urlauber“ schamlos seine Ausfahrt blockierte. Er versuchte, ins Innere des Wagens zu schauen, doch die Scheiben waren stark beschlagen. In unserer unbequemen Lage hatten wir keinen richtigen Schlaf, so dass wir ihn schimpfen hörten. Ich kurbelte das Seitenfenster einige Zentimeter herab und schaute durch den schmalen Schlitz hinaus. Er konnte meine Augen, jedoch nicht mein Gesicht sehen. Langsam kurbelte ich weiter und hielt abermals inne. Dieses
Spiel fand er nicht lustig, denn er wollte endlich wegfahren. Noch langsamer, aber ohne Unterbrechung, kurbelte ich das Fenster bis zum Anschlag hinunter und schaute ihm ernst in die Augen. Er stand bewegungslos, wie erstarrt da und schaute mich an, als wäre ich ein Gespenst. Ich brach das Schweigen mit den Worten: „Gel, da schaust, pass auf, dass deine Froschaugen nicht herausfallen“. Jetzt hatte er begriffen, dass ich keine Fata Morgana war. Er sagte nur: „Fredy, bist du es wirklich?“ Sein Anglerabenteuer war zu Ende, dafür hatte er ein anderes vor sich, das viel schöner war, und vor allem abwechslungsreicher.
Kurz erzählte ich ihm von unserer Flucht, und wir gingen in seine Wohnung. Meine Tante war nicht minder überrascht bei unserem Erscheinen. Die Aufregung war groß, wir wussten nicht, was wir als nächstes tun sollten. Nach einem deftigen Frühstück wollten wir uns erst einmal ausschlafen. Die Müdigkeit war unübersehbar, wir hatten schon die dritte schlaflose Nacht hinter uns. Ich glaube, am schlimmsten hatte Gery unter der Müdigkeit zu leiden, der saß schon mehr als 24 Stunden hinter dem Lenkrad. Meine Freunde legten sich schlafen, während ich meinem Onkel von der Flucht erzählte. Nach einer Weile sagte er, ich solle mich auch zur Ruhe begeben, doch ich fühlte mich nicht müde. Ich wollte die errungene Freiheit und alle neuen Eindrücke genießen. Er sah ein, dass es zwecklos war, mich zum Schlafengehen zu überreden, und wir fuhren mit seinem Motorboot hinaus auf den See. Ein wunderschöner Sommertag bahnte sich an, kein Wölkchen stand am Himmel. Die Alpen ringsum hatten fast gigantische Höhen im Vergleich zu den Bergen an der rumänischjugoslawischen Grenze. Die Gipfel erstrahlten noch im letzten Rest der Morgenröte, und es schien, als hätten sie rote Mützen auf. Ab und zu fuhr ein Schiff mit Touristen vorbei, die uns zuwinkten. Es herrschte eine unheimliche Stille, die ich nicht stören wollte, deshalb sprach ich sehr leise. Endlich sagte mein Onkel: „Du kannst schon normal reden, wir sind nicht in der Kirche“.
Wir hatten uns viel zu erzählen, doch die Frage, wie wir illegal nach Deutschland kommen können, war die wichtigste. Wir wollten nicht vom Grenzschutz oder der Polizei erwischt werden, sondern erst einmal ans Ziel gelangen. „Das ist kein Problem“, sagte mein Onkel. Auf weitere Details gingen wir nicht ein, das musste gemeinsam mit den anderen besprochen werden. Er fragte mich nach dem Befinden meiner Eltern, ob sie Kenntnis von meiner Flucht hätten. Ich verneinte, was ihn nachdenklich stimmte. Gott sei Dank, wusste ich nichts von den seelischen Qualen, die sie in den letzten Tagen erlitten hatten. Schon am zweiten Tag nach meinem Verschwinden hatten sie von meinem Fluchtversuch erfahren.
Gegen Mittag fuhren wir nach Hause. Meine Freunde waren schon wach, und meine Tante hatte das Mittagessen zubereitet. Am Mittagstisch besprachen wir das weitere Vorgehen. Mein Onkel machte den Vorschlag, uns mit seinem Wagen über die Grenze zu fahren. An der Grenze sollten wir im Vorbeifahren die
Pässe seiner Familienangehörigen vorzeigen, dies würde ausreichen, man würde uns durchwinken. Mit diesem Vorschlag war ich nicht einverstanden, zu auffällig war unser gesamtes Erscheinungsbild. Das Risiko, erwischt zu werden, schien mir zu groß, und Ärger, so kurz vor dem Ziel, konnten wir nicht gebrauchen. Wir beschlossen, die erprobte Methode des Grenzübertritts von Jugoslawien nach Österreich auch hier anzuwenden. Mein Onkel sollte uns an eine geeignete Stelle bringen, und wir würden hinüberspazieren.
