WELTGEIST IN ZÜRICH
Die Aufklärung erreicht Zürich Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Kleinstadt wird zu einem gesellschaftlich-kulturellen Hotspot – zu einem eigentlichen Limmat-Athen, das viele Geistesgrössen hervorbringt und anzieht. Scheuchzer, Bodmer, Lavater, Füssli oder Pestalozzi prägen die neue Epoche der Vernunft und tragen ihre Ideen bis in die geistigen Hauptstädte Europas. Aber auch in Winterthur und auf der Landschaft werden die neuen Ideen leidenschaftlich diskutiert. Jedoch schafft es die Zürcher Aristokratie bis zum Einmarsch der Franzosen 1798 nicht, das mittelalterliche System der Zunfherrschaft zu reformieren. Die Autoren lassen Ereignisse, Schauplätze und Figuren dieser Zeit des Auf- und Umbruchs lebendig werden.
François G.. Baer Yves Baer
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François G. Baer Yves Baer
WELTGEIST ¨ IN ZURICH Ereignisse, Schauplätze und Lichtgestalten zur Zeit der Aufklärung
ISBN 978-3-907291-73-3
9 783907 291733 www.nzz-libro.ch
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François G. Baer Yves Baer
WELTGEIST IN ZÜRICH Ereignisse, Schauplätze und Lichtgestalten zur Zeit der Aufklärung
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Impressum Konzept: François G. Baer / Yves Baer
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Texte: François G. Baer Yves Baer Gestaltung: François G. Baer Lektorat: Regula Walser Korrektorat: Ruth Rybi Satz und Bildbearbeitung: toolbox Design & Kommunikation GmbH, Zürich Druck und Einband: Eberl & Kösel GmbH, Altusried-Krugzell
Die Autoren danken Peter Aisslinger und Dr. Nicola Behrens, Stadtarchiv Zürich, für ihre kritische Durchsicht und wertvollen historischen Hinweise. Für allfällige Irrtümer sind ausschliesslich die Autoren verantwortlich. Dr. Jochen Hesse, Leiter der grafischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich danken wir für die bildnerischen Impulse bei der Bildersuche. Folgende Institutionen haben verdankenswerterweise die Veröffentlichung dieses Buchs mit einem Produktionszuschuss ermöglicht:
ISBN 978-3-907291-73-3 © 2022 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel. Alle Rechte vorbehalten. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. ddb.de abrufbar.
Else v. Sick Stiftung
www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
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Inhalt 1698–1798 1698 1700 1700 1705 1713 1714 1717 1718 1720 1721 1721 1723 1727 1730 1736 1738 1739/40 1740 1740 1741 1742 1744 1745 1745 1746 1747 1750 1755 1755 1756 1757 1759
Zürich zur Zeit der Aufklärung 8 Das neue Rathaus präsentiert sich selbstbewusst zwinglianisch 25 Zürich führt den gregorianischen Kalender ein 28 Die Zürcher Land- und Obervogteien um 1700 30 Von St. Peter in den ganzen Kanton 33 Die Verfassungsänderung zementiert den Status quo 36 Johann Jakob Scheuchzer findet Gott in der Natur 41 Die Bibliotheca civica insulae Tigurinae wird intellektueller 46 Mittelpunkt Rüden, Saffran, Zimmerleuten & Co 49 Der Gartenpavillon des Stockarguts gleicht einem 52 «Mini-Sanssouci» Johann Jakob Bodmer bewegt Studenten, zu ihrer eigenen 57 Berufung zu finden Johann Jakob Breitingers Sprachgefühl führt zu heftigen 62 Diskursen Als die Pulvermühle auf der Werd «durch ohngefehrde 67 Entzündung in die Lufft geflogen» Zürichs gute Geschäfte im Sklavenhandel 68 Das Neueste von Gestern: die Donnstags-Nachrichten 70 Ein Vermittler von Talenten: Johann Caspar Füssli 72 David Herrliberger und die Moden seiner Zeit 74 Eislaufen in der