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Vorbilder in der Pflege: eine monokulturelle Angelegenheit? Claudia Schlegel, Martin Siefers, Marion Engels, Ingeborg Beatty und Sinisa Delic
from Leseprobe PADUA
by Hogrefe
Vorbilder in der Pflege: Eine monokulturelle Angelegenheit?
Claudia Schlegel, Martin Siefers, Marion Engels, Ingeborg Beatty und Sinisa Delic
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Auf dem Weg zur beruflichen Sozialisierung spielen Vorbilder eine wichtige Rolle. Sie vermitteln Halt und Orientierung. In einem Workshop haben sich Lehr personen aus verschiedenen europäischen Ländern mit der Vorbildfunktion auseinandergesetzt.
Vorbilder sind Menschen, mit denen wir uns identifizieren. Sie haben Qualitäten, die wir auch vorweisen möchten und sind in Positionen, die wir erstrebenswert finden (Paice, et al. 2002). Vorbilder beeinflussen das Verhal ten, indem sie zum Beispiel die im Pflegeberuf erwarteten praktischen beruflichen oder persönlichen Merkmale veranschaulichen. Diese Merkmale können dann von anderen übernommen werden (Felstead & Springett, 2016). Ein berufliches Vorbild zu haben gibt Halt und Orientierung.
Für den wichtigen Prozess der Sozialisierung und den Aufbau der Berufsidentität in der Pflege ist die Rollenmodellierung mit Begleitung von Vorbildern essentiell (Webster et al., 2016). Wir lernen die Normen, Werte, Verhaltensweisen, Einstellungen und die Kultur der Profession kennen und bekommen diese durch bestimmte Vorbilder vorgelebt (Marañón & Pera, 2015).
Allerdings ist es unmöglich, zu verordnen, wer ein Vorbild ist – wir wählen unsere Vorbilder stets selbst. Viele positive Attribute der Vorbilder repräsentieren Verhaltensweisen, die modifiziert werden können oder Fähigkeiten, die es zu erwerben gilt (Wright & Carrese, 2002). Nun stellt sich die Frage, welche Merkmale entscheidend sind, um im Hinblick auf die Rollenübernahme ein Vorbild zu sein. Und vor allem: Können diese Merkmale gelernt und geübt werden?
Mit diesen und weiteren Fragen bezüglich des Phänomens Vorbild hat sich eine Gruppe von Pflegefachpersonen im Rahmen der Veranstaltung „International Days“, die im Frühjahr 2017 am Berner Bildungszentrum Pflege (BZ Pflege) stattgefunden hat, auseinandergesetzt.
Vorgehen
Im Rahmen eines internationalen Workshops haben sich Pflegefachpersonen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz mit dem Thema Vorbild beschäftigt. Ein Gross teil der Teilnehmenden arbeitet als Berufsschullehrer oder -lehrerin an verschiedenen Pflegeschulen in den erwähnten Ländern. Zwei weitere Teilnehmende sind in der Pflegepraxis tätig. Ziel des Workshops war die Aus einandersetzung mit dem Thema Vorbild und dessen Bedeutung für die Pflege, allerdings wurde der Fokus bewusst erweitert. Es ging grundlegend um die Frage, was Vorbilder für Menschen im Kontext ihrer Biografie oder Migrationsgeschichte bedeuten. Nachdem sich die Workshop-Teilnehmenden anhand einer Selbstreflexion mit ihren eigenen Vorstellungen von Vorbildern beschäf tigt hatten, wurden die Erkenntnisse in Kleingruppen diskutiert und mit der vorhandenen Literatur in Verbindung gebracht.
Die Resultate dieser Diskussionen lieferten die Grundlage zur Entwicklung eines halbstrukturierten Fragebogens (Tabelle 1), der für die nachfolgenden Fokus-Interviews genutzt werden konnte. Da der Campus des BZ Pflege in Bern von einer kulturellen Vielfalt umgeben ist – es gibt Restaurants, Geschäfte, Treffpunkte – wurde diese Umgebung genutzt, um Personen aus verschiedenen Kulturkreisen in den Workshop einzubeziehen. Sieben Personen aus den Ländern Libanon, Kosovo, Syrien, China und der Schweiz, erklärten sich bereit, ein Interview zum Thema Vorbild zu geben.
Auswertung der Interviews
Die Interviews ergaben, dass der Begriff Vorbild meist positiv besetzt ist. Man stellt sich darunter Personen vor, die etwas widerspiegeln, das man auch sein möchte. Aus dem Genderaspekt lässt sich keine Bevorzugung ablei ten. Das heisst, bei manchen Befragten ist das Vorbild der grosse Bruder oder die Lehrerin, bei anderen ist es ein Sportler oder die Mutter. Durch die Beschreibung wird klar, dass die Vorbilder aufgrund der Art und Weise, wie sie Dinge vorleben, eine gewisse Macht ausüben. Auf die Frage, ob es Menschen in ihrem Leben gibt, die sie beeindrucken, nannten die Befragten meist Personen aus dem familiären, schulischen und sportlichen Um feld. Es gab aber auch generalistische Aussagen, wie zum Beispiel: „Vorbilder sind nicht bestimmte Personen, sondern Menschen, die auf eigenen Füssen stehen, authentisch sind, Engagement zeigen und eine Sache mit Herzblut machen.“ Nr. 1.
