GELESEN
Inflamed
Heile und herrsche!
Der Autor Raj Patel und die Ärztin und Akti- Bernd Hontschiks brennende und zornige Sorge vistin Rupa Marya zeigen in ihrem Buch die Ver- um eine bedrohte patientenzentrierte Heilkunst knüpfungen zwischen entzündlichen Erkran- durchdringt jede Seite dieses Buches. kungen aller Art und unserem gesellschaftlinhand der gesundheitspolitischen Nachrichten der letzchen Zustand auf.
S
trukturelle Ungleichheiten, soziale Ausgrenzung und Armut machen krank – wie wir wissen. Die Autor*innen zeigen aber anhand aktueller Studien, wie sehr die westliche Medizin diskriminierend und aus ihrer (Kolonial-)Geschichte heraus mitverantwortlich ist. Sie hangeln sich dabei in ihren Kapiteln entlang der Organsysteme und ihrer Entzündungen im weitesten Sinne – nicht ohne zu betonen, dass dies eine Parodie auf die westliche Medizin ist, die immer die Einzelteile und nicht den Menschen in seiner Umwelt in der Vordergrund stellt. Ganz aktuell zeigen sie am Beispiel Covid, dass die Bipoc (Black, indigenous, People of Colour)-Community in den USA nicht nur ein höheres Krankheits- und Sterberisiko aufgrund von sozialem Status hatte, sondern auch ganz konkret die Pulsoxymeter auf dunkler Haut schlechter funktionieren und höhere Werte anzeigten, als tatsächlich vorlagen. So wurde Tausenden Sauerstoff vorenthalten, was vermutlich zur höheren Sterblichkeit beigetragen hat. Des Weiteren bringen sie eine Fülle von Beispielen, dass ein aktiviertes Entzündungssystem Folge gesellschaftlicher Bedingungen sein kann. Und dass die vielen chronisch entzündlichen Erkrankungen, zu denen auch Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Alzheimer zählen, Folgen unserer extraktiven Wirtschaftsweise und insbesondere der Kolonialisierung sind. Mich hat das Buch besonders mit seinen vielen Quellen und der Kraft fasziniert, mit der es mögliche Auswege aufzeigt: von der überall vorherrschenden „Entzündung“ hin zu einer menschenwürdigen Medizin, die eine andere Politik und ein anderes Wirtschaftssystem erfordert. Deep medicine ist ein Heilungsprozess auf jeder Ebene – von der alltäglichen Art und Weise, wie wir miteinander und mit unseren Patient*innen kommunizieren, bis hin zur großen Weltpolitik und dem Umgang mit unserem Planeten. Rupa Marya und Ray Patel: Inflamed. Deep Medicine and the Anatomy of Injustice (bis jetzt nur auf Englisch), Allen Lane 2021, 496 S., 19,99 € (Kindle 14,92€), ISBN: 978-0-241-48361-9 Katja Goebbels
A
ten Jahrzehnte dokumentiert der Autor zeitrafferartig die Destruktion der Fundamente eines sozialen Gesundheitswesens durch profitorientierte Kommerzialisierung und die Übernahme von Qualitätskonzepten aus industriellen Fertigungsprozessen. Der Kranke als Subjekt einer patientenorientieren Medizin ist zum Objekt einer Versorgungskette geworden, in der das Erlöspotential von Leistungen den Behandlungsalltag bestimmt. Solange sich mit diesen Leistungen Geld verdienen lässt, wird die Selbstwirksamkeit der Patient*innen auf Zuzahlungen reduziert. Mitmenschliche Zuwendung wurde zum unproduktiven Kostenfaktor. So sind in den letzten Jahrzehnten 50.000 Pflegestellen gestrichen worden. Sie wurden im großen Ausmaß ersetzt durch Planstellen für Controlling, Dokumentation und die erlösrelevante Leistungskodierung in den Kliniken – aber auch bei den Krankenkassen zur Plausibilitätskontrolle, Leistungssteuerung und um einen möglichst großen Anteil aus dem zentralen Gesundheitsfonds zu begründen. Bürokratisierung, Aufwertung patientenferner Tätigkeiten und eine Digitalisierung, die sich an der ärztlichen Schweigepflicht reibt, sind dann nicht überschießende Fehlentwicklungen, sondern Notwendigkeiten dieser kommerzialisierten Medizinkonzeption, bei der die umfassende Sammlung von Gesundheitsdaten dazu dient, weiteren Reichtum zu generieren. Hontschik sieht hier eine neue Stufe in der Veränderung der Medizin, wenn die therapeutische Wertschätzung von Kranken nicht nur abgelöst wird von Wertschöpfung aus Krankheit, sondern diese Medizin zum gesellschaftliches Herrschaftsinstrument wird. Dies belegt er mit gerade in der Coronapandemie gehäuften Vorstößen, das Solidaritätsprinzip der Krankenversicherung aufzuweichen oder exekutiv unbequeme wissenschaftliche Meinungen zu entwerten. Die Einbindung der Medizin in Machtstrukturen ist keineswegs neu und auch nicht ihr Missbrauch: die Elimination von jüdischen oder sozialistischen Ärzt*innen im Nationalsozialismus, die Entlassung von Wissenschaftler*innen -oder Ärzt*innen aus akademischen Forschungseinrichtungen und Kliniken auf Druck der Tabaklobby oder Pharmaindustrie oder banal die kirchlichen Krankenhausträgern zugestandene existenzgefährdende Einflussnahme auf das Privatleben ihrer Mitarbeiter*innen. Als Leser des Buchs setzte ich bei manchen plakativen Aussagen zu einem „Ja, aber...“ an, übrig blieb meist aber nur ein „Ja, leider!“ Ein lesenswertes, faktenreiches Buch! Bernd Hontschik: Heile und herrsche. Westend, Frankfurt 2022, 144 S., 18,- €, ISBN: 9783864893582 Herbert Kappauf 32