Jahrhundertkälte 78 Der Beckenhof 81 Johann Caspar Ulinger zeigt das geschäftige Zürich 84 Johann Balthasar Bullinger wird sesshaft 86 Jemand sein in Zürich und Winterthur: die Gesellschaften 90 Erdbeben, Uferbruch und Flutwelle 94 Hans Caspar Ulrich predigt am Fraumünster 96 Johann Ulrich Schellenberg malt die «Dame mit der 98 Perlenkette» Johannes Gessner bringt den Botanischen Garten zur Blüte 101 Johann Georg Sulzer systematisiert die Ästhetik für 104 Friedrich II. Die Genussmittel der Aufklärung: Tee, Kaffee, Tabak und 110 Kirsch Das Erdbeben von Lissabon verändert die Sicht auf Gott und die Welt 114 Von Heimarbeit, Fabriques, Geld, Banken und fremden 120 Diensten Salomon Gessner balanciert zwischen Idyllen und Geschäften 129 Ein Palais für die städtische Gesellschaft 135 Das Gasthaus Krone wird durch ein Palais ersetzt 141 5
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Johann Caspar Hirzel denkt über die Landwirtschaft nach 147 Johann Rudolf Schellenberg illustriert Sulzer und Lavater 152 Rousseaus Contrat social zirkuliert in Zürich 156 Johann Caspar Lavater schaut genau hin 161 Johann Heinrich Füssli trifft Winckelmann 166 Weisses Gold aus Kilchberg 170 Anton Graff wird Hofmaler in Dresden 174 Henri Meister: De l’origine des principes réligieux 178 Johann Heinrich Füssli wählt statt der Sprache die Malerei 181 Ärzte, Spitäler, das Waisenhaus und die Hygiene 186 Johann Heinrich Wüest malt den Rhonegletscher 190 Freiheiten in der Enge 193 Johannes Kölla malt in Stäfa 196 Susanna Gossweiler und Leonhard Usteri gründen die Töchterschule 198 1774 Salomon Schinz besteigt den Üetliberg 200 1775 Nackt im Zürichsee gebadet – Goethe, Klopstock & Co 204 1777 Johannes Werdmüller baut ein «maison de plaisance» am See 209 1778 In Winterthur entsteht die erste chemische Fabrik 212 der Schweiz 1779 Mandat und Ordnungen Unserer Gnädigen Herren 214 1780 Der Platzspitz – von der Allmend zum Lusthain 216 1780 Der Fall Waser – eine politische Abrechnung 220 1781 «Isch das nöd de Heiri Peschtalozzi?» 225 1782 Christoph Meiners schreibt Briefe über die Schweiz 231 1784 Ein Zentrum für Politik, Handel und Kultur 235 1788 Johannes Müller kartiert Zürich 238 1789 Johann Heinrich Lips auf «Entreprisen» in Weimar 240 1792 Anna Barbara Hess-Wegmann führt ein Tagebuch 242 1794 Obmann Füssli vermittelt trotz allem 247 1796 Ein Name, der für vieles steht: Escher von der Linth 253 1797 Goethe meint, der Wille des Volks äussere sich «hie und da in kleinen Unruhen» 260 1798 Paul Usteri revoltiert 263 1798 Salomon Landolt am Ende der Aufklärung 267 1799 General Masséna schreibt einen Brief 272 1898–1830 Nach dem Zusammenbruch des Alten Zürich 276 1761 1761 1762 1762 1763 1763 1766 1767 1770 1771 1772 1772 1773 1774
Glossar Personenregister Quellen und Literaturverzeichnis Bildnachweis
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Spiegelungen der Aufklärung
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1698–1798 Zürich zur Zeit der Aufklärung Jahrhundertwenden sind seit dem Jahr 1000, als der weitherum erwartete Weltuntergang nicht stattfand, auch Zeitenwenden und stehen bis heute für Veränderungen im praktischen, politischen und kulturellen Leben. So dringen denn am Ende des 17. Jahrhunderts Newtons Erkenntnisse in der Physik und Descartes rationales «Ich denke, also bin ich» ins allgemeine Bewusstsein und stärken den Glauben an die Vernunft; und Ende des 18. Jahrhunderts erschüttert die Französische Revolution weitherum die Gesellschaftsstrukturen, so auch die des Stadtstaats Zürich.