Es war noch sehr früh am Nachmittag, und so nahmen wir uns Zeit für einen Spaziergang zum Wolfgangsee. Bis dahin waren es nur ein Paar Schritte. Völlig befreit von Angst, die Schrecken der vergangenen Tage verdrängt, spazierten wir am Ufer entlang. Die Sonne strahlte mit voller Kraft, auf dem Wasser tummelte sich eine Vielzahl von Wasserskifahrern und Segelbooten. Passagierschiffe kamen und fuhren mit Urlaubern wieder hinaus, all das war Nach der Flucht in Österreich: Gery mit Kid im Boot auf dem Wolfgangsee für uns neu. Um ein wenig von dieser Urlaubsstimmung mitzunehmen, mieteten wir uns kleine Elektroboote und drehten ein paar Runden auf dem See. Abgelenkt von den Ereignissen der vergangenen Tage, tankten wir neue Kraft. Gegen 16 Uhr brachen wir zu unserem letzten Abenteuer auf, dem illegalen Grenzübertritt nach Deutschland.
An diesem kurzen, aber erlebnisreichen Nachmittag hatten wir uns körperlich wie auch seelisch gut erholt. Mit neuem Ehrgeiz und völlig gelassen fuhren wir zur Grenze. Mein Onkel brachte uns an eine Stelle, an der wir gefahrlos nach Deutschland spazieren konnten. Es war die Grenzstadt Großgmain bei Salzburg. Ein Teil der Stadt liegt in Österreich, der andere in Deutschland. Es war Urlaubszeit, die Touristen überschwemmten den Ort. In diesem Trubel fielen wir beim Spaziergang durch die Straßen nicht auf. Seltsamerweise hatte ich auch diesmal ein Kribbeln im Bauch, das illegale Überschreiten einer Grenze war eben eine Straftat.
Wir erreichten einen kleinen Parkplatz und stiegen aus. Mein Onkel zeigte uns die Richtung, in die wir gehen mussten, und auf einen kleinen Bach in der Nähe des Parkplatzes: „Das ist die Grenze“, sagte er, und ich fragte scherzhaft: „Wo sind die Wachtürme?“ Dann erklärte er uns den Weg zu unserem Treffpunkt auf
deutscher Seite. In spätestens einer Stunde sollten wir dort sein. Im Sog der Urlauber schlenderten wir die kurze Strecke durch den Ort. Die schöne Landschaft ringsum interessierte uns kaum. Wir wollten endlich nach Deutschland. Als wir den kleinen Bach erreichten, blieben wir stehen, um den Moment unserer letzten Grenzüberschreitung zu genießen.
Jetzt fühlte ich mich der vermeintlichen Allmacht des Kommunismus endgültig entronnen. Wenige Stunden zuvor waren wir noch in Reichweite der Folterknechte, doch jetzt war die Freiheit zum ersten Mal Realität. Der Freiheitsdrang hatte gesiegt.
Doch Freude und Leid sind oft nahe beieinander. Drei Elternpaare blieben mehrere Jahre lang von ihren Kindern getrennt. Am schlimmsten traf es wohl meine Eltern, die von meiner Flucht viel zu früh erfuhren und vier Tage lang kein Lebenszeichen von mir hatten.
Bis zu unserem Treffpunkt auf deutscher Seite mussten wir eine längere Strecke über ein freies Feld spazieren. Man konnte uns von allen Seiten aus sehen, ich fühlte mich dabei sehr unwohl. Automatisch beschleunigten wir unseren Gang, um so schnell wie möglich auf einen Weg oder auf eine Straße zu gelangen. Ich hatte den Eindruck, ständig beobachtet zu werden.
Endlich waren wir am Treffpunkt angelangt, und die Reise mit beiden Autos ging weiter in Richtung München. Mein Onkel begleitete uns bis zum Chiemsee, wo wir uns von ihm verabschiedeten. Er wünschte uns allen viel Glück und drückte mir einen Geldschein in die Hand. Ich dankte ihm mit Tränen in den Augen. Ich stieg zu Gery ins Auto und sah mir den Schein an. So einen hatte ich noch nie gesehen, es waren 500 Mark. Der Wert entsprach mindestens drei rumänischen Monatsgehältern. Ich hatte keine Vorstellung vom Wert der Mark in Deutschland und fragte Gery, ob das viel Geld sei. Er lachte und sagte: „Ja Fred, es ist viel, vor allem für Dich.“
Im Hofbräuhaus
Die Zeit verging sehr schnell, und schon bald waren wir in München. „Hier machen wir Rast und trinken ein echtes bayerisches Bier in einem echt bayerischen Lokal“, sagte Gery. Wir waren im Zentrum der Weltstadt, deren Namen ich nur aus den Büchern kannte und die damals eine der besten Fußballmannschaften der Welt hatte. Unser kurzer Spaziergang über den Marienplatz hat mir die Sprache verschlagen, die ich beim Betreten des Hofbräuhauses auch nicht wieder fand. Das Lokal war mir aus der Literatur und aus Erzählungen bekannt, aber vorstellen konnte ich es mir nicht. An diesem späten Nachmittag war es nur mäßig besucht, auffallend waren die vielen ausländischen Touristen.
