Leseprobe NOVAcura 1/2020

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Etikette oder Innovation? Eine Bestandsaufnahme sozialer Betreuung in stationären Pflegeeinrichtungen Daniel Behrendt, Marielle Schirmer, Nancy Werner & Vanessa Wendschuh

© gettyimages / Maskot

Stationäre Pflegeeinrichtungen stehen vor der Herausforderung, die Rahmenbedingungen für ein würdiges Leben der Bewohner und Bewohnerinnen zu schaffen. Seit 2017 haben deshalb alle Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen nach § 43b SGB XI neben der pflegerischen Versorgung einen individuellen Anspruch auf soziale Betreuung. Die personellen Aufwendungen dafür werden bewohneranteilig von den Pflegekassen bzw. privaten Versicherungsunternehmen finanziert.

S

chenkt man den Prognosen zur gesellschaftlichen Entwicklung Glauben, zeigt sich, dass der Pflegesektor in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Die Anzahl der Pflegebedürftigen ist von 2,02 Mio. Fällen im Jahr 1999 auf etwa 3,4 Mio. Fälle im Jahr 2017 stark angestiegen (Statistisches Bundesamt 2018). Schon heute leben 25 Prozent der Pflegebedürftigen in stationären Pflege­ einrichtungen (ebenda). In Anbetracht prognostiziertem sinkendem Potential an Laienpflege wird damit der Bedarf an professioneller Pflege und damit einhergehend an sozia­ ler Betreuung drastisch ansteigen (Schnabel 2007).

Entwicklungsprozess der sozialen Betreuung Alte Menschen haben über viele Jahrhunderte keine gesonderte Versorgung genossen. Noch in den 1960er Jahren wird von der Fachöffentlichkeit bemängelt, dass die Bedarfslagen älterer Menschen in Deutschland systematisch vernachlässigt werden (Schölkopf 2000). Ende der 1970er Jahre kam es aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Altersforschung zu einem Perspektivwechsel (Heinemann-Knoch & Schönberger 1999). Es bestand fortan Konsens darüber, dass auch Menschen im hohen Alter trotz Abhängigkeit von anderen einen Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung haben. Das führte in der Folge auch zu einer Öffnung der stationären NOVAcura 1/20

Soziale Betreuung: die Autoren wünschen sich mehr Qualität statt Quantität.

Pflegeeinrichtungen mit dem Ziel der Integration in die Gesellschaft und Teilhabe am öffentlichen Leben. Vielerorts wurden Sozialarbeiter in den Einrichtungen eingestellt, die ihre Tätigkeit bemerkenswert frei gestalten konnten (Bloech 2012). Im Jahr 1996 wurde die Pflegeversicherung als fünfte Säule im deutschen Sozialversicherungssystem etabliert. Einen Anspruch auf die Leistungen der sozialen Betreuung haben zu diesem Zeitpunkt alle Menschen, die im Sinne des § 14 SGB XI pflegebedürftig und nach § 15 SGB XI einer Pflegestufe zugeordnet sind (Deutscher Bundestag 1996). Trotz aller Kritik an der Ausgrenzung vulnerabler Zielgruppen, etwa Menschen mit demenziellen Erkrankungen, war mit der Pflegeversicherung nun eine verlässliche Finanzierung der sozialen Betreuung garantiert. In den Pflegeeinrichtungen fanden tiefgreifende Anpassungen an die neuen gesetzlichen Vorgaben statt, aufgrund des festgeschriebenen Paradigmenwechsel von der ehemals anvisierten „sozialen Arbeit“ hin zu einer pflegerisch orientierten „sozialen Betreuung“ (Klie 1998). Erst mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurden im Jahr 2008, nach mehr als 10 Jahren der Etablierung, die Leistungen © 2020 Hogrefe


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