1648 fand mit dem Westfälischen Frieden das grosse Morden
und Brandschatzen ein Ende, das den ganzen Kontinent während mehr als 30 Jahren heimgesucht und ganze Landstriche zerstört und entvölkert hatte. Die Eidgenossenschaft war weitgehend unversehrt geblieben, ein labiles Gleichgewicht zwischen den protestantischen Stadtstaaten und den katholisch gebliebenen Urkantonen hatte die 13 Kantone zur aussenpolitisch äussersten Vorsicht geführt, um nicht in dieses unüberschaubare Kriegsgemenge hineingezogen zu werden. Ein Resultat dieses ersten gesamteuropäischen Vertragswerks war die Anerkennung der Eidgenossenschaft als Staatenbund mit republikanischer Struktur und definierten Grenzen, unter der Auflage, sich der Neutralität zu verpflichten. Was folgte, war eine rund 150 Jahre dauernde Zeitspanne, in der sich die beiden Stadtstaaten Bern und Zürich ihren eigenen und lukrativen Geschäften widmen konnten. Noch regierte in Frankreich um 1700 Louis XIV. mit absoluter Gewalt, und Europas Herrscherhäuser hatten diese Staatsform gerne übernommen, ermöglichte diese dem Adel und, nicht zu vergessen, dem katholischen Klerus bis anhin ungeahnte Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Prasserei. In den Zunftstädten Basel, Schaffhausen St. Gallen und Zürich hatten indes die Handwerker ihre Rechte bei der Wahl der Behörden behaupten können und pflegten einen rigiden Lebensstil, während in den alten Patrizierstaaten Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn die einst herrschende Minderheit sich durch Selbstergänzung der Räte mitsamt ihrem erblichen Besitz an der Macht hielten. Der Einfluss Frankreichs mit seinen Formen des gesteigerten Lebensgenusses der pri8
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vilegierten Stände und der Vielfalt der neuen und aufregenden kulturellen Leistungen wie die der Literatur, des Theaters, der Architektur oder der Malerei wie auch ihrer neu gegründeten Akademien der Wissenschaft und der Künste konnte aber auch das puritanisch gesinnte Zürich nicht kalt lassen. Handel bringt Wandel
Die Stadt Zürich war damals schon in ihrem Wesen eine offene Handelsstadt, die sich gerne mit Handelswaren und Ideen aus Italien, den holländischen, flandrischen und den selbstständigen Handelsstädten des Deutschen Reichs beschäftigte und sich – im Gegensatz etwa zu Bern – gegenüber der französischen Kultur im Allgemeinen und der französischen Machtpolitik im Speziellen eher reserviert verhielt. Hier hatte man die Machtdemonstration des Sonnenkönigs bei der Allianzerneuerung zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft im Jahr 1663 nicht vergessen, bei der dieser während des Schwurs seinen Hut aufbehalten hatte, wäh-
Der Weinplatz war seiner zentralen Lage wegen im 18. Jahrhundert Markt- und Begegnungsort.
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Das Haus zum Storchen beherbergte dank seiner Nähe zum Rathaus illustre Gäste.
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rend die eidgenössischen Standesverteter ihn barhäuptig leisteten. Der Handel mit Frankreich verkomplizierte sich und Zahlungsverzüge häuften sich. Als Ludwig XIV. im Jahr 1685 das Edikt von Nantes auflöste und die Hugenotten aus seinem Königreich auswies und sich in der Folge eine Flut von Flüchtlingen über Zürich ergoss, wuchsen die Vorbehalte gegen Frankreich und seine Politik der Staatsräson stark. So stellte der französische Botschafter 1688 erstaunt fest, dass seine Bestechungsgelder in Zürich nur noch angenommen würden, wenn er gewährleisten könne, dass der Geldfluss streng geheim bleibe. Junge Zürcher Kaufleute benutzten den relativen Landfrieden auf dem Kontinent, um im Ausland Sitten und vor allem Sprachen zu lernen, und viele der knapp 20-jährigen Jungpfarrer, die nach dem Studium am Carolinum zwar flügge, aber wohl einseitig theologisch firm waren, wollten oder mussten die Zeit bis zu einer Anstellung als Pfarrer im Zürcher Staatstaat oder aber als Arzt mit einem weiteren Studium ausfüllen, zum Beispiel in Leiden und Potsdam wie der spätere Stadtarzt Hans Caspar Hirzel. Die Offenheit gegenüber Neuem galt dem Handel und der Kultur, nicht aber der Staatsordnung. Bereits im 17. Jahrhundert schränkte man die Einbürgerungen ein. Die regierenden Familien bildeten einen immer exklusiveren Kreis «regimentsfähiger Herren». 1705 sassen im Grossen Rat 18 Mitglieder der Familie Escher, 13 der Familie Hirzel, 10 der Familie Werdmüller und 7 der Familie Holzhalb. 1710 sah sich der Bürgermeister Johann Heinrich Escher im Rat von fünf seiner Söhne umgeben. 1713 fand eine Reform
Sitzung des Grossen Rats im neuen Rathaus um 1750. Stich von David Herrliberger.
