Leseprobe NOVAcura 1/2020

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Jahrgang 51 / Heft 1 / 2020

Herausgeberinnen und Herausgeber Barbara Müller Eveline Kühni Jürgen Georg

NOVAcura Das Fachmagazin für Pflege und Betreuung Themenschwerpunkt Healthy Ageing


Basiswissen zur Gesundheitsökonomie und -politik

Manfred Haubrock

Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik Lehrbuch für Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft 2020. 568 S., 132 Abb., 75 Tab., Kt € 49,95 / CHF 65.00 ISBN 978-3-456-85944-6 Auch als eBook erhältlich Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft benötigen Wissen über gesundheitsökonomische Zusammenhänge und gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse. Der erfahrene Hochschuldozent Manfred Haubrock fasst das Basiswissen zur Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik für Pflege-, Sozial- und Verwaltungsfachberufe verständlich und kompakt zusammen.

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Das Lehrbuch beschreibt die Entwicklung von Gesundheitsversorgungssystemen, vollzieht den Wandel zur Gesundheitswirtschaft nach, skizziert gesundheitspolitische Aufgaben, Ziele und Spielräume, differenziert Träger und Organisationen der Gesundheitsversorgung, stellt Gesundheitsberichtssysteme vor und begründet gesundheitsökonomische Evaluationen.


NOVAcura

Das Fachmagazin für Pflege und Betreuung

Jahrgang 51 /  Heft 1/ 2020 Themenschwerpunkt Healthy Ageing


Herausgeber/Redaktion

Barbara Müller, Hogrefe AG, Bern barbara.mueller@hogrefe.ch Eveline Kühni, Hogrefe AG, Bern eveline.kuehni@hogrefe.ch Jürgen Georg, Hogrefe AG, Bern juergen.georg@hogrefe.ch

Redaktionelle Mitarbeiter/innen

Sonja Baumann, Brigitte Benkert, Heidi Diefenbacher, Esther Indermaur, Tomas Kobi, Diana Staudacher, Eliane Pfister Lipp, Elke Steudter, Brigitte Teigeler, Brigitte Zaugg

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Jahresabonnement Institute: Schweiz: CHF 285.–; Europa: EUR 217.–­(print only; Informationen zu den Online-Abonnements finden Sie im Zeitschriftenkatalog unter www.hgf.io/zftkatalog) Jahresabonnement Private: Schweiz: CHF 124.–; Europa: EUR 94.– Vorzugspreis für Auszubildende, Studierende und Teilnehmende an Weiterbildungen im Pflegebereich (nur gegen Nachweis): CHF 82.– / € 67,00 Probeabonnement (2 Ausgaben): Schweiz: CHF 20.–; Europa: EUR 15.–­ Einzelheft: Schweiz: CHF 15.–; Europa: EUR 10.–­ inkl. Porto und Versandgebühren

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Titelbild

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Erscheinungsweise

10 Hefte jährlich © 2019 Hogrefe AG ISSN-L 166 – 027 ISSN 166 – 027 (Print) ISSN 223 – 271 (online)


Inhalt Editorial

Healthy Ageing Swantje Kubillus

7

Schwerpunkt

Lebenswert und lesenswert? – Wie die alternde Gesellschaft in Schweizer Zeitungen aussieht Karen Torben-Nielsen

9

Immer wichtiger in der Pflege: Gesundheitsförderung im Alter Siegfried Huhn

13

Pflege und Forschung Brigitte Teigeler

18

Medientipps zum Thema (Pro Senectute) Stefania Conte

20

Stufenorientiertes Medikamenten-Trainingsprogramm Förderung der Selbstwirksamkeit von chronisch erkrankten Menschen Julia Sonntag

21

Etikette oder Innovation? – Eine Bestandsaufnahme sozialer Betreuung in stationären Pflegeeinrichtungen Daniel Behrendt, Marielle Schirmer, Nancy Werner & Vanessa Wendschuh

25

Mehr Digitalisierung und mehr Kommunikation Kreative Lösungen angesichts des Fachkräftemangels Jens Gieseler

29

Palliative Care

Soziale Zerbrechlichkeit Grenzen des gesunden Alterns im Kontext sozialer Ungleichheit Diana Staudacher

31

Pflege zu Hause

„Gesundes Altern“ messbar machen – die Möglichkeiten, die uns mobile Datenerhebungsgeräte eröffnen Alexander Seifert

37

Lebensqualität von Menschen mit Demenz fördern – Demenz Coaches in der Spitex Sandra Sermier & Eva Soom Ammann

41

Hygiene in der Langzeitpflege Balance zwischen Schutz und Lebensqualität Lena Zumsteg

45

„Bevor ich sterbe, möchte ich …“ Bericht zum 7. St. Galler Demenz-Kongress „End-of-Life Care bei Personen mit Demenz: Vergessene Anforderungen?“ Diana Staudacher

49

Chefsache – Über den Umgang mit Widerstand und die richtige Dosis von Nähe und Distanz Eveline Kühni

52

Healthy Ageing through Dementia Prevention Garuth Chalfont

54

Fokus

Bildung

Dementia Care à propos

57

Vorschau/Termine

58

Chalfont/Rätsel

59

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© 2020 Hogrefe


Humor, Lachen und Heiterkeit pflegen Christoph Müller (Hrsg.)

HumorCare Das Heiterkeitsbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe 2019. 272 S., 19 Abb., 5 Tab., Kt € 34,95 / CHF 45.50 ISBN 978-3-456-85894-4 Auch als eBook erhältlich Humor und Lachen sind wichtige Ressourcen für Patient_innen, Angehörige und Gesundheitsprofis, um mit Krankheit und Behinderung zurechtzukommen. „HumorCare“, das Heiterkeitsbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe, stellt eine humorvolle Haltung in psychosozialen Handlungsfeldern in den Mittelpunkt. Der Pflegeexperte Christoph Müller und namhafte Humorforschende stellen Konzeptbausteine, innovative Projekte sowie Reflexionen zu pflegerischen Praxissituationen vor. Der Herausgeber und die Autoren • analysieren das Phänomen des Humors und zeigen, wie Lachen und Heiterkeit gefördert werden können • beschäftigen sich mit der Angst vor dem Ausgelachtwerden und mit selbstironischer Rhetorik

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• zeigen die Kraft des befreienden Lachens • verdeutlichen Möglichkeiten, den Humor für die psychosoziale Praxis von Pflege- und Gesundheitsberufen zu trainieren • schlagen konkrete Interventionen in verschiedenen Settings von Akut- bis Langzeitpflege sowie mit jungen und alten Menschen vor • stellen Variationen des clownesken Arbeitens und des Lachyoga vor • thematisieren das Singen als einen Weg zur heiteren Gelassenheit • erläutern Aspekte der zeitgenössischen Humor-Forschung • bieten Gelegenheiten, um humorvolle Methodik und Didaktik kennenzulernen • geben Übungen an die Hand, um sich in die alltägliche Heiterkeit einzufühlen und einzuarbeiten.


Editorial    7

Healthy Ageing

Liebe Leserinnen, liebe Leser, Jeanne Calment, 1875 im südfranzösischen Arles geboren, hält den Rekord als ältester Mensch der Welt. Sie wurde 122 Jahre und 164 Tage alt. Waren es die Gene? War es Glück? Welche Rolle spielten sozioökonomische Faktoren? Die Familie Calment war wohlhabend und Jeanne war gebildet, musste nie viel arbeiten, konnte stattdessen ihren Hobbies wie Radfahren, Schwimmen, Tennis und Klavier spielen nachgehen. Die meisten Menschen sterben zwischen 65 und 90 Jahren, doch dank des medizinischen Fortschritts und der ­guten Gesamtversorgung verschiebt sich die Grenze zunehmend nach hinten. Lebten 1970 in der Schweiz noch 61 Menschen, die über 100 Jahre alt wurden, waren es 2016 bereits 1546. Wünschen wir uns nicht alle ein möglichst langes Leben? Jungbrunnen, Einfrieren lassen oder ins Weltall schiessen? Doch was, wenn Krankheit und Gebrechen hinzukommen? Was bedeutet Lebensqualität dann? Kommt es nicht vielleicht darauf an, den Jahren mehr Leben zu geben, als dem Leben mehr Jahre? Alt werden ist das eine, dabei ein gutes Leben zu führen, das andere. Die WHO beschreibt das mit dem Konzept des „Healthy Ageing“. Es geht darum, Ressourcen zu stärken und Menschen zu befähigen, ihr Leben ihren Vorstellungen entsprechend zu gestalten, Zugang zu Bildung und Gesundheitsdienstleistungen zu schaffen sowie Teilhabechancen möglich zu machen. Auch vor dem Hintergrund

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von Krieg, Gewalt und Umweltverschmutzung hat jeder Mensch, überall auf der Welt, das Recht auf ein gesundes und langes Leben. Dazu gehört es auch, dem Alter das ­negative Stigma zu nehmen. All das liegt in politischer und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. „Das Alter ist unheilbar“, lautet ein nigerianisches Sprichwort. So können wir nur lernen und daran wachsen. Im Alter von 85 Jahren lernte Jeanne Calment das Fechten. Mit 100 fuhr sie noch Fahrrad. Erst mit 110 zog sie in ein Altersheim. Mit 115 stürzte sie und war auf den Rollstuhl angewiesen. Gegen Ende ihres Lebens wurde sie blind und taub, blieb jedoch geistig rege. Für ihre Gesundheit sagte sie, hätte sie nie etwas Besonderes getan. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre der ersten Ausgabe der NOVAcura und wünsche Ihnen das Beste für das neue Jahr 2020.

Swantje Kubillus, M.Sc. PH Lehrerin für Pflege & Gesundheit, wirft auch in diesem Jahr wieder einen heiter-berührenden Blick auf ausgewählte Filme.

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MIT DER NOVACURA DURCH DAS JAHR

2 0 2 0 Im chinesischen Horoskop Die Goldenen Zwanziger ist 2020 das Jahr der Ratte: bezeichnen den Wirtschaftsein Jahr des Neuanfangs! aufschwung in IndustrielänUnd ein Jahr, in dem Neues dern, eine Blütezeit in Kunst, erfolgreich wird. Kultur und Wissenschaft.

01

Nach der digitalen Revolution kommt nun der digitale Detox: Finden wir zurück zu einer analogen Kommunikation?

Die Astrologin Monica Kissling prophezeiht eine neue Ordnung mit Konflikten, Widerständen, aber auch Aufbruch und Aktivismus.

Healthy Ageing

06

Roboter in der Pflege

02

Morbus Parkinson

07

Post-mortem-Versorgung

03

Berufspolitik

08

Klima

09

Diversität

10

04

05

in Gesundheit altern, öffentliches Altern, Alterung der Bevölkerung, stützende Umfelder, körperliche Betätigung

Rigor, Krämpfe, gelähmte Glieder, psychische Probleme, Neurorehabilitation

Pflege in Europa, Berufsverbände, Forderungen nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen, professionelle Pflege, Bildung

Jahrzehnt der Ökologie, Klimawandel, Klimaschutz, Klima-Aktivisten, Klimaforschung, Temperaturanstieg

Vielfalt, Kultur, Wahrnehmung, Toleranz, Gleichbehandlung, Leitbild

Robear, Dinsow, Paro, Tug: unsere neuen Kollegen aus Japan

Versorgung der Toten, Thanatopraxie, Standards zum Umgang mit Verstorbenen, Rituale, Spiritualität

Sinn finden

Wer bin ich? Sinnvolles Leben, Schicksal, Lebensglück, Fundamente des Lebens

Einsamkeit

menschenscheu, kontaktarm, verschlossen, leer, Einsiedler, abgeschieden

Essen, Kulinarik & Ernährung

Kochkunst, Spezialitäten, Stärkung, Gericht, Proviant, Verköstigung

MIT DER NOVACURA DURCH DAS JAHR


Schwerpunkt    9

Lebenswert und lesenswert? Wie die alternde Gesellschaft in Schweizer Zeitungen aussieht

© gettyimages / Westend61

Karen Torben-Nielsen

Die alternde Gesellschaft hat ein Imageproblem. Obwohl wir alle – Ältere und Junge – von ihren Auswirkungen betroffen sind, meinen wir, sie betreffe uns nicht. Doch die Alterung der Gesellschaft hat Folgen für alle: vom höheren Pensionsalter bis hin zum Fachkräftemangel. Was wir darüber in den ­Zeitungen NZZ, Blick und 20 Minuten (nicht) lesen, untersucht ein Forschungsteam unter Federführung der Berner Fachhochschule. NOVAcura 1/20

S

tellen Sie sich vor, es wäre einfacher. Stellen Sie sich vor, wir hegten nicht den Irrglauben, die Alterung der Gesellschaft hätte nur für ältere Menschen Fol­ gen. Stellen Sie sich vor, wir realisierten, dass sich sowohl für jüngere als auch für ältere Menschen viel ändert, wenn sich die Altersstruktur der Gesellschaft verändert. Ein Land mit mehr Seniorinnen und Senioren investiert wahr­ scheinlich mehr in die Altersversorgung. Ein Land mit mehr Kindern investiert eher in Schulen. Ein Franken kann nur einmal ausgegeben werden, und das Resultat spüren wir alle. © 2020 Hogrefe


10    Schwerpunkt

Was ist die alternde Gesellschaft? Die alternde Gesellschaft („Ageing Society“ in der inter­ nationalen Literatur) ist eine Gesellschaft mit einer ­alternden Bevölkerung, einem wachsenden Anteil an Älteren und einem sinkenden Anteil an jüngeren Menschen (Torben-Nielsen 2016). Es gibt drei Faktoren, d ­ ie die Altersstruktur einer Gesellschaft beeinflussen: ­die Geburtenrate, die Lebenserwartung und die Migration (European Commission 2012a). Wenn die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt und die Migration keinen Ausgleich bietet, wird die Bevölkerung stetig ‚älter’. Dies ist der Fall in der Schweiz, so wie in den meisten europäischen Ländern (Lanzieri 2011).

Wenn wir uns das vor Augen führen würden, würde ­es die alternde Gesellschaft vielleicht auch über die „Erkennt­ nisschwelle“ („awareness threshold“) schaffen (Schatz 2005). Dieser Begriff aus den Medienwissenschaften be­ deutet, dass ein Thema eine unsichtbare Schwelle über­ queren muss, um sich im öffentlichen Bewusstsein (Schatz 2005) einzunisten. Die alternde Gesellschaft ist aber noch nicht so weit. Dabei ist das demografische Phänomen alternder Ge­ sellschaften schon lange absehbar und mit Hochrech­ nungen projiziert worden (z. B. Lanzieri 2011). Betroffene Länder hatten viel Zeit sich entsprechend vorzubereiten – was dann aber meist nicht ausreichend geschah (Klingholz 2012). Das dürfte mit der Idee zu tun haben, dass der demo­ grafische Wandel vor allem auf ältere Menschen Auswir­ kungen hat. Sogar wenn die sozialen, wirtschaftlichen­ und finanziellen Folgen der alternden Gesellschaft spür­ bar wurden (z. B. ein höheres Pensionsalter oder die zu­ nehmende Eigenverantwortung für das Einkommen nach der Pensionierung), zeigten Studien, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger sich nicht vermehrt der kommen­ den demografischen Herausforderungen bewusst waren (z. B. European Commission 2012b). Mittlerweile hat sich die Situation geändert: die Sorge um die AHV/Alters­ vorsorge steht bei den Schweizern und Schweizerinnen bereits zum dritten Mal in Folge (2017, 2018, 2019) auf Platz 1 ihrer Hauptsorgen, wie das jährliche Credit Suisse Sorgenbarometer (2019) zeigt. Dieses späte Bewusstsein hat wahrscheinlich sowohl das öffentliche als auch das Forschungs­inte­resse für die alternde Gesellschaft gebremst. Auch Forschende beschäftigen sich erst seit relativ kurzer Zeit damit, die Medienberichterstattung über die alternde ­Gesellschaft zu untersuchen (Lundgren & Ljuslinder 2012). Empirische Daten zur Zeitungsberichterstattung über die alternde Gesellschaft gibt es im europäischen Raum mitt­ lerweile für Schweden (Lundgren und Ljuslinder 2011; 2012) und Belgien (Torben-Nielsen 2016). Nun untersucht die Berner Fachhochschule zusammen mit den Partnerin­ nen Université de Fribourg und Università della Svizzera italiana, wie die Schweizer Zeitungen NZZ, ­ Blick und­ © 2020 Hogrefe

20 Minuten in der Periode 2014–2017 über die alternde Gesellschaft und ihre Folgen berichteten. Der Schweizeri­ sche Nationalfonds (SNF) unterstützt das Forschungs­projekt. Wieso ist es denn überhaupt wichtig, dass wir wissen, was in den Medien zu diesem Thema erscheint? Die Me­ dienberichterstattung ist deshalb so wesentlich, weil sie Einfluss darauf hat, wie wir uns selber und andere sehen, und wie die Ressourcenverteilung in der Gesellschaft legi­ timiert wird (z. B. Lundgren & Ljuslinder 2012; Lin et al. 2004). Deshalb untersucht dieses Forschungsprojekt den Diskurs, den NZZ, Blick und 20 Minuten um die alternde Gesellschaft aufbauen. Dafür wurden Artikel zur altern­ den Gesellschaft untersucht, die drei Kriterien entspra­ chen: die Artikel mussten die „alternde Gesellschaft“ oder einen ähnlichen Begriff ausdrücklich nennen, das Artikel­ thema (z. B. lebenslanges Lernen) explizit mit der altern­ den Gesellschaft verbinden, und einen Fokus auf die Schweiz legen.

Erste Resultate Die definitiven Untersuchungsresultate werden zum Pro­ jektende 2020 erwartet. Obwohl das Projekt sich zurzeit noch in der Analysephase befindet, zeichnen sich bereits erste Ergebnistendenzen ab. So hat die NZZ in den Jahren 2014 bis 2017 deutlich mehr Artikel über die alternde Ge­ sellschaft publiziert als Blick und 20 Minuten. Dies kann darauf hinweisen, dass das Thema für die NZZ einen grös­ seren Stellenwert hat. Es könnte aber auch sein, dass Blick und 20 Minuten zwar Artikel zu Folgen des demogra­ fischen Wandels (z. B. AHV-Reform) publiziert haben, ohne aber die Verbindung zur alternden Gesellschaft ex­ plizit gemacht zu haben. In diesem Fall hätten die Artikel nicht den Studienkriterien (siehe oben) entsprochen und wären deshalb nicht in die Studie aufgenommen worden (Torben-Nielsen 2019). Weiter auffällig ist, dass sowohl die Qualitätszeitung NZZ als auch das Boulevardblatt Blick und die Gratiszeitung 20 Minuten auf eine ähnliche Weise über die alternde Gesellschaft berichten. Die Be­ richterstattung der drei Zeitungen konzentriert sich auf ‚härtere’ Themen (beispielsweise Wirtschaft, Arbeits­ markt, Gesundheit, usw.) und lässt dazu vor allem ‚profes­ sionelle Experten’ (Personen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen) zu Wort kommen. Dies ist zwar die klassische Herangehensweise für Qualitätszeitungen, we­ niger aber für Boulevardblätter und Gratiszeitungen.

Dominante Themen Die vorläufigen Projektergebnisse zeigen, dass die unter­ suchten Zeitungen mit der alternden Gesellschaft in erster Linie politisch-wirtschaftliche und gesundheitliche The­ men verbinden. Im politisch-wirtschaftlichen Bereich the­ matisieren die Zeitungen beispielsweise die Bedeutung NOVAcura 1/20


Schwerpunkt    11

der alternden Gesellschaft für die Wahlen: „(…) der demo­ grafische Wandel wird gerne unter den Teppich gekehrt. Im letztjährigen Wahlkampf für den National- und den Ständerat war dieser so gut wie kein Thema“ (NZZ; Feld­ ges 2016, S. 44); oder die finanzielle Lücke, die entsteht, wenn wir alle länger leben und es weniger neuen Zustrom in den Arbeitsmarkt gibt: „Der Ständerat befasst sich mit der Mega-Reform ‚Altersvorsorge 2020‘. Warum braucht es diese? Die Menschen werden heute im Schnitt sieben Jahre älter als vor 70 Jahren. Gleichzeitig rücken immer weniger Junge auf den Arbeitsmarkt nach. Der Finanzie­ rungsbedarf steigt enorm“ (20 Minuten; Schaltegger 2015, S. 11). Im Gesundheitsbereich sind zum Beispiel chronische Krankheiten, Demenz und deren Versorgung ein heisses Eisen, wenn es um die alternde Gesellschaft geht: „Zudem werden Sterbende immer älter. Das heisst, wir werden künftig weit mehr geriatrische Patienten mit verschiede­ nen chronischen Krankheiten haben, viele werden dement sein“ (NZZ; Vögeli 2014, S. 11). Eine solche thematische Fokussierung auf politischwirtschaftliche und Gesundheitsthemen hat zur Folge, dass andere Themen, die in Bezug auf die alternde Gesell­ schaft ebenfalls relevant wären, seltener in der Bericht­ erstattung erscheinen. Beispiele solcher eher weniger ver­ tre­tenen Themen sind Wohnraum und (Weiter-)Bildung. Noch seltener geht es um die vielfältigen Beiträge von ­älteren Menschen zu Familie und Gesellschaft (möglicher­ weise nicht-monetär) oder die diversen Auswirkungen der alternden Gesellschaft auf Individuen; z. B. die steigende Anzahl pflegender Angehöriger, Altersarmut oder soziale Isolation.

Top 4 Zeitungsthemen zur alternden Gesellschaft 1. Politische-wirtschaftliche Themen (z. B. Altersvorsorge, Budget & Einsparungen) 2. Gesundheitliche Themen (z. B. chronische Krankheiten, Demenz) 3. Wohnen (z. B. zuhause oder Alterszentrum) 4. Ausbildung (z. B. lebenslanges Lernen, Attraktivität von Pflegeberufen steigern)

Wirtschaftliche Herausforderung Die erforschten Zeitungen beschreiben die alternde Ge­ sellschaft deutlich häufiger als Herausforderung denn als Chance; z. B. als Herausforderung für die Altersvorsorge: „Die ultraniedrigen Zinsen, starke Marktschwankungen und die Alterung der Gesellschaft stellen Vorsorgeeinrich­ tungen vor grosse Herausforderungen“ (NZZ; Ferber 2016, S. 33); oder als Herausforderung für die Personalbe­ setzung: „In Anbetracht der Alterung der Gesellschaft und der abnehmenden Einwanderung werden laut Schilling die Unternehmen in den kommenden Jahren vermehrt NOVAcura 1/20

Probleme haben, ihre ‚Schlüsselvakanzen‘ qualifiziert zu besetzen“ (NZZ; Rütti 2016, S. 31). Diese stärkere Fokussierung auf die Herausforderungen – und nicht auf die Chancen – der alternden Gesellschaft deckt sich mit internationalen Forschungsergebnissen. Al­ tern ist meistens negativ abgebildet und verbunden mit der Sorge, ob in einer alternden Gesellschaft die heutigen Gesundheitsdienstleistungen, die Sozialhilfe und das ­wirtschaftliche Wachstum noch nachhaltig sind (Lloyd-­ Sherlock et al. 2012). Die Alterung unserer Gesellschaft wird oft durch eine wirtschaftliche Brille gesehen, auch in der Zeitungsberichterstattung; z. B. „Aber die Leute leben länger. Und dann reicht das Geld einfach nicht mehr“ (Blick; Marti & Wicki 2016, online). Der Fokus auf finan­ zielle Aspekte – selbst bei Themen, die nicht primär finan­ zieller Natur sind, wie dem demografischen Wandel – passt in den zunehmend ‚wirtschaftszentrierten Journalismus‘ der letzten Jahrzehnte (Lundgren & Ljuslinder 2011). Als Reaktion plädieren viele Demografie-Experten dafür, die steigende menschliche Langlebigkeit sollte ein Grund zum Feiern sein, und nicht als ein Problem porträtiert wer­

Forschungsmethode: Qualitative Inhaltsanalyse Für die Erstellung der Zeitungsartikel-Stichprobe ­haben die Forscher „konstruierte Wochen“ gebildet. Sie haben dazu die totale Untersuchungsperiode in kür­zere Teilperioden aufgeteilt, um in diesen für jede ­Zeitung jeweils einen zufällig gewählten Montag, Dienstag, Mitt­woch usw. zu untersuchen (z. B. Cantrell Rosas-Moreno 2010; Payne 2009). Diese spezielle Stich­ probemethode aus der Zeitungsforschung verhindert, dass eine gewisse Periode oder ein bestimmter Wochentag in der Untersuchung überrepräsentiert ist. Die Stichprobe wurde mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010) untersucht. Schliesslich nahmen die Forscher auch die Erscheinungsfrequenz der verschiedenen Artikelthemen (z. B. Wohnen, Gesundheit) unter die Lupe, um heraus zu finden, welche Themen im Diskurs über die alternde Gesellschaft dominant oder eher marginal sind.

den (Lloyd-Sherlock et al. 2012). Die alternde Gesellschaft wird in den Zeitungen aber selten als grosse menschliche Leistung dargestellt, auch wenn wir heute nur dank gros­ ser Fortschritte, u. a. im Gesundheitswesen oder in der ­Bildung, überhaupt so alt werden können.

Erfahrungsexperten bleiben ungehört In der Berichterstattung zur alternden Gesellschaft in NZZ, Blick und 20 Minuten kommen vor allem professio­ © 2020 Hogrefe


12    Schwerpunkt

nelle Experten zu Wort, d. h. Menschen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen, wie beispielsweise Ärzte, Forscher oder Politiker. Dies ist nicht erstaunlich, haben sie doch ein grosses Fachwissen. Vor allem bei den Qualitäts­ zeitungen sind sie deshalb oft die wichtigste ­Anlaufstelle. ‚Erfahrungsexperten’, also Menschen ohne beruflichen Bezug zur alternden Gesellschaft aber mit direkter Erfahrung der Auswirkungen (z. B. pflegende ­ ­An­gehörige, Freiwillige, Gemeinschaften, Familien), sind weniger präsent in der Berichterstattung. Durch die Fo­ kussierung auf professionelle Experten und Expertinnen scheint die alternde Gesellschaft deshalb ein Thema zu sein, zu dem v ­ or allem Professionelle über Wissen ver­ fügen. Wenn aber neben professionellen Experten auch Erfahrungsexperten vermehrt in der Berichterstattung als Quellen erscheinen würden, könnten sich zusätzliche Per­ spektiven auf die alternde Gesellschaft eröffnen, gestützt auf persönliche Erfahrungen.

