INHALT
CHRISTINA QUARLES
11
8
Daidō Moriyama
Über die Retrospektive des großen Fotografen bei C/O Berlin
10
Blickfang
Böhler & Orendt bringen die Berlinische Galerie aus dem Gleichgewicht
Geh doch nach
Westend! Ins Gartencafé von Georg Kolbe
11
Momentaufnahme
Christina Quarles dehnt die Körper im Hamburger Bahnhof
12
Kolumne
Energie sparen im Museum
Neue Bücher Von Mittelalter bis Mies
CHRISTINE STREULI 14
14
Interview
Warum Christine Streuli ihre Studenten in die LiebermannVilla bringt
17
Gegengift Kunst
Über die Nachhaltigkeit eines Ausstellungsprojekts
18
Bits & Pieces
Neuigkeiten aus den Berliner Institutionen
20
Tagesreise nach Neuhardenberg
Ein Schloss rückt an die Oder –oder umgekehrt
DISKURS Museum 4.0
24
Zukunft der Museen
Eine Konferenz zeigte Experimente für die digitale Vermittlung
AUSSTELLUNGEN
38
Coup der Moderne
Wie Edvard Munch Berlin aufmischte, zeigt die Berlinische Galerie
42
Alles, was Recht ist
Das Münzkabinett macht die Sammlung Würtenberger der Forschung zugänglich
44
FOKUS
Open-Air-Kultur
Wie die Berliner Institutionen sich mit neuen Formaten öffnen
Begehrenswert
Eva Fàbregas’ Skulpturen führen ihr Eigenleben im Hamburger Bahnhof
46
Euphorischer Aufbruch
Das BröhanMuseum würdigt die tschechische Avantgarde
49
Enrico David
im KW Institute for Contemporary Art
Judith Reigl
im Kulturforum
Toxische Landschaften im Haus der BrandenburgischPreußischen Geschichte
Hier ist der »Sound of Berlin« zu spüren
Draußenstadt
Wie Berlin die OpenAirKultur zelebriert
50
Tot oder lebendig
Das Humboldt Forum inszeniert das Sterben als Bühnenstück
52
Widerständig
Die Neue Nationalgalerie feiert Isa Genzken zum 75. Geburtstag
56
Klimawandel
Olaf Otto Becker stellt Landschaftsfotografien im Technikmuseum aus
59
Stick Men im Kleinen Grosz Museum
Die koreanische Grenze im AlliiertenMuseum
Publizistischer Schatz im Museum Pankow
60
Kolonialismus
Das Schloss Charlottenburg arbeitet einen dunklen Teil seiner Geschichte auf
62
Nekropole
Das Ägyptische Museum dokumentiert eine Grabung
64
Impressionismus
Wie Holland die Freiluftmalerei entdeckte, zeigt das Museum Barberini
68
Innovative Keramik
Das BröhanMuseum stellt die HaëlWerkstätten vor
69
Wissenschaftliche
Objekte in der AbgussSammlung Antiker Plastik Fünf Straßen im Bezirksmuseum MarzahnHellersdorf Revision des DAAD an drei Orten
70
Quilombismus
Das Haus der Kulturen der Welt emanzipiert sich
72
Zeichen der Zeit
Im Kupferstichkabinett ist die Sammlung der Schering Stiftung zu sehen
74
Politische Biografie
Das Deutsche Historische Museum nähert sich Wolf Biermann
76
Denkmalsturz
Wie wird man Bismarck los, fragt sich die Zitadelle Spandau
80
Museen an der Front Ukrainisches Kulturgut muss besser geschützt werden
82
Wohnungsmuseen
Wie man im Berlin der Gründerzeit lebte
86
Fördervereine
Wo junge Leute sich für die Museen engagieren
88
Schenkung
Das Stadtmuseum freut sich über Werke von Otto Nagel
Paläontologie
Das Naturkundemuseum hat Dinosaurierknochen erforscht
89
Musikinstrumente
Wie die Drehorgel nach Berlin kam
MJ Analytics
Großer Erfolg für die Jugendkulturkarte
BONAVENTURE SOH BEJENG NDIKUNG
Unter den Kulturmanagern sind die Biotechnologen in der Minderheit. Bei Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der – nach Stationen beim Kunstverein Savvy Contemporary Berlin, den Rencontres de Bamako in Mali, der Documenta in Athen und Kassel – seit Anfang des Jahres Intendant und Chefkurator im Haus der Kulturen der Welt ist, darf man sich sicher sein, dass er die naturwissenschaftliche Ausbildung auch nutzt, um den eigenen Blick immer wieder zu weiten, neugierig zu bleiben. Seine neue Wirkungsstätte hat er gerade mit einem großen Fest des Miteinanders wiedereröffnet. Uns hat der 46-Jährige erklärt, was der Quilombismus damit zu tun hat.
STEFANIE HECKMANN
Sie hütet etwa 5000 Gemälde und Skulpturen – vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Seit 2014 leitet die Kunsthistorikerin Stefanie Heckmann die Sammlung Bildende Kunst der Berlinischen Galerie. Eine perfekte Besetzung, betrachtet man ihre beruflichen Stationen und Schwerpunkte – etwa in der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel, als freie Kuratorin oder als stellvertretende künstlerische Direktorin am Museum Schloss Moyland. Berührungsängste sind ihr fremd: Egal ob Ferdinand Hodler, Max Beckmann, Joseph Beuys oder John Bock –jedes ihrer Projekte bringt überraschende Einblicke in scheinbar Bekanntes. Ihre aktuelle Ausstellung ist ein Herzensprojekt – mit Edvard Munch hat Heckmann einen ihrer Lieblingsmaler (zurück) nach Berlin geholt.