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Immerwährender Regimentsspiegel der Stadt Zürich. Auf den rund 160 dreh- und abnehmbaren Scheiben im Mittelteil sind die Namen, Wappen und Amtsdaten aller Klein- und Grossräte sowie der Amtsträger seit 1490 festgehalten. Die Eintragungen wurden bis 1798 nachgeführt.
statt, die aber wenig änderte, ausser dass es noch schwieriger wurde, in die Bürgerschaft aufgenommen zu werden. Aber weshalb sollte man auch etwas ändern, wenn es sich so gut damit leben liess? Die Zünfte behaupteten sich scheinbar weiterhin gegenüber der Kaufmannschaft, die Verwaltung war rechtschaffen und das Gerichtswesen rasch und unbestechlich. Die Landvögte übten in der Regel ein massvolles Regiment aus und die Landschaft profitierte ebenfalls vom Aufschwung, den der Handel und die sich verbreitende Industrialisierung mit sich brachten. Doch zu ändern, sich gesellschaftlich zu öffnen und sich anzupassen wäre nötig gewesen. Zum einen waren alle einträglichen Ämter, die höheren Offizierschargen, die wissenschaftlichen Berufe, Lehrstellen oder Anwaltsberufe zwar nicht gesetzlich, so doch tatsächlich der regierenden Bürgerschaft vorbehalten. Der bedeutende Wissenschaftler Johann Jakob Scheuchzer warf als Sprecher einer Bürgerbewegung dem Rat nicht weniger als mangelnde Professionalität und Korruption vor und forderte mehr Mitspracherechte für die Bürger und die bäuerlichen Gemeinden. Ausgelöst hatten diese Intervention Mitglieder des Kollegiums der Wohlgesinnten, das sich um die Jahrhundertwende gebildet hatte und in dem sich regelmässig kritische, meist junge Pastoren, künftige Räte und Kaufleute zu Diskussionen und Meinungsbildung trafen. Sie monierten die krisenhaften Begleitumstände des Zweiten Villmergerkriegs zwischen Zürich und den katholischen Orten im Jahr 1712, den Zürich zwar gewonnen hatte und der zum lang anhaltenden Religionsfrieden in der Eidgenossenschaft führte, dies aber nur dank des massiven militärischen Engagements Berns. Die Kriegsentscheidung war ohne die Zustimmung des Grossen Rats und mit einer Brüskierung der Geistlichkeit erfolgt.