Konklusion Die vollständige Analyse der Berichterstattung über die alternde Gesellschaft in NZZ, Blick und 20 Minuten läuft momentan noch. Eine erste, vorläufige Erkenntnis gibt es jedoch: Die Zeitungen stellen die alternde Gesellschaft ­vorwiegend als Herausforderung für den Schweizer W ­ ohl­fahrtstaat dar. Im Vordergrund stehen politisch-öko­ nomische und Gesundheitsthemen, über die vor allem ­pro­fessionelle Experten diskutieren. Der Fokus in der Be­ richterstattung zur alternden Gesellschaft ist in erster ­Linie wirtschaftlich; auch bei nicht-wirtschaftlichen The­ men wie beispielsweise der Gesundheit. Definitive Forschungsergebnisse werden am Projektende 2020 vorliegen. Mehr Info oder anmelden für den gratis Newsletter (4x / Jahr)? Siehe Website: www.swissageingsociety.ch

Literatur Cantrell Rosas-Moreno, T. (2010). Media representations of race cue the state of media opening in Brazil. International Journal of Communication, 261, 261–282. Credit Suisse Sorgenbarometer (2019). Press Release. Retrieved from https://www.credit-suisse.com/about-us-news/de/ articles/media-releases/2019-credit-suisse-worry-barometer --retirement-provision-remains-201912.html European Commission (2012a). Ageing Report: Europe needs to prepare for growing older (Press Release). Brussels: European Commission Printing Office. European Commission (2012b). The 2012 Ageing Report. Brussels: European Commission Printing Office. Feldges, D. (2016, Juni 11). Rezept für demografischen Wandel – 50- bis 60-jährige Mitarbeiter sind cool – Reflexe / Kommentare zum Wirtschaftsgeschehen. NZZ, S. 44.

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Ferber, M. (2016, Februar 26). Pensionskassen ändern Strategie – Aufstockung interner Teams. NZZ, S. 33. Klingholz, R. (2012, April 25). Jedes Alter zahlt. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 25. Lanzieri, G. (2011). The greying of the baby boomers: A century-long view of ageing in European populations. Eurostat: European commission. Retrieved from http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ ITY_OFFPUB/KS-SF-11-023/EN/KS-SF-11-023-EN.PDF Lin, M.-C., Hummert, M. L. & Harwood, J. (2004). Representation of age identities in on-line discourse. Journal of Aging Studies, 18(3), 261–274. Lloyd-Sherlock, P., McKee, M., Ebrahim, S., Gorman, M., Greengross, S., Prince, M., Pruchno, R., Gutman, G., Kirkwood, T. & O’Neill, D. (2012). Population Ageing and Health. The Lancet, 379(9823), 1295–1296. Lundgren, A. S. & Ljuslinder, K. (2011). Problematic demography: representations of population ageing in the Swedish daily press. Journal of Population Ageing, 4(3), 165–183. Lundgren, A. S. & Ljuslinder, K. (2012). „The baby-boom is over and the ageing shock awaits”: populist media imagery in news-press representations of population ageing. International Journal of Ageing and Later Life, 6(2), 39–71. Marti, S. & Wicki, F. (2016, September 23). Letzte Redeschlacht vor der grossen AHV-Abstimmung – Streit ums Plus für die Rentner. Blick online. Retrieved from https://www.blick.ch/news/­politik/ letzte-redeschlacht-vor-der-grossen-ahv-abstimmung­-streit -ums-plus-fuer-die-rentner-id5525740.html Mayring, P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 601–613). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Payne, L. (2009). A study of newspaper treatment of male and female political candidates. Columbia, MO: University of Missouri-Columbia. Rozanova, J. (2006). Newspaper portrayals of health and illness among Canadian seniors. International Journal of Aging and Later Life, 1(2), 111–139. Rütti, N. (2016, Oktober 29). Topmanagerinnen sind dünn gesät – Frauen geht auf dem Weg nach oben oft die Luft aus. NZZ, S. 31. Schaltegger, C. (2015, September 16). Die Renten für die junge Generation sind gefährdet. 20 Minuten Zürich, S. 11. Schatz, R. (2005). Media analysis impact: How to define awareness thresholds. [PowerPoint slides] Presentation at the 6 th Inter­ national Agenda Setting Conference, Lugano, 27 October 2005. Retrieved from http://agenda-setting.org/2005/speakers_ppt/ Schatz.pdf Torben-Nielsen, K. (2016). The Ageing Society: Analyzing the coverage of the population ageing in a Belgian quality newspaper. Lugano: Università della Svizzera italiana. Torben-Nielsen, K. (2019). Weniger Babys, mehr Omas: Wie be­ richten Zeitungen über die alternde Gesellschaft? Impuls, 1, 40–41. Vögeli, D. (2014, November 3). „Autonomie geht weit über Suizid­ hilfe hinaus“ – Gian Domenico Borasio plädiert für eine Stärkung der Palliativmedizin und Fürsorge am Lebensende. NZZ, S. 11.

Karen Torben-Nielsen, Dr. sc. com., Dozentin & Forscherin beim Institut Alter (Berner Fachhochschule). karen.torbennielsen@bfh.ch

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Schwerpunkt    13

Immer wichtiger in der Pflege: Gesundheitsförderung im Alter

© gettyimages / FredFroese

Siegfried Huhn

Niemals zuvor erreichten so viele Menschen ein so hohes Alter wie heute. Deshalb spielt auch die Ge­ sundheitsförderung im Alter eine immer wichtigere Rolle. Trotz Einschränkungen sollen alte Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen. Die Pflegenden können sie dabei unterstützen.

M

it einem längeren Leben geht ein verändertes Bewusstsein für die eigene Gesundheit und Lebensgestaltung einher. Nach dem Eintritt in den Ruhestand nimmt der Zeitanteil für Regeneration (Essen, NOVAcura 1/20

Schlafen, Körperpflege) zunächst zu und es entsteht ­Freude am Müßiggang. Da die meisten Menschen relativ vital in diese neue Lebensphase eintreten, entwickeln sie eine Freizeitgestaltung, die fast immer auch der Gesundheitsfürsorge dient. Das erklärt sich aus der großen Anzahl von Sport- oder Freizeitgruppen oder speziellen Reiseund Bildungsangeboten für ältere Menschen (Pantel et al. 2014; Becker & Brandenburg 2014). Dadurch erleben mehr Menschen eine entsprechende Verlängerung der ­Lebensphase des Alters. Wahrscheinlich wird die Lebenserwartung zukünftig weiter steigen, und es werden im Verhältnis mehr Menschen gesund alt werden, um dann im hohen Lebensalter nach kurzer Krankheit zu versterben (Generali 2017). © 2020 Hogrefe


14    Schwerpunkt

Gesundheitsprobleme im Alter Altwerden ist kein plötzliches Geschehen, sondern ein natürlicher Prozess, der sich kontinuierlich entwickelt. Wenn keine heftigen Ereignisse auftreten, durch die der Alterungsprozess radikal beeinflusst wird, vollzieht er sich gleichzeitig mit dem Erwerb kompensatorischer Möglichkeiten mit relativem Ausgleich der Beeinträchtigungen. Die Altersforschung hat hierfür den Begriff der „Morbiditätskompression“ geprägt (Sachverständigenkommission 2010). Altersbedingte Pathologien sind keine Krankheiten im eigentlichen Sinne. Vielmehr sind es körperliche Störungen oder kognitive Prozesse, die insgesamt zu einer Verlangsamung führen. Die Behandlung hat deshalb nicht unbedingt Heilung, sondern oft nur Kompensation oder Linderung der Symptome mit Verbesserung der Lebenssituation zum Ziel. Dennoch werden sich in der Gesellschaft des langen ­Lebens nicht nur die positiven Möglichkeiten des Alters zeigen, sondern auch die Grenzen und die möglichen Auswirkungen wie Multimorbidität, Behinderung und Pflegebedarf. Bei geriatrischen Patienten und Patientinnen besteht grundsätzlich ein höheres Risiko für Komplikationen, Folgekrankheiten und die Chronifizierung von Erkrankungen mit Verlust an Selbstständigkeit und Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung. Gleichzeitig mit den positiven Errungenschaften wird somit sehr wahrscheinlich auch die Anzahl der chronisch kranken und pflegebedürftigen Menschen steigen. Diese werden dann trotz multipler ­Pathologien deutlich länger leben, als das noch in der vorherigen Generation der Fall war. Deshalb wird auch der Bedarf an ambulanter und stationärer Versorgung zunehmen, und die professionellen Akteure durch veränderte körperliche und geistige Krankheitsaufkommen und deren Verläufe fordern (ebenda).

Gesundheit im Alter Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Definition von Gesundheit, wonach Gesundheit einen Zustand völligen körperlichen, geistigen und see­ lischen Wohlbefindens darstellt, werden nur wenige Menschen erreichen. Handelt es sich hierbei doch um eine ­idealistische Zielvorstellung. Grundsätzlich ist Gesundheit nichts Statisches, sondern im besten Fall Schwan­ kungen ausgesetzt, die das Wohlbefinden unterschiedlich erlebbar machen. Deshalb soll als „Gesundheit“ die Fähigkeit gesehen werden, mit den Belastungen und Beeinträchtigungen des täglichen Lebens flexibel und möglichst konstruktiv umzugehen (Huhn 2000). Die Pflegepädagogin und Logotherapeutin Liliane Juchli spricht in ihrem Pflegewerk von Gesundheit als der Fähigkeit, ein gelingendes Leben führen zu können. Das darf verstanden werden als die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und selbstwirksames, den eigenen Bedarfen und Bedürfnissen und den persönlichen Fähigkeiten entsprechendes Leben zu gestalten, das im gesellschaftlichen Kontext zu einem po© 2020 Hogrefe

sitiven Lebensgefühl führt. Juchli formuliert hier ebenfalls ein Ideal, schließt jedoch Krankheit und die Unbilden des Alters mit ein und setzt auf die Selbstsorgefähigkeit und Einbindung von Ressourcen (Juchli 1995). Gesundheitsförderung durch Pflegepersonen würde also bedeuten, die Person in genau diesem Bestreben zu unterstützen. In der professionellen Pflege begegnen wir Personen, die aufgrund körperlicher oder kognitiver Einbußen ein hohes Selbstpflegedefizit aufweisen und auf Assistenz ange­ wiesen sind. Gesundheitsförderung soll deshalb zunächst ­Gesundheitserhalt sein. Die pflegerische Versorgung zielt darauf ab, in der Kommunikation mit der Person den ­jeweiligen Bedarf zu erkennen, Defizite auszugleichen, weiteren Problemen entgegenzuwirken und dabei die Selbstbestimmung zu achten. Pflegepersonen begegnen der Person mit Respekt vor deren Lebensleistung und bieten ein Unterstützungsangebot, das so flexibel genug angeboten wird, um die personalen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Damit gestaltet sich die Pflegebeziehung als eine Beziehung zur Gesundheitsförderung.

Gesundheitsförderung und Prävention bei Pflegebedürftigen Pflegebedürftige sind aufgrund von Beeinträchtigungen und Erkrankungen auf Assistenz im Alltag, bei der Gestaltung von Lebensbereichen und bei der sozialen Teilhabe angewiesen. Dennoch verfügen sie häufig über Gesundheitspotenziale, die gefördert und gestärkt werden können. Voraussetzung für die Umsetzung einer Prävention und Gesundheitsförderung in stationären Pflegeeinrichtungen ist jedoch, dass die Lebensbedingungen entsprechend nachhaltig gestaltet werden. Prävention in der sta­ tionären Pflege muss deshalb konsequent dem Ansatz der Gesundheitsförderung in Lebenswelten (Settings) folgen und durch interne und externe professionelle Akteure gestaltet werden. Angehörige sollen wenn möglich einbezogen werden (GKV 2018).

Handlungsfelder der Gesundheits­förderung • verbessern der Ernährungssituation der Pflege­bedürftigen • erhalten und erweitern der körperlichen Aktivität der Pflegebedürftigen • erhalten und fördern der kognitiven Leistungs­ fähigkeit der Pflegebedürftigen • stärken der psychosozialen Gesundheit durch Stärkung der Resilienz • fördern des störungsfreien und erholsamen Schlafs gestalten eines gesundheitsfördernden Umfeldes (GKV 2018; erweitert Huhn 2019)

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Schwerpunkt    15

Ernährung Bei pflegebedürftigen alten Menschen tragen krankheitsbedingte Faktoren, die entweder die Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme erschweren oder den Energieund Nahrungsbedarf erhöhen, dazu bei, dass ein höheres Risiko für eine Mangelernährung besteht. In Pflegeeinrichtungen sind bis zu zwei Drittel der Bewohner betroffen. Jedoch auch bei geringerem Pflegebedarf kann es zu Ernährungsmängel kommen, weil es altersbedingt zu einer schnelleren Sättigung kommt, und dadurch zu wenig Nahrung aufgenommen wird. Deshalb soll alten Menschen die Nahrungsmenge der üblichen drei Hauptmahlzeiten auf fünf bis sechs Mahlzeiten verteilt oder häufiger eine Zwischenmahlzeit angeboten werden. Mangelernährung kann dazu führen, dass sich Krankheiten leichter entwickeln oder verschlimmern und Gebrechlichkeit zunimmt.

Körperliche Aktivität Erhalt und Förderung der Bewegungsfähigkeit bei pflegebedürftigen alten Menschen ist hochrelevant für den Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit, für die Durchführbarkeit der Aktivitäten des täglichen Lebens und für die Stärkung kognitiver Ressourcen. Bewegungsförderung unterstützt die Prävention zusätzlicher Erkrankungen. Bei fast allen der klassischen pflegerischen Prophylaxen (Dekubitus, Pneumonie, Thrombose, Sturz usw.) kommt der Bewegungsfähigkeit eine besondere Rolle zu. Gleichgewichts- und Kraftübungen können einen positiven Effekt auf die Bewegungssicherheit haben und das Sturzrisiko deutlich senken. Deshalb muss diesem Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung mehr Aufmerksamkeit zukommen und Pflegeeinrichtungen sollen perspektivisch Konzepte zur Mobilitätsförderung erarbeiten.

Kognitive Leistungsfähigkeit Im Alter kommt es nicht zwingend zu Einbußen kognitiver Fähigkeiten. Denkvorgänge laufen lediglich langsamer ab, was oft zu einer Fehlinterpretation der tatsächlichen Leistung führt. Dennoch besteht für Bewohner in Pflegeinrichtungen ein generelles Risiko kognitiver Einbußen durch mangelhafte Anregung und durch Reizarmut oder Reizüberflutung. Zusätzlich hat ein hoher Anteil an Bewohnern demenzbedingte Einschränkungen. Für beide Bewohnergruppen ist die Stärkung der kognitiven Ressourcen ein relevantes Thema der Prävention und Gesundheitsförderung. Sowohl kognitive als auch körperliche Aktivitäten können die Denkleistungen verbessern. Entsprechende Stimulationen und Trainings erfordern eine individuelle Planung unter Berücksichtigung der jeweiligen Leistungsfähigkeit, die sich auch in der Konzentration auf Übungen zeigt. Übungsangebote mit komplexeren mentalen Leistungsanforderungen können einen besseren Schutz vor dem Verlust kognitiver Leistungsfähigkeiten bieten als reiNOVAcura 1/20

nes Gedächtnistraining. Auch Erzählrunden mit Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart sollten unter dem Aspekt von mentalem Training angeboten werden. Von gezielten Angeboten profitieren sowohl Personen ohne oder mit geringen Einschränkungen als auch dementiell erkrankte Personen.

Psychosoziale Gesundheit Der Erhalt, die Stärkung oder Wiederherstellung von psychosozialer Gesundheit gilt als besondere Heraus­ ­ forderung in der Langzeitpflege und bei Bewohnern von Pflege­einrichtungen. Depressionen gelten als die relevanteste psychische Erkrankung von Bewohnern in Pflege­ einrichtungen. Leider werden Depressionen zu selten als behandlungswürdig erkannt und fachärztlich behandelt. Auch neurogenerative Erkrankungen (z. B. M. Alzheimer, M. Parkinson) gehen häufig mit depressiven Episoden einher, ohne als solche wahrgenommen zu werden. Interventionen wie Erinnerungs- und Erzählrunden, Freizeitaktivitäten in Gruppen und soziale Teilhabe können zu einer Verbesserung der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit beitragen oder zumindest einer Verschlechterung entgegenwirken und Widerstandsfähigkeit und Selbstwirksamkeit (Resilienz) entwickeln helfen.

Schlafförderung Der Schlaf dient der Regeneration aller körperlichen und mentalen Vorgängen. Ohne diese Erholung durch Schlaf verstärken sich körperliche Beschwerden wie Schmerzen oder psychische Störungen wie Depression und Hoffnungslosigkeit. Bei Bewohnern mit dementieller Erkrankung verstärken sich Symptome wie Unruhe und Angst. Deshalb soll die Schlafförderung prioritär in den Pflegeprozess eingebunden werden. Die Schlafzeit soll nur in ­begründeten Ausnahmen durch Pflegehandlungen unterbrochen werden. Umwelteinflüsse mit Wirkung auf den Schlaf, wie Lärm, Licht, Raumtemperatur oder auch Bettwäsche müssen bedacht und entsprechend eingesetzt bzw. reguliert werden.

Gesundheitsförderndes Umfeld Gesundheit entwickelt sich durch eine Balance aus Freizeit und Arbeit oder Erholung und Anforderung. Pflegeeinrichtungen sind oft durch Phasen von absoluter Reiz­ armut und Reizanflutung gekennzeichnet. Für Bewohner, die ihre Erlebenssituation nicht selbst beeinflussen oder verändern können, also in Anhängigkeit von Assistenz ­stehen, können beide Phasen sehr belastend sein. In der einen Phase ist der Bewohner ohne Aktivität ausgeliefert, in der anderen Phase durch ein Überangebot überlastet. Als besonders belastend gilt die Dauerbeschallung durch Radio oder Fernseher. Nur selten haben die Bewohner die © 2020 Hogrefe


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jeweiligen Programme selbst ausgewählt oder können dem Geschehen aus dem Radio oder auf dem Bildschirm wirklich folgen. Das führt zu einer Dauerirritation bis hin zur Deprivation mit Krankheitswert. Angebote von Musik oder Film sollen wohldosiert und in Absprache mit den Bewohnern getroffen werden. Ein gesundheitsförderndes Umfeld ist gekennzeichnet durch geringe Lärmbelastung, ohne Dauerbeschallung, durch frische Raumluft ohne Geruchsbelästigung mit ausreichend Sauerstoff und Lichtverhältnissen, die dem Tageslicht nahekommen.

Fazit Gesundheit ist ein wichtiger Baustein zum Erhalt von Lebensqualität und Wohlbefinden. Die demografische Entwicklung erfordert eine Gesundheitsförderung, die der Zielgruppe alter Menschen gerecht wird. Weil sich Gesundheitsförderung bei pflegebedürftigen alten Menschen anders darstellt als bei unabhängig lebenden alten Menschen, wird sie zu einer besonderen Aufgabe für professionelle Akteure im Gesundheitswesen und soll zukünftig fester Bestandteil in den Pflegeberufen sein.

Literatur Becker, S. & Brandenburg H. (2014). Lehrbuch Gerontologie. Bern: Huber. Generali Deutschland (2017). Generali Altersstudie. Köln. Huhn, S. (2000). Professionelle Gesunderhaltung. In K. Kämmer (Hrsg.), Pflegemanagement in Alteneinrichtungen (S. 48–53). Hannover: Schlütersche. Huhn, S. (2019). Stationäre Langzeitpflege: Die Fachlichkeit steht im Fokus. NOVAcura, 50(8) 9 –12. Juchli, L. (1995). Ganzheitliche Pflege. Basel: Recom. Pantel, J., Schröder, J., Bollheimer, C, et al. (2014). Praxishandbuch Altersmedizin. Stuttgart: Kohlhammer. Statistisches Bundesamt (2010). Statistisches Jahrbuch Deutschland 2010. Wiesbaden. Voges, W. (2008). Soziologie des höheren Lebensalters. Augsburg: Maro Verlag.

Siegried Huhn ist Krankenpfleger, Gesundheitswissenschaftler und Sozialwirt. siegfried.huhn@freenet.de

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18    Schwerpunkt

Pflege und Forschung Neues aus der Wissenschaft

© gettyimages / SilviaJansen

Redaktion: Brigitte Teigeler

Auch im Alter kann es mit regelmäßigem Training noch gelingen, Fett abzubauen und Muskeln aufzubauen

Strenges Intervalltraining zeigt auch im Alter und bei Übergewicht Erfolg Zu körperlichem Training ist es nie zu spät. Das belegt eine Studie des Universitätsspitals Zürich. Diese untersuchte, wie sich ein zehnwöchiges strenges körperliches Training auf die Fett- und Muskelmasse bei über 70-Jährigen mit Adipositas auswirkte. An der randomisierten Studie nahmen 77 Probanden teil. Das mittlere Alter betrug 71 Jahre, der mittlere Body Mass Index (BMI) 29, die totale Fettmasse lag bei etwa © 2020 Hogrefe

33 kg. Die Teilnehmer wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe absolvierte ein individualisiertes zehnwöchiges Trainingsprogramm mit 18 Minuten Intervalltraining in der ersten Sitzung, gesteigert bis auf 36 Minuten in Woche 10. Die zweite Gruppe erhielt kein Training, sondern Ratschläge für einen gesunden Lebensstil. 36 Teilnehmer pro Gruppe beendeten die Studie. Die Teilnehmerrate an den Trainingseinheiten lag bei 90 Prozent. In der Interventionsgruppe (Gruppe 1) nahm die Gesamtfettmasse um 716 g mehr ab als in der Kontrollgruppe, und die fettfreie Masse nahm um 500 g mehr zu, im Vergleich zu denen ohne Training. Ein Unterschied im NOVAcura 1/20


Schwerpunkt    19

BMI war zwischen den beiden Gruppen nicht beobachtbar. Bei den Männern war der Effekt deutlich stärker als bei den Frauen. Es gab aber auch unerwünschte Effekte: In der Trainingsgruppe berichteten fünf Teilnehmer über Nebenwirkungen (laterale Epikondylitis, Tendinitis der Achillessehne, Muskelzerrungen). Das Fazit des Autors: „Die Studie zeigt, dass ein zehnwöchiges, strenges Intervalltraining auch bei über 70-Jährigen die Fettmasse reduziert und die Muskelmasse erhöht, und das bei Männern deutlich stärker als bei Frauen.“ Steurer, J. (2019). Strenges Intervalltraining reduziert auch bei älteren Übergewichtigen die Fettmasse und erhöht die Muskelmasse. Praxis,108, 883–884.https://doi.org/10.1024/1661-8157/ a003298

Würde die Demenz-Prävention konsequent und vom Kindesalter an umgesetzt, könnte ein Drittel aller Demenzfälle vermieden werden. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam um Gill Livingston vom University College London. Ihr Artikel „Dementia prevention, intervention, and care“ wurde im Fachmagazin „Lancet“ veröffentlicht. Im Jahr 2015 lag die Zahl der Menschen mit Demenz weltweit bei rund 47 Millionen. Für das Jahr 2050 rechnen Forscher mit rund 131 Millionen Betroffenen. Eine mangelnde Schulbildung sei dabei ein besonderes Risiko. Wenn alle Kinder auf der Welt schlagartig Zugang zu ausreichender Bildung hätten, ließen sich acht Prozent aller Demenzfälle vermeiden, berechnen die Autoren. Eine gute schulische Ausbildung erhöhe die kognitiven Fähigkeiten und die Belastbarkeit des Gehirns. Insgesamt haben die Wissenschaftler neun Risikofaktoren für verschiedene Demenz-Krankheiten identifiziert und bewertet. Dazu gehören auch Verlust des Gehörs, Depression, Diabetes, Rauchen und mangelnde Bewegung. Würden alle Risikofaktoren vollständig beseitigt, könnte die Zahl der weltweiten Demenz-Fälle laut Studie um etwa ein Drittel sinken.

© gettyimages / commerceandculturestock

Livingston, G., Sommerlad, A., Orgeta, V. et al. (2017). Dementia prevention, intervention, and care. Lancet, 390(10113): 2673– 2734. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)31363-6

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© gettyimages / Halfpoint Images

Bildung und gesunder Lebensstil können Demenzrisiko deutlich senken

Herzkranke profitieren besonders von körperlicher Bewegung Menschen mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung profitieren von körperlicher Bewegung noch mehr als Gesunde. Zu diesem Ergebnis kommt ein südkoreanisches Forscherteam um Sang-Woo Jeong von der Seoul National University. Dieses untersuchte zirka 441‘000 Menschen; 131‘000 mit und 310‘000 ohne Herzerkrankung. Alle Teilnehmer gaben in einem Fragebogen an, wie viel sie sich in ihrer Freizeit bewegten. Etwa sechs Jahre später verglichen die Forscher das Ausmaß der Bewegung mit den Todesfällen. In beiden Gruppen zeigte sich: Je mehr körperliche Aktivität, desto geringer das Mortalitätsrisiko. Die Herz-Kreislauf-Patienten senkten ihr Sterberisiko jedoch deutlich stärker als die gesunden Teilnehmer. Herzkranke Menschen, die fünfmal pro Woche etwa 30 Minuten lang flott gingen oder sich viel bewegten, reduzierten ihr Sterberisiko um 14 Prozent, Herzgesunde bei vergleichbarer Bewegung nur um sieben Prozent. Die besonders sportlichen herzkranken Teilnehmer erreichten im Studienzeitraum sogar ein ähnliches Sterberisiko wie die herzgesunden Probanden, die gar keinen Sport trieben. Sang-Woo, J., Sun-Hwa, K., Si-Hyuck, K. et al. (2019). Mortality reduction with physical activity in patients with and without cardiovascular disease. European Heart Journal, 40(43), 3547– 3555, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehz564

© 2020 Hogrefe


20    Schwerpunkt

Medientipps zum Thema Alle Medien sind in der Pro Senectute Bibliothek ausleihbar. www.prosenectutebiblio.ch bibliothek@pro-senectute.ch Tel.: 044 283 89 81

Hundert: Was du im Leben lernen wirst sene gleichermaßen, ein Buch zum Vorblättern

Gesund altern: Einblicke und Ausblicke zum Thema „Alt werden und gesund bleiben“

und Zurückblättern, zum Fantasieren und mit­

Die Autorinnen und Autoren führen interdis­

einander ins Gespräch kommen. Es geht um al­

ziplinär Wissensbestände zum Thema Alters­

les, was man im Leben lernt: Der erste Purzel­

forschung zusammen. Neben unterschiedlichen

baum, die erste Liebe, das erste Mal Kaffee

Perspektiven bieten sie in kompakten Beiträ­

trinken und die Erkenntnis, wie riesengroß die Welt ist. Später begreift man,

gen einen Einblick zu Prozessen des Alterns

Hundert ist ein Buch für Kinder und Erwach­

dass man sich immer noch nicht erwachsen fühlt, auch wenn die mittleren

und über die Erkenntnisse zu gesundem Altern.