Es war zwar beeindruckend, aber besondere Feierstimmung kam nicht auf. Wir hatten Großes furchtlos und entschlossen vollbracht, und jetzt saßen wir da,
merklich schüchtern, wie Fremdkörper, die nicht hierher gehören. Unser allgemeines Aussehen musste schon auffallend gewesen sein, und bald schon kamen wir ins Gespräch mit unserer Wirtin. Wir erzählten ihr in kurzen Sätzen von unserer Flucht, was sie sehr interessierte und auch beeindruckte. Bevor wir gingen, baten wir sie um ein Andenken an unseren ersten Wirtshausbesuch in Deutschland. Besonders witzig fanden wir die riesigen Bierkrüge, die man „Maß“ nennt. So einen Maßkrug hätte gern jeder von uns gehabt, selbstverständlich gegen Bezahlung. Die Frau war von unserer Geschichte sichtlich ergriffen und sagte, sie würde uns die Maßkrüge Wiedersehen auf dem Schantlhof: Alfred Waldenmayer (links) ist nach Österreich zurückgekehrt, um sich noch schenken. Offiziell konnte sie einmal die Gegend anzusehen, wo er mit seinen Freundas aber nicht. Deshalb reichte den die slowenische Grenze überschritten hat. Der österreichische Winzer Gottfried Liengast hat ihnen auf der sie uns in einem unbeobachte- Flucht weitergeholfen. ten Moment vier Maßkrüge durch das Toilettenfenster auf die Straße hinaus. Gegen 20 Uhr begaben wir uns auf die letzte Strecke, nach Regensburg. Es war still im Auto, die Realität hatte uns wieder eingeholt, und jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Wir dachten an unsere Angehörigen, Eltern, Großeltern, Geschwister, die vermutlich von unserer Flucht schon erfahren hatten. Um 22 Uhr sind wir in Regensburg angekommen. Gery brachte uns zu einem Freund aus Guttenbrunn, der vor ein paar Jahren ausgesiedelt war. Übermüdet saßen wir im Wohnzimmer und erzählten von unserem Abenteuer. In dieser Nacht mussten wir unbedingt Kontakt zu unseren Familien in Rumänien aufnehmen. Dies war nicht ganz einfach, man musste sich bei einer Telefonzentrale anmelden, bei Zustandekommen der Verbindung wurde man zurückgerufen. Das konnte mehrere Stunden dauern. Als erstes habe ich meine Tante in Troisdorf angerufen, die vor Schreck kaum glauben konnte, dass ich in Deutschland war.
Sie verständigte ihre Cousine in Bukarest, die sie sehr schnell erreicht hatte.
Diese wiederum rief meine Eltern an und überbrachte ihnen die frohe Botschaft von unserer gelungenen Flucht. Unterdessen wartete ich immer noch auf die Verbindung zu meinen Eltern. Kurz nach Mitternacht war es soweit, ich konnte meiner Mutter sagen, dass es uns allen gut geht. Ein längeres Gespräch kam wegen der großen Emotionen nicht zustande. Später erfuhr ich, dass sie in den zurückliegenden Tagen in ärztlicher Behandlung wegen eines Nervenzusammenbruches gewesen war. Auch mein Vater war mit den Nerven am Ende. Als er meine Stimme hörte, brachte er kein Wort heraus, er weinte nur. Erst jetzt konnte ich erleichtert sagen: „Die Aktion ist beendet“.
Alfred Waldenmayer wurde am 10. Juli 1948 hinter Stacheldraht, in einem sowjetischen Arbeitslager in der Ukraine, geboren. Seine Eltern, zum Zeitpunkt der Verschleppung beide nicht einmal 20 Jahre alt, verbrachten fünf Jahre in der Hölle von Kriwoj Rog. Seit der Flucht, die in Regensburg geendet hat, arbeitet er in seinem Beruf als Maschinenbautechniker.