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Allenthalben eine frische Brise
1715 starb Louis XIV., der seit 1661 wie kein Zweiter seine Zeit und den Kontinent kulturell brillant beeinflusst und geprägt, sein Land zugleich aber mit seinen kriegerischen Interventionen nahe an den finanziellen Ruin gebracht hatte. Seine Nachfolger unterliessen diese, nolens volens, fortan weitgehend und setzten vielmehr auf die Förderung infrastruktureller Massnahmen und auf die Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Zeitalter der «Lumières» war definitiv angebrochen. Auch in Zürich wurden neue Lichter angezündet: Die Orthodoxie der Zürcher Pfarrherren geriet ins Wanken, deren gesellschaftliche Autorität wurde auch vom Zürcher Rat zurückgebunden und neue theologische Bewegungen wie der Pietismus lösten das starre Glaubenskorsett auf. Das Carolinum, die von Zwingli eingeführte theologische Hochschule, hatte die Zeichen der Zeit erkannt und Johann Jakob Scheuchzer 1710 zuerst als Mathematikprofessor und später – als er längst Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und Mitglied der Royal Society geworden war – zum Physikprofessor berufen. Das Lehrprogramm des Carolinums umfasste nun neben der Theologie die Literatur, die Geschichtsschreibung, die Naturwissenschaften und last, but not least die Kunst. Damit begann in Zürich die aufklärerische Epoche, die unter dem etwas spöttischen Begriff Limmat-Athen europaweit wahrgenommen werden sollte. All die Lavaters, Füsslis, Hirzels, Sulzers, Gessners oder Pestalozzis, die heute noch als Fixsterne dieser Epoche erscheinen, erhielten eine «geistige Imprägnierung» durch das Caroli num und speziell durch dessen beiden Lehrer Bodmer und Breitinger. Johann Jakob Bodmer war die zentrale Figur des literarischen Zürich. Mit seiner geistigen Wachheit und Neugierde, mit seinem sarkastischen Humor vermochte er seine Schüler anzuregen und zu begeistern. Als Herausgeber vergessener mittelhochdeutscher Werke wie der Manessischen Handschrift und von Teilen des Nibelungenlieds und als Übersetzer von Werken John Miltons und Homers wurde Bodmer auch über den Tag hinaus wirksam. Seine Publikationen trugen einen unverkennbaren Bekenntnischarakter, sie entwickelten Alternativwelten, schreckenerregende Dramen, in denen sich tapfere Republikaner gegen Tyrannen verteidigten. Kaum dem Carolinum entwachsen, begann Bodmer eine lebenslange enge Zusammenarbeit mit Johann Jakob Breitinger, seinem Schulfreund aus der Zeit am Carolinum. Mit ihm zusammen gründete er die Gesellschaft der Mahler, in der sich Geist-
Johann Jakob Breitinger, Stich aus J. C. Lavaters Physiognomischen Fragmenten, 1775/1778, Stich von Johann Heinrich Lips.
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Johann Heinrich Füssli im Gespräch mit Johann Jakob Bodmer (1778– 1781). Füssli skizzierte das Bild auf seiner Rückreise von Italien nach England, die ihn zu seinen alten Freunden in Zürich führte, und malte es dann später in London. Er stellt den 80jährigen Bodmer als Mentor mit erhobenem Zeigfinger dar, sich selber malt er in freier Haltung als selbstbewusster Zuhörer, während sich in der Mitte Homer über die beiden wundert.
liche, Juristen, Ärzte und Professoren trafen, um über moralphilosophische Themen zu diskutieren. Dabei gaben die beiden von 1721 bis 1723 die Discourse der Mahlern heraus, eine Zeitschrift, die nach dem englischen Vorbild des Spectators literarisch-kritische Texte veröffentlichte. Sie war die zweite ihrer Art im deutschen Sprachraum und wurde sowohl in Hamburg wie auch in Leipzig bekannt. Daraus entwickelten die beiden eine gemeinsame Theorie, die sie 1740 unter dem Titel Critische Dichtkunst herausgaben und die sich in einen streitbaren Gegensatz zur Leipzigerschule von Johann Christoph Gottsched stellte, die der klassisch-rationalistischen, regeltreuen französischen Schule entsprach. Dieser Schule setzten Bodmer und Breitinger ein von Homer und der englischen Literatur beeinflusstes Plädoyer für eine stärkere Geltung der Einbildungskraft, des Wunderbaren und der Fantasie entgegen. Obwohl Bodmer Vorbehalt gegen die französische Kultur hegte, kam er nicht von der Inspiration der französischen Literatur weg, Montesquieu war für den Geschichtsunterricht unerlässlich und den Werken von Jean-Jacques Rousseau verfiel er förmlich: Nach dem Erscheinen des Contrat social und des Émile (beide 1762) nährte er seine Schüler mit dem Denken des Genfers. Zu denen gehörten einige zur «bemerkenswerten Generation der Vierzigerjahre»: Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli, Salomon Gessner, Johann Georg Sulzer und Johann Heinrich Pestalozzi.
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Sie alle waren von der Aufklärung geprägt und beeinflussten diese ihrerseits – noch immer faszinieren die Bilder Henry Fuselys, der Zürich als Jungspund-Theologe verlassen musste und als «Tiefenpsychologe avant l’heure», als Malergenie und Präsident der Royal Society in London starb. Und heute noch richten sich Pädagogen in aller Welt an Pestalozzis «