­Jahre längst erreicht sind. Und im hohen Alter lernt man nicht nur, wie kostbar

Darüber hinaus werden zentrale Ansätze und Modelle diskutiert sowie unter­

die Zeit ist, sondern auch, Dinge zu verlernen. Und die Angst vor dem Tod zu

schiedliche disziplinäre Perspektiven zugänglich gemacht. Der rote Faden, der

verlieren. Das ist der natürliche Prozess des Lebens. Heike Faller serviert uns

sich durch die Beiträge zieht, ist der Zugang zu gesundem Altern. Kritische Re­

keine Lebensweisheiten, sie hat mit jungen und alten Menschen gesprochen

flexionen und Ausblicke runden den Sammelband ab.

und deren Erfahrungen in kurze Sätze gefasst, die sich zusammenhängend le­

Magdalena M. Schimke & Günter Lepperdinger (2018). Wiesbaden: Springer.

sen wie ein schönes, anrührendes Gedicht über das Leben.

Altersbilder der Gegenwart: Haltung der Bevölkerung zum Alter und zur alternden Gesellschaft

Heike Faller & Valerio Vidali (2018). Zürich: Kein & Aber.

Dossier Ageing Society

4 | 2018

Die demographische Alterung betrifft die

SAGW Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften ASSH Académie suisse des sciences humaines et sociales ASSU Accademia svizzera di scienze umane e sociali ASSU Academia svizra da scienzas umanas e socialas SAHS Swiss Academy of Humanities and Social Sciences

Dossier

Schweiz wie auch viele andere Länder der

Welche Eigenschaften verbinden die Men­

Welt. Dass wir länger und bei besserer Gesund­

schen mit Alter und dem Altsein? Worauf freuen sie sich, wenn sie ans Älter­

heit leben, ist positiv. Die Entwicklung wirkt

werden denken, und was macht ihnen Angst? Wie gehen sie mit der eigenen

sich jedoch auf verschiedene Bereiche der Ge­

Vergänglichkeit um? Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn sie immer

sellschaft aus und stellt uns vor neue Heraus­

älter wird? Das Berner Generationenhaus wollte mit Blick auf sein Jahres­

forderungen. Die Beiträge im Dossier dieses

programm „forever young. Willkommen im langen Leben“ mehr zu diesen

Bulletins zeigen, dass das notwendige Wissen

­Fragen erfahren.

zur Alterung und deren Bewältigung weitge­

Berner Generationenhaus (2019). Bern: Berner Generationenhaus.

Ageing Society

Wissenschaftspolitik: Armut in der Schweiz, S. 9 SAGW-News: To keep an archive alive – die Mühe des Datenpflegers, S. 20 International: Horizon 2020 als Chance für inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit, S. 63

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30.10.18 16:58

hend vorliegt. Aber es besteht Handlungsbedarf. Die Probleme zeichnen sich

Silver-Age, Versorgungsfall oder doch ganz anders? Perspektiven auf Alter(n) und Altsein erweitern!

nicht erst am Horizont ab. Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) (2018). Bern: SAGW.

Das Themenfeld Alter(n) und Gesundheit ver­

Altern. Sterben. Tod. Die Vergänglichkeit des Menschen aus der Sicht der Naturwissen­ schaften

zeichnet eine wachsende Dynamik und Aus­

Was passiert mit uns, wenn wir altern, sterben,

ein Zusammenspiel vieler Akteurinnen und Ak­

differenzierung.

Die

sundheits­ förderung,

Umsetzung Prävention,

von

Ge­

Versorgung

und Re­ha­bilitation für ältere Menschen erfordert

tot sind? Ohne Sentimentalität, aber sehr empa­

teure und die Erweiterung von allgemeinem und

thisch beschreibt Oliver Müller dies in seinem

fachspezifischem Wissen über das Altern. „Klassische“ Gesundheitsdomänen

Buch, ein nüchterner, erhellender und kluger

werden zunehmend von neuen Berufssparten mit pflegerischen, pflegewissen­

Blick auf die Biologie alles Lebendigen. Und ir­

schaftlichen, gerontologischen sowie gesundheitswissenschaftlichen Grundla­

gendwie auch tröstlich: Denn was man kennt,

gen ergänzt.

muss man nicht so sehr fürchten.

Sandra Exner (2015). Baden-Baden: Nomos.

Oliver Müller (2019). Gütersloh: Gütersloher.

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Fokus    21

Stufenorientiertes MedikamentenTrainingsprogramm Förderung der Selbstwirksamkeit von chronisch erkrankten Menschen

© gettyimages / Classen Rafael / EyeEm

Julia Sonntag

Die regelmäßige Einnahme von Medikamenten erfordert von den Patienten und Patientinnen Wissen und Kompetenz.

Menschen mit chronischen Erkrankungen müssen

– eine professionelle Haltung der Pflegefachkräfte

über ein komplexes Medikamentenregime verfügen.

bei der Schulung von Patientinnen im Umgang mit

Um ein solches bewältigen zu können, ist sowohl ein

Medikamenten ist von großer Bedeutung.

hohes Maß an Wissen als auch an Selbstmanagementkompetenz erforderlich. Dieses kann über ein Trainingsprogramm vermittelt werden, das die Selbstwirksamkeit des Patienten stärkt. Ob im ambulanten oder (teil-)stationären Setting, in den Disziplinen Psychiatrie, Rehabilitation oder Somatik NOVAcura 1/20

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ie Integration und der Umgang mit Medikamen­ ten im Alltag sowie das Ausbilden von Routinen, um die Einnahme der Medikamente nicht zu ver­ gessen, sind kompliziert und herausfordernd. Laut aktuel­ ler Studienlage haben Patienten Schwierigkeiten bei der © 2020 Hogrefe


22    Fokus

Beobachtung, Deutung und Kommunikation von Symp­ tomen. Zudem weisen sie Defizite im Umgang mit Nebenund Wechselwirkungen, unangenehmen Begleiterschei­ nungen sowie der Informationssuche und -beschaffung auf. Über die erforderlichen Selbstmanagementfähigkeiten und Kompetenzen verfügen nicht alle erkrankten Patienten. Die Förderung des Selbstmanagements kann über einen patienten- und ressourcenorientierten Ansatz aus Infor­ mation, Wissensvermittlung und Anleitung zur Selbst­ befähigung (Empowerment) geschehen. Der Fokus liegt dabei auf der Kompetenzentwicklung, sodass die Patien­ tin zu einem selbstbestimmten, gesundheitsbezogenen Handeln befähigt wird (Müller-Mundt & Schaeffer 2011).

Neuer Ansatz im Gesundheitswesen Insgesamt steigen die Kosten im Gesundheitssektor, auch in der Arzneimittelversorgung. Die Patienten sollen mit­ einbezogen werden, um damit verbundene Probleme mit Pflege und Ärzteschaft gemeinsam lösen zu können. Der Ansatz der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) ermöglicht die Verantwortungsübernah­ me im Umgang mit Medikamenten. Wie die Ergebnisse einer qualitativen Longitudinalstudie mit chronisch kran­ ken Patienten zeigen, ist die reine Vermittlung von krank­ heits- und medikamentenbezogenem Wissen nicht ausrei­ chend. Laut den Ergebnissen der Befragung von chronisch kranken Menschen bedarf es einer zielgerichteten, indivi­ duellen Kompetenzförderung. Nur so ist es den Menschen möglich, ihre Erkrankung auch in schwierigen Phasen an­ gemessen (selbst-)managen zu können (Haslbeck 2010). In verschiedenen Bereichen und Zusammenhängen kommt es immer wieder zum Absetzen der Medikamente. Wenn Patienten gut eingestellt und somit symptomfrei sind, ha­ ben sie häufig das Gefühl, die Medikamente nicht mehr zu benötigen. Das Absetzen führt zu einer Verschlechterung der Krankheitssituation, häufig wiederkehrende stationä­ re Aufenthalte können die Folge sein. Es fehlt nicht nur an fachlich ärztlicher Aufklärung, sondern ebenso an konti­ nuierlicher Information und Schulung von Seiten der Pfle­ ge. Ziel ist es, dass die Patientin in Anlehnung an ihre per­ sönlichen Lebensgewohnheiten informiert und beraten wird. Das hat nicht nur im Hinblick auf die Entlassung und die nachstationäre Versorgung, sondern auch langfristig auf eine selbstständige Lebensführung einen posi­tiven Ef­ fekt. Für den Patienten ist es im Hinblick auf die Lebens­ qualität und psychosoziale Aspekte bei chronischen Er­ krankungen unumgänglich, mit in die Behandlung einbezogen zu werden.

Individuelle Autonomieförderung Im Rahmen eines pflegefachlichen Projektes wurde ein Medikamententrainingsprogramm entwickelt, das in Form von pflegerischen Schulungssequenzen bei Pa­ tienten und Patientinnen durchgeführt wird. Das konzi­ © 2020 Hogrefe

pierte Programm besteht aus den Stufen 0, 1, 2 und 3, die sich von vollkompensatorischer bis hin zu aktivierender Pflege definieren lassen. Für jede Zielgruppe sind be­ stimmte Voraussetzungen und Kriterien vorgeschrieben. Jede Stufe definiert Feinziele. Der Patient kann sich wei­ terentwickeln und nach Erreichen der Ziele in die nächste Stufe hocharbeiten. Die einzelnen Interventionen sind be­ schrieben und inhaltliche Schwerpunkte für die Edukation formuliert. Dank dieses Stufenmodells ist für jede Patientin ein an­ gemessenes und personalisiertes Medikamentenmanage­ ment möglich. Sie kann sich im Rahmen ihrer Kognition, Fähig- und Fertigkeiten weiterentwickeln. Je nach der ak­ tuellen, individuellen Krankheitsphase ist eine voll-, teil­ kompensatorische oder aktivierende Pflege möglich. Bei­ spielsweise können Menschen mit kognitiven Einbußen ihre Medikamente nicht selbstständig einnehmen und sind darauf angewiesen, dass das Medikamentenregime überwacht wird. Bei anderen Patienten kann es möglicher­ weise aus religiösen oder soziokulturellen Gründen zu bestimmten Einnahmebarrieren oder Besonderheiten ­ kommen. Dieses Konzept erlaubt ein standardisiertes Vorgehen und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, den Patienten in­ dividuell zu fördern. Das Training lässt sich allgemein bei chronischen Erkrankungen durchführen. Jedoch bedarf es einer Anpassung auf den jeweiligen Fachbereich und die krankheitsspezifischen Kriterien. Das hier beschriebene Konzept ist angelehnt an ein Medi­ kamentenstufenprogramm, das für Patienten mit Erkran­ kungen aus dem schizophrenen Formenkreis konzipiert wurde. Die von Schirmer et al. durchgeführte randomisierte Kontrollstudie hat einen Effekt in der poststationären Ein­ nahmebereitschaft nach der Teilnahme am Medikamenten­ training bewiesen (vgl. Schirmer et al. 2015).

Steigerung der Pflegequalität Um eine hohe pflegerische Qualität erreichen zu können, ist es von großer Bedeutung, Theorien und Erkenntnisse aus der Pflegewissenschaft in die Praxis zu transferieren. Elemente dieses Konzeptes wurden auf Basis der Pflege­ theorie nach Dorothea Orem formuliert. Um Patienten zu unterstützen, wenden alle professionellen Helfer die Me­ thoden nach Orem an. Das sind Handlungen, die gesund­ heitsbedingte Einschränkungen ausgleichen zu können. Außerdem soll die Patientin oder eine Bezugsperson im Rahmen der Dependenzpflege befähigt werden, selbst tä­ tig zu werden. In dem hier aufgezeigten Konzept sind alle drei Theorien nach Orem verankert. Wenn ein Patient mit seinen Medikamenten nicht zurechtkommt, liegt ein situ­ atives Selbstpflegedefizit vor. Dieses kann mit Anleitung / Beratung im Sinne des unterstützend-erzieherischen Sys­ tems ausgeglichen werden. Das Konzept ist sowohl auf vollkompensatorische Pflege als auch auf teilkompensa­ torische Pflege ausgelegt. Durch das Miteinbeziehen von Angehörigen und anderen Bezugspersonen, wird zusätz­ NOVAcura 1/20


Fokus    23

lich die Dependenzpflege berücksichtigt. Ein Beispiel da­ für wäre das sogenannte Rooming-In. Auch das Handeln im Pflegeprozess sowie der Einbezug von Pflegediagnosen können die pflegerische Qualität steigern. Das situative Selbstpflegedefizit im Hinblick auf ein unzureichendes Medikamentenregime beschreibt die Pflegediagnose „Unwirksames Gesundheitsmanagement“ (vgl. NANDA/NIC/NOC). Durch ein Screening beim pfle­ gerischen Aufnahmeprozess wird entschieden, ob und in­ wieweit dieses Defizit /Problem besteht. Je nach Kognition und Fähigkeit des Patienten, wird von der Pflege­fachperson entschieden, in welches Pflegesystem der Pa­tient eingrup­ piert werden kann. Sobald ein Patient die B ­ ereitschaft oder Motivation zeigt, Eigenverantwortung zu überneh­ men, sollte die passendere Pflegediagnose „Bereitschaft für ein verbessertes Gesundheitsmanagement“ gewählt werden. Auch andere Pflegeprobleme können Ursache für ein unzureichendes Management der eigenen Gesundheit sein. Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege ist enorm wichtig und grundlegend für sämtliche pflegerische Maßnahmen.

Evidenzbasiertes Arbeiten in der Pflege Das stufenorientierte Trainingsprogramm wurde anhand des EbN-Prozesses bearbeitet und mit dem Rahmenwerk „Ottawa Model of Research Use“ in die Praxis implemen­ tiert. Das Praxisumfeld war in diesem Fall das Epilepsie­ zentrum Bodensee. Es ist von großer Bedeutung, Wissen, angelehnt an ak­ tuelle Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Evi­ denz, in die Praxis zu transferieren. Das Handeln sollte vor allen Beteiligten fachlich begründet werden können. Beim Evidence based nursing - Prozess geht es um die Beurtei­ lung von Forschungsarbeiten und deren Implementierung in die Praxis.

„Evidence based nursing ist die Integration der derzeit besten wissenschaftlichen Belege in die tägliche Pflegepraxis unter Einbezug theoretischen Wissens und der Erfahrung der Pflegenden, der Vorstellungen des Patienten und der vorhandenen Ressourcen“ (Langer 2001).

Hierbei werden die Grundpfeiler der Evidenz (Patienten­ präferenzen und -erfahrungen, klinische Erfahrung, lokale Faktoren, Forschung) sowie die verschiedenen Wissens­ formen (ethisch, persönlich, ästhetisch, empirisch) berück­ sichtigt. Konkret geht es darum, fundierte Forschungser­ gebnisse auf die eigene Einrichtung / Institution /Station/ individuelle Patientensituation herunterzubrechen, mit dem Ziel, die Pflegequalität zu erhöhen. So wird wissen­ schaftliche Erkenntnis hergestellt, verfügbar gemacht und in der Praxis angewendet (Behrens & Langer 2010). Die­ NOVAcura 1/20

ser wissenschaftliche Transfer von der akademischen Lehre zur direkten Patientenversorgung ist durch den Ein­ satz hochschulisch qualifizierter Pflegender möglich.

Für die Implementierung von akademischem Pflegepersonal setzt sich die „Initiative für akademisierte Pflege e. V.“ ein. Mehr Informationen dazu finden Sie unter www.akademisierte-pflege.de

Literatur Behrens, J.& Langer, G. (2010). Evidence-based Nursing and Caring: interpretativ-hermeneutische und statistische Methoden für tägliche Pflegeentscheidungen: vertrauensbildende Entzauberung der „Wissenschaft”. Bern: Hans Huber. Haslbeck, J. W. & Schaeffer, D. (2011). Selbstverantwortung im Gesundheitswesen, diskutiert am Medikamentenmanagement aus Sicht chronisch kranker Patienten. Das Gesundheitswesen, 73(3), 140–141. Müller-Mundt, G., Geuter, G., Haslbeck, J. & Schaeffer, D. (2009). Unterstützung des Selbstmanagements komplexer Medikamentenregime bei chronischer Krankheit – Potenziale der ambulanten Pflege. In J. Behrens (Hrsg.), Hallesche Beiträge zu den Gesundheits- und Pflegewissenschaften. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität. Retrieved May 2019 from https:// www.medizin.uni-halle.de/fileadmin/Bereichsordner/ Institute/GesundheitsPflegewissenschaften/Hallesche_ Beitr%C3%A4ge_und_EBN/Halle-PfleGe-08-01.pdf Müller-Mundt, G. & Schaeffer, D. (2011). Versorgung chronisch Kranker – Herausforderungen aus pflegerischer Perspektive. Hannover: Springer. Müller-Mundt, G. & Schaeffer, D. (2011): Bewältigung komplexer Medikamentenregime bei chronischer Krankheit im Alter: Förderung des Selbstmanagements als Aufgabe der Pflege. Zeitschrift für Gerontologie & Geriatrie, 44(1), 6–12. Specht, U. (2008). Medikamenten-Compliance bei Epilepsie. Der Nervenarzt, 79(6), 662–668. Schirmer, U., Steinert, T., Flammer, E. & Borbe, R. (2015). Skillsbased medicaton training program for patients with schizophrenic disorders: a rater-blind randomized controlled trial. Patient Preference and Adherence, 9, 541–549. Specht, U. & Altrup, U. (2006). Informationstafeln Epilepsie. Nürnberg: Novartis Pharma Verlag.

Für weiterführende Informationen zum stufenorientier­ ten Medikamententrainingsprogramm ist eine Kontakt­ aufnahme erwünscht.

Julia Sonntag, staatlich anerkannte Gesundheits- und Krankenpflegerin, B.A. Pflege, Vorstand im Verein Initiative für akademisierte Pflege e.V. j.sonntag@akademisierte-pflege.de

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Fokus    25

Etikette oder Innovation? Eine Bestandsaufnahme sozialer Betreuung in stationären Pflegeeinrichtungen Daniel Behrendt, Marielle Schirmer, Nancy Werner & Vanessa Wendschuh

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Stationäre Pflegeeinrichtungen stehen vor der Herausforderung, die Rahmenbedingungen für ein würdiges Leben der Bewohner und Bewohnerinnen zu schaffen. Seit 2017 haben deshalb alle Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen nach § 43b SGB XI neben der pflegerischen Versorgung einen individuellen Anspruch auf soziale Betreuung. Die personellen Aufwendungen dafür werden bewohneranteilig von den Pflegekassen bzw. privaten Versicherungsunternehmen finanziert.

S

chenkt man den Prognosen zur gesellschaftlichen Entwicklung Glauben, zeigt sich, dass der Pflegesektor in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Die Anzahl der Pflegebedürftigen ist von 2,02 Mio. Fällen im Jahr 1999 auf etwa 3,4 Mio. Fälle im Jahr 2017 stark angestiegen (Statistisches Bundesamt 2018). Schon heute leben 25 Prozent der Pflegebedürftigen in stationären Pflege­ einrichtungen (ebenda). In Anbetracht prognostiziertem sinkendem Potential an Laienpflege wird damit der Bedarf an professioneller Pflege und damit einhergehend an sozia­ ler Betreuung drastisch ansteigen (Schnabel 2007).

Entwicklungsprozess der sozialen Betreuung Alte Menschen haben über viele Jahrhunderte keine gesonderte Versorgung genossen. Noch in den 1960er Jahren wird von der Fachöffentlichkeit bemängelt, dass die Bedarfslagen älterer Menschen in Deutschland systematisch vernachlässigt werden (Schölkopf 2000). Ende der 1970er Jahre kam es aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Altersforschung zu einem Perspektivwechsel (Heinemann-Knoch & Schönberger 1999). Es bestand fortan Konsens darüber, dass auch Menschen im hohen Alter trotz Abhängigkeit von anderen einen Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung haben. Das führte in der Folge auch zu einer Öffnung der stationären NOVAcura 1/20

Soziale Betreuung: die Autoren wünschen sich mehr Qualität statt Quantität.

Pflegeeinrichtungen mit dem Ziel der Integration in die Gesellschaft und Teilhabe am öffentlichen Leben. Vielerorts wurden Sozialarbeiter in den Einrichtungen eingestellt, die ihre Tätigkeit bemerkenswert frei gestalten konnten (Bloech 2012). Im Jahr 1996 wurde die Pflegeversicherung als fünfte Säule im deutschen Sozialversicherungssystem etabliert. Einen Anspruch auf die Leistungen der sozialen Betreuung haben zu diesem Zeitpunkt alle Menschen, die im Sinne des § 14 SGB XI pflegebedürftig und nach § 15 SGB XI einer Pflegestufe zugeordnet sind (Deutscher Bundestag 1996). Trotz aller Kritik an der Ausgrenzung vulnerabler Zielgruppen, etwa Menschen mit demenziellen Erkrankungen, war mit der Pflegeversicherung nun eine verlässliche Finanzierung der sozialen Betreuung garantiert. In den Pflegeeinrichtungen fanden tiefgreifende Anpassungen an die neuen gesetzlichen Vorgaben statt, aufgrund des festgeschriebenen Paradigmenwechsel von der ehemals anvisierten „sozialen Arbeit“ hin zu einer pflegerisch orientierten „sozialen Betreuung“ (Klie 1998). Erst mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurden im Jahr 2008, nach mehr als 10 Jahren der Etablierung, die Leistungen © 2020 Hogrefe


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der gesetzlichen Pflegeversicherung für Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen ausgeweitet (Deutscher Bundestag 2008). Mit dem Inkrafttreten des Ersten Pflegestärkungsgesetzes am 01.01.2015 hat der Gesetzgeber den Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung gemäß § 87b SGB XI auf alle versicherten Heimbewohner und -bewohnerinnen, unabhängig von einer möglichen eingeschränkten Alltagskompetenz, erweitert. Für die Pflegeeinrichtungen besteht nun die Möglichkeit, für 20 Bewohnende eine zusätzliche Betreuungskraft zu finanzieren (Deutscher Bundestag 2014). Betreuungskräfte sind verpflichtet, ein Orien­ tierungspraktikum von 40 Stunden, eine Weiterbildung von 160 Stunden sowie ein zweiwöchiges Betreuungspraktikum zu absolvieren und sich jährlich 16 Stunden fortzubilden. Ein Berufsabschluss wird nicht vorausgesetzt (SGB XI 2018).

Problematik heute Die schrittweise Einführung der sozialen Betreuung führte in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder zu Unsicherheiten bei den professionell Agierenden. Zum einen waren verlässliche Personalplanungen in diesem Bereich schwierig, da nicht voraussehbar war, wie sich die Struktur der Anspruchsberechtigten über längere Zeiträume in der eigenen Einrichtung entwickelt. Zum anderen sind in vielen Einrichtungen die Betreuungssettings noch von unklaren Zielstellungen und mangelndem Wissensstand zur Thematik geprägt (Bloech 2012). In den frühen Jahren der sozialen Arbeit waren die Kontexte und Zielsetzungen breit verankert, aber institutionell willkürlich akzentuiert. Bis heute finden aus dieser Tradition heraus Diskussionen zu den originären Aufgaben der sozialen Betreuung statt. Auch in der Abgrenzung zu den Aufgaben der Pflege ergeben sich Schnittstellenprobleme. In den Konkretisierungen der Betreuungskräfte-RL zu Zielen und Aufgaben der sozialen Betreuung wird der Anspruch verdeutlicht, die Lebensqualität zu verbessern (GKV-Spitzenverband 2016). Dies ist dahingehend problematisch, da keine Ausführungen zur inhaltlichen Ausgestaltung gemacht werden, beispielweise zum Instrument bzw. zur Methode der Lebensqualitätserfassung und diese bisher in Pflegeeinrichtungen weitgehend unbekannt sein dürften. Ausgehend von dem Aufgabengefüge benötigt man im Betreuungssetting jedoch Fachexperten, die ihrer angedachten Rolle im stationären Versorgungssetting durch ausgeprägtes Knowhow und Fachwissen gerecht werden. Notwendig ist an dieser Stelle mindestens eine professionelle Steuerung und Koordination der Arbeit der Betreuungskräfte. Zumindest nach der Konzeption des Bundesministeriums für Gesundheit ist die Pflege hierfür nicht vorgesehen: „Die Aufstockung durch weiterqualifizierte Betreuungskräfte sorgt dafür, dass Pflegekräfte Unterstützung erhalten und Pflegebedürftige mit speziellen Angeboten noch besser bei ihren alltäglichen Aktivitäten unter© 2020 Hogrefe

stützt werden und sich dadurch ihre Lebensqualität erhöht. Den Pflegenden bleibt hierdurch mehr Zeit für die Pflege“ (BMG 2017, S. 24). Die konzeptionelle Entkopplung der sozialen Betreuung von der Pflege als eigenständiges Berufsfeld ist ein Expe­ riment mit ungewissem Ausgang (Jacken et al. 2018). Sollten die Pflegekräfte als bisher einziges Verbindungsglied zwischen Bewohnern und Gesellschaft tatsächlich zu­ nehmend an Bedeutung verlieren und sich ihr Handeln ausschließlich auf medizinisch-pflegerische Aspekte der ­Versorgung reduzieren, wäre die Frage nach einer professionellen Identität der Altenpflege zum jetzigen Zeitpunkt lediglich noch von marginaler Relevanz. Vor dem Hintergrund des derzeitigen Fachkräftemangels ist jedoch nicht von einer gegenläufigen Entwicklung auszugehen. Oft erschöpft sich das Angebot der sozialen Betreuung an Standardprogrammen, wie Basteln, Singen, Gedächtnis­­ training und Zeitungsschau. Hinzu kommen jahreszeit­ liche Angebote und wiederkehrende Veranstaltungen. Der Einzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung ist auch der Einzug in eine Institution mit ritualisierten Abläufen, an die sich Bewohner anpassen. Häufig orientieren sich Angebote nicht an den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner, sondern werden in begründeter Absicht kon­ struiert. Man kann auch sagen, soziale Betreuung wird­ aus der Lebenswelt der Gesunden entwickelt und abgeschwächt oder in verminderter Qualität den alten Menschen angeboten. Resümierend kann festgehalten werden, dass für viele in der Betreuung propagierte Maßnahmen keine nach­ gewiesenen Wirkungsweisen existieren. Sollte es doch ­selektive Befunde geben, dann dürften diese bei den Anwendenden weitgehend unbekannt sein. Es fehlt ein übersichtlicher und handlungsleitender Kompass über­ ­ die Wirkungsweisen der Maßnahmen zur sozialen Be­ treuung, und darüber, nach welchen Anwendungslogiken diese zu gestalten sind. Die praktische Ausgestaltung einer adressatengerechten Betreuung ist erst in den Anfängen realisiert. Bisher konzentrierten sich die Bemühungen zur Schaffung einer nutzerorientierten Angebotsstruktur vor allem auf die themenbezogene Ausdifferenzierung von sozialer Betreuung. Es fehlt in den Einrichtungen an intensiven Auseinandersetzungen mit Fragen des Bedarfs, aber auch mit den von ihnen erreichten bzw. nicht erreichten Zielgruppen. Dabei muss konstatiert werden, dass bis heute keine „Metatheorie“ von sozialer Betreuung existiert, so dass sich die theoretische sowie methodologische Aus­ gestaltung der Angebote bisher hauptsächlich an pflegerischen bzw. krankheitsspezifischen Kontexten ausrichtet.