FLORIAN REIMANN
Es bereitet ihm ein besonderes Vergnügen, hinter verschlossene Türen zu schauen. Selten nimmt Florian Reimann das so wörtlich wie bei seinem derzeitigen Projekt »Pee Berlin«, das die Berliner Clubszene von einer ihrer intimsten Seiten zeigt. Nach einem Abschluss als Eventmanager studierte er zunächst Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste, bis er schließlich seine wahre Berufung fand und sich im Lette Verein zum Fotografen ausbilden ließ. Für Florian ist die Kamera ein ideales Mittel, um mit Leuten in Kontakt zu treten. Seit 2022 porträtiert er für das Museumsjournal Persönlichkeiten aus der Berliner Museumswelt. Diesmal ist er für uns in seine ehemalige Wirkungsstätte zurückgekehrt und hat einen Blick hinter die Fassade der Universität der Künste geworfen. Ohne Blitzlichtgewitter, aber wie immer mit viel Charme.
PANORAMA
Daidō Moriyama, ohne Titel, Hayama, 1967. Blick in die Ausstellung bei C/O BerlinTheatralität des Alltags
Wie schaut einer auf die Welt, die er seit sechzig Jahren nahezu täglich fotografiert? Es muss eine starke Triebkraft geben, abertausenden Fotos immer wieder neue hinzuzufügen. Daidō Moriyama, 1938 im japanischen Osaka geboren, scheint im besten Sinne ein Besessener zu sein. Er verlässt das Haus nicht ohne seine Kamera. Was ihn interessiert, da hält er drauf. Manisch klickt er sich durch den Alltag, schaut oft nicht einmal durch den Sucher und fängt so das Leben um ihn herum unverstellt ein. Dabei tritt der Fotograf, soweit es nur geht, hinter die Arbeiten zurück. Bescheidenheit, Beobachtungslust und eine gewisse Demut gegenüber dem Eigenleben der Kamera haben Moriyama zu einem ganz Großen seiner Zunft geformt.
Am Anfang seiner beispiellosen Karriere stehen Auftragsarbeiten für Magazine. Moriyamas feinfühlige Theaterimpressionen entfalten bis heute einen ungebrochenen
Zauber. So wurde die Neuauflage des Bildbandes »Japan – ein Fototheater«, der vor fünfzig Jahren auf der Photokina in Paris für Furore sorgte, von der internationalen Fotogemeinde sehnsüchtig erwartet. Kaum ein Fotograf hat so viel publiziert. Von Anbeginn bevorzugte Moriyama Zeitschriften, Kataloge und Fotobücher, über hundert sind es insgesamt.
In seinem Atelier in Tokio hängt nicht ein einziges Foto. In einer seiner Ausstellungen stand nur ein Fotokopierer im Raum, und das Publikum konnte sich eigene Fotobücher zusammenheften. Moriyamas Credo: Die Bilder gehören dem Betrachter. Der Fotograf thematisiert die Reproduzierbarkeit von Bildern, ihre Verbreitung und ihren Konsum und setzt auch sein eigenes Bildarchiv in immer neue Zusammenhänge.
Wie stellt man ein solches Œuvre angemessen aus? Moriyama hat die Konzeption und Entstehung der Schau – die erste in
Europa überhaupt – von Tokio aus begleitet, sein Neffe war ein wichtiger Berater vor Ort in Berlin. Angesichts der Materialfülle dauerte allein die Vorbereitung, in enger Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Kurator Thyago Nogueira, drei Jahre. Entstanden ist eine Retrospektive mit rund 250 Werken, die schlüssig herausarbeitet, wie Moriyama zum Meister der Straßenfotografie reifte und die Fotokunst weit über Japan hinaus prägte.
Schon bald nach der Theaterserie der 1960erJahre machte sich der junge Fotograf von Auftraggebern frei und streifte, nur seinen Eindrücken verpflichtet, durch die Gegend, fasziniert von der Theatralität des Alltags. Mit größter Neugier an kleinsten Details suchte er den magischen Augenblick festzuhalten. Ein Treffen mit Andy Warhol änderte dann alles. Fortan interessierte Moriyama, wie man mit Bildern die Gesellschaft reflektieren kann. Fast
Daidō Moriyama bei C/O Berlinbeiläufig erzählen seine Fotografien von einer Zeitenwende, der Verwestlichung der japanischen Gesellschaft, dem Anbruch der Konsumkultur. Ohne eine eindeutige politische Position thematisiert er Entfremdung, Verlust, die dunklen Seiten dieses neuen, amerikanisch geprägten Japans. Und nichts, was sein geschulter Blick des Festhaltens für würdig erachtet, langweilt, nichts wirkt beliebig.
Moriyamas Stil »are, bure, boke« (körnig, verwackelt, aus dem Fokus) war prägend für eine ganze Generation von Fotografen. Er experimentierte mit Vergrößerungen, Fragmentierungen und Bildauflösungen. Sein künstlerischer Pioniergeist und die visuelle Intensität gelten als wegweisend. In der von Instagram geprägten Bildwelt heutiger Tage, dominiert von durch Filter veränderten Fotos, ist es eine Wohltat, dieser authentischen (hauptsächlich) SchwarzWeißFotografie zu begegnen. Die überzeugende Ausstellungsgestaltung hebt chronologisch die verschiedenen Schaffensphasen durch kluge Inszenierungen voneinander ab. Unfallserien der 1970erJahre sind jeweils mit ausführlichen Erklärungen genau verortet, Fotocollagen, unter anderem von der Leuchtreklame am Times Square, erscheinen als raumgreifende Bildinstallationen. Moriyamas Alter Ego, ein struppiger, mürrisch dreinblickender Straßenköter – meist als metaphorisches Selbstporträt gedeutet –, taucht mehrfach auf, so wie auch der Künstler das ikonische Foto immer wieder in verschiedene Werke integrierte. Dutzende noch nie zuvor ausgestellte Magazine und Fotobücher, in Vitrinen übersichtlich ausgebreitet, illustrieren Moriyamas Vorliebe für die gedruckte Fotografie. Am Ende der Schau kann man diverse Originale durchblättern.
