UOMO UNIVERSALE
Es gibt Jahrhundertmusiker, deren Karrieren von der Öffentlichkeit mit viel Blitzlichtgewitter begleitet werden. Und es gibt solche, die ihre überragenden musikalischen Fähigkeiten auf eher stille Weise vermitteln. Zur zweiten Sorte zählt der neue Dortmunder Curating Artist Sir András Schiff. Man würde gern mal in seinen Kopf hineinschauen. Man sähe dort womöglich schier unendliche Regalmeter voll mit Noten, alle säuberlich geordnet, und dazu vielleicht einen kleinen Assistenten, der die jeweiligen Werke computergesteuert hervorzieht und sie später wieder an dieselbe Stelle zurückräumt. András Schiff als musikalischen Enzyklopädisten zu bezeichnen, ist wahrlich nicht sehr gewagt. Das Klavierwerk von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, dazu ganze Ketten von Klavierkonzerten – komplette Bibliotheken hat er in seinem Kopf parat, nicht nur in groben Umrissen, sondern mit allen Details. Allein diese Gedächtnisleistung ist außerordentlich, doch da ist ja noch die Qualität der musikalischen Umsetzung. Zu Schiffs interpretatorischen Grundsätzen zählt der Gesang. Nie wird man bei ihm blanke Akkordsalven oder hochmotorisierte Tempi um des technischen Effekts willen erleben. Schiff spürt einzelnen Linien nach, formt sie zu organischen Verläufen, setzt sie in Beziehung zu anderen Stimmen. Wenn er seine Meisterklassen abhält, bekommt man eine Vorstellung von seiner musikalischen Ästhetik. Schiff fragt seine Studenten gern, welche Stimme sie gerade auf dem Klavier nachahmen würden: Ist es eher ein Horn, eine Flöte, sind es sanft wiegende Celli? Schiff denkt meist orchestral. Denn er ist nicht nur Pianist, sondern auch Dirigent. In dieser Leiterfunktion ist Schiff Autodidakt, und auch darin vertraut er auf seine beiden Hände, verzichtet auf Hilfsmittel: »Ohne Taktstock ist das Zeichengeben vielleicht weniger präzise, aber natürlicher, menschlicher«, erklärt er. »Mich stört bei vielen Dirigenten die pure Taktschlagerei. Musik darf man nicht schlagen, sonst schlägt sie zurück. Sie muss atmen, pulsieren, leben.« Um diesen Anspruch so glaubwürdig wie möglich zu realisieren, hat er vor mehr als 20 Jahren ein eigenes Orchester gegründet. Die Liste derer, die seiner Einladung im Laufe der Jahre gefolgt sind, ist lang und prominent. Erich Höbarth, zugleich Primarius beim Quatuor Mosaïques und viele Jahre Mitglied in Harnoncourts Concentus musicus, dazu Yuuko Shiokawa, Schiffs Ehefrau, an der Geige, Hariolf Schlichtig an der Bratsche, der Hornist Georg Sonnleitner von den Wiener Symphonikern. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Das erste Projekt 1999 mit der Cappella Andrea Barca (deren Name sowohl auf einen wenig bekannten Komponisten der Mozart-Zeit anspielt als auch auf ihren Gründer András Schiff) galt einer über mehrere Jahre hin angelegten Aufführung aller Mozart-Klavierkonzerte. Ursprünglich nur für die Salzburger
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