Qualitätsindikator Lebensqualität Die Etablierung von Lebensqualitätsmessung in stationären Pflegeeinrichtungen wäre tatsächlich ein Kulturwandel zu mehr Empowerment von Pflegebedürftigen sowie wichtige Handlungsorientierung zur adäquaten Gestaltung NOVAcura 1/20


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von Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe als Grund­ lage eines modernen Qualitätsverständnisses. Studien zeigen, nicht physische Gesundheit, sondern Selbstbestimmung, Würde, soziale Teilhabe, Sicherheit, Wohlbefinden sowie Zufriedenheit sind wichtige Bereiche der Lebensqualität aus Sicht der Bewohnenden (Weidekamp-Maicher 2016). Allerdings besteht eine starke Diversifikation in den Begrifflichkeiten und in der Konzeption von geeigneten Messinstrumenten zur Erfassung der Lebensqualität (Weidekamp-Maicher 2018). Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche wissenschaftliche Disziplin bzw. welches methodologisch-normative Verständnis von Lebensqualität in der stationären Pflege und hier im Besonderen die soziale Betreuung bestimmen soll. Als problematisch gilt zusätzlich die Abgrenzung der Begriffe „Lebensqualität“ und „Wohlbefinden“. Oftmals werden beide Wörter als Synonyme verwendet, was sie aber ausgehend von der Fachliteratur und den internationalen Klassifikationen für die Pflegepraxis (ICNP) keinesfalls sind (ICN 2017; Weidekamp-Maicher 2018). Das Wohlbefinden stellt einen Teilbereich der Lebensqualität dar. In der Altersforschung wird Wohlbefinden als Kriterium einer gelungenen Anpassung an das Alter an sich bzw. an das Leben in einem Pflegeheim betrachtet. Lebensqualität in sozialen Beziehungen besteht aus Sicht von Pflegeheimbewohnenden nicht nur darin, soziale Unterstützung in ausreichendem Maße zu erhalten, sondern ebenfalls da­ rin, anderen Menschen etwas geben zu können (Register & Herman 2010). Auch Schwerstpflegebedürftige wollen das Gefühl haben, gebraucht zu werden, das heißt, Generativität zu erleben. Soziale Teilhabe als Kennzeichen der Lebensqualität ist folglich weniger abhängig von strukturellen und objektiv messbaren Aspekten wie etwa der ­Größe des sozialen Netzwerkes, der Wohnentfernung zu Verwandten oder dem Ausmaß instrumenteller Unterstützung, sondern von der subjektiv wahrgenommenen Nähe zu Vertrauenspersonen, von den aktiv „gelebten“ Kontakten und der Befriedigung der Bedürfnisse nach Reziprozität und Verbundenheit (Weidekamp-Maicher 2016). Möglicherweise müsste hinsichtlich der Terminologie eine Präzisierung erfolgen. Wahrscheinlich eignet sich der Begriff „soziales Wohlbefinden“ besser als das multidimen­ sionale Konzept der Lebensqualität.

Herausforderungen für die Zukunft Die Situation rund um die soziale Betreuung hat sich dank Gesetzesreformen der letzten Jahrzehnte deutlich entspannt und verbessert. Dadurch, dass jeder Bewohner durch die Pflegeversicherung leistungsberechtigt ist, kann auf Grundlage einer soliden finanziellen und damit auch personellen Basis das Versorgungsgeschehen geplant werden. So unbestreitbar dieser Erfolg ist, so sehr zeigen sich auch Schattenseiten. Die Ausgestaltung der sozialen BeNOVAcura 1/20

treuung in stationären Pflegeeinrichtungen ist bislang auf eine quantitative Ausweitung beschränkt. Eine qualitative Ausdifferenzierung des Leistungsspektrums ist demgegenüber weitgehend ausgeblieben bzw. auf einige wenige Bereiche begrenzt. Für die Zukunft ist es daher notwendig, die Ausdifferenzierung des Leistungsspektrums der sozialen Betreuung zu forcieren und auf die Ausbildung von nutzerorientierten Angebotsstrukturen zu drängen. Klar ist, eine nutzer­ orientierte Angebotsgestaltung kann die Lethargie der sozialen Betreuung in Pflegeeinrichtungen durchbrechen. Der Gesetzgeber formuliert ambitionierte Zielvorgaben für die soziale Betreuung. Seit 2008 gilt die Verbesserung der Lebensqualität von Pflegeheimbewohnenden als Ergebnisparameter der sozialen Betreuung (GKV-Spitzenverband 2016). Bis heute bleiben in Bezug auf diese Zielvorgabe viele Fragen unbeantwortet. Von gesundheitspolitischer Seite werden Investitionen in mehr Nutzerorientierung nahezu ausschließlich als Aufforderung zur Sicherstellung der Qualifikation der ­ Leistungserbringer bzw. quantitativen Ausweitung der ­Angebote verstanden (siehe hierzu Richtlinien des GKVSpitzenverbandes für die Qualitätsprüfung in Pflegeeinrichtungen nach § 114 SGB XI). Auch wenn dieser Aspekt wichtig ist, droht die methodisch-inhaltliche bzw. wissenschaftliche Weiterentwicklung der sozialen Betreuung auf halbem Weg stecken zu bleiben. Die soziale Betreuung in stationären Pflegeeinrichtungen ist grundsätzlich als eine familienergänzende und nur beim vollständigen Fehlen als ersetzende Leistung zu verstehen. Allerdings findet die Rolle der Familie bisher keinen nennenswerten Eingang in die konzeptionellen Überlegungen der sozialen Betreuung. Der Aufbau einer auch außerhalb der Einrichtung funktionsfähigen sozialen Teilhabe, die die Arbeit der sozialen Betreuung als eine ergänzende bzw. integrative Leistung versteht, ist mit hohem Organisationsaufwand verbunden, für die in der Regel keinerlei Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Nicht nur aufgrund sich wandelnder demographischer Strukturen, sondern auch weil hinzukommende älter werdende Migranten und Migrantinnen das Bild der nachfolgenden Generationen in stationären Pflegeeinrichtungen prägen werden, müssen entsprechende Leistungskonturierungen erfolgen. Des Weiteren muss das Handeln zwischen den Einrichtungen in Art und Umfang auf die Erfordernisse einer bedarfsgerechten und situationsangemessenen Betreuung der einzelnen Bewohnenden bezogen bleiben. Derzeit sind einrichtungsübergreifende Kooperationen, trotz des durchaus vorhandenen Problembewusstseins, nur schwer zu realisieren und selten vorzufinden. Ursachen für Kooperationsprobleme sind sicherlich, in der Binnenorientierung der Unternehmen als eigenständige private Wirtschaftsunternehmen in einen konkurrenzorientierten Pflegemarkt zu finden. Die vernetzte Angebotsgestaltung für Menschen mit besonderen Bedarfslagen bleibt weitgehend aus. Auch die Kooperation und Vernetzung der Angebotsstruktur mit Krankenhäusern ist ein bisher noch unbekanntes Feld. © 2020 Hogrefe


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Unter Berücksichtigung der aktuellen Lage, müssen die Angebote zur sozialen Betreuung zukünftig einen evidenzbasierten Zuschnitt erhalten. Evidenzbasierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Stützung von Entscheidungen bzw. die Weiterentwicklung von Theorien auf der Basis von wissenschaftlichen Daten, die mithilfe der jeweils besten Studiendesigns und Analysemethoden gewonnen werden. Ideenhaft wäre für Akteure, im Praxisfeld soziale Betreuung eine Material- und Methodensammlung zu etablieren, die ausgerichtet an evidenzbasierten Maßstäben Anregungen für den Einsatz und die Auswahl von nutzer­ orientierten Betreuungsmaßnahmen liefert. Des Weiteren soll sie einen Überblick geben, welche Angebote der sozialen Betreuung welche Handlungsfelder fördern und wie diese in Gruppen- oder Einzelbeschäftigungen genutzt werden können. Wenn heutzutage von Professionalisierung die Rede ist und ein entsprechender Diskurs eröffnet wird, geht es meist darum, dass eine vorhandene berufliche Dienstleistung statusmäßig aufgewertet oder aber eine Neue auf ­bestimmtem Niveau etabliert werden soll. Bisher gibt es keine berufssoziologischen Befunde zur sozialen Identität von sozialen Betreuungskräften. Ziel sollte es sein, das praktische Handeln im Bereich der sozialen Betreuung auf fall- und sinnverstehende Kompetenzen zu gründen. Erst diese ermöglichen den Zugang zum Verständnis der spezifischen lebenspraktischen Probleme und zur Besonderheit der Bedarfe des jeweiligen Einzelfalls. Dafür sind die jetzigen Strukturen nicht ausreichend. Insbesondere die Weisungs- und Aktionsentkopplung der sozialen Betreuung von der Pflege und dem Anspruch einer nutzerorientierten Vorgehensweise verlangt in der Betreuung nach professionellen Handlungsstrukturen. Hierzu sind zukünftig weiter­ gehende Emanzipationsprozesse denkbar.

Daniel Behrendt, Dipl.-Pflegewirt MPH, ist Pflegedirektor des Städtischen Klinikums Dessau. daniel.behrendt@klinikum-dessau.de

Marielle Schirmer ist B.Sc. (N) und Pflegedienstleitung des Städtischen Klinikums Dessau. marielle.schirmer@ klinikum-dessau.de

Nancy Werner ist B.A. Gesundheitsund Sozialmanagement und stell­ vertretende Stationsleitung der Klinik für Dermatologie. nancy.werner@klinikum-dessau.de

Vanessa Wendschuh ist M.Sc. Public Health und arbeitet als Koordinatorin für Soziale Betreuungskräfte im Altenpflegeheim am Georgengarten. vanessa.wendschuh@ klinikum-dessau.de

Literatur Bloech J. (2012). Soziale Arbeit in der stationären Altenhilfe – Imple­ mentierung, Degeneration und Perspektive. Dissertation an der Fakultät für Erziehungswissenschaften. Universität Bielefeld. Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2017). Die Pflegestär­ kungsgesetze. Das Wichtigste im Überblick. Referat Öffentlichkeitsarbeit, Publikationen. Berlin. Deutscher Bundestag (1996). Erstes Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 14.06.1996, BGBl. I Nr. 30, S. 832. Deutscher Bundestag (2008): Gesetz zur strukturellen Weiterent­ wicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungs­ gesetz) vom 28.05.2008, BGBl. I Nr. 20, S. 874.

Die vollständige Literaturliste ist bei den Autoren erhältlich.

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Mehr Digitalisierung und mehr Kommunikation Kreative Lösungen angesichts des Fachkräftemangels Jens Gieseler

Das Gesundheitswesen in der Schweiz klagt über Fachkräftemangel. Am stärksten betroffen sei die Langzeitpflege, sagt Cornelia Klüver, Präsidentin des Schweizer Berufsverbandes für Pflegefachper­ sonal Bern (SBK). So finden es 90 % aller Alten­ pflegeeinrichtungen schwierig, qualifiziertes Fach­ personal zu finden, und im zweiten Quartal waren 6038 Stellen für diplomierte Pflegerinnen und ­Pfleger vakant – der Spitzenplatz unter den meist­ gesuchten Fachkräften. In der Ausbildung sieht es nicht besser aus: Die Ausstiegsquote des Pflege­ fachpersonals der Tertiärstufe lag bei 46 %. „Der zu­ nehmende Bedarf kann nicht ansatzweise gedeckt werden“, sagt Cornelia Klüver über die Pflegesitua­ tion in der Schweiz.

R

ecruiting-Spezialistin Pia Tischer (siehe Foto unten) findet, dass vor allem mittelständische Pflegeorganisationen für die Bewerbungsprozesse zu lang benötigen. Weil Konzerne die Bearbeitung digitalisiert haben, bekommen Bewerberinnen und Bewerber oft bereits im Laufe eines Tages eine Mail, dass die Bewerbung eingegangen ist. Sie erhalten auch Zwischenbescheide über den Stand der Dinge, sodass die Kandidatinnen und Kandi­daten sich wie ein guter Kunde behandelt fühlen. „Etliche Bewerber sind diesen Service gewohnt und springen ab, wenn es ihnen woanders zu lange dauert“, so die Coveto-Geschäftsführerin. Fatal, wenn es immer weniger Bewerberinnen und Bewerber gibt. Wenn dagegen kleine und mittelständische Pflegeunternehmen ihren Bewerbungsprozess strukturieren und digitalisieren, sieht die 50-jährige Beraterin mit langjäh­ riger Personalerfahrung in unterschiedlichen Positionen die „Kleinen“ im Vorteil, denn es sind weniger Personen und selten ein

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Die Mitarbeitenden des Pflegedienstes Hilfe Daheim von Johannes Tamme. Fotos: Jens Gieseler

Betriebsrat an der Entscheidung beteiligt: „Über die Geschwindigkeit könnten sie viel Boden gegenüber größeren Unternehmen gut machen.“ Zusammen mit ihrem Partner Christian Asche hat sie ein Bewerbermanagement speziell für kleine und mittelständische Betriebe entwickelt. Ihre Kunden erleben bereits bei der Stellenausschreibung enorme Einsparung der Arbeitszeit, die dann für Personalarbeit direkt an der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter genutzt werden kann. Statt die Ausschreibung händisch in diverse Portale einzupflegen, werden die Portale über die Software direkt ausgewählt und die Ausschreibung automatisch eingestellt. Steht das Gerüst für die Ausschreibung, benötigen die Personaler lediglich circa 30 Minuten für das gesamte Prozedere. Einen klassischen Fehler beobachtet Pia Tischer immer wieder: Unternehmen zählen bei Ausschreibungen gerne auf, was eine Bewerberin oder ein Bewerber alles können muss und über welche sozialen Fähigkeiten die- oder derjenige verfügen soll. „Mal abgesehen davon, dass oft die eierlegende Wollmilchsau gesucht wird, heute bewirbt sich das Unternehmen eher beim Mitarbeiter“, kritisiert die Mittelhessin. Gerade in der Pflegebranche können sich die engagierten und qualifizierten Mitarbeiterinnen und © 2020 Hogrefe


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Mitarbeiter ihren Arbeitgeber aussuchen. „Das Unternehmen muss zunächst sich als attraktiven Arbeitgeber darstellen“, empfiehlt die Coveto-Geschäftsführerin. Unter dem interessanten Bild sollten deshalb zunächst gute Gründe stehen, warum Interessentinnen und Interesssenten sich bewerben sollten. Das dürfe dann gerne pfiffig sein. So wirbt Coveto auch damit, dass sich künftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die mehrstündige Hin- und Rückfahrt ins Ballungszentrum Frankfurt sparen können und trotzdem herausfordernde Jobs in der Wetterau bekommen und mehr Lebensqualität genießen können. Viele Personaler sind mit ihren Organisationen auch bei Bewerbungen noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen. Klassisch wird mit Text und eventuell Bild geworben. Nur wenige Geschäftsführerinnen oder Geschäftsführer greifen zum Smartphone und drehen ein kurzes Video, bringen auf den Punkt, für was das Unternehmen steht und wie dort gearbeitet wird, laufen dabei durch die Pflegeeinrichtung, um sie den Bewerberinnen und Bewerbern schon mal zu zeigen, und lassen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen. Johannes Tamme hat sich mit seinem Pflegedienst Hilfe Daheim am Wettbewerb „Bester Arbeitgeber Hamburgs“ beteiligt (siehe Einstiegsbild und Foto 1). Dass der ambulante Pflegedienst mit fünf Sternen die Höchstauszeichnung erhielt, wie lediglich 13 andere Unternehmen und als einzige der Gesundheitsbranche, ist eine Sache. Wichtiger war ihm und seiner Mitinhaberin Nicole Gatz, dass die „Jury“ aus sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestand und sie so ein fundiertes Feedback bekamen und erkannten, wo Verbesserungspotenzial liegt. So kam die Kenntnis der Unternehmensstrategie am schlechtesten weg. Lediglich 83 % der Mitarbeiter kennen sie. Tamme kommentiert trocken: „Das ist ein Klasse-Wert, vor allem wenn man bedenkt, dass Pflegekräfte mit Herz und Hand direkt mit unseren Kunden arbeiten. Strategie ist ihnen nicht wichtig.“ Dagegen gibt es mehr als 90% Mitarbeiterzustimmung, wenn es um die Erreichbarkeit von Führungskräften geht. Ambulante Pfleger sind den ganzen Tag unterwegs – umso wichtiger, wenn ihre Vorgesetzten am Ende des Dienstes erreichbar und ansprechbar sind und nicht bereits ihrer Freizeit frönen. Die Berner SBK-Präsidentin bestätigt, dass es tatsächlich Unternehmen gibt, die weiterhin gut qualifiziertes Pflegepersonal rekrutieren können. „Maßgeblich ist die Führung, der vorherrschende Führungsstil und damit verbunden die Kultur eines Betriebes“, so Cornelia Klüver. Mit innovativen Ideen, hoher Professionalität, Mitarbeiter

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zugewandten Arbeitszeitmodellen und einer etablierten wertschätzenden Kultur eines beidseitigen Gebens und Nehmens unter Berücksichtigung einer fairen Abgeltung sei vieles möglich. So können sich die Hamburger Pflegekräfte von Hilfe Daheim ganz auf ihre eigentliche Tätigkeit beim Kunden konzentrieren. Nicht sie, sondern ein ausgebildeter Einkäufer besorgt die notwendigen Medikamente. Das entlastet die Pflegekräfte, außerdem versteht der Einkäufer sein Geschäft und erzielt bessere Preise. Die rund 10 000 monatlichen Einsätze plant auch nicht die Pflegedienstleiterin, sondern ein ausgebildeter Logistik-Fachmann. Auch der kann das besser und die Leiterin kann sich auf ihre wesentlichen Aufgaben konzentrieren. Die Berufsverweildauer liegt bei einem Drittel des schweizerischen Pflegepersonals unter 14 Jahren, weiß Cornelia Klüver. Wichtig Gründe für den frühzeitigen Ausstieg sind schwierige Rahmenbedingungen, wie die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf aufgrund der variablen Arbeitszeiten, vom Arbeitgeber zu wenig finanziell unterstützte Weiterbildungen und generell erschwerte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten – und das angesichts hoher Verantwortung, die sich jedoch nicht adäquat im Lohn niederschlägt, so die Verbandsfrau. Deshalb kümmert sich Johannes Tamme intensiv um seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Früher konnte ich unter 20 Bewerbern die besten zwei raussuchen.“ Heute investiert er in Pflegekräfte, die ihm und seiner Kollegin geeignet erscheinen. Immer mal taucht eine Kollegin oder ein Kollege ab. „Zu 90 % führen private Probleme zu schlechter Arbeit“, stellt der Pflegechef in der Praxis fest, wie zum Beispiel bei einer Pflegekraft, die acht Jahre­ sehr gut ihre emotional fordernde Arbeit gemacht hat. Er versucht dann herauszufinden, was zu der veränderten Arbeits­einstellung geführt hat und findet Lösungsmöglichkeiten, die die belastende Situation zumindest lindern. So liegt die Mitarbeiterfluktuation eigenen Angaben nach deutlich unter der von anderen Unternehmen in der Branche.

Jens Gieseler ist Journalist, selbständig als Kommunikationsberater, Öffentlichkeitsarbeiter sowie Seminar- und Workshop-Leiter und Heilpraktiker für Psychotherapie. jg@jens-gieseler.de

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Soziale Zerbrechlichkeit Grenzen des gesunden Alterns im Kontext sozialer Ungleichheit

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Diana Staudacher

In einer Kultur der geteilten Verletzlichkeit beruht Personsein nicht auf Autonomie, Unabhängigkeit, Leistungsfähigkeit und kognitiver Kompetenz, sondern auf dem verwundbaren Körper mit seiner wortlosen Ausdruckssprache (Kontos & Naglie 2007).

„H

Sicherheit?

inter dem Bild des langen Lebens als einer ­Erfolgsgeschichte verbirgt sich eine wachsen­ de Ungleichheit unter älteren Menschen“ (Grenier et al. 2016, S.9). Diese Ungleichheit hat soziale Ursachen: „Menschen, die sozioökonomischer Benach­ teiligung ausgesetzt sind, haben nicht nur ein kürzeres ­Leben, sie sind auch häufiger von Krankheit betroffen“ (Cooper 2018, S. 1). Soziale Faktoren haben hat eine essen­ zielle Bedeutung ­in Bezug auf Gesundheit im Alter: Nach­ teilige soziale Lebensbedingun gen führen dazu, „weitge­ hend zur Macht­losigkeit verurteilt zu sein in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Schicksals. Aufgrund fehlender

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© 2020 Hogrefe

Fehlende soziale Sicherheit, eine beeinträchtigte sozioökonomische Situation und die Spuren lebens­ langer Belastung machen das Alter zu einer äußerst verletzlichen Lebensphase. Oft ist es weniger die körperliche Fragilität als die sozioökonomische Un­ sicherheit, die das Altern bestimmt. Wie ist es mög­ lich, dass gesundes Altern kein soziales Privileg ist? Und wie wichtig ist dabei ein Recht auf soziale


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materieller Ressourcen stehen weniger Möglichkeiten of­ fen“ (Tobias 2017, S. 1). Die soziale Lebenssituation „geht unter die Haut“ (Ferraro & Shipee 2009). Sie wirkt sich nachweisbar auf biologische Prozesse aus und hinterlässt ihre Spuren im Körper (Tobias 2017). Erhöhte Vulnerabi­ lität und Fragilität im Alter sind somit nicht unbedingt ­naturgegeben – häufig sind sie die Folge belastender sozio­ ökonomischer Lebensbedingungen. In diesem Zusam­men­ hang weist die Forschung auf das wachsende soziale „Pre­ karität“ im Alter“ hin (Grenier et al. 2016). Prekarität ist ein Begriff der Soziologie und bezieht sich auf „Lebens­ welten, die durch Unsicherheit und Ungewissheit geprägt sind“ (Waite 2009, S. 426). Diese Unsicherheit beruht weitgehend auf politischen Entwicklungen: Der Staat zieht sich aus der Verantwortung für die soziale Sicherheit der Bevölkerung zurück. Hinzu kommt die steigende Zahl ge­ ring bezahlter und befristeter Arbeitsverhältnisse. Diese stellen kein ausreichendes Einkommen sicher und lassen es nicht zu, dass Menschen im Alter auf Rücklagen zurück­ greifen können (Avant 2017). „Prekarität macht sichtbar, wozu der Rückgang öffentlicher Unterstützung seit den 1980er-Jahre führte und welche Ungleichheit sich dadurch ergibt” (Grenier et al. 2016, S. 12). „Prekarität” ist das Ergebnis der „Individualisierung des Sozialen” (Philipson 2015, S. 85). Aus einer Gesell­ schaft, die Menschen in benachteiligten Situationen inte­ grierte und unterstützte, ist eine Gesellschaft geworden, die spaltet und ausschließt (Philipson 2015). Alte Menschen sind heute mehr als je zuvor auf ihre eigenen Ressourcen zurückgeworfen. Dies ist ein Rückschritt in die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts. „Altern im 21. Jahrhundert muss ­bewältigt werden ohne die Institutionen der sozialen Si­ cherheit, die sich im 20. Jahrhundert entwickelt haben‟ (Philipson 2015, S. 8 7). Der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die soziale Sicherheit geschah genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Möglichkeiten eines längeren Lebens Realität wurde (Dumas & Turner 2015). Altern im 21. Jahrhundert ist somit durch massive soziale Ungleich­ heit geprägt (Philipson 2015): Wer nicht finanziell abge­ sichert ist, kann es sich kaum leisten „gesund” zu altern. Soziale Ungleichheit im Alter ist jedoch ein „stilles Lei­ den1. Es ereignet sich weitgehend im Verborgenen und der hohe Handlungsbedarf bleibt weltweit unerfüllt (Tobias 2017; Philipson 2015).