Text GABRIELE MIKETTA
FOKUS
OPEN AIR
1 Festival –100 Events
Auch 2023 feiert das Kultursommerfestival vom 24. Juni bis zum 3. September die vielseitige kulturelle Landschaft Berlins mit den Besucher*innen gemeinsam – umsonst und draußen, für alle, jeden Tag an einem anderen Ort in ganz Berlin und zusammen mit Partner*innen aus allen Kultursparten, Stadtteilen und Communitys. Zentrale und dezentrale Plätze, Hinterhöfe und Grünflächen zwischen Hochhäusern verwandeln sich in städtische Freiräume für das Publikum von Konzerten, Theater und Tanz, Lesungen, Talks und Installationen.
In diesem Jahr legt das Kultursommerfestival einen Schwerpunkt auf Wiedersehen und Entdeckungen: In Nachbarschaften und an besonderen Orten ermöglichen Veranstaltungen andere Begegnungen und Beziehungen zwischen Kultur und Publikum. Um ihre Kunst allen frei, kostenlos und unbeschwert zugänglich zu machen, siedeln die Kulturschaffenden ihre Präsentationen im öffentlichen Raum an. Etablierte Institutionen und auch die Akteur*innen der freien Szene schaffen neue Verbindungen zwischen KiezBewohner*innen und Gästen. Ein dezentrales Beispiel für einen solchen offenen Begegnungsort findet sich in Hellersdorf: Die neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) betreibt dort seit 2014 die »Station urbaner Kulturen«, wo Künstler*innen und Anwohner*innen ihr Umfeld zwischen Brachen, Plattenbauten und Geflüchtetenunterkunft gemeinsam gestalten. Auf dem »Place Internationale Hellersdorf« – einer Grünfläche am UBahnhof Cottbusser Platz (U5) –entsteht am 27. August eine Freiluftausstellung über das Recht auf Stadt. Diverse Nachbar*innen – langjährige Bewohner*innen ebenso wie zugezogene – beteiligen sich daran. Ein anderes Beispiel: Im Zentrum Berlins, im Schlüterhof des Humboldt Forums, bringt die Stiftung Stadtmuseum im Kontext von Berlin Global unabhängige starke Stimmen und Sounds mit der Comedienne Enissa Amani, dem Rapper Ezhel und DJ Ipek zur Geltung.
Die bedeutende Museumslandschaft Berlins ist ebenfalls Teil des Festivals. Beispielhaft ist das Festivalfinale am 3. September am Kulturforum. Die dortige Allianz aus Museen, Bibliotheken, Forschungsstätten und Philharmonie lädt auf entstehende und neu zu
entdeckende Grünflächen ein. Alle beteiligten Institutionen gestalten ihr Umfeld gemeinsam rund um den ScharounPlatz bis hin zum Tiergarten in die eine und bis zum Landwehrkanal in die andere Richtung . Der »Sound der Kooperation« ist Programm im thematischen Schwerpunkt »Sounds of Berlin« der Langen Nacht der Museen am 26. August. Das Georg Kolbe Museum beispielsweise macht neben vielen anderen Museen ein KultursommerAngebot unter freiem Himmel mit »Missy meets Kolbe«: Sonja Eismann, die Herausgeberin des »Missy Magazine«, spricht mit der Schauspielerin Banafshe Hourmazdi über Tilla Durieux, Berliner Ikone, legendärer Schauspielstar und politisch engagierte Zeitgenossin der 1920erJahre. Die Staatlichen Museen in der Kolonnadenbar auf der Museumsinsel, der Hamburger Bahnhof, das Jüdische Museum, die Uferhallen und Uferstudios und viele weitere Partner*innen bieten weitere markante KultursommerfestivalMomente.
Es geht darum, alle zueinander einzuladen – mit kulturellen Anregungen und zugleich mit Angeboten für die gemeinsame Ferienzeit. Das Festival ist auf Bewohner*innen wie Zugezogene, auf Reisende, auf Geflüchtete, Hiergebliebene und auf Berliner*innen, die sich gemeinsam engagieren, ausgerichtet. Alle Altersgruppen, vielsprachige Städter*innen und Gäste treffen sich unter freiem Himmel an den Berliner Hotspots, an InsiderPlätzen und anderen »dritten Orten«. Diese zeichnen sich im KultursommerRampenlicht durch eine besondere Aufenthaltsqualität aus. Der bekannte pinkweiße KultursommerfestivalWirbel wird im Stadtgebiet wieder auf Liegestühlen und Kissen präsent sein. Und der beliebte EisTruck tourt mit kostenfreier Erfrischung durch die Stadt.