Wirklich grosse Vorbilder weisen folgende Merkmale auf: Sie leben Werte vor, setzen auf verlässliche Beziehungen
Tabelle 1. Halbstrukturierter Fragebogen, entwickelt durch die Teilnehmenden des Workshops
Hauptfrage
Was verbinden Sie mit dem Begriff Vorbild?
Gibt es Menschen in Ihrem Leben, die Sie beeindruckt haben?
Was haben diese Menschen bei Ihnen bewirkt?
Sehen Sie sich als Vorbild?
Welche (Vorbild-)Situationen haben Sie geprägt oder beeinflusst?
Welche Menschen haben Sie in den Situationen geprägt? Zusatzfragen
a) Welche „Merkmale“ sind für Sie dabei wichtig? b) Welche „Merkmale“ sollten nicht vorkommen?
Was war speziell an diesen Menschen?
Haben diese Erfahrungen heute noch Einfluss auf Sie?
Wenn ja, privat oder beruflich?
Haben diese Situationen eine Auswirkung auf Ihr Leben?
Warum wurden diese Personen bedeutsam für Sie? Klärende Fragen
Gibt es eine spezielle Situation, die Ihnen in den Sinn kommt?
Wenn ja, warum? Wenn nein, warum?
Sind diese Personen aus Ihrem näheren bzw. weiteren Umfeld?
und halten sich an klare Regeln, wie folgende Aussagen belegen: „Es ist wichtig, die Kultur besser kennenzulernen. Ein Vorbild muss ehrlich und direkt sein und eine gewisse Linie / Haltung vorleben.“ Nr. 2. „Offen sein für andere Menschen … Interesse an Menschen haben wollen. Soziales Engagement zeigen.“ Nr. 3. „Etwas weitergeben können … authentisch und professionell sein, unabhängig vom gesellschaftlichen Stand. Es ist wichtig, eine gewisse Haltung einzunehmen und nicht überheblich zu sein.“ Nr. 4.
Selbst Vorbild zu sein, heisst Verantwortung zu übernehmen, Charakterstärke zu zeigen, Wissen weiterzugeben. „Ich hoffe, als Chefin ein Vorbild zu sein, im Sinne von Frontfrau sein. Ich habe festgestellt, dass die Auszubildenden Handlungswissen übernehmen.“ Nr. 5.
Offenheit, Authentizität, Interesse am anderen, eine klare Linie vorleben und vertreten werden als wichtige Charakteristika eines Vorbildes genannt.
Vorbilder in der Krankenpflege
In der Krankenpflege werden jene Frauen als große Vorbilder beschrieben, die eine prägende Rolle hatten. FrankeHandrich (1998) nannte in ihrem Artikel über die Geschichte der Krankenpflege solche Vorbilder als „weise Frauen“. Florence Nightingale, Amalie Sieveking und andere Frauen mit Vorbildfunktion haben sich im Beruf auf ihre Sinne verlassen und mit ihrem damals umfassenden Wissen um Vorsorge, Pflege und Heilung ganzheitlich den Patienten angenommen. Nebst Herzblut, Vorleben von Werten, und dem Interesse am Anderen war es den Pionierinnen wichtig, Menschen so zu versorgen, dass sie in Würde krank sein oder sterben durften.
Die durchgeführten Interviews mit Personen aus verschiedenen Kulturen zeigen, dass Würde, Authentizität und Achtung vor dem Anderen auch heute wichtige Merkmale von Vorbildern sind. Menschen, an die man glaubt, sollen ehrlich sein (Nr. 2) und eine klare Linie haben (Nr. 4). Zudem wird erwartet, dass sie Verantwortung übernehmen und fähig sind, eine „Frontperson“ zu sein (Nr. 5), da andere sich an ihnen orientieren.
Vorbild und Professionalität sind nicht diametral, sondern gleichbedeutend. Durch die Merkmale von Vorbildern (Tabelle 2) charakterisieren wir unsere Profession und Pro fessionalität. Wir lernen durch Übung und Beobachtung und die beste Vorgehensweise ist es, sich am Modell einer professionellen Person zu orientieren (i. A. Aristoteles).
Pflegefachpersonen tragen unter anderem Verantwortung für Patienten, Angehörige, Studierende, das interprofessionelle Team und für den Berufsstand selbst. Ihr Auftreten gegenüber Stakeholdern soll professionell und für andere vorbildlich sein. Die Identitätsentwicklung von Pflegefachpersonen hängt stark mit der Förderung von kommunikativen wie interaktiven Kompetenzen zusammen. Das Erleben von sozialer Zugehörigkeit (vgl. Heinzer und Reichenbach, 2013) und Wertschätzung, eine konstruktive Teamarbeit, der Aufbau von tragfähigen Beziehungen, das Entwickeln von Werten sowie die Reflektion von Patientensituationen wirken sich äusserst positiv auf die berufliche Identität aus.