Die sozialen Wurzeln gesunden Alterns

1 ProSenectute Schweiz veröffentlichte bereits 2009 die Studie „Leben mit wenig Spielraum. Altersarmut in der Schweiz“ und berichtet: „Alters­armut ist kein Randthema. […] Sogar ein wohlhabendes Land wie die Schweiz kennt prekäre Lebensverhältnisse im Alter – trotz gut ausgebauter Altersvorsorge“ (Seifert 2014, S. 2). Das Eidgenös­ sische Departement des Inneren (EDI) thematisiert im Bericht Armut im Alter, dass „Personen ab 65 Jahren überdurchschnittlich hohe Armutsquoten und Armutsgefährdungsquoten aufweisen: Sie sind gut doppelt so oft von Einkommensarmut betroffen wie die Gesamtbevölkerung und fast dreimal so oft wie die Bevölkerung im Erwerbsalter (18 bis 64 Jahre)“ (EDI 2014, S. 7). © 2020 Hogrefe

Palliative Care

„Altern ist ein lebenslanger Prozess. Menschen in schwie­ rigen sozioökonomischen Situationen sind mit einer An­ sammlung von Nachteilen über die gesamte Lebenszeit hinweg konfrontiert” (Ferraro 2007, S. 336). Die „Theorie der kumulativen Ungleichheit“ („Cumulative Inequality Theory“) geht davon aus, dass die Bedingungen des Auf­ wachsens für die Gesundheit während der gesamten Le­ bensspanne prägend sind: „Frühe Lebensereignisse und -erfahrungen sind prägend für die spätere Gesundheit. [..] Die Ursprünge der Erkrankungen im Erwachsenenalter liegen in früheren Jahrzehnten” (Forrest & Riley 2004, S. 162). Aus dieser Sichtweise sind Krankheiten im späte­ ren Leben nicht unbedingt die Folge mangelnder Gesund­ heitskompetenz der Erwachsenen. Sie lassen sich häufig auf die sozialen Bedingungen der ersten Lebensjahre zu­ rückführen. In dieser Zeit geschieht die Entwicklung des Nervensystems und des Gehirns. Es handelt sich um eine hochsensible Phase, in der äußere Einflüsse besonders stark prägend sind. Während dieser Zeit gestaltet sich die Reaktionsbereitschaft des Nerven-, Hormon- und Immun­ systems (Shonkoff et al. 2014). Eine zentrale Rolle kommt hierbei dem Stresserleben zu. Häufiger, intensiver und anhaltender Stress in der ­frühen Kindheit führt zu gesteigerter Stress-Sensitivität im Erwachsenenalter. Dadurch kommt es zu einer erhöh­ ten „Stressakkumulation“ während des gesamten Lebens. Langfristig kann sich dadurch der Alterungsprozess be­ schleunigen: „Chronischer Stress gilt seit langem als das zentrale Bindeglied zwischen einer benachteiligten sozio­ ökonomischen Situation und beeinträchtigter Gesundheit“ (Meier et al. 2019, S. 70). Inwieweit sich wiederholter, lange anhaltender und intensiver Stress auf die Zellen eines Or­ ganismus auswirken, zeigt sich an verkürzten Telomeren. Dabei handelt es sich um DNA-Proteinkomplexe am Ende der Chromosomen. Als Folge des zellulären Alterungs­ prozesses („zelluläre Seneszenz“) sind Telomere messbar verkürzt (Epel & Prather 2018). Stress, der sich im Laufe des Lebens summiert hat, führt zu biologischen Verände­ rungen, die zelluläre Alterungsprozesse beschleunigen (Mitchell 2017). Wie Studien zeigen, treten verkürzte Telo­ mere bei Personen auf, die in der Kindheit nachteiligen sozioökonomischen Bedingungen ausgesetzt waren und wenig soziale Unterstützung durch die Familie erhielten. Diese Forschungsergebnisse enthalten eine klare Botschaft: Die Gesundheit des erwachsenen und des alternden Men­ schen ist durch biologische Prägungen bestimmt, die zu Beginn des Lebens stattfinden. Durch stressbezogene so­ zioökonomische Einflüsse findet eine frühe Weichenstel­ lung in Bezug auf Gesundheit und erhöhte Vulnerabilität statt (Mitchell 2017). Diese Erkenntnisse stellen das Anlie­ gen des „gesunden Alterns“ in ein neues Licht: Wie Men­ schen altern, entscheidet sich weitgehend während des Aufwachsens. Es ist zentral, dass „die medizinische Fach­ welt den Wurzeln der Krankheiten mehr Aufmerksamkeit schenkt. Diese Wurzeln liegen in der frühen Kindheits­ periode. Somit gilt es, das Konzept der Gesundheitspräven­ tion zu überdenken“ (Shonkoff 2012, S. 17303). Prävention sollte damit beginnen, dass Kinder unter gesundheitsför­ NOVAcura 1/20


Palliative Care    33

derlichen sozialen Bedingungen aufwachsen. Somit setzt „gesundes Altern“ in erster Linie die soziale Sicherheit des familiären Umfelds voraus (Shonkoff 2012).

bleiben und ohne eine chronische Erkrankung zu altern, ist nicht ausschließlich eine Frage der Gesundheitskompe­ tenz und des persönlichen Willens.

Die tiefen Spuren sozialer Ungleichheit

Verleugnete Verletzlichkeit

„Es ist notwendig, die Biologie des Menschen in ihrem sozialen Zusammenhang neu zu interpretieren. […] Be­ schleunigtes Altern hat soziale Determinanten. Wir ver­ stehen inzwischen immer besser, wie, wann und wodurch frühe Erfahrungen biologische Schlüsselprozesse beeinflussen“ (Hertzman & Boyce 2010, S. 329). Das Erklärungs­modell der „Biologischen Einbettung“ („Biolo­ gical Embeddedness“) macht deutlich, wie es durch Um­ welteinflüsse zur Aktivierung oder Nicht-Aktivierung von Genen kommt: „Systematische Unterschiede zeigen sich, wenn man Kinder im Alter von fünf Jahren miteinander vergleicht, die jeweils aus den Familien mit höchsten und geringsten Einkommen stammen und jeweils unterschied­ liche Erfahrungen gemacht haben, beispielsweise in Be­ zug auf die elterliche Zuwendung, den Stil der Interaktion und die familiäre Umgebung“ (Hertzman & Boyce 2010, S. 332–333). Diese Unterschiede führen „zu einer jeweils anderen Programmierung biologischer Systeme. […] Dies geschieht als Reaktion auf die Einflüsse der Außenwelt und kann zur Entstehung späterer chronischer Erkrankun­ gen oder zu psychopathologischen Entwicklungen führen“ (Hertzman & Boyce 2010, 342). Die Bedingungen des Auf­ wachsens sind jedoch keineswegs reine „Familiensache“. Als entscheidend gelten die breiteren sozioökonomischen Bedingungen, die ihrerseits die Lebensbelastungen und somit das Verhalten der Eltern prägen. Dabei geht es um die „Ressourcen, die eine Familie hat, um sich dem Auf­ wachsen des Kindes zu widmen. Eine Rolle spielt hierbei das Einkommen und der elterliche Bildungsstand. Bedeut­ sam sind auch der sozioemotionale Stil des Elternverhal­ tens, der Grad der Organisation der familiären Umgebung und die Fähigkeit der Eltern, mit empathischer Resonanz auf ihr Kind einzugehen und ihm ein anregungsreiches Umfeld zu bieten“ (Hertzman & Boyce 2010, S.332). Somit ist es die frühe soziale Alltagserfahrung, die biologische Prozesse lebenslang prägt. Hinzu kommen Risiken durch eine toxisch belastete natür­liche Umgebung, beispielswei­ se durch Luftverschmutzung. Auch in dieser Hinsicht sind Kinder in benachteiligten sozialen Situationen besonders stark betroffen (Alvarez et al. 2018). Somit sind sie einem doppelten gesundheitlichen Risiko ausgesetzt. Sie erleben „toxischen“ sozialen Stress und sind häufig zugleich mit Umweltgiften der natürlichen Umgebung konfrontiert. Vieles weist darauf hin, dass „ ­toxische soziale und umweltbe­zogene Belastungen zusammenwirken und da­ durch zur Entstehung chronischer Erkrankungen führen” (Alvarez al. 2018, S. 226). Aus der sozioökonomischen Sichtweise der Krankheits­ entstehung ergibt sich somit ein eindeutiges Bild: Erkran­ kungen im Lebenslauf lassen sich nicht unbedingt durch bewusstes Gesundheitsverhalten verhindern. Gesund zu

„In der aktuellen Gerontologie bedeutet ‚gesundes Altern‘, gar nicht zu altern” (Dumas & Taylor 2009, S. 7). Dieses Ziel ist untrennbar verbunden mit der „Kommerzialisie­ rung des Alters“: Es geht darum, „Menschen ein jüngeres Aussehen zu verschaffen, sie vor den Erkrankungen des Alters zu bewahren, biologische Prozesse herauszufordern und die menschliche Lebensspanne bedeutend zu ver­ längern“ (Dumas & Taylor 2009, S. 5). Altern ist in dieser Sichtweise die Krankheit par excellence, die es zu „be­ kämpfen“ und zu „besiegen“ gilt (Lafontaine 2009). Das Alter hört dann auf, ein natürliches Phänomenon zu sein (Caplan, 2004). Das Menschenbild, das der „Kommerzialisierung des Alters‟ zugrunde liegt, lässt sich als „possessiver Individua­ lismus“ bezeichnen: „Das Individuum ist uneingeschränk­ ter Eigentümer seiner Person und seiner Fähigkeiten, wo­ bei es der Gesellschaft nichts zu verdanken hat“ (Dumas & Taylor 2009, S. 5). Die immer machtvollere Kommerziali­ sierung des Alters wird die soziale Ungleichheit unter al­ ten Menschen in unabsehbarem Maß verschärfen (Dumas & Taylor 2009). Zugleich wird sich das Verhältnis der Ge­ sellschaft zum Alter noch tiefgreifender verändern. Wer im Alter nicht gesund ist und mit den Folgen lebenslanger Belastungen konfrontiert ist, wird einer noch stärkeren Stigmatisierung durch die Gesellschaft ausgesetzt sein. Krank, fragil und hilfebedürftig zu sein, ist dann sozial unerwünscht. Wer dieses Stigma verinnerlicht, schämt sich seiner Situation und empfindet sie als persönliches Versa­ gen. Durch die Kommerzialisierung des Alters werden er­ krankte und fragile Menschen noch mehr als bisher von Diskriminierung und Marginalisierung betroffen sein. Sie erleiden eine öffentliche De-subjektivierung und De-per­ sonalisierung (Grenier, Loyd & Philipson 2017). Diese Ge­ fahr ist deshalb so hoch, weil das Personsein überwiegend durch Werte wie Autonomie, Selbstständigkeit und Unab­ hängigkeit geprägt ist. Dabei handelt es sich um abstrakte philosophische Ideale, die keine biologische Basis haben. Besonders betroffen von der öffentlichen Disqualifizie­ rung alter Menschen werden Personen mit kognitiver ­Beeinträchtigung sein. Kognitive Kompetenz gilt in einer vernunftbestimmten Kultur als Inbegriff menschlicher Würde (Grenier, Loyd & Philipson 2017). Die gesellschaft­ liche Entwertung des Alters wird jedoch jene Menschen am stärksten treffen, die sozial benachteiligten Lebensbe­ dingungen ausgesetzt sind. Sie leiden dreifach: körperlich, seelisch und sozial (Grenier et al. 2017). Die Entwürdigung des Alters ist das Zeichen einer Ge­ sellschaft, die keine Solidarität mehr kennt (Dumas & Tay­ lor 2009). „Während der gesamten Menschheitsgeschichte galt Verletzlichkeit als Kennzeichen des Menschseins. Auf­ grund ihrer gemeinsamen Verletzlichkeit teilten Menschen

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unausweichliche Erfahrungen wie Schmerz, Leiden, Krankheit und Tod. Sie gründeten Institutionen, damit sie ihre Verletzlichkeit lindern können. Verletzlichkeit ist mit unserem körperlichen Dasein verbunden und bildet die Grundlage unseres Selbst und der Gesellschaft. Da Men­ schen verletzlich sind, bleiben sie aufeinander ange­ wiesen, weil sie ihre Bedürfnisse nicht ohne den Anderen stillen können“ (Turner 2006). Verletzlichkeit war bisher immer ein „soziales Band“. Dieses Band scheint jetzt zu zerreissen. In der Gegenwart sind Menschen immer weni­ ger bereit, ihrer natürlichen Verletzlichkeit ins Auge zu se­ hen und sich mit Personen in verletzlichen Situationen so­ lidarisch zu fühlen.

Angst vor der eigenen Endlichkeit „Ältere Menschen erinnern uns an unsere eigene Sterb­ lichkeit“ (Bodner 2015, S. 15). Sich mit der eigenen Verletz­ lichkeit, Hinfälligkeit und Sterblichkeit zu konfrontieren, löst tiefsitzende Ängste aus. Je stärker sich Menschen vor dem Tod fürchten, desto deutlicher diskriminieren sie äl­ tere Menschen (Bodner 2015). Personen aufgrund ihres Alters abzuwerten, scheint eine Art psychischer „Selbst­ schutz“ zu sein, um überwältigende Ängste vor dem eige­ nen Tod und der eigenen Hinfälligkeit abzuwehren (Bod­ ner 2015). Die gesellschaftliche Entwertung des Alters lässt sich somit als Spiegel unbewusster Ängste verstehen. Dabei handelt es sich um Ängste, die sich weder sozial, noch kulturell oder spirituell-religiös lindern lassen (La­ fontaine 2009). Der Soziologe Christopher Lasch geht da­ von aus, dass „die Angst vor dem Alter nicht auf einen Ju­ gend-Kult zurückzuführen ist, sondern auf einen Ich-Kult, eine Form des Narzissmus“ (Lasch 2000). Die ablehnende Haltung gegenüber alten Menschen und der „Kampf “ ge­ gen das Alter widerspiegelt aus Sicht von Christopher Lasch die Unfähigkeit, sich mit der eigenen Endlichkeit und Sterblichkeit zu konfrontieren. Somit wäre auch der Kult des „langen Lebens um jeden Preis“ in erster Linie Ausdruck tiefsitzender Ängste vor dem eigenen Tod und der eigenen Grenzen. Umso wichtiger wäre eine „Ethik der Grenzen“, um die Natürlichkeit des Alterns zu bewahren (Dumas & Taylor 2009). „Jeder hat ein Recht auf Leben“ – so lautet Artikel 3 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. „In­ wieweit und auf welcher Basis ist dieser Artikel noch rele­ vant im Zusammenhang mit den übersteigerten Forderun­ gen nach einem verlängerten Leben? Welche Organisation wird den Konsum und die Investierung in ein langes Leben steuern, wenn es keine strengen gesetzlichen Regelungen gibt?“ (Dumas & Taylor 2009, S. 10). In diesem Zusam­ menhang ergeben sich dringende Fragen in Bezug auf die Gerechtigkeit: „Der potenzielle medizinische Nutzen wird nicht allen Personen in der Gesellschaft zugutekommen. Dabei besteht bereits eine bedeutende Ungleichheit in Be­ zug auf Gesundheit und Lebenserwartung innerhalb der Gesellschaft und im Vergleich verschiedener Länder“ (Dumas & Taylor 2009, 10). © 2020 Hogrefe

Palliative Care

Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit „Erinnern wir uns daran, dass soziale Unsicherheit, Ver­ letzlichkeit und Zerbrechlichkeit auf unsere Menschlich­ keit verweisen. Es handelt sich um Lebenssituationen, die Menschen über Jahrhunderte und Jahrtausende begleite­ ten. Befinden wir uns auf einem besseren Weg als unsere Vorfahren mit Blick auf unsere Praxis der Unterstützung und des Schutzes? Wir neigen oft dazu, zu glauben, dass wir es besser machen – angesichts des Fortschritts und der Technologie“ (Jallaguier, 2019, S. 71). Noch nie waren ältere Menschen in sozioökonomisch nachteiligen Situationen so weitgehend auf sich alleine ge­ stellt wie in der Gegenwart (Dumas & Taylor 2009, S. 2). Das Recht auf soziale Sicherheit ist im 21. Jahrhundert „ein vergessenes Menschenrecht“ (Heidel 2008, S. 8). „Je­ der hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit“, heißt es in Artikel 22 der Menschenrechtser­ klärung. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hebt immer wieder hervor, dass soziale Sicherheit die Grundlage eines gesunden Lebens ist. Als „soziale Deter­ minanten der Gesundheit“ bezeichnet die WHO „jene Be­ dingungen, unter denen Menschen geboren werden, auf­ wachsen, arbeiten und altern. Diese Bedingungen sind geprägt durch die Verteilung finanzieller Mittel und der Macht auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene. Die sozialen Determinanten der Gesundheit sind weitge­ hend für die gesundheitsbezogene Ungleichheit verant­ wortlich – für die unfairen und vermeidbaren Unterschie­ de innerhalb der Länder und zwischen verschiedenen Ländern“ (WHO 2020, S. 1). Bereits 2007 hat der Wirtschaftswissenschaftler Peter Townsend die These widerlegt, dass sich finanzielle Ein­ sparungen im Sozial- und Gesundheitswesen wirtschaft­ lich günstig auswirken: „Substanzielle Ausgaben für die soziale Sicherheit, das heißt mehr als ein Sechstel des Bruttoinlandsproduktes, sind oft mit überdurchschnittli­ chem Wirtschaftswachstum verbunden“ (Townsend 2007). Öffentliche Investitionen in Systeme sozialer Si­ cherheit, so Peter Townsend, wirken sich keineswegs ne­ gativ auf die Wirtschaft aus – im Gegenteil. „Die einfluss­ reiche Idee der letzten dreißig Jahre hat in der Forschung keinen überzeugenden Nachweis gefunden. Diese Idee lautete: Hohe Investitionen in öffentliche Sozialleistungen stören das Wachstum und infolge des wirtschaftlichen Wachstums wird sich auch die Armut verringern. Die al­ ternative Idee hat mehr Bestätigung erhalten: Hohe Sozi­ alausgaben wirken sich günstig auf das Wachstum aus“ (Townsend 2007). Umso wichtiger wäre es, die Sorge um soziale Sicherheit nicht auf Einzelpersonen und ihr privates soziales Netz zu übertragen, sondern als Verantwortung des Staates zu ver­ stehen (Castel 2016). Eine Gesellschaft des „langen Le­ bens“ setzt ein Recht auf soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Sicherheit voraus – sonst droht der gesellschaftliche Zusammenhalt zu zerbrechen (Castel 2016). Zu einer Ge­ sellschaft des „langen Lebens“ gehört unbedingt eine Nicht-Diskriminierung des Alters. Gefragt ist eine Kultur, NOVAcura 1/20


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in der Menschen das miteinander teilen, was ihnen allen gemeinsam ist – ihre Verletzlichkeit: „Das Ich ist Verletz­ lichkeit – vom Scheitel bis zur Sohle, bis ins innerste Mark“ (Levinas 1987, S. 93). In einer Kultur der geteilten Verletz­ lichkeit beruht Personsein nicht auf Autonomie, Unabhän­ gigkeit, Leistungsfähigkeit und kognitiver Kompetenz, sondern auf dem verwundbaren Körper mit seiner wort­ losen Ausdruckssprache (Kontos & Naglie 2007). „Die kommunikative Fähigkeit des Körpers zu verstehen, er­ möglicht Einfühlung in den Anderen. Dadurch gelingt es, seine Situation solidarisch zu teilen. […] Wir fühlen uns in die Situation des Anderen hinein, nehmen in Gedanken seinen Platz ein und bis zu einem gewissen Grad ver­ schmilzt unsere Person mit der Person des Anderen“ (Kon­ tos & Naglie 2007). Auf diese Weise bildet sich in einer Kultur der geteilten Verletzlichkeit ein einigendes „sozia­ les Band“. „Verletzlichkeit ist universal“ – sie verbindet lei­ dende und gesunde Menschen über soziale Grenzen und Altersunterschiede hinweg (Garrau 2018; Zielinski 2018). Ausgehend von der Verletzlichkeit menschlichen Lebens bleibt die Frage der sozialen Sicherheit stets im Bewusst­ sein: „Die Gesellschaft selbst ist verletzlich“ (Fabiani & Theys 1987).

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Das Wichtigste in Kürze

Steffen Eychmüller (Hrsg.)

Palliativmedizin Essentials Das 1x1 der Palliative Care

2., aktualisierte Auflage 2020. 192 S., 11 Abb., 7 Tab., Kt € 26,00 / CHF 34.90 ISBN 978-3-45685879-1 Auch als eBook erhältlich

Literatur Ferraro, K. & Shippee, T. (2009). Aging and cumulative inequality: How does inequality get under the skin? The Gerontologist, 49(3), 333–343. Grenier, A., Philippson, Laliberte Rudman, D., Hatzifiliathis, S. (2017). Precarity in late life. Understanding new forms of risk and uncertainty. Journal of Aging Studies, 43, 9–14. Phillipson, C. (2015). The political economy of longevity: Developing new forms of solidarity for later life. The Sociological Quarterly, 56(1), 80–100.

Weitere Literatur bei der Autorin

Dr. Diana Staudacher ist freie Publizistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Universitätsspitals Zürich und der Fachhochschule St. Gallen.

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www.sterben.ch fragen und antworten aus anthroposophischer sicht

diana.staudacher@gmail.com

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Bewegung fördern, erhalten und wiederherstellen

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„Gesundes Altern“ messbar machen – die Möglichkeiten, die uns mobile Datenerhebungsgeräte eröffnen

© gettyimages / Westend61

Alexander Seifert

Wie kann digitale Datenerhebung im Alltag helfen?

Die WHO postuliert eine Strategie des „gesunden ­Alterns“. Wie aber können wir dieses gesunde Altern im Alltag messen? Zum Beispiel mithilfe mobiler ­Erhebungsinstrumente. Das Gesundheits- und Sozialverhalten einer Person kann heute im Alltag mit einem Smartphone gemessen werden. Der folgende Beitrag informiert über die Vorteile ihres Einsatzes für die Forschung und stellt die Messmethode anhand einer Studie zu Nachbarschaftskontakten vor. NOVAcura 1/20

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ie Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert in ihrem neuen Ansatz von 2015 „gesundes Al­ tern“ als einen dynamischen, vom Individuum definierten und mitgesteuerten Prozess (WHO 2015). An­ stelle einer meist kontextfreien Untersuchung einzelner krankheitsdefinierender Symptome wird nun der Blick auf die individualisierte Erhaltung der Lebensqualität im All­ tag gerichtet (Oppikofer 2016). Demnach bewertet jedes Individuum die Lebensbereiche, die ihm für den Erhalt seiner Lebensqualität persönlich wichtig sind, selbst. Hin­ zukommend wird die Lebensqualität aber nicht nur von © 2020 Hogrefe


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der Person geprägt, sondern auch von den kontextuellen Bedingungen, in denen diese Person lebt. Das bedeutet, dass nicht nur die individualisierte Lebensqualität erfasst werden muss, sondern auch der Kontext, in dem soziales Verhalten erfolgt. Eine Möglichkeit, diese Erfassung in den Alltag der jeweiligen Personen zu integrieren, ist die Messung verschiedener Alltagsdaten mit einem mobilen Datenerhebungsgerät, in unserem Beispiel einem handels­ üblichen Smartphone. Mittels der alltagsnahen Erfassung der jeweiligen kontextualisierten Lebensqualität können Aussagen darüber getroffen werden, was Menschen im Alltag wohl oder unwohl stimmt bzw. ihre Lebensqualität stabilisiert.

Die Vorteile der mobilen Datenerfassung Wie bereits erwähnt, sind Smartphones dazu geeignet, die Lebensqualität oder andere relevante Gesundheits- und Sozialverhaltensdaten im Alltag zu erfassen. Diese Mess­ methode ermöglicht es, Gedanken, Gefühle, Verhaltens­ weisen oder physiologische Prozesse älterer Menschen mithilfe einer App zu messen und zu verfolgen (Seifert, Hofer & Allemand 2018). Das Hauptziel der mobilen Da­ tenerfassung ist das Sammeln aktiver Daten (z. B. subjek­ tive Selbstberichte) und / oder passiver Daten (z. B. sensor­ basierte Daten vom Smartphone). Diese Methode erfreut sich aufgrund ihrer vielen Vorteile einer zunehmenden Beliebtheit: Erstens werden Informationen direkt aus dem Alltag und der realen Umgebung der Probanden gewon­ nen; zweitens werden die Berichte im Moment gesammelt und sind daher weniger anfällig als retrospektive Beurtei­ lungen; drittens erfassen intensive, wiederholte Messun­ gen eines Teilnehmers personenbezogene und situations­ basierte Daten; viertens sind solche Alltagsdaten reich an kontextuellen Informationen, da sie die Kombination von Selbstberichten und objektiven Kontextinformationen er­ möglichen; und fünftens sind Smartphones als Messgeräte sowohl leistungsfähig als auch in der Bevölkerung weitver­ breitet. Mittels einer App können die Probanden mehr­ mals täglich z. B. angeben, wie sie sich gerade fühlen oder mit wem sie gerade Kontakt haben; parallel dazu kann – durch die Sensoren auf dem Smartphone – z. B. erhoben werden, wie räumlich aktiv die Person in dieser Zeit war. Hierbei können Zusammenhänge hergestellt werden; so z. B. in welchen Stadtgebieten, in denen wir unterwegs sind, wir uns mehr oder weniger wohlfühlen.

Das Beispiel Nachbarschaftskontakte im Alter Wir alle leben in einer Nachbarschaft, und unser Umgang mit unseren Nachbarn lässt sich auch anhand der Häufig­ keit der Kontakte zu ihnen messen. Diese Kontakte, in Form einer lebendigen Nachbarschaftlichkeit, können eine Ressource zur Bewältigung des Alltags im Alter sein. © 2020 Hogrefe

Pflege zu Hause

Aber wie genau zeigt sich der Kontakt zu den Nachbarn im täglichen Lebenskontext und wie beeinflusst dieser Kon­ takt das eigene Wohlbefinden, die Einsamkeit und die Ver­ bundenheit mit der Nachbarschaft? Dieser Frage ist 2018 eine sozialwissenschaftliche Studie im Rahmen des Uni­ versitären Forschungsschwerpunktes (UFSP) „Dynamik Gesunden Alterns“ der Universität Zürich unter Leitung von Alexander Seifert nachgegangen. Das Projekt beinhal­ tete eine mikro-längsschnittliche Erfassung von Alltags­ daten zur Bedeutung der Nachbarschaftlichkeit bei älteren Menschen (Seifert 2018). Drei Wochen lang wurden hier­ zu 77 ältere Zürcherinnen und Zürcher ab 61 Jahren drei­ mal täglich mithilfe eines (ausgeliehenen) Smartphones zur Intensität ihrer Nachbarschaftskontakte und zu ihrem individuellen täglichen Wohlbefinden befragt. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass im Durchschnitt knapp ein Fünftel aller Teilnehmenden über 20 Tage Kon­ takte mit den Nachbarn hatte. In den allermeisten Fällen waren dies Kontakte, die länger als zwei Minuten dauerten und somit mehr als nur ein „Hallosagen“ beinhalteten. Dabei fanden die Kontakte mit den Nachbarn seltener statt als Kontakte mit Freunden (32 %), aber häufiger als Kontakte mit den eigenen Kindern (13 %). Ein Drittel der Kontakte ergab sich zufällig bzw. spielte sich ausserhalb des Wohngebäudes ab. In immerhin sieben Prozent aller Beobachtungen wurde nachbarschaftliche Hilfe erbracht oder angenommen. Aus dem subjektiven Stellenwert, der der Nachbarschaft eingeräumt wird, lässt sich die Häufig­ keit nachbarschaftlicher Kontakte voraussagen. Auch leis­ ten Frauen häufiger Nachbarschaftshilfe als Männer. Ge­ rade bei den Nachbarschaftskontakten lassen sich tägliche Unterschiede erkennen. Die reichhaltigen Alltagsdaten zeigen zum Beispiel, dass Nachbarschaftskontakte zwar nicht direkt mit dem täglichen Wohlbefinden zusammen­ hängen, aber sehr wohl mit dem Gefühl einhergehen, nicht allein zu sein, und die Verbundenheit mit der Nach­ barschaft fördern. Mithilfe der mobilen Datenerfassung per Smartphone war es möglich, die tatsächlichen Nachbarschaftskontakte im Alltag zu erfassen, sichtbar zu machen und aufzuzei­ gen, dass diese je nach Situation – und damit also nicht nur je nach Person – variieren. Dieses Vorgehen ist aussage­ kräftiger als eine einmalige Befragung der Probanden nach der ungefähren Häufigkeit ihrer nachbarschaftlichen Kontakte in den letzten Wochen.