Text JULIA NAUNIN, CoLeitung
Kultursommerfestival Berlin 2023
Lange Nacht der Museen
Wenn die ganze Stadt vibriert
Jedes Jahr am letzten Augustwochenende lockt die Lange Nacht der Museen Zehntausende Berliner und Berlinerinnen in die Museen der Stadt. Menschen sammeln sich in Trauben vor den Zeugnissen jahrtausendealter Kulturen oder vor aufregender Kunst, erinnern sich dank Plakaten, Fotos und ikonischer Objekte an bedeutende Ereignisse. Das alles findet hinter hohen Türen und dicken Mauern statt oder sogar in modernen Schatzkammern wie dem Stabi Kulturwerk, wo eine Treppe ins schwarze Allerheiligste hinabführt. Aber da es Spätsommer ist, spielt das Draußen eine große Rolle: Auf dem Weg von Museum zu Museum tauchen die Nachtschwärmer in die bunte Stadt und die laue Luft ein. Es gehört zur Leichtigkeit und besonderen Stimmung dieses Museumsabends, dass auch Vorplätze, Gärten und Höfe voller Menschen sind. Vor dem PalaisPopulaire wird eine mobile Konzertbühne errichtet, vor C/O Berlin verbreiten Sängerinnen Sommerstimmung, das Deutsche Technikmuseum macht seine sonst ungenutzte Ladestraße zum Experimentierlabor. Bei der nächtlichen Führung durch die StasiZentrale erscheint der monströse Komplex an der Normannenstraße, architektonischer Ausdruck der bürokratisch organisierten Überwachungsmaschinerie, im Lichtkegel einer Taschenlampe.
In der Langen Nacht am 26. August 2023 wird es in Berlins Museen klingen, zwitschern, rauschen, wummern – drinnen und draußen. »Sounds of Berlin« ist das diesjährige Thema. Im Museum Pankow werden die Drehorgeln vorgeführt, die italienische Einwanderer um 1900 bauten und in die ganze Welt exportierten. Das Jüdische Museum lädt zur Milonga in seinen Glashof, mit jüdischem Tango von Osteuropa bis Buenos Aires. Das DDRMuseum fordert zum Musikquiz rund um Hits und Arbeiterlieder heraus, und das Museum für Kommunikation verwandelt seinen Lichthof in eine WrestlingArena, in der der feministische Diskurs vom Performancekollektiv Hannsjana actionreich und wortgewaltig ausgetragen wird. Im MusikinstrumentenMuseum steht wie jedes Jahr um Mitternacht ein Stummfilmklassiker auf dem Programm: diesmal Walter Ruttmanns BerlinPorträt »Sinfonie einer Großstadt« von 1927, das auf der berühmten MightyWurlitzerTheaterorgel begleitet wird.
Das Kultursommerfestival sorgt dafür, dass die Museumsinsel, traditionell das Zentrum der Langen Nacht der Museen, von animierenden Sounds widerhallt. N.U. Unruh (Einstürzende Neubauten) trommelt unter dem Motto »Beating the Drum« am Humboldt Forum zusammen mit dem Publikum, eine Marching Band zieht quer durch den Lustgarten, die Säulen des Kolonnadenhofs werden zum Rahmen einer musikalischen Performance – es wird eine klangvolle Sommernacht!
Text ANNETTE MEIER, Projektleitung
Draußenstadt
Raus ins Vergnügen!
Berlins Kultur macht im Sommer keine Pause. Mit jährlich über 3000 Veranstaltungen ist der Kalender von Draußenstadt, der Plattform für Berliner Stadtkultur im Freien, längst die erste digitale Anlaufstelle für OpenAirFans.
Auch die Berliner Museen garantieren eine abwechslungsreiche Freiluftsaison und locken in ihre malerischen Innenhöfe, Gärten, Parks und die urbane Umgebung. Ein Highlight ist das Festival Sonic Pluriverse im Haus der Kulturen der Welt, das unter dem Motto »Congorama« LiveKonzerte, DJSets, eine SommerOpenAirReihe, Listening Sessions, Workshops und Vorträge bündelt. Familien können sich auf die WorkshopAngebote im Museumsdorf Düppel und im Museumspark des Deutschen Technikmuseums freuen, dort das Fermentieren lernen oder Klackbänder gestalten.
Ursprünglich konzipiert, um die coronabedingten Einschränkungen im Kulturbereich abzufangen und mehr Teilhabe zu ermöglichen, umfasst das von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt angestoßene Projekt auch Förder und Finanzierungsprogramme. Dazu gehören der »Call for Action«, der »Berliner Projektfonds Urbane Praxis« und bezirkliche Förderangebote. Auch der Kultursommer wird im Rahmen der Initiative Draußenstadt veranstaltet. Von Juni bis September findet jeden Tag an überraschenden und spannenden Orten ein kostenfreies OpenAirProgramm statt.
Weitere Programme im Freien ganzjährig unter draussenstadt.berlin
KultursommereventAUSSTELLUNGEN
Auswüchse des Begehrens
FàbregasInstallation im historischen Tragwerk des Hamburger BahnhofsDie biomorphen Skulpturen und Installationen von EVA FÀBREGAS führen ein Eigenleben
Die Ausstellung im Hamburger Bahnhof befasst sich mit Fragen der Intimität, des Begehrens und der Zugänglichkeit. Die Installation aus den charakteristischen weichen, biomorphen Skulpturen geht eine enge Verflechtung mit der industriellen Architektur ein. Sie wächst aus den Seitengängen an den skelettartigen Stahlträgern hoch, umschlingt die Bögen und haucht der Halle eigenes Leben ein. Die nach dem Metall greifenden Tentakel vibrieren zudem zart, und es ist nicht ganz klar, ob sie Auswüchse eines gemeinsamen Körpers sind oder ein sich aggressiv ausbreitendes Eigenleben führen. Sie spielen auf biologische Prozesse und Rhythmen an, die mit Verdauung, Inkubation und Metamorphose, aber auch mit geschwürartigem Wachstum verbunden sind. Die hellen, vibrierenden Divertikel an den Säulen scheinen diesen Metabolismus aufzunehmen, einen eigenen hinzuzufügen und zu atmen. Aber sie durchschneiden den Ausstellungsraum auch und erzeugen den Eindruck einer barocken, in die Tiefe gestaffelten Bühne.