Pflegeteams sollen bezüglich ihrer Kompetenzen, Berufsprofile und Vorbildfunktionen ausgewogen zusammengestellt werden. Studierende nennen als Vorbilder vorwiegend erfahrene, reife Berufspersonen, die klare Werte weitergeben und somit die persönliche und berufliche Entwicklung der Auszubildenden fördern. Wenn Vorbilder in der Praxis fehlen, ist die Arbeitsatmosphäre von Hektik, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit geprägt. In solchen Situationen kann es zu Fehleinschätzung von Patientensituationen kommen, die zu Komplikationen und schlechter Pflegequalität führen. Das wichtigste Qualitätsmerkmal in der klinischen Praxis sind die Vorbilder. Dieser Aspekt sollte bei der Professionalisierung des Berufs beachtet werden, da es sonst am Krankenbett keine Vorbilder mehr geben wird.
Als Schlussfolgerung kann gesagt werden: Vorbilder sind nicht monokulturell. Menschen haben das Bedürfnis, sich an einem Gegenüber zu orientieren – sei es im privaten Umfeld oder im Berufsleben.
Tabelle 2. Merkmale von Vorbildern und Erläuterung, wie diese in der Pflegepraxis ausgebildet werden können (entwickelt durch Erkenntnisse der Interviews sowie das Beiziehen der Literatur)
Dimensionen (in Anlehnung an Wright et al., 2002; Brugess et al., 2015)
1. Klinische Fähigkeiten
2. Lehrfähigkeiten
3. Persönliche Qualitäten Mögliche gewünschte Merkmale von Vorbildern in Gesundheitsberufen (abgeleitet aus Interviews und Literatur)
Gutes Allgemeinwissen Fähigkeit, das richtige Urteil zu fällen Verfügt über klinische Handlungsfähigkeit Fähigkeit, klinische Skills Niveau entsprechend zu erklären und zu demonstrieren Empathie (für die Patienten) Fähigkeit, schwierige Situationen zu bewältigen Fähigkeit, im Team zu kommunizieren und zu kooperieren
Ermöglicht positive Lernerfahrungen Strukturiertes Lernen mit klaren Erwartungen Gewährt sofortiges und aussagekräftiges Feedback Fähigkeit, die Diskussionen und Reflexionen zu leiten Fähigkeit, gut zu interagieren Fähigkeit, Lernenden jederzeit zu unterstützen und ihnen zu helfen Fähigkeit eine vertrauensvolle Lernathmosphäre zu schaffen, die zum Ausprobieren anregt
Freundlich und nett Authentisch Geduldig Selbstbewusst Respektvoll Begeisterungsfähig Leidenschaftlich für die Berufswahl Integrität Zwischenmenschliche Fähigkeiten Leadership Ermutigend Inspirierend Verständnisvoll Hat Vertrauen in die Fähigkeiten der Studierenden Bietet Sicherheit Ist engagiert Zu entwickelnde Kompetenzen für die Praxis (bezogen auf Heyse et al.,2012)
Teamfähigkeit Entscheidungsfähigkeit Analytische Fähigkeiten Fachwissen Ergebnisorientiertes Handeln
Kommunikationsfähigkeit Kooperationsfähigkeit Beratungsfähigkeit Verständnisbereitschaft Fachübergreifende Kenntnisse
Selbstmanagement Ganzheitliches Denken Glaubwürdigkeit Lernbereitschaft Konfliktlösungsfähigkeit Ambiguitätstoleranz
Literatur
Heinzer, S., Reichenbach,R. (2013) Die Entwicklung der beruflichen
Identität. http://www.ife.uzh.ch [Zugriff 13.03.2018] Paice, E., Heard, S. & Moss, F. (2002). How important are role models in making good doctors? BMJ, 325 (7366), 707 –710. Felstead, I. S., Springett, K. (2016). An exploration of role model influence on adult nursing students’ professional development:
A phenomenological research study. Nurse Educ Today, 37, 66 –70. Webster, A., Bowron, C., Matthew-Maich, N. & Patterson, P. (2016).
The effect of nursing staff on student learning in the clinical setting. Nurs Stand, 30 (40),40 –7. Marañón, A. A. & Pera, M. P. I. (2015). Theory and practice in the construction of professional identity in nursing students: a qualitative study. Nurse Educ Today, 35 (7), 859 –63. Wright, S. M. & Carrese, J. A. (2002). Excellence in role modelling: insight and perspectives from the pros. CMAJ, 167 (6), 638 –6.
Martin Siefers
Dipl. Pflegewissenschaftler (FH), Ausbildungszentrum für Gesundheitsberufe Universitätsklinikum Düsseldorf
Marion Engels
Lehrerin für Pflegeberufe, Universitätsklinikum Düsseldorf
Dr. Claudia Schlegel
Leitung LTT, Berner Bildungszentrum Pflege, Bern Ingeborg Beatty, Berufsschullehrerin, MAS „Palliative Care“, Berner Bildungszentrum Pflege, Bern
Sinisa Delic, Lehrperson, Abteilung Weiterbildungen Pflege mit Schwerpunkten, Berner Bildungszentrum Pflege