Verwendung der Daten für die Gesundheitsforschung Aus der Perspektive der Gesundheitsforschung und -praxis liegt der Hauptgrund für das mobile Messen von Gesund­ heitsdaten in dem erwarteten Effekt auf das Gesundheits­ verhalten und das Wohlbefinden. Um aber die individuel­ len Zusammenhänge zwischen den erhobenen Daten und dem individuellem Wohlbefinden besser verstehen und um individualisierte Interventionen zur Verhaltensän­ NOVAcura 1/20


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derung entwickeln zu können, braucht die Forschung Zu­ gang zu den von den Probanden selbst erhobenen Daten. ­Seifert, Christen und Martin (2018) sind daher der Frage nachgegangen, ob ältere Schweizerinnen und Schweizer bereit wären, ihre selbst erhobenen Daten für die For­ schung freizugeben. Sie stellten fest, dass dies etwa die Hälfte der befragten Personen tun würde. Für das Indivi­ duum würde sich hieraus ein Mehrwert ergeben, da dieses Vorgehen auch die Entwicklung individualisierter gesund­ heitsbezogener Interventionen ermöglichen würde. So könnten beispielsweise nach einem Spitalaufenthalt die vor dem Spitaleintritt per Smartphone aufgezeichneten Gesundheitsdaten Patienten und Ärzten helfen, indivi­ duell zu beurteilen, wie sich der Spitalaufenthalt ausge­ wirkt hat (z. B. über einen Vergleich der Bewegungsmuster vor und nach dem Aufenthalt) und welche Aktivitäten vom Patienten als angenehm empfunden werden.

Bezug zum Betreuungs- und Pflegealltag Der Einsatz mobiler Geräte (z. B. eines Smartphones) inner­ halb der Betreuung und Pflege von älteren Menschen liegt vielleicht nicht direkt auf der Hand. Dennoch gibt es neben dem Nutzen für die Forschung – der Erhebung /Auswer­ tung verlässlicher, individualisierter und alltagsbezogener Daten zur Planung individueller Interventionen – auch die Möglichkeit, von den genannten Vorteilen auch im Betreu­ ungs- und Pflegealltag Gebrauch zu machen. Auch wenn hier die Validität nicht immer bestätigt ist, könnten diese „Alltagshelfer“ auch dafür eingesetzt werden, um Aktivi­ täten, Bewegungen und Vitaldaten im Alltag zu erheben und an die behandelnden Ärzte weiterzuleiten. Neben dem reinen Sammeln von Daten könnten innovative Apps

es auch ermöglichen, dass diese Daten einerseits gleich in die Pflegedokumentation überführt werden und dass an­ dererseits auch die Patientinnen und Patienten und deren Angehörige eine Informations- und Datengrundlage ha­ ben, mit der sie z. B. auch Veränderungen frühzeitig selbst erkennen können. Hier werden in der Zukunft vermutlich noch mehr Anwendungsbereiche ersichtlich. Selbstver­ ständlich sollten dabei auch weiterhin Datenschutzbeden­ ken und andere ethische Vorbehalte nicht vernachlässigt und die Notwendigkeit dieser mit allen Beteiligten bilan­ ziert und diskutiert werden.

Literatur Oppikofer, S. (2018). Gesundheit und Lebensqualität im Alter: ­Neues Strategiepapier der WHO. Gerontologieblog.Ch. Ver­füg­ bar unter https://gerontologieblog.ch/?s=Gesundheit+und+Le bensqualit%C3%A4t+im+Alter Seifert, A., Christen, M. & Martin, M. (2018). Willingness of Older Adults to Share Mobile Health Data with Researchers. GeroPsych, 31(1), 41–49. https://doi.org/10.1024/1662-9647/a000181 Seifert, A., Hofer, M. & Allemand, M. (2018). Mobile Data Collection: Smart, but Not (Yet) Smart Enough. Frontiers in Neuroscience, 12. https://doi.org/10.3389/fnins.2018.00971 WHO. (2015). World report on ageing and health. Geneva, Switzerland: World Health Organization.

Dr. Alexander Seifert MA, Dipl.-Sozialpäd., Bereichsleiter „Forschung“ am Zentrum für Gerontologie (ZfG) der Universität Zürich alexander.seifert@zfg.uzh.ch

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Wo die Herausforderungen für die Zukunft liegen, ob und wie viel staatliche Lenkung sinnvoll ist und welche Ansprüche unsere älter und individualistischer werdende Gesellschaft an die Spitex hat – das alles sind Fragen, auf die dieses Buch Antworten gibt.


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Lebensqualität von Menschen mit Demenz fördern – Demenz Coaches in der Spitex Sandra Sermier & Eva Soom Ammann

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Auch Menschen mit Demenz können gesund altern, wenn es gelingt, ihre Autonomie und Selbstbestimmung zu stützen und damit ihre Lebensqualität zu erhalten. Von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern unterstützt, wurde im Projekt „Entwicklung und Qualifizierung von Demenz Coaches in der Spitex“ ein Weiterbildungs­ programm für Pflegefachpersonen der Spitex entwickelt. Durch ihren Einsatz als Demenz Coaches können Betroffene und ihre Angehörigen begleitet und in ihrer Lebensqualität, persönlichen Integrität und Autonomie gefördert werden. Dadurch sollen die von Demenz Betroffenen möglichst lange selbstbestimmt zu Hause leben können und einen geringeren Bedarf an akuter und stationärer Versorgung haben. Um dies zu erreichen, orientiert sich das Weiterbildungsprogramm am aus der Psychiatrie stammenden Recovery-Ansatz.

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rüher galt – auch im Alter – als gesund, wer keine Krankheiten hatte. Heute wird ein Gesundheitsverständnis vertreten, das die Lebensqualität im Alltag in den Mittelpunkt stellt, insbesondere auch bei Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Healthy Ageing, 2015 von der WHO definiert, wird dabei als Prozess verstanden, bei dem nicht Krankheits-Symptome, sondern Individuen und Kontexte in den Mittelpunkt gerückt werden und ein gelingender Alltag im Zentrum steht (Martin et al. 2016). Ausgehend davon ist auch mit Demenz ein ge­ sundes Altern möglich. Wollen wir die Lebensqualität von Menschen mit Demenz (MmD) über den ganzen Krankheitsverlauf hinweg erhalten, so sollten wir uns nicht auf die Einschränkungen fokussieren, die damit einhergehen können, sondern uns für den individuellen Ausdruck der Erkrankten sensibilisieren (Kruse 2010) und kreative Unterstützungsmöglichkeiten suchen, um den Betroffenen ein gutes Leben, angepasst an diesen je eigenen Ausdruck zu ermöglichen.

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Im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung den richtigen Weg finden: eine nicht einfache Aufgabe in der Betreuung Demenzbetroffener.

Bedingt durch den demografischen Wandel nimmt die Zahl betagter und hochbetagter Menschen zu, und somit leben auch mehr Menschen mit einer Demenz (Moor et al. 2012). Oft wünschen sich diese Menschen, in ihrer gewohnten Wohnumgebung zu bleiben, auch wenn sie den Haushalt nicht mehr selber führen können oder in den Aktivitäten des täglichen Lebens Unterstützung brauchen (Biedermann et al. 2014). In der Schweiz leben nach einer Schätzung der Schweizerischen Alzheimervereinigung zurzeit ca. 151‘000 Menschen mit einer Demenzerkrankung. Rund zwei Drittel leben zu Hause, was oft nur dank der Betreuungsleistung der Angehörigen möglich ist (Alzheimer Schweiz 2018). Sie übernehmen Betreuung bei fortschreitendem Hilfsbedarf, was oft mit grossen Belas© 2020 Hogrefe


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Pflege zu Hause

tungen verbunden ist. Betroffene, die auch zunehmend allein leben, suchen selber häufig keine Hilfe, auch weil sie das krankheitsbedingte Schwinden ihrer Fähigkeiten oft nicht wahrnehmen (Kurz et al. 2019). So können aus vergleichsweise kleinen Einschränkungen Situationen entstehen, die von aussen gesehen nach massiven Interven­tionen verlangen – Gefährdungsmeldungen und Heim­ eintritte beispielsweise. Doch ist dies wirklich nötig? Oder liesse sich ein unterstützendes Umfeld gestalten, das MmD dennoch den Verbleib im eigenen Zuhause mit entsprechender Autonomie ermöglichen könnte? Inwieweit die Pflege und Betreuung von MmD zu Hause gelingen kann, ist eine Frage, die sich auch vielen Spitex­ organisationen stellt. Der Anteil von Spitex-Klientinnen und -Klienten mit Demenz liegt zwischen 13 Prozent und 39 Prozent (Perrig-Chiello et al. 2010; 2011). Die Arbeit mit diesen Menschen und ihren Angehörigen kann in der Praxis herausfordernd sein. Was tun Spitex-Mitarbeitende beispielsweise, wenn sie den Auftrag der Unterstützung in der Körperpflege haben, und die zu pflegende Person einen schon bei der Tür abweist und versichert, dass sie die angebotene Hilfe nicht braucht? Oder wenn sie einem erklärt, dass sie sich immer etwas Gutes zu Mittag kocht, aber der Kühlschrank leer ist? Wenn überall in der Wohnung Notizzettel rumliegen, mit denen sich die von Demenz betroffene Person zu orientieren versucht? Wenn Nachbarn während einem Einsatz vorbeischauen und erklären, dass die Spitex-Kundin oder der Kunde mehrmals am Tag bei ihnen klingelt und es ihnen zu viel wird? Oder wenn man feststellt, dass die pflegenden Angehörigen überlastet und erschöpft sind?

treuung ist gerade deshalb wichtig, weil MmD zunehmend ihre Auskunftsfähigkeit verlieren und die Angehörigen oft mit der Betreuungssituation überfordert sind. Es braucht also ein ganzheitliches Unterstützungs- und Versorgungssystem, das die Krankheitsentwicklung, aber auch die individuellen Bedürfnisse und Unterstützungsbedarfe berücksichtigt (Wegweiser Demenz 2019). Der frühzeitige Einsatz von erfahrenen Fachpersonen mit guten kommunikativen und koordinativen Kompetenzen, die langfristig begleiten und dabei die Anliegen der MmD konsequent ins Zentrum stellen, ist für die Förderung der Betroffenen und Angehörigen in ihrer persönlichen Integrität und Autonomie sowie zur Bildung von nachhaltigen und tragfähigen Unterstützungsnetzwerken zentral. Eine fachlich fundierte, koordinierende Beratung und Begleitung kann durch die Spitex geleistet werden – dafür müssen aber entsprechende Voraussetzungen und vor allem kompetentes Personal verfügbar sein. Nebst einer ressourcen- und supportorientierten Pflegekultur braucht es von Seiten der Spitexorganisationen einen entsprechend gestalteten Rahmen, in dem Mitarbeitende MmD in einer hohen Kontinuität im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge angemessen begleiten können. Damit kann einerseits über den Beziehungsaufbau eine gezieltere Arbeit mit den Betroffenen und ihren Familien gewährleistet werden, und andererseits können koordi­ native Aufgaben effektiver ausgeführt werden. In diesem Prozess ist eine vorausschauende Planung zentral. So können auch die Ziele und Bedürfnisse der Betroffenen bestmöglich berücksichtigt und das entsprechende Netz dazu aufgebaut werden.

Wie die Spitex zum Erhalt von Lebens­ qualität bei MmD beitragen kann

Spitex-Pflegefachpersonen zu Demenz Coaches befähigen

Solche für Spitex-Mitarbeitende alltäglichen Beispiele zeigen auf, dass diese bei der Pflege und Betreuung von MmD immer wieder damit konfrontiert sind, zwischen Selbstbestimmung, Eigengefährdung und Fürsorgepflicht abzuwägen. Aufgrund der demografischen Entwicklung und der zunehmenden Anzahl von Menschen, die von kognitiven Störungen betroffen sind, sind nicht nur Fachpersonen, sondern insbesondere auch Entscheidungsträger herausgefordert, die bestehenden Versorgungsstrukturen zu hinterfragen und neue Lösungen zu suchen. Das beinhaltet auch die kritische Reflexion des bestehenden Pflege- und Betreuungsverständnisses von MmD. Nach wie vor ten­ dieren wir zu Defizitorientierung und Einschränkung der Selbstbestimmung, anstatt uns an den Ressourcen und ­Bedürfnissen der Betroffenen zu orientieren. Herausfordernd ist diesbezüglich insbesondere auch die interprofessionelle Kooperation. Da bei der Pflege und Betreuung von MmD eine Vielzahl von Akteuren zusammenwirken muss, ist eine enge Zusammenarbeit von informellem und formellem Unterstützungsnetz zentral (Höpflinger et al. 2011). Dieses Zusammenwirken von Behandlung, Pflege und Be-

Spitex-Pflegefachpersonen können solch beratende, begleitende und koordinierende Rollen übernehmen – wenn sie sich nicht ‚nur‘ als Pflegende, sondern insbesondere als Coaches verstehen. Dazu werden sie in den Kursen des Projekts „Entwicklung und Qualifizierung von Demenz Coaches in der Spitex“ ausgebildet. Demenz Coaches sind nach unserem Verständnis Pflegefachpersonen auf Tertiär­ stufe, die bei MmD sorgfältig den individuellen Pflegeund Betreuungsbedarf abklären, den entsprechenden Massnahmenplan erstellen und dabei Bedingungen schaffen, die die Betroffenen und Angehörigen in die Entscheidungsprozesse einbeziehen. Dies geschieht explizit unter Berücksichtigung der Wertehaltungen, Interessen und Rechte der Klientinnen und Klienten. Die Coaches koordinieren als Bindeglied zwischen Betroffenen, Angehörigen, dem sozialen Umfeld und weiteren Fachpersonen die Dienstleistungen. Gleichzeitig sind sie direkt in Pflegeund Betreuungsaufgaben involviert und fördern dabei den Erhalt der Lebensqualität, Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Betroffenen. Auch im Management von Krisen­ situationen, Selbst- und Fremdgefährdung und der Gestal-

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tung von Übergängen – zum Beispiel von zu Hause in ein Pflegeheim – haben die Coaches eine wichtige Beratungsfunktion. In ihren Tätigkeiten reflektieren sie laufend ihre Haltung gegenüber den Betroffenen im ethischen Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Autonomie und beziehen im inter- und intraprofessionellen Team Stellung. Grundlage der Arbeit der Coaches ist immer die Beziehungsgestaltung und der Vertrauensaufbau. Um dies zu ermöglichen, ist die Kontinuität in der Pflegebeziehung zentral.

Recovery-orientiertes Coaching in der Dementia Care Professionell Pflegende und Betreuende stehen, was ihre Haltung gegenüber MmD und ihren Angehörigen betrifft, in einer besonderen Verantwortung, denn ihre Haltung wirkt sich unmittelbar auf die Lebensqualität der gepflegten und betreuten Personen aus (Steffen Bürgi & Soom Ammann 2018). Pflegefachpersonen können Betroffene und Angehörige mit ihrer Expertise stützen, sie können ermöglichen, dass MmD je nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten selbstbestimmt zu Hause leben können – wenn sie ihre Rolle weniger als fürsorglich bestimmend sehen, sondern als unterstützend und ermöglichend. Für die Weiterbildung zum Demenz Coach wurde der aus der Psychiatrie stammende und im anglophonen Raum schon sehr breit angewandte Recovery-Ansatz gewählt. Dieser baut auf eine konsequent verfolgte Betroffenenperspektive und weist den Professionellen eine primär an den Bedürfnissen und Prioritäten der Betroffenen orientierte Coaching-Rolle zu. Von Beginn weg sollen Schlüsselelemente von Recovery wie Hoffnung, Selbstbestimmung und Erhalt der Persönlichkeit Betroffene und Angehörige dabei unterstützen, mit den zunehmenden kognitiven Beeinträchtigungen und vor allem mit den daraus entstehenden Folgen im Alltag umgehen zu lernen. Auch der Abbau von Ängsten ist ein wichtiges Element des Coachings. Mit diesen Schlüsselelementen, die die Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums ins Zentrum stellen, erweitert der Recovery-Ansatz bestehende Versorgungskonzepte. Zudem kann die Umsetzung dieses Ansatzes die Lebensqualität von MmD und deren Angehörigen steigern. Für Entscheidungsfindungsprozesse im Spanungsfeld zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung braucht es in der Spitex Fallbesprechungen in den Teams und Gespräche, zum Beispiel Rundtischgespräche, mit allen Involvierten. Dabei geht es darum auszuhandeln, wer was braucht und wie die Anliegen insbesondere der Betroffenen und deren Angehörigen als ‚unit of care’ möglichst berücksichtigt werden können. Betroffene sollen, wenn immer möglich, an den Gesprächen teilnehmen, damit sie nach ihren Möglichkeiten partizipieren können. Die Führung solcher Gesprächssettings ist herausfordernd, eine gute Moderation trägt entscheidend zu deren Gelingen bei. Das Vorbereiten und Üben dieser Aufgabe ist deshalb NOVAcura 1/20

ein wichtiger Bestandteil des Demenz-Coach-Bildungsprogramms für Spitex-Pflegefachpersonen, das von den Teilnehmenden auch sehr geschätzt wird.

Erfahrungen mit den Demenz Coach-Kursen Von 2017 bis Ende 2019 hat das Wissenszentrum Schönberg in Kooperation mit der Berner Fachhochschule zwei Pilotkurse durchgeführt. Insgesamt haben 30 diplomierte Pflegefachpersonen aus zwölf öffentlichen Spitexorganisationen des Kantons Bern die Weiterbildung zum Demenz Coach besucht. Die Weiterbildung sowie die Erfolgsfaktoren für eine wirkungsvolle und nachhaltige Implementierung der Demenz Coaches in den Spitexorganisationen wurden von der Berner Fachhochschule evaluiert. Die Ergebnisse zeigen, dass der Recovery-Ansatz für das Coaching von MmD als vielversprechend angesehen werden kann. Die Recovery-orientierte Haltung ist, wie Haltungen grundsätzlich, anspruchsvoll zu vermitteln. Sie kann nicht nur kognitiv erlernt, sondern muss auch geübt werden. Die Pilotkurse setzen deshalb auf Fallbesprechungen, Rollenübungen sowie auf Praxisbegleitungen mit anschliessender Reflexion der eigenen Praxis. Diese Vermittlungsstrategie ist zwar aufwändig, bewährt sich aber sehr. Erst in der Anwendung im Berufsalltag und in der Reflexion darüber, so betonen einige der Teilnehmenden, werde nachhaltig verständlich, wo das Potenzial einer Recovery-orientierten Haltung gegenüber MmD liegt und wie sich die Praxis der Spitex dadurch verändern kann. Eine Teilnehmerin des zweiten Pilotkurses umschreibt dies im Interview wie folgt: „Ich versuche wirklich immer in die Schuhe der Betroffenen zu stehen, und zu überlegen, wie es für mich wäre, wenn einfach jemand sagen würde: ‚Jetzt musst du ins Heim.‘ Auch aus Sicht der Angehörigen zu überlegen, wen es überhaupt stört. Ich bin schon bewusster geworden für die Ressourcen. Zu schauen, was geht denn alles. Das verändert die Praxis natürlich massiv, ob du so denkst, oder ob du von Anfang an sagst: ‚Nein, das geht nicht, das ist gefährlich.‘“ Die Evaluation der Pilotkurse zeigt aber auch sehr deutlich, dass es nicht ausreicht, einzelne Demenz Coaches zu schulen, um die Versorgungspraxis zu ändern und das Ziel einer betroffenenorientierten, Lebensqualität fördernden Begleitung von MmD zu erreichen. Es braucht das ganze Team, die ganze Organisation, die mitzieht. Innerhalb der Spitexorganisationen müssen also entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit der Coaching-Prozess wirksam implementiert werden kann. Dies bedingt eine neue Versorgungsstruktur, in der die geschulten Fachpersonen die kontinuierliche Wegbegleitung von MmD und ihrer Angehörigen übernehmen und auch andere Mitarbeitende mit an Bord holen können. Die Schaffung von gut koordinierten Demenzteams und ein Augenmerk auf das Entwickeln einer gemeinsamen Haltung im Team scheint sich zu bewähren. Regelmässige Rundtischgespräche mit Betroffenen und Involvierten tragen dazu bei, dass auch unkonventionelle Pflege- und Betreuungsarrange© 2020 Hogrefe


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ments vom ganzen Unterstützungsnetz mitgetragen werden. Zudem, so zeigt die Evaluation, braucht es Investition in sorgfältige Abklärung, Pflegeplanung, Dokumentation und Argumentation gegenüber den Krankenkassen, um die Abrechenbarkeit der dafür notwendigen Spitex-Leistungen zu gewährleisten.

Auch die Rahmenbedingungen müssen sich ändern Diese Thematik der Abgeltung von erforderlichen Leistungen in der Pflege und Begleitung von MmD ist herausfordernd für die Demenz Coaches. Sie erkennen zwar den Unterstützungsbedarf der Betroffenen und Angehörigen, haben aber aufgrund der teilweise unklaren Finanzierung des Betreuungs- und Pflegeaufwandes demenzerkrankter Menschen teilweise eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten. So benötigen gewisse Pflegeleistungen wie beispielsweise Duschen bei MmD mehr Zeit als bei Menschen ohne Demenz. Auch pflegenahe Leistungen, wie die Unterstützung rund ums Essen und Trinken, geben immer wieder Anlass zu Diskussionen bezüglich Abrechenbarkeit über die Krankenpflege-Leistungsverordnung. Zudem können Beratungen bzw. Massnahmen zur Entlastung der Angehörigen gar nicht oder nur zum Teil über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abgerechnet werden. Die Diskrepanz zwischen dem, was angebracht wäre, und der manchmal unklaren Abrechnungssituation kann bei Pflegenden moralischen Stress und ein Gefühl von Hilflosigkeit auslösen. Um die oben erwähnten, bisher nicht oder nicht eindeutig vergütbaren Leistungen, die in der Demenzpflege und -betreuung so zentral sind, abzubilden und angemessen abzugelten, wurden im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie von Leistungserbringern konkrete Vorschläge für eine KLV-Änderung formuliert – ein konkreter Entscheid von Seiten des Bundes steht allerdings noch aus.

Weiterentwicklung zum Bildungsprogramm Eine dritte Durchführung des neuntägigen Kurses mit anschliessenden Praxisbegleitungen für diplomierte Pflegefachpersonen der Spitex ist dieses Jahr geplant. Systemisch gesehen ist es entscheidend, dass für eine nachhaltige Umsetzung auch weitere Spitex-Mitarbeitende qualifiziert werden. Deshalb soll in der Weiterführung des Projekts ein angepasstes, ergänzendes Bildungsangebot für Pflegende der Sekundär- und Assistenzstufe entwickelt werden. Last but not least soll mit der Weiterführung des Bildungsprogramms der Recovery-Ansatz in der Dementia Care weiterentwickelt und geschärft werden.

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Pflege zu Hause

Literatur Alzheimer Schweiz (2018). Demenz in der Schweiz 2018: Zahlen und Fakten. Zugriff am 21. November 2019 unter https://www.­ alzheimer-schweiz.ch/fileadmin/dam/Alzheimer_Schweiz/de/ Publikationen-Produkte/Zahlen-Fakten/2018-CH-zahlen­fakten.pdf. Biedermann, A., Ackermann G. & Steinmann R. M. (2014). Via: ein interkantonales Projekt zur Gesundheitsförderung im Alter: Projektabschlussbericht 2010–2013. Bern und Lausanne: Gesundheitsförderung Schweiz. Wegweiser Demenz – Informationen – Informationen für Fachkräfte. Zugriff am 21. November 2019 unter https://www.wegweiserdemenz.de/informationen/informationen-fuer-fachkraefte/ herausforderung-demenz.html. Höpflinger, F., Bayer-Oglesby, L. & Zumbrunn, A. (2011). Pflegebedürftigkeit und Langzeitpflege im Alter – Aktualisierte Szenarien für die Schweiz. Bern: OBSAN. Kruse, A. (2010). Menschenbild und Menschenwürde als grund­ legende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker Menschen. In A. Kruse (Hrsg.), Lebensqualität bei Demenz? (S. 3–25). Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft. Kurz, A., Freter, H.-J., Saxl, S. & Nickel, E. (2019). Demenz: Das Wichtigste: Ein kompakter Ratgeber. Berlin: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Martin, M., Jäncke, L., Röche, Ch. & Schelling, H. R. (2016). Gesund altern in der Schweiz. Bulletin SAGW, 1, 38–39. Moor, C., Peng, A. & Schelling, H. R. (2012). Demenzbarometer 2012: Wissen, Einstellungen und Erfahrungen in der Schweiz: Bericht zu Handen der Schweizerischen Alzheimervereinigung. Yverdon les Bains: Schweizerische Alzheimervereinigung. Perrig-Chiello P., Hutchison, S. & Höfplinger, F. (2011). Pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Suisse Latine: AgeCareSuisseLatine. Forschungsprojekt im Auftrag des Spitex Verbandes Schweiz. Perrig-Chiello, P., Höpflinger, F. & Schnegg, B. (2010). Pflegende ­Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz: SwissAgeCare-2010. Forschungsprojekt im Auftrag des Spitex Verbandes Schweiz. Steffen Bürgi, B. & Soom Ammann, E. (2018). Demenz-Care zwischen Selbstbestimmung und Fürsorgepflicht. NOVAcura, 49(4), 53–55.

Sandra Sermier, Gesundheits- und Pflegeexpertin FH, Gerontologin MAS, Wissenszentrum, Zentrum Schönberg, Bern

Eva Soom Ammann, Dr. phil. hist., Dozentin angewandte Forschung & Entwicklung und MSc Pflege am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule BFH

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Bildung    45

Hygiene in der Langzeitpflege Balance zwischen Schutz und Lebensqualität Lena Zumsteg

Welche Wege schlagen Hygieneexpertinnen und -experten in der Praxis und in der Wissenschaft ein? Wie gelingt es, Mitarbeitende in Akutspitälern und Langzeitpflegeinstitutionen für Hygienethemen zu

die Gewinnung des Materials für die PCR-Methode in der Praxis. „Sie vereinfacht viel und lässt uns schneller handeln.“ „Wir finden aber auch Keime, die wir nicht gesucht haben, und müssen das Resultat interpretieren“, ergänzt Strübi.

sensibilisieren? Das dritte Hygienesymposium der zusammen.

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eferentinnen und Referenten sprachen über praxis­ bezogene Herausforderungen und den Fortschritt in der Wissenschaft. Spannende Vorträge, interessanter Austausch und besetzte Stühle im Pflegezentrum Gehrenholz zeigten, dass der Hygiene-Diskurs gewünscht und nötig ist. Wer sich seit jeher mit der Hygiene befasst, ist der Zürcher Stadtarzt. In diesem Jahr feiert der Stadtärztliche Dienst in Zürich sein 700-Jahr-Jubiläum. „Mit der Umsetzung von Hygienemassnahmen im 19. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung rasant an“, eröffnet Gabriela BieriBrüning, Stadtärztin und Chefärztin der Pflegezentren der Stadt Zürich, das Symposium. Mit der steigenden Lebenserwartung und der medizinischen Entwicklung steigt auch die Anzahl chronisch erkrankter Menschen. Die Übertragung einer Infektionskrankheit zu verhindern, hat deshalb auch in der Langzeitpflege oberste Priorität.

Schnellere Gewissheit Hanspeter Hinrikson, Spezialist für Labormedizin FAMH der Laborgemeinschaft 1, stellt ein modernes Verfahren vor, mit dem man anhand der Erbsubstanz der Erreger innert kürzester Zeit beurteilen kann, ob eine Durchfallerkrankung infektiös ist oder nicht. Mit der PCR-Methode (Polymerase-Kettenreaktion) könne man die häufigsten Durchfallerreger auf einmal testen. „Die Erbsubstanz der Erreger wird dabei vervielfältigt und in weniger als zwei Stunden steht das Resultat zur Verfügung“, erklärt Hinrikson. Definierte Hygienemassnahmen in der Pflegeinstitution des Betroffenen können damit sehr zeitnah umgesetzt werden. Christian Strübi, leitender Arzt im städtischen Pflegezentrum Gehrenholz, bestätigt in einem Fallbeispiel NOVAcura 1/20

Multiresistente Keime fordern die Hygiene heraus „Bakterien reisen sehr gerne und billig“, sagt Gerhard Eich, Abteilungsleiter Infektiologie, Spitalhygiene und Personalmedizin in den Stadtspitälern Waid und Triemli. Und das ist ein Problem. Zum Beispiel multiresistente Darmbakterien, die ESBL (Extended Spectrum-Beta-Lactamase) produzieren. ESBL ist ein Eiweiss, das mehrere wichtige Antibiotika zerstört. Schnell verbreitet und kaum zu behandeln, fordert es die Hygiene zusätzlich heraus. „Im Spital ist eine kurzfristige Isolation der erkrankten Person möglich und zielführend, in der Langzeitpflege aber mindert es die Lebensqualität des Betroffenen“, führt Eich aus. Auch die Pflegezentren der Stadt Zürich haben sich deshalb dafür entschieden, keine strengen Isolierungsrichtlinien bei multiresistenten Erregern einzuführen. „Wir legen mit unserer Hygienestrategie den Schwerpunkt auf die strenge Einhaltung der Basishygiene“, sagt Beatrix Wozny, Fachexpertin Infektionsprävention in den

Fotos: zVg.

Pflegezentren der Stadt Zürich führte Fachleute

Über die Hygiene im Spitex-Alltag informieren Erika Muggli und Simone Jäger. © 2020 Hogrefe


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Gerhard Eich spricht über multiresistente Darmbakterien, die Antibiotika zerstören können.

Pflegezentren der Stadt Zürich. Basishygiene gilt immer, „bricht ein Norovirus aus, werden gewisse Massnahmen angepasst und spezielle Isolationsmassnahmen durchgeführt.“ Eine Schauspieleinlage auf der Bühne zeigt sehr schön, mit welchen hygienischen Herausforderungen die Pflege im Alltag konfrontiert ist. Der multimorbide Bewohner mit Demenz berührt den verschmutzten Verband, zittert, greift gar in die Wunde und will keinen neuen Verband. „In solchen Situationen muss man individuell auf den ­Bewohner eingehen. Ihn ablenken, mit ihm sprechen und seine Anliegen ernst nehmen“, ergänzt Wozny. Schliesslich sei es immer ein Kompromiss zwischen Schutz und Lebensqualität. Auch die Spitex begegnet in ihrem Alltag Hygienehürden, gerade bei MRSA-Betroffenen. Die beiden Hygieneverantwortlichen Erika Muggli, Spitex Zürich Limmat Zentrum Altstetten, und Simone Jäger, Spitex Zürich Sihl Zentrum Wipkingen-Industrie, machen deutlich: Bei ihnen kommt noch der logistische Aufwand des Hygienemate­ rials hinzu. Zu viel Hygienematerial im Einsatz zu haben, ist oft kontraproduktiv: Übervorsicht kann die Kunden irritieren, weshalb auch die Spitex auf die Standardhygienemassnahmen setzt. „Wichtig ist auch, dass immer dieselben Massnahmen beim gleichen Kunden / bei der gleichen Kundin ergriffen werden. Trägt eine Pflegefachperson einen Mundschutz, die nächste aber nicht, können das die Kunden nicht nachvollziehen“, ergänzt Muggli.

Bildung

sollte immer frühzeitig daran denken, auch bei atypischen Symptomen“, sagt Kuster. Eine Grippeimpfung des Spitalpersonals ist für ihn wichtig und richtig. „Für einen guten Schutz der Gesamtbevölkerung müssten aber auch die Menschen ausserhalb des Spitals geimpft sein“, ergänzt er. Dann könne man nicht nur die Grippefälle in der gesamten Bevölkerung und sekundär auch im Spital reduzieren, sondern es würden auch Gesundheitskosten gespart und Arbeitsausfälle minimiert. In der Theorie ist das alles nachvollziehbar. In der Schweiz hapert es aber nach wie vor an der Bereitschaft, sich auch tatsächlich impfen zu lassen. „Wie kann man Influenza-Präventionen im Spital optimal implementieren?“, fragt sich deshalb das Team um Dunja Nicca, Assistenzprofessorin für Pflegewissenschaft am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Basel. In einer umfassenden Studie stellt sie fest, dass keine Massnahme allein das Problem löst und dass der Diskurs über die Prävention im Ungleichgewicht steht: „Es gibt beim Spitalpersonal zwar eine gemeinsame Wertehaltung, dass man die Patienten schützen will. Die Impfung wird jedoch als Privatsache angesehen, der Austausch fehlt weitgehend“, sagt Nicca. Doch genau dieser Diskurs sei für die Meinungsbildung, ob man sich impfen lassen soll oder nicht, sehr wichtig.

Weitere Hygieneherausforderungen Auch die Kleinen waren grosses Thema am Hygienesymposium: die Milben. Sie lösen die äusserst juckende Hautkrankheit Krätze, Scabies genannt, aus. In Altersheimen und Pflegeeinrichtungen ist vor allem die Scabies crustosa wegen der hohen Ansteckungsgefahr ein Problem. Sie wird oft übersehen, „weil immunsupprimierten Menschen die Immunreaktion fehlt und sie deshalb keinen Juckreiz verspüren“, erklärt Siegfried Borelli, leitender Arzt des dermatologischen Ambulatoriums im Stadtspital Triemli. Dann kann sich die Milbe wunderbar verbreiten. Wird sie endlich entdeckt, beginnt eine Reihe von Hygienemassnahmen und eine aufwändige Behandlung. „Denn es müssen alle Kontaktpersonen zeitgleich behandelt und untersucht werden.“ Für gesunde Menschen ist es eine lästige Krank-

Winterzeit ist Grippezeit Passend zur Saison ging Stefan Kuster, leitender Arzt in der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene im Universitätsspital Zürich, auf die nosokomiale Influenza ein, eine Grippeinfektion, die erst im Spital erworben wird und sich unter Umständen bei multimorbiden Patienten nicht so offensichtlich präsentiert wie eine „normale“ Influenza. „Die nosokomiale Influenza tritt im selben Zeitraum auf wie die Grippe ausserhalb des Spitals und man © 2020 Hogrefe

„Auch bei atypischen Symptomen sollte man an eine nosokomiale Influenza denken“, mahnt Stefan Kuster. NOVAcura 1/20


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heit, für immunsupprimierte Patientinnen und Patienten kann sie schlimme Folgen haben. Hingegen sind Handekzeme hauptsächlich für das Personal ein Problem. „Wir unterscheiden zwischen irritativtoxischen und kontaktallergischen Reaktionen“, sagt Peter Schmid-Grendelmeier, leitender Arzt der dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich. Während bei Ersterer eine Reaktion ausgelöst wird, weil man wiederholt mit einer irritativen Substanz (z. B. Desinfektionsmittel) in Kontakt kommt, ist Letztere eine allergische Reaktion auf eine bestimmte Substanz. Das häufige Händedesinfizieren kann bei empfindlichen Personen eine irritativ-toxische Reaktion auslösen. Beide Reaktionsmuster können dazu führen, dass Betroffene sogar ihren Beruf wechseln müssen. „Die Hände der Pflegenden sind auch wichtig für die Menschen, die sie pflegen“, sagt Schmid-Grendelmeier, „deshalb ist die Hautpflege das A und O und sollte immer mild und so häufig wie möglich ausfallen.“

und meint damit Bakterien, Grippeviren und andere Erreger. Obwohl die Leute immer von den grossen Dingen reden. Wir Menschen hätten von den falschen Sachen Angst: vor Haifischen statt Influenza. „Wenn wir schon nicht verhindern können, dass wir die kleinen Sachen nicht ver­ hindern können, dann sollten wir uns wenigstens um die Hygiene kümmern.“ Damit anerkennt auch Frei die Wichtigkeit der Hygiene in der Langzeitpflege. Und für die Gastgeber, das Pflegezentrum Gehrenholz, bestätigt sich an diesem Tag der Eindruck: Der Austausch ist wichtig. Deshalb findet am 27. Oktober 2020 das nächste und­ 4. Hygienesymposium statt. Link zu den Präsentationen: www.tinyurl.com/3-hygienesymposium-zuerich

Lena Zumsteg Fachstelle PR / Kommunikation, Pflegezentren der Stadt Zürich

Auf den Punkt bringen Den Abschluss des Hygienesymposiums macht der SlamPoet Michael Frei. Sein Text bringt den Tag auf den Punkt: „Die kleinen Sachen sind die schlimmsten“, trägt er vor

www.stadt-zuerich.ch/pflegezentren

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Kompetenz in pflegerischem Wissen und Können Christa Olbrich

Pflegekompetenz 3., überarb. u. erg. Aufl. 2018. 352 S., 15 Abb., 2 Tab., Kt € 34,95 / CHF 45.50 ISBN 978-3-456-85847-0 Auch als eBook erhältlich Das Buch geht der Frage nach, was sich im Pflegealltag tatsächlich an Kompetenz, an pflegerischem Wissen und Können manifestiert und welche Anforderungen und Bedingungen der Pflegepraxis zugrunde liegen.

Aufgezeichnet werden die verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Kompetenz und Kompetenzentwicklung, u. a. auch hinsichtlich der Aus-, Weiterbildung und Hochschulbildung in der Pflege.

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Berührung, Beziehung und Demenz Luke J. Tanner

Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz Ein person-zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz Deutschsprachige Ausgabe herausgegeben von Carsten Niebergall. Übersetzt von Heide Börger. 2018. 272 S., 45 Abb., 1 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85855-5 Auch als eBook erhältlich

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Sinnvolle Berührungen sind ein wichtiger Bestandteil echter person-zentrierter Pflege von Menschen mit einer Demenz, dennoch gelten sie angesichts der wahrgenommenen Risiken als zweitrangig. Dieses Buch stellt das Vertrauen in das Potenzial von Berührungen wieder her. Es zeigt auf, wie wichtig Berührungen für die Stärkung der Persönlichkeit, der Beziehungen und des Wohlbefindens sind und es thematisiert die Hemm-

nisse, die die Mitarbeiter davon abhalten, Berührungen wirkungsvoll zu nutzen. Luke Tanner stellt verschiedene Berührungsarten vor und geht in diesem Kontext auch auf die Themen Zustimmung und Schutz ein, um konkret zu zeigen, wie es im Rahmen der Pflege gelingt, die Vorzüge von Berührungen zu maximieren und deren negative Auswirkungen zu minimieren.


Bildung    49

„Bevor ich sterbe, möchte ich …“ Bericht zum 7. St. Galler Demenz-Kongress „End-of-Life Care bei Personen mit Demenz: Vergessene Anforderungen?“

© gettyimages / Obencem

Diana Staudacher

Persönliche Wünsche und Bedürfnisse in Worte zu fassen, ist bei fortgeschrittener Demenz kaum noch möglich. Umso wichtiger sind frühzeitige Gespräche über Anliegen am Lebensende. Durch achtsames Wahrnehmen der Körpersprache, feine Intuition und Erfahrungswissen können Pflegefachpersonen die Bedürfnisse der Betroffenen oft besser erfassen als durch „objektiv“ messbare Parameter. Das Verständnis von Demenz als „terminaler“ Erkrankung muss sich noch vertiefen – so lautete eine Haupt­ botschaft des diesjährigen St.  Galler Demenz-

Care Team erfolgt seltener. Angehörige bekommen we­ niger Informationen zum Übergang in die End-of-Life-­ Phase. Schmerz und andere Beschwerden werden seltener erhoben und behandelt“, berichteten Melanie Karrer und Angela Schnelli, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Fachstelle Demenz. Sie fragten Pflegende aus St. Gallen und der Region, welche Anforderungen in der End-of-Life Care von Personen mit Demenz zentral sind. „Es ist eine intuitive Arbeit, weil Menschen mit Demenz ihre Wün­ sche oft nicht mit Worten äussern können“, lautete eine häufige Antwort. Eine Kombination aus Erfahrung, Fach­ wissen und sensiblem Beobachten ist zentral. Angehörige einzubeziehen, sollte selbstverständlich sein – obwohl es Reibungspunkte gibt, beispielsweise in Bezug auf eine ­Spitaleinweisung am Lebensende. Für die Pflegenden ist es „etwas Schönes, Menschen mit Demenz in diesem letz­ ten Lebensabschnitt zu begleiten“. Die Befragten berichten aber auch von Zeitmangel und schwierigen Rahmenbe­ dingungen in den Institutionen. Dadurch entsteht oft eine Kluft zwischen den Bedürfnissen der Personen mit De­ menz und den Möglichkeiten einer hochwertigen Pflege: „Hier geht es um Anforderungen, die Pflegende aufgrund ihrer Fachkompetenz an das System stellen. Nicht zuletzt ist es auch die Aufgabe der Politik und der Leitungsgremi­ en, die hohen professionellen und fachlichen Anforderun­ gen an die Pflege von Menschen mit Demenz am Lebens­ ende zu fokussieren“, betonten die Referentinnen.

Kongresses.

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as löst die Frage nach den vergessenen An­ forderungen in der Pflege von Menschen mit Demenz am Lebensende bei Ihnen aus?“ – mit diesen Worten wandte sich Prof. Dr. Heidi Zel­ ler, Leiterin der Fachstelle Demenz an der FHS St. Gallen, bei ihrer Begrüssung an die über 1100 Teilnehmenden. „Wir möchten Sie zum Nachdenken anregen über die Be­ dürfnisse der Betroffenen in der letzten Lebenszeit. Denn Demenz wird bisher zu wenig als lebensbeendende Krank­ heit wahrgenommen“. Wie Studien zeigen, erhalten demenziell erkrankte Menschen in vieler Hinsicht eine schlechtere End-of-Life Care als beispielsweise Personen mit einer Krebserkran­ kung: „Die Betreuung durch ein spezialisiertes Palliative

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„Dementia Care“ mit „Palliative Care“ verbinden Wie ist es möglich, auch für Menschen mit weit fortge­ schrittener Demenz eine lebenszugewandte, sinngebende und durch Gemeinschaft geprägte Tagesstruktur zu gestal­ ten? Wie lässt sich „leere Zeit“ verhindern, wenn Betroffene nicht mehr an Gruppenaktivitäten teilnehmen können? Eine Antwort auf diese Herausforderungen bietet „Na­ maste Care“ – ein multisensorisches Programm für Men­ schen mit fortgeschrittener Demenz. „Das Wohlbefinden maximieren und die Lebensqualität erhalten – das sind die zentralen Ziele“, berichtete Dr. Hubert R. Jocham, Dozent an der Fachhochschule Vorarlberg. „Namaste Care“ spricht vor allem die Sinne und Emotionen der Betroffenen an – © 2020 Hogrefe


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und somit diejenigen Wahrnehmungsformen, die bis zu­ letzt intakt bleiben. Im Zentrum steht sensorische Stimu­ lation in Form von „Therapeutic Touch“, Massage, Hand-­ und Fusswaschungen, Maniküre bzw. Pediküre sowie ­Aromatherapie. Naturvideos und Musik vermitteln ange­ nehme visuelle und auditive Eindrücke. Das Programm kommt täglich zum Einsatz – jeweils zwei Stunden am Vorund Nachmittag. Ausgehend von den USA und dem St. Christopher‘s Hospice in London1 übernahmen einzel­ ne Institutionen in elf Ländern „Namaste Care“. Eine eigens dafür eingerichteter „Namaste“-Raum ge­ währleistet eine ungestörte und geschützte Atmosphäre. Die pflegerischen Anwendungen sind jeweils individuell abgestimmt auf die Bedürfnisse und die Lebensgeschichte der Bewohnenden. Dadurch kann persönliche Bedeut­ samkeit entstehen. Auch Angehörige können sich beteili­ gen. Dies stärkt die Verbindung zwischen Menschen mit Demenz, Familienmitgliedern und dem Pflegeteam. „Namaste Care ist nichts Neues“, räumte Hubert Joch­ am ein. Innovativ ist jedoch die Verbindung von „Demen­ tia Care“, „Palliative Care“ und „End-of-Life-Care“ mit einem person-zentrierten Ansatz. Dadurch adressiert „Namaste Care“ den vergleichsweise langwierigen Verlauf des „fortgeschrittenen Stadiums“ einer Demenzerkran­ kung. Umso wichtiger ist es, diese letzte Lebenszeit im Sinne von Cicely Saunders so zu gestalten, dass die Betrof­ fenen sich „so lange lebendig fühlen, bis sie sterben“.

„Sterbegeschichten“ „Ich frage mich, ob der Tod vielleicht besser ist …“, schreibt Wendy Mitchell in ihrem Internetblog „Which me am I today“2? 2014 erhielt sie mit 58 Jahren eine Demenzdiag­ nose. Sie lebt in Yorkshire und ist Autorin des Buches „Der Mensch, der ich einst war“. Wendy Mitchell denkt über „präventiven Suizid“ nach. Sie weiss nicht, ob sie zusehen möchte, wie die Krankheit immer mehr von ihrem Gehirn Besitz ergreift: „Diese Per­ son möchte ich nicht sein“, betont sie. Die erschreckende Erfahrung des Selbst-Verlustes findet sich in vielen Erzählungen von Personen mit Demenz, wie Nina Streek, Fachverantwortliche Ethik und Lebensfragen am Institut Neumünster, berichtete. Sie stellte „Sterbege­ schichten“ von Menschen mit Demenz vor. So individuell diese Geschichten auch sind – die Rede vom „schleichen­ den Tod“, vom „Sterben bei lebendigem Leib“ und vom „Dasein als lebendige Tote“ ist ihnen häufig gemeinsam. „Das Erwarten des drohenden Zusammenbruchs – das ist der eigentliche Alzheimer-Tod“, so die Referentin. Zu beobachten ist auch, dass in Geschichten über Men­ schen mit Demenz das Sterben oft nicht dargestellt ist.

1 Cicely Saunders, die Begründerin der „Palliative Care“, gründete ­dieses erste moderne Hospiz 1967. Die Entwicklung von „Namaste Care“ erfolgte durch Joyce Simard in den USA. 2 „Welches Ich bin ich heute?“ (https://whichmeamitoday.wordpress. com/) © 2020 Hogrefe

Bildung

Dem Autor Arno Geiger war es beispielsweise ein Anlie­ gen, über seinen Vater als „einen Lebenden“ zu schreiben. Häufig enden die Geschichten, „bevor es schlimm wird“. Denn das Sterben eines Menschen mit Demenz entspricht nicht dem Idealbild des „guten Sterbens“. Nina Streek zitierte auch Sätze aus dem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich?“ von Martina Rosenberg. Darin beschreibt die Tochter einen „schamvollen Tod“ im Sinne des Soziologen Allan Kellehear. Aus Sicht der Tochter hat die demenzerkrankte Mutter bereits „alles verloren, was ihre Persönlichkeit ausmachte“. Sie ist nur noch eine „leere Hülle“. Die Tochter erlebt den Tod ihrer Mutter als befrei­ endes Ende „all der sinnlosen und grausamen Jahre“. Um Angehörigen und Mitmenschen „nicht zur Last zu fallen“ und um sich „der Demenz zu entziehen“, sehen manche Betroffene manchmal nur einen Ausweg: Sie wäh­ len den Suizid – als letzten Akt der Selbstbestimmung, um die Integrität ihrer Persönlichkeit zu schützen, wie der Arzt Michael de Ridder in seinen Publikationen betont.

Symptome „lesen“ und deuten „Beobachten Sie und beschreiben Sie den Ärzten, was Sie sehen“, so der Rat von Dr. med. Daniel Büche, Leitender Arzt am Palliativzentrum des Kantonsspitals St. Gallen. Anhand eines Beispiels zeigte er auf, wie zentral aufmerk­ sames pflegerisches Beobachten ist, wenn Personen mit Demenz Symptome nur noch körpersprachlich zum Aus­ druck bringen können. Eine Patientin mit mittelschwerer Demenz hat eine Schambeinfraktur erlitten und erhält postoperativ Opioide. Den Pflegenden fällt auf, dass die Patientin auf Berührung am gesamten Körper mit Schmerzzeichen reagiert. Somit kann der Schmerz nicht ausschliesslich mit der Fraktur in Verbindung stehen. Alle Anzeichen deuten auf eine Hyperalgesie als Nebenwir­ kung der Opioid-Therapie hin. Dank genauer Beobach­ tung und Berichterstattung der Pflegenden gelingt es, die Schmerztherapie unverzüglich anzupassen. Fortschreitende Demenz verändert das Schmerzerleben, so der Referent. Das kognitive Bewerten des Schmerzes­ ist beeinträchtigt, ebenso die Aufmerksamkeit, die der Schmerz hervorruft. Verändert sich das kognitive Einord­ nen, fällt auch das Coping schwerer. Eine wichtige Leit­ frage lautet deshalb: Was ist das stressauslösende Moment bei einem Schmerzgeschehen? Symptommanagement basiert darauf, die „Interpreta­ tion des Patienten zu interpretieren“, betonte Daniel Bü­ che. Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind maxi­ mal vulnerabel. Sie können Stressoren immer weniger tolerieren. Umso wichtiger ist es, ihre Körpersprache zu „lesen“. Die wortlose „Symbolsprache“ der Menschen mit De­ menz zu verstehen, erwies sich als eine der wichtigsten Anforderungen hochwertiger Pflege am Lebensende. „Aufmerksames Wahrnehmen und Deuten“ zog sich als „roter Faden“ durch alle Referate, Workshops und Diskussionen. NOVAcura 1/20


Bildung    51

Ein „Türöffner“ für schwierige Gespräche „Nicht leiden müssen“, „Meine Würde bewahren“ oder „Beim Sterben jemanden um mich haben“ – diese Aussa­ gen finden sich im Kartenspiel „RichtigWichtig“, entwi­ ckelt von Elisabeth Sommerauer und Michael Rogner in den Pflegeheimen der Liechtensteinischen Alters- und Krankenhilfe. Das Kartenspiel kommt als „Türöffner“ zum Einsatz, um vorausschauende Gespräche über das Lebens­ ende einzuleiten. Nicht immer ist es leicht, eine „Brücke“ zu finden, um dieses schwierige Thema anzusprechen. „Der spielerische Charakter hilft uns dabei“, so Elisabeth Sommerauer. Die Karten möchten dazu anregen, über Wünsche und Anliegen am Lebensende nachzudenken. Dadurch wird es möglich, Prioritäten zu setzen: Was ist mir „sehr wichtig“, „wichtig“ oder „weniger wichtig“? Wäre es gut, das „sehr wichtige“ Thema noch ausführli­ cher zu besprechen oder es zu dokumentieren? Die farbigen Punkte auf den Karten weisen auf die verschiedenen Ebe­ nen von Palliative Care hin (rot = körperlich, gelb = sozial, blau = spirituell, grün = psychisch). So lässt sich feststellen, auf welcher Ebene die Anliegen hauptsächlich liegen und welche Gesprächspartner hilfreich sein könnten. Als Inspirationsquelle diente das „Go Wish Game“ aus den USA. Die deutschsprachige und bearbeitete Version hat sich inzwischen als wertvolle „Brücke“ zu voraus­ schauenden Gesprächen bewährt. Das Spiel kann viel­ seitig zum Einsatz kommen – auch im Rahmen von Weiter­ bildungen oder im Kreis der Familie. Für das Projekt „RichtigWichtig“ erhielt die Liechten­ steinische Alters- und Krankenhilfe den Anerkennungs­ preis der Viventis Stiftung. Anders als in früheren Jahren vergab die Jury keinen Viventis Preis für das beste Praxis­ projekt in der Pflege und Begleitung von Personen mit ­Demenz. Die eingereichten Projekte zeigten aus Sicht der Jury keinen ausreichenden Bezug zum Schwerpunkt „End-of-Life“-Care.

Leidens und machen es öffentlich“, betonte Andreas Hel­ ler. Menschen in ihrer Lebenssituation nicht alleine zu ­lassen, sondern Verbundenheit herzustellen – das bedeu­ tet „Privates in Öffentliches zu übersetzen“. Hierzu kann gerade die Pflege wesentlich beitragen – und dadurch eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung erhalten.

„Letzte Lieder“ „Am Schluss sind oft alle ernst. Diese Ernsthaftigkeit ist wie eine Decke, die schwer über allem liegt“, berichtete Stefan Weiller über seine Besuche bei sterbenden Men­ schen in Hospizen. „Letzte Lieder“, so seine Erfahrung, können diesen Ernst auf behutsame Weise überwinden. „Welche Musik ist Ihnen kostbar und welche Erinnerung verbinden Sie damit?“ – ausgehend von dieser Frage konnte Stefan Weiller in seinem Projekt unzählige „Lebenslieder“ von sterbenden Menschen sammeln. Hospizbewohnende sprechen mit ihm über die „Musik ihres Lebens“ und hören sie mit ihm an. Lieder haben die Kraft, Menschen mitein­ ander zu verbinden und Gefühle miteinander zu teilen – ohne Worte. Das Projekt „Letzte Lieder“ bringt die Geschichten und Gedanken sterbender Menschen in die Öffentlichkeit. Das Zuhören bewegt dazu, sich eigene Fragen zu stellen. Lieder sind nicht nur lebenswichtig, sie sind auch im Sterben wichtig – so die Botschaft von Stefan Weiller. Immer wieder erlebt er, dass sehr alte sterbende Menschen Trost in einem „Kinderlied“ finden. Das Kinderlied „kann eine Brücke sein, die sich über die Zeit spannt“. Deshalb die Bitte: „Singen sie mit ihren Kindern! Seien Sie sich be­ wusst, dass Sie dabei etwas Wertvolles in die Seele der Kinder hineinlegen. Etwas, das vielleicht später – am Ende des Lebens – wichtig werden kann …“.

St. Galler Demenz-Kongress Die Grenzen des Verfügens „Wer kann dem Menschen im Zerbrechen seines Lebens gerecht werden?“, fragte Prof. Dr. Andreas Heller, Institut für Pastoraltheologie und -psychologie an der Universität Graz, im abschliessenden Referat über „Sterben zwischen Planungszwang und sozialer Mitsorge“. Dabei wies er die Teilnehmenden auf ein Paradox hin. Im Sterben entgleitet dem Menschen die Verfügung über sein Leben. Dennoch fordert die Gesellschaft: „Du musst über dein Sterben ver­ fügen! Wo und wie willst du sterben?“. Was für den ster­ benden Menschen jedoch wirklich zählt, lässt sich nicht in Form eines „Sterbemanagements“ organisieren, so der Referent. „Mitmenschliche Begegnungen sind nicht mess­ bar. Sie entziehen sich der Logik des Machenkönnens. Die planende Vernunft stösst hier an Grenzen“. Sich auf die sterbende Person einzulassen, Nähe zulassen und das Ge­ schehen miteinander zu teilen, stiftet Gemeinschaft. Da­ durch „durchbrechen“ Menschen die „Privatisierung des NOVAcura 1/20

Der St. Galler Demenz-Kongress wird von der Fachstelle Demenz des Fachbereichs Gesundheit an der Fachhochschule St. Gallen in Kooperation mit den Olma Messen St. Gallen veranstaltet. Der 8. St. Galler Demenz-Kongress findet am 11. November 2020 statt. Das Thema lautet: „(Un)mögliche Möglichkeiten: Personen mit Demenz im digitalen Zeitalter“.

Dr. Diana Staudacher Wissenschaftliche Mitarbeiterin, FHS St. Gallen, Fachbereich Gesundheit

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Bildung

Chefsache Über den Umgang mit Widerstand und die richtige Dosis von Nähe und Distanz

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Eveline Kühni

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Zürcher Trendthemen Langzeitpflege“ sprachen am 27. No­ vember 2019 im SGZ Campus drei Fachpersonen über die Beziehung zwischen Vorgesetzen und Mit­ arbeitenden. Wie viel Nähe ist notwendig, wie viel Distanz geboten? Wie können Vorgesetzte schwie­ rige Situationen meistern und wie mit Widerstand umgehen? © 2020 Hogrefe

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ute Führung brauche sowohl angemessene Nähe als auch nötige Distanz, und die Bereitschaft, sich Widerstand mutig zu stellen, nahmen Marcel Maier und Lucia Zimmermann, beide Schulungszentrum Gesundheit Zürich (SGZ), bei ihrer Begrüssung vornweg. Um den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern Anre­ gungen zu vermitteln, wieviel Nähe und Distanz Füh­ rungspersonen (im Bereich Langzeitpflege) zulassen bzw. wahren sollen und wie sie Widerstand begegnen können, luden sie drei Profis mit unterschiedlichem Hintergrund zu Vorträgen und zur Diskussion ein. NOVAcura 1/20


Bildung    53

Alltägliche Beispiele Lukas S. Furler, Präsident der OdA Gesundheit Zürich, veranschaulichte, dass eine nahe oder distanzierte Haltung einer Führungspersonen abhängig ist von gesellschaft­ lichen Normen, Gesetzen und Vorschriften, der indivi­ duellen Persönlichkeit und Situation. Der ursprüngliche Krankenpfleger und spätere Direktor des Zürcher Stadt­ spitals Waid sprach über Episoden aus seinem beruflichen Alltag, in denen das richtige Mass an Nähe und Distanz geholfen hat, eine schwierige Situation zu meistern, bzw. das falsche Mass die Situation massgeblich verschlechtert hat. Da war etwa die Stationsleiterin, deren Mitarbeitende es sehr schätzte, dass ihre Chefin sie in den Arm nahm, als ihr Freund schwer verunfallte, oder der Teamleiter, der sich in seine jüngere Mitarbeiterin verliebte und schliess­ lich mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung konfron­ tiert sah. Es gab die Vorgesetzten, die beim jährlichen Standortgespräch voll des Lobes waren, ohne ihre Mitar­ beitenden wirklich zu kennen, oder das Stationsteam, in dem sich alle dem Suchtproblem eines Teammitglieds an­ nahmen. Furler befragte die Zuhörenden, mehrheitlich Führungspersonen in der Langzeitpflege, nach ihren Ein­ schätzungen zu den jeweiligen Episoden. Das daraus fol­ gende Fazit: Manchmal kann etwas mehr Nähe bzw. Dis­ tanz als üblich helfen, eine schwierige Situation zu meistern. Das Mass an Nähe oder Distanz muss zur Per­ sönlichkeit der Führungsperson passen – genauso wie zu den Gepflogenheiten einer Abteilung oder Berufsgattung. Eine distanzierte Führungshaltung kann in unangeneh­ men Situationen (z. B. Reorganisation, Konflikte) helfen, entbindet aber nicht von der Pflicht, empathisch zu han­ deln und ehrliches Interesse an Mitarbeitenden zu zeigen. Eine gewisse Nähe hilft, seine Mitarbeitende für ein ge­ meinsames Ziel zu gewinnen, Grenzüberschreitungen (je­ mandem zu nahe zu treten, zu Persönliches preiszugeben) sind jedoch nur sehr schwer zu korrigieren.

Allein die Dosis machts Nicole Zeiter, Kommunikationsberaterin und ehemalige Geschäftsleiterin für „Die Dargebotene Hand Ost­ schweiz“, ist überzeugt: „Allein die Dosis (von Nähe und Distanz) macht’s“. Weil es von beidem die richtige Menge braucht, steht sie dem Trend von mehr Nähe zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden skeptisch gegenüber. Sie fragte in ihrem Referat, wieviel Nähe denn gesund sei – für beide Seiten. In positiven Zeiten sei gegen ein (emoti­ onal und räumlich) nahes Verhältnis nichts einzuwenden. Man kann sich regelmässig austauschen, es stärkt das Ge­ meinschaftsgefühl und die Mitarbeitenden sind motiviert, sich zu engagieren. Es birgt aber auch Gefahren. Haben Vorgesetzte zu den einen Mitarbeitenden ein engeres Ver­ hältnis als zu den anderen, wird Neid und Missgunst ge­ weckt. Mitarbeitende, die sich ihren Vorgesetzten nahe fühlen, erwarten nicht selten eine bevorzugte Behand­ lung, etwa wenn es um Freitage oder Arbeitspläne geht. NOVAcura 1/20

Etwas mehr Distanz hilft Chefs und Chefinnen sich durch­ zusetzen und steigert die Selbstverantwortung der Mitar­ beitenden, ist Zeiter überzeugt. Vorgesetzte sollen sich aktiv mit ihrer Rolle befassen, und sich innerhalb eines entsprechenden Handlungsspielraums bewegen. In seiner Rolle bleiben bedeutet, sich ständig bewusst zu sein, dass man eine andere Rolle hat als die Mitarbeitenden, und es bedeutet auch, innerhalb einer Organisation ein bisschen einsam zu sein. Das gilt es auszuhalten. Zeiter plädiert da­ für, dass man seine Rolle transparent macht, indem man darüber spricht. Der Satz „Ich würde dir sehr gerne diesen Wunsch erfüllen, aber als deine Chefin bin ich verpflich­ tet, im Interesse des ganzen Teams zu handeln“, kann vie­ len Missverständnissen vorbeugen.

Glücksfall Widerstand Nicht nur mit einer gewissen Einsamkeit müssen Füh­ rungskräfte umgehen können, sondern auch mit Wider­ stand, ist Erik Nagel, Vize-Direktor des Departements Wirtschaft der Hochschule Luzern, überzeugt. Zu oft wür­ den Führungspersonen den Widerstand leugnen oder ba­ gatellisieren, statt als Phänomen anzunehmen, mit dem man in seiner Rolle fast unweigerlich konfrontiert ist. Den Impuls, Widerstand nur negativ zu bewerten oder zu igno­ rieren, gelte es unbedingt zu unterdrücken. Dass das ein schwieriges Unterfangen ist, leugnete der Referent nicht: Mitarbeitende, die sich offensichtlich oder auch versteckt (Witze, Blödeleien, Gerüchte, Schweigen, Fernbleiben) widersetzen, können Führungspersonen ohnmächtig zu­ rücklassen. Sie sind verunsichert, weil sie auf Widerstand nicht routiniert reagieren können. Zudem ist Widerstand emotional aufgeladen und produziert Verlierer. Nagel mahnte, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die sich widersetzen, vorurteilsfrei zu begegnen, ihre Anliegen ernst zu nehmen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Oft würde sich herausstellen, dass der Widerstand auf­ grund von falschen Annahmen entstanden ist. Sollte das nicht der Fall sein, rät er, seinen Standpunkt nicht leicht­ fertig aufzugeben, jedoch zwingend zu überdenken, in­ wiefern das eigene Verhalten zum Widerstand beigetragen hat. Nur wenn sich Vorgesetzte dem unangenehmen, ener­ gieraubenden Widerstand stellen, könne ein zugrunde­ liegender Konflikt nachhaltig gelöst werden.

Eveline Kühni ist Herausgeberin und Redakteurin der NOVAcura

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Dementia Care

Healthy Ageing through Dementia Prevention

© Garuth Chalfont

Garuth Chalfont

The latest figures show that the prevalence of dementia globally is still increasing – someone in the world develops dementia every 3 seconds. The World Alzheimer Report 2015 estimated that 46.8 million people worldwide were living with dementia in 2015. This number will almost double every 20 years. Assessment and intervention are therefore critical. For caring professionals, knowing what can be done is critical to keeping your patients, loved ones and yourselves as healthy as possible. This article contains evidence-based ways to prevent or slow down dementia as part of healthy ageing. © 2020 Hogrefe

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rimary prevention reduces a person’s risk for developing dementia. An example is lifestyle-related advice on websites. Improving public health and health education is helping to lower the dementia incidence in Central Europe. Lifestyles have improved because older people are taking advice about diet, exercise, quitting smoking and increasing cognitive and social activities. Treating chronic illnesses such as heart disease or diabetes contributes to primary prevention. These are all modifiable risk factors for dementia, which may account for 35 % of dementia cases. A reduction of 10 % per decade in the prevalence of several lifestyle risk factors (obesity, physical inactivity, hypertension and smoking) could potentially reduce the number of worldwide cases of Alzheimer’s in 2050 by 9 million. Multimodal interventions targeting multiple risk factors can NOVAcura 1/20


add to or increase preventive effects. They are more beneficial than targeting just one risk factor. A 2-year multi-domain intervention based in Finland to prevent cognitive decline in elderly people targeted diet, exercise, cognitive training and vascular risk monitoring. The FINGER trial included participants who were already at risk for dementia. The intervention consisted of nutritional guidance, exercise, cognitive training, social activity and management of metabolic and vascular risk factors. The study found that a multi-domain intervention could improve or maintain cognitive functioning in at-risk elderly people. Secondary prevention is concerned with diagnosing and treating conditions early before they cause significant ill health. It is designed for people who are experiencing symptoms. They may have mild cognitive impairment or be in the early stages of dementia. This can be delivered at a community project designed for people with dementia, such as grow-your-own gardening or social dancing. Sometimes these are offered in a day centre or a care farm. Such projects exist widely, but they rarely research the intervention scientifically. However, feedback from service users and carers confirms some benefits. There are also therapeutic programs such as Cognitive Stimulation Therapy (CST). This was developed at University College London for small groups of people with early dementia or MCI. Sessions are held weekly to stimulate cognition during 45-minute activity sessions led by a qualified therapist. CST is the only non-drug therapeutic intervention for dementia endorsed and funded by the UK National Health Service (NHS). Innovative research projects in the USA and elsewhere are finding and addressing a wide range of root-causes of dementia. Memory loss and confusion may develop because of poor diet, inflammation in the body, high levels of stress, poor sleep, lack of exercise, poor gastrointestinal (gut biome) health, lack of cognitive stimulation or heavy metal toxicity, to name a few. Memory loss in patients­ with subjective cognitive impairment, mild cognitive impairment, and at least the early phase of Alzheimer’s disease, may be reversed, and improvement sustained, if a therapeutic program to address all the root causes is achieved. Private practitioners around the world help individuals with cognitive complaints. These medical professionals see patients individually. Assessments are lengthy, comprehensive and often expensive. Services include various levels of support to clients prescribed a treatment program. Extensive data analysis allows these companies to evaluate and promote their success to new patients. Such services are not yet part of the NHS in the UK, but this author is designing a program to make it possible. Tertiary prevention focuses on reducing negative impact of an existing disease through restoring function and reducing complications. It helps people with moderate to severe dementia become stable and improve their wellbeing. Tertiary prevention often occurs in a care home or nursing home with residents or patients. NOVAcura 1/20

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Dementia Care    55

There is evidence for numerous non-drug treatments which can improve cognitive function in people with a diagnosis of dementia. These are often cognitive stimulation plus physical, psychosocial or nutritional. Participants are supported by caregivers, nurses, students or a social network. This review found nutrition, fasting, oxygen therapy, stress reduction, sleep improvement and other modes addressed the underlying causes of dementia. Scan this code to read “A mixed methods systematic review of multimodal non-pharmacological interventions to improve cognition for people with dementia” in Dementia: International Journal of Social Research and Practice.

Architecture and Nature for Cognitive Health While most elders maintain good cognitive function into old age, a stimulating environment can be designed to keep them physically, mentally and socially active, reduce depression, and ameliorate problems of frailty and impairment. Gardens and nature spaces are important for reducing loneliness and isolation, which can lead to cognitive decline, depression and dementia. Nature was intrinsic to early settings for dwelling, ageing and human health as evidenced by physic, monastery and medicinal gardens at the heart of these communities. As well as nature for medicine, a natural, plant-rich environment facilitated healthy engagement throughout the lifecycle. With the advent of modern architectures of care, simultaneous with pharmaceutical symptoms management, the importance of nature for health became a matter of aesthetics and marketing rather than a practical necessity. The 21st century invites nature back into the picture to support the healthy ageing agenda – particularly for maintaining cognitive health. Edge spaces and therapeutic green spaces can help. © 2020 Hogrefe


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Dementia Care

Edge Spaces: Architectural features must enable easy physical and visual access to the outdoors, as well as invite natural elements such as daylight and views to flow inward: complex windows, porches, windowed corridors, covered walkways, conservatories and garden rooms. Scan this code to read ‘Building Edge’ in Alzheimer’s Care Quarterly.

Outlook and Conclusion

Therapeutic Green Spaces: The outdoor environment plays an important role in mental and physical well-being by providing a wide range of benefits, such as exercise, fresh air, emotional well-being, the opportunity for informal encounters with neighbors and friends, the appreciation of the countryside and decreased levels of agitation. In the UK, the King’s Fund program, Enhancing the Healing Environment, worked with almost 30 hospitals and 35 hospices to support the design of healing environments, many with a focus on gardens. Gardens are also important to support recovery from illness. Horatio’s Garden provides beautiful therapeutic gardens for spinal injury patients. Dementia care gardens can also improve mood. If architecture connects people and nature environments in meaningful ways, this helps mentally and emotionally by providing opportunities that lift the spirit, enhance the mood and stimulate the senses to increase overall wellbeing and quality of life. Landscape design, architecture and care practice involving nature and the natural world will support proactive therapeutic opportunities. There are many activities, besides nature-based ones that help prevent the decline of dementia.

If followed, these recommendations would increase the effectiveness of interventions, the number of people who could benefit, and the speed at which good practice in dementia prevention succeeds.

Examples of evidence-based dementia prevention activities • Nature: Horticultural therapy, gardening, barefoot walking (grounding), sunshine, animals and pets • Exercise: High intensity interval training (HIIT), swimming, cycling, aerobics, walking, weight training • Mind-body, Energy balancing: Dance, yoga, meditation, Tai Chi, Shiatsu, acupressure, Reiki, massage • Cognitive stimulation: Crafts, art, cooking, drawing, sewing, puzzles, math, playing an instrument • Nutrition: Good fats, omega 3’s, vegetables, herbs, spices, berries, coffee, green tea, plenty of water • Socialising: Join a group, volunteer, do intergenerational or multicultural activities, sing in a choir

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Improve assessments and interventions for dementia with the following recommendations: • Carry out comprehensive assessments of lifestyle as well as metabolic factors • Provide multi-factorial lifestyle interventions for people in small groups or individually • Design interventions at a neighbourhood level – in a park, garden, day centre, care farm, etc. • Scientifically evaluate all interventions so methods and outcomes are known and improved

References Alzheimer’s Disease International, “The Global Voice on Dementia.” Available from https://www.alz.co.uk/research/statistics Bredesen, D. E. et al. (2018). “Reversal of cognitive decline: 100 patients.” Journal of Alzheimer’s Disease & Parkinsonism, 8(5):1–6. https://doi.org/10.4172/2161-0460.1000450 Chalfont, G. & Walker, A. (2013). Dementia Green Care Handbook of Therapeutic Design and Practice. Arizona: safehousebooks. Download from www.chalfontdesign.com Chalfont, G. (2009). Naturgestützte Therapie: Tier- und pflanzen­ gestützte Therapie für Menschen mit Demenz planen, gestalten und ausführen. Bern: Hogrefe. Chalfont, G., Milligan, C. & Simpson, J. (2018). “A mixed methods systematic review of multimodal non-pharmacological interventions to improve cognition for people with dementia.” Dementia: The International Journal of Social Research and Prac­ tice 0(0), 1-45. https://doi.org/10.1177/1471301218795289 Ngandu, T. et al. (2015). “A 2 year multidomain intervention of diet, exercise, cognitive training, and vascular risk monitoring versus control to prevent cognitive decline in at-risk elderly people (FINGER): a randomised controlled trial.” Lancet (London, England), 385(9984):2255–2263. https://doi.org/10.1016/ S0140-6736(15)60461-5 Whear, R. et al. (2014). “What Is the Impact of Using Outdoor Spaces Such as Gardens on the Physical and Mental Well-Being of Those With Dementia? A Systematic Review of Quantitative and Qualitative Evidence.” Journal of the American Medical Directors Association, 15(10), 697–705.

Dr. Garuth Chalfont ist Landschafts­ architekt, Lehrer und Forscher, spezialisiert auf die Lebenswelt demenziell erkrankter Menschen. garuth@chalfontdesign.com

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à propos    57

à propos Healthy Ageing Gemäss Bundesamt für Statistik wird sich der Anteil der älteren Menschen in der Schweiz in den kommenden 30 Jahren nahezu verdoppeln. Fast jede vierte Person wird 65 Jahre oder älter sein, eine Million 80 Jahre oder älter. Mit diesem Wandel sind grosse Herausforderungen verbunden. Um sie zu bewältigen, ist die Altersstrategie „Healthy Ageing“ der Weltgesundheitsorganisation WHO richtungsweisend. Die Strategie berücksichtigt, dass das Alter hinsichtlich Leistungsfähigkeit und Gesundheitszustand eine sehr heterogene Lebensphase ist. Dem vitalen älteren Menschen steht der gebrechliche gegenüber. Zwei Gedanken der WHO Strategie sind laut spectra besonders hervorzuheben: 1. „Gesund altern ist ein individueller Prozess, der von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird.“ Je älter wir sind, umso grösser ist das Risiko von Einschränkungen. Nicht sie allein sollen als Gradmesser für ein zufriedenes bzw. unzufriedenes Leben dienen, sondern die vorhandenen Ressourcen (unser Gehirn ist z. B. bis ins hohe Alter lern- und leistungsfähig und viele ältere Menschen engagieren sich weiterhin im Beruf, in der Familie oder als Freiwillige).

2. Bei „Healthy Ageing“ steht nicht eine reine Versorgungsfrage im Zentrum. Berücksichtigt werden eine Vielzahl strukturelle und gesellschaftliche Faktoren, die von der persönlichen Wohnsituation bis zum Altersbild einer Gesellschaft und dessen Auswirkungen reichen. Das Konzept der WHO hat verschiedene Handlungsfelder im Blick. Dazu gehören: • „Wohnformen, die es alten Menschen erlauben, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu bleiben“ • „eine Gesundheitsversorgung, die weniger auf die Krankheit fokussiert, sondern auf die Bedürfnisse der älteren Patientinnen und Patienten“ • „eine Stärkung der Langzeitpflege, wobei vor allem Inputs bei der Aus- und Weiterbildung gefragt sind, um die prognostizierten Lücken beim Pflegepersonal decken zu können“ • „eine koordinierte Versorgung, eine Vernetzung zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen“ (Red. NOVAcura) Quelle: spectra: Gesundheitsförderung und Prävention. Bundesamt für Gesundheit BAG. http://www.spectra-online.ch/spectra/themen/gesund-altern-inder-schweiz-770-10.html

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Vorschau / Termine

Vorschau 02/2020 | Morbus Parkinson Editorial Elke Steudter Schwerpunkt Interdisziplinäre Zusammenarbeit bei M. Parkinson Jorina Janssens et al. Komplementäre Möglichkeiten bei M. Parkinson Marcel Meier

Änderungen vorbehalten

Palliative Care Palliative Care bei M. Parkinson Eveline Kühni Pflegen zu Hause Portrait einer betroffenen Person Lea Frei

Psychische Seite der Krankheit Diana Staudacher

Bildung Pflege lernen mit der VR Brille Jens Gieseler

Fokus Mundgesundheit Eric Schirrmann

Dementia Care Interview mit André Hennig Brigitte Teigeler

Termine 6. März 2020 Symposium für Gesundheitsberufe 2020: der alternde Mensch

26. März 2020 22. Schweizer Onkologiepflege Kongress Bern: Kursaal

Bern: Inselspital 12. März 2020 Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin Bern: Inselspital 25. März 2020 Careum Fachtagung: Chronisch krank in der digitalen Welt

2. April 2020 Ethik-Tagung der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung Zürich 3. April 2020 23. Thuner Alterstagung: Palliative Care zwischen Anspruch und Wirklichkeit Thun: Congress Hotel Seepark

Aarau: Careum Weiterbildung 26. März 2020 Fachtagung Demenz des SBK Bern Bern: Kinderspital, Inselspital

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Musik macht froh Musik verbindet Menschen, Musik wirkt anxiolytisch, Musik weckt und verstärkt Emotionen. Viele Studien bekräftigen die Wirksamkeit von Musik als subjektives Empfinden. Musik beeinflusst ebenso objektiv messbare physiologische Parameter, sodass sie mittlerweile in vielen Kontexten eingesetzt wird: bei depressiven Menschen, bei alten Menschen, in der Schmerztherapie und in der Palliativtherapie.

Illustration Dr. Garuth Chalfont ist Landschaftsarchitekt, Lehrer und Forscher, spezialisiert für die Lebenswelten demenziell erkrankter Menschen. Website: www.chalfontdesign.com Mail: garuth@chalfontdesign.com

Rätsel Welcher Aussage zum Thema Gesundheitsförderung im Alter stimmen Sie zu? a) D ie Gesundheit kann im Alter nicht mehr gefördert werden. b) B ei alten Menschen steht der Erhalt der Gesundheit im Vordergrund. c) Das soziale Netzwerk (Angehörige, Freunde, Seniorentreffs) hat keine Auswirkung auf Gesundheit.

Bitte schreiben Sie die Lösung per Karte oder Mail an: Hogrefe AG Zeitschriftenabteilung Länggassstr. 76 3012 Bern Schweiz zeitschriften@hogrefe.ch

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Unter den Gewinnern verlosen wir: 1.–3. Preis: Schlesselmann, E. (Hrsg.) (2019). Bewegung und Mobilitätsförderung.

Einsendeschluss ist der 24.02.2020. Auflösung und Bekanntgabe der Gewinner in der nächsten Ausgabe der NOVAcura.

Lösung aus NOVAcura 10-2019 c) M inimieren Sie wenn möglich die Nebengeräusche und sprechen Sie klar und deutlich. Gewinner 1. Preis: Sonja Zahner, Embrach 2. Preis: Andrea Knöpfel, Steinach 3. Preis: Daniel Tobler, Thal SG

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Careum Pflegesymposium 2020

Schlaf wirkt Wunder

Ra ba Jet tt f z ür t on Frü lin hb e a uc nm he r b elde is 2 n! 8.0 2.2 020

Alles über eine vernachlässigte Ressource in der Pflege Dienstag, 9. Juni 2020, Aarau www.careum-weiterbildung.ch

Programm Schlaf – Mythen und Fakten

Dr. Hans-Günter Weeß

Schlaf als Ressource richtig nutzen

Dr. med. Jens G. Acker

Wenn die Nacht zum Tag wird – Tag-Nacht-Umkehr bei Menschen mit Demenz

Detlef Rüsing

Schlafmittel – der schmale Grad zwischen Nutzen und Risiken

Andy Gerber

No go’s in der geriatrischen Pflege

Andrea Christen

Massnahmen zur Schlafförderung in der Pflegepraxis

Dr. sc. med. Hanna Burkhalter

Vom Nutzen des Nicht-Schlafens – Schlafentzug bei Menschen mit Depressionen

PD Dr. med. Steffi Weidt

Schlaflos in der Pflege?! Gut Schlafen trotz Nacht- und Schichtarbeit

Dr. sc. Gilberte Tinguely

Musikalische Kontraste

Trio Anderscht

Inspiration. Wissen. Können.


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