In den Skulpturen Fàbregas’ wird Luft zu einem greifbaren Material, indem sie Volumen und Formen schafft, die die Wahrnehmung von uns selbst und von Raum verändern. Die Materialien und Bewegungen bleiben dabei jedoch künstlich wie prothetische Hilfsmittel, die das Leben erleichtern oder gar ermöglichen. Diese Körpererweiterungen fordern Vorstellungen von anderen möglichen Körpern, von unerwarteten Formen des Begehrens und der Affekte heraus.
Ab Anfang Juli ist in der historischen Haupthalle des Hamburger Bahnhofs die bislang größte Einzelausstellung der Künstlerin Eva Fàbregas zu sehen. Ihre monumentale, ortsspezifische Installation erweitert die Grenzen des Skulpturalen und lädt das Publikum zu einem sinnlichen Raumerlebnis ein: Organisch anmutende Objekte verwandeln die von mächtigen industriellen Stahlträgern geprägte Bahnhofsarchitektur in einen scheinbar gewachsenen Raum. Die Installation erweckt die Vorstellung, ein großer, lebender Organismus zu sein, der einer eigenen libidinösen Logik folgt – eine kreatürliche »Maschine des Begehrens« (Gille Deleuze) mit womöglich unkontrollierbarem Wachstum.
Eva Fàbregas, geboren 1988, studierte bildende Kunst in ihrem Geburtsort Barcelona sowie in London, wo sie auch lebt. Mit ihren objektbasierten Werken, großformatigen Installationen, Zeichnungen und Soundarbeiten thematisiert sie Mechanismen des Verlangens und die Erotik von Dingen. Ihr Interesse an Affekten und die Analyse von Gefühlen setzt sie in Kunstwerken um, die sich mit Wellness und Entspannungskultur, Psychodramen und therapeutischen Methoden in den sozialen Medien sowie mit der sich dazu entwickelnden Marketingindustrie auseinandersetzen.
Fàbregas’ Objekte und Installationen, die aus dehnbaren, oft aufblasbaren Materialien bestehen, erinnern an organische Kreaturen, Knollen, Schläuche und Membranen. Durch die Verbindung von weichen, hautähnlichen Materialien, hellen Farben und biomorphen Formen, von raumbezogenen Installationen und Akustik erzeugt Eva Fàbregas synästhetische Effekte. Ihre Skulpturen rühren an, lösen den Wunsch nach Berührung aus und befremden doch gleichzeitig; die Wirkung der Objekte ist ambivalent – nährend oder parasitär, friedlich oder bedrohlich, unschuldig oder pervers. Der Moment der Überraschung und Unsicherheit, der sich beim Aufeinandertreffen von scheinbar Bekanntem und zunächst Unerklärlichem oder gar Bedrohlichem einstellt, interessiert die Künstlerin: Mit ihrer Kunst hinterfragt sie das Denken in gewohnten Gegensätzen wie natürlich – künstlich, belebt – unbelebt oder menschlichnicht menschlich. Die Werke vermitteln, wie Morphologie und taktile Beschaffenheit von Materialien die Gestaltung von Emotionen, Wirkungen und Wünschen beeinflussen.
Textur, Form, Farbe, Maßstab, die in stetem Wandel begriffenen, scheinbar lebendigen Skulpturen und die so erzeugte Sinnlichkeit der Installation im Hamburger Bahnhof verführen das Publikum zu einem Denken durch Berührung und sensorische Interaktion. Die Skulpturen fordern dazu auf, ihre Nähe zu suchen, unseren Atem mit dem ihren zu synchronisieren, ihre Haut als Verlängerung unserer eigenen zu empfinden, in einem Akt des Miteinanders, der ebenso schön wie seltsam ist. Sie laden dazu ein, eine somatische Beziehung zur Kunst herzustellen, Gemeinschaften zu bilden und die Vorstellungskraft zu nutzen, um das andere zuzulassen.
Text ANNA-CATHARINA GEBBERS, KuratorinSie scheinen zu atmen, zu fühlen, zu wachsen:Eva Fàbregas
Stoß vom Sockel
OTTO VON BISMARCK war schon zu Lebzeiten
ein Denkmal, heute kann man seinem Andenken im öffentlichen Raum kaum entkommen. Doch die Bewertung seiner Person hat sich grundlegend verändert
Reichskanzler Otto von Bismarck wurden bereits zu dessen Lebzeiten über dreißig Denkmäler gewidmet – obwohl er selbst von dieser Art der Würdigung nicht allzu begeistert schien. Zumindest äußerte er sein Unbehagen in Bezug auf die erste BismarckStatue von 1877 in Bad Kissingen. Bei einer Sitzung des Deutschen Reichstags im November 1881 behauptete er: »Was Statuen anbelangt, so muß ich doch sagen, daß ich für diese Art von Dank gar nicht empfänglich bin. Ich erlebe das in Kissingen, es stört mich in Promenadenverhältnissen, wenn ich gewissermaßen fossil neben mir dastehe.« In anderer Hinsicht arbeitete er jedoch durchaus daran, seine Selbstinszenierung als Schmied des geeinten Deutschen Reiches zu verbreiten, und gab ikonografische Topoi mit militärischen Emblemen vor, um als Kämpfer der Nation wahrgenommen zu werden.
Nach Bismarcks Tod vervielfachte sich das zumeist steinerne Gedenken an den »Eisernen Kanzler« im öffentlichen Raum: Im Jahr 1906 waren es schon über 300 Standbilder, Säulen, Obelisken und Türme; heute sind über 700 Erinnerungsorte inklusive Straßen und Ortsbezeichnungen dokumentiert. Auch in der Alltagskultur kam die nationale Kultfigur als lukratives Merchandising gut an, vom Heringsglas bis zum Bierhumpen wurde jede Menge Bismarck verkauft. Selbst als Kettenanhänger oder Christbaumkugel hing sein charakteristischer Kopf nicht unbedingt ironisch gemeint an Hälsen, Uhren und Zweigen. Die Nutzung des Namens für die Bewerbung von Getränken (»Bismarckquelle«, »Bismarck Bräu«, »Fürst Bismarck Doppelkorn«) ist bis heute ungebrochen.
Bierkrug »Fürst Bismarck«, um 1890
BismarckStreit. Kultfigur und Denkmalsturz in einer interaktiven Ausstellung.
bis 1. April 2024 Zitadelle Spandau zitadelleberlin.de
Doch gab es von Beginn an kritische, spöttische und auch aggressive Reaktionen auf die glorifizierende Erinnerung. Die heutige »Denkmalstürmerei« gegen Bismarck ist nicht neu. Gründe zur Problematisierung des BismarckKults, der sich schnell von der realen Person entfernte, gab und gibt es viele. Amüsant wirken sicherlich die Pamphlete gegen die ästhetischen Zumutungen durch BismarckTeller, Vasen und Aschenbecher. Doch insbesondere die Nutzung der KanzlerBiografie für eine nationalistische Überhöhung eines 1871 geeinten – und sich kriegerisch ausdehnenden –Deutschlands steht in Verbindung mit dem bis heute anhaltenden Unbehagen auf der einen Seite und der empörten Verteidigung seines Andenkens auf der anderen Seite. Aktuell ist es hauptsächlich Bismarcks Rolle im deutschen Kolonialismus, die zu Auseinandersetzungen führt.
Das Ausstellungsprojekt »BismarckStreit« versteht sich als Diskussionsbeitrag zur aktuellen Debatte auf den drei Ebenen Geschichte, Kunst und Interaktion: Es werden historische BismarckObjekte gezeigt und Informationen bereitgestellt über Bismarck als Person, vor allem aber zur Geschichte der – zum Teil gestürzten –Denkmäler. Eine Verknüpfung gibt es dabei auch zur Ausstellung »Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler«, in der die verlorene BismarckBüste der Siegesallee mit einer Intervention thematisiert wird. Die spielerischen und doch ernsthaften künstlerischen Arbeiten zeigen die vielen Möglichkeiten, auch außerhalb des Museums und jenseits von Zerstörung mit BismarckDenkmälern umzugehen. Der portugiesische Künstler Márcio Carvalho beschäftigt sich mit Praktiken des Erinnerns und wie diese das individuelle und das kollektive Erinnern beeinflussen. In seiner Zeit in Berlin stellte er fest, dass der BismarckMythos besonders nachhaltig im kollektiven deutschen Gedächtnis verankert ist und setzte sich mit dem Aspekt des lange vergessenen und wenig sichtbaren Kolonialismus auseinander. Sein Gemälde sowie seine massenhaft reproduzierbaren BismarckKöpfe – letztere können bei Begleitveranstaltungen auch angefasst und benutzt werden – zeigen die auszubauende Perspektiverweiterung, in der auch nichtdeutsche Erinnerungen an deutsche Geschichte eine Rolle spielen.
Monumental Shadows ist eine Gruppe, die das Andenken an Personen der Kolonialzeit buchstäblich vom Sockel holt. Im Oktober 2021 kleidete sie das BismarckNationaldenkmal im Berliner Tiergarten in Papier, bemalte die Figur und ließ die Abformung schließlich symbolisch stürzen, um einen öffentlichen Diskurs über den Zusammenhang von Kolonialismus und heutigem Rassismus anzustoßen. Die sechs Meter hohe Papierfigur und der Film der Performance sind in der Ausstellung zu sehen.
Die deutschpolnische Künstlerin Georgia Krawiec befasst sich in ihren Arbeiten mit den Themen Identität, Überwachung der Gesellschaft, Vergänglichkeit und Entschleunigung. Ihre Arbeitsweise zeichnet sich besonders durch den manuellen Eingriff in die fotografischen Prozesse aus. Krawiec beschäftigt sich mit analogen und hier vor allem mit frühen Formen der Fotografie wie der naturwissenschaftlichen Cyanotypie, die sie auch bei den Eicheln aus nach dem Reichskanzler benannten BismarckWäldchen anwendet. Ihre Arbeiten sollen den Blick auf die Allgegenwart Bismarcks selbst in der Natur wenden.
Die Hamburger Gruppe Projektion Bismarck befasst sich in intensiven, aber nicht invasiven Bespielungen des riesigen und massiven BismarckDenkmals im Elbpark mit den Möglichkeiten einer dauerhaften Debatte im öffentlichen Raum. Die Gruppe möchte erreichen, dass sich die Auseinandersetzung mit Bismarck nicht nur im geplanten Sockelmuseum und einem möglichen »Gegendenkmal« erschöpft, sondern dass wechselnde kritische Inhalte auf den Körper des Eisernen Kanzlers projiziert werden, temporär oder stetig ab Einbruch der Dunkelheit. Das breite Spektrum ihrer Arbeiten, das politische, aber auch poetische Themen aufgreift, wird ebenfalls als Projektion in der Ausstellung zu sehen sein – zusätzlich zu weiteren humorvollen und doch kritischen kleineren Werken.
Einen großen Raum nehmen die für das Publikum zur Verfügung gestellten Angebote ein, die eigene Meinung kreativ kundzutun. Vom GuerillaKnitting über DenkmalKommentare bis zur Abstimmung über Umbenennungen von BismarckStraßen wird ermöglicht, Streit auf konstruktiver Ebene zu führen und die Ausstellung als Ort der demokratischen Debatte weiterzuentwickeln.
Text URTE EVERT, Leiterin des Museums
Basecap statt Pickelhaube
Mehr als 400 Bismarcktürme wurden im 19. Jahrhundert geplant, rund 240 wurden gebaut. Ausgerechnet Berlin, wo Otto von Bismarck als preußischer Ministerpräsident und Reichskanzler wirkte, hat keinen. Macht nichts. Eine Liste für Verehrer und Verächter.
Bismarckdenkmal
Eiserne Fans können dem Reichskanzler a. D. am prosaischen Bismarckstein in Weißensee huldigen oder im Tiergarten. Am nördlichen Rand des Großen Sterns steht das neobarocke BismarckNationaldenkmal von Reinhold Begas. Es zeigt Bismarck klassisch: heroisch aufgesockelt im Offiziersmantel samt Säbel und Pickelhaube.
Bismarckstraße
1500 Meter lang erstreckt sich die Bismarckstraße schnurgerade vom SophieCharlottePlatz zum ErnstReuterPlatz. Eine Umbenennung wird in der 2021 vom Land Berlin beauftragten Studie zu »Straßen und Platznamen mit antisemitischen Bezügen« nicht empfohlen: Bismarck habe zwar »intensive Kontakte in das antisemitische Lager des Kaiserreichs« gehabt, sei aber selbst »nicht für antisemitische Äußerungen bekannt«.
Bismarckzimmer
Das Bismarckzimmer im Auswärtigen Amt gibt es nicht mehr, dabei hatte Bismarck die Institution einst gegründet. Doch die Bundesministerin des Auswärtigen Annalena Baerbock fühlte sich mit dem Namen des Besprechungsraums unwohl, benannte um und wertete es auf: Nun ist das Zimmer ein Saal und der Deutschen Einheit gewidmet.
Bismarckhering
Von Bismarck keine Ahnung (zumindest bis vor wenigen Wochen) hatte Baerbocks Parteigenossin Emilia Fester. Jedenfalls gab sich die grüne Bundestagsabgeordnete in einem Fernsehquiz mit dem zet de effigen Titel »MrWissen2go« auf die Frage nach einem Mann, »nach dem sogar ein Hering benannt wurde«, die Blöße: »Ach was, wirklich? Der war Kanzler? Witzig!« Es gibt unsympathischere Wissenslücken.
Bismarcksänger
Militarismuskult? Sozialistenverfolgung? Kolonialismus? Wer lieber alles über den Eisernen Kanzler vergessen möchte, dem sei das erste Soloalbum von Otto von Bismarck empfohlen: »Zu viele Erinnerungen«. Der SingerSongwriter trägt Basecap statt Pickelhaube und besingt Berlin nicht als Preußenmetropole, sondern als »abgefuckteste Stadt« der Welt.
Bismarckpalme
Ein Nachfahre Ottos räumt mit dessen Nachhall in der Gegenwart wie der eigenen Biografie gerade auf: der Künstler Julius von Bismarck. Seine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus bismarckscher Prägung wird zurzeit in der Berlinischen Galerie ausgestellt und – auch museumsintern – kontrovers diskutiert.
EINBLICKE
Ausstellung »Ein Jahr Krieg« in der LiebermannVilla. Yurii Stefanyak, Leere Vitrinen im KhanenkoMuseum in Kyiv, Februar 2022Kulturgutschutz an der Front
Was können akademische und museale Kreise für die UKRAINE tun? Wichtig wäre es, die eigenen Ansichten zu überdenken
Das Museum in
(im Osten des
Charkiw) zeigte die reiche Geschichte und Kultur der Stadt und ihrer Umgebung. Am 25. April 2023 wurde das Gebäude von Russland beschossen und zerstört, die Sammlung ging fast vollständig verloren. Zu diesem Zeitpunkt bereitete sich das Museum gerade aktiv auf die Evakuierung vor. Die Direktorin und eine Mitarbeiterin kamen bei dem Angriff ums Leben, weitere Beschäftigte wurden schwer verletzt.
Wenn man über das Schicksal der ukrainischen Kultur im Krieg spricht, konzentriert man sich zumeist auf Verluste, Zerstörungen, Plünderungen und andere Verbrechen. Das ist richtig und notwendig. Die immense Zerstörung von Museen, Archiven, Bibliotheken, religiösen und anderen sozialen und kulturellen Orten, die für die ukrainische Identität, Sprache, nationale Kultur und Traditionen von zentraler Bedeutung sind, ist eine Folge des aggressiven russischen Angriffskrieges, eines Krieges gegen Souveränität und Staatlichkeit. Dennoch darf man nicht vergessen, dass das Kulturerbe nicht nur ein »Opfer« ist, das missbraucht und zerstört wird. Es bringt vielmehr auch ermutigende und inspirierende Lösungen hervor, mit den enormen Herausforderungen umzugehen.
Für Museumsbeschäftigte sind die fünf Hauptaufgaben der Museen – Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen, Vermitteln – eine Selbstverständlichkeit. Doch seit Beginn der Invasion erfahren diese Arbeitsbereiche in den ukrainischen Museen eine enorme Veränderung und Erweiterung. Die Mitarbeiter*innen reagierten mit einer erstaunlichen Selbstorganisation. Schon in den ersten Tagen entstanden Initiativen etwa zur Unterstützung betroffener Einrichtungen und Kolleg*innen, zur Schadensermittlung, zur digitalen Bewahrung und Sicherung, zum Laserscanning und zur Bekämpfung des illegalen Handels, um nur einige zu nennen.
Darüber hinaus übernahmen die Museen eine wesentliche Rolle bei der Dokumentation des Krieges: Sie sammelten Artefakte, dokumentierten Kriegsverbrechen, führten Expeditionen durch und sammelten
mündliche Erzählungen von Überlebenden der Besatzung. Die erste Ausstellung über das Kriegsgeschehen wurde in Kyiv nur drei Monate nach dem Ausbruch des Krieges im Mai 2022 eröffnet. Die Museen solidarisieren sich miteinander und halten zusammen, zeigen Mut im Kampf für ihre Werte, beweisen enorme Leistungsfähigkeit und Engagement für ihre Sache.
Wenn Museen trotz aller Widrigkeiten geöffnet blieben, übernahmen sie eine noch stärkere Funktion als Gemeinschaftszentren, fungierten als Luftschutzbunker und veranstalteten sogar Ausstellungen in Kellern. Institutionen, die gezwungen waren, ihre Türen vollständig für die Öffentlichkeit zu schließen, suchten zunehmend nach Möglichkeiten, die Gemeinschaften, deren Geschichte sie spiegeln, auf andere Weise zu unterstützen. Gleichzeitig blieb ununterbrochen die Sorge der Mitarbeiter*innen um die Familien und sich selbst sowie um die Kolleg*innen und Angehörigen, die das Land an der Front verteidigten.
Bereits seit etwa einem Jahr arbeite ich intensiv mit verschiedenen Museen in der Ukraine im Bereich des Kulturgutschutzes zusammen. Aus meiner Wahrnehmung heraus sehen die Kolleg*innen vor Ort die überstandenen Herausforderungen als eine große Chance, ihre Arbeit weiter auszubauen. Abgebaute Ausstellungen, die ständige Notwendigkeit der Priorisierung von Objekten für die Evakuierung – das Verpacken und Verstecken der Sammlungen ist nicht nur mit Schmerz und Bedauern verbunden. Die Situation wird als Gelegenheit betrachtet, die Sammlungen kritisch aus einer anderen Perspektive zu betrachten und die bestehenden Narrative, die unter
KUPIANSK ukrainischen Oblastdem Eindruch der eigenen Kriegserlebnisse geprägt werden, neu zu reflektieren. Die entstandenen Konservierungs und Bewahrungsinitiativen leisten schließlich einen enormen Beitrag zur Vernetzung der Museen und zu ihrer wechselseitigen Integration in eine gemeinsame Erinnerungslandschaft.
Gleichzeitig besteht ein großer Wunsch nach intensiverer Kommunikation, gemeinsamer Arbeit und Kooperationen mit Deutschland und anderen Ländern. Die Kolleg*innen in der Ukraine weisen außerdem auf den Bedarf an Beratung und Begleitung vor allem in der Kulturerbeverwaltung sowie Inventarisierung und Digitalisierung von Sammlungen hin. Beispielsweise wurde mit viel Begeisterung und Anteilnahme aufgenommen, dass die in Deutschland entwickelte Software für Inventarisierung und Veröffentlichung von Museumssammlungen museumdigital regionalisiert und ins Ukrainische und Russische übersetzt wurde. Die Beteiligung deutscher und internationaler Museumsinitiativen wird geschätzt und hat sich bewährt. Parallel dazu äußert sich das Bedürfnis nach der Aufarbeitung traumatischer Erinnerungen (auch im Zusammenhang mit diesem Krieg), schwieriger und schmerzhafter Vergangenheit und umstrittener Geschichten, einschließlich der Reflexion über die repressive sowjetische Vergangenheit.
Das wohl wichtigste, was die akademischen und musealen Kreise jetzt für die ukrainische Kultur und die ukrainischen Museen tun können, ist ein tiefgreifendes Überdenken der eigenen Ansichten. Der Blick auf die Ukraine ist jahrhundertelang vom enormen Einfluss und Druck des russischen Staates geprägt worden, der die ukrainische Identität verleugnete. Es ist notwendig, nach den Wurzeln der eigenen Ansichten zu suchen, sie kritisch zu hinterfragen. Man sollte sich der ukrainischen Subjektivität bewusst sein und die ukrainische Sichtweise respektvoll und aufmerksam wahrnehmen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Befreiung, die Demokratisierung und die Entmilitarisierung am Ende des Zweiten Weltkriegs nur durch eine vollständige militärische Niederlage des Aggressors und eine entschlossene Anstrengung im Kampf auf der anderen Seite möglich war. Wir sollten über den Gebrauch der Sprache und ihrer Formen nachdenken und ukrainische Namen richtig transkribieren; uns informieren und natürlich daran denken, dass es in der Wissenschaft auch um Menschlichkeit und Empathie geht.
Text EKATERINA MALYGINA, Digital Consultant & Equipment Coordinator bei SUCHO (Saving Ukrainian Cultural Heritage Online)
Anastasia Pasechnik und Victoria Berg, »Alone With Myself« (Alleine mit mir selbst), 2022 zu sehen in der Ausstellung »Goldnarben« in Schloss Schönhausen
UKRAINISCHE KUNST
in Berliner Museen
Liebermann-Villa am Wannsee
»Ein Jahr Krieg. Die leeren Säle des KhanenkoMuseums in Kyiv« bis 3. Juli 2023
Museum Reinickendorf
»How Do We Turn Salt into Sugar? Anna Scherbyna, Uliana Bychenkova & Guests« bis 13. August 2023
Museum Ephraim-Palais
»Motherland. Ukrainische Künstler:innen hinterfragen Heimat« bis 10. September 2023
Centrum Judaicum
»Through Our Lens. Berlin aus der Perspektive ukrainischer Geflüchteter« bis 8. Oktober 2023
Schloss Schönhausen
»Goldnarben. Künstler:innen der Ukrainian Cultural Community« bis 31. Oktober 2023
Bode-Museum
»Timeless. Contemporary Ukrainian Art in Times of War« bis 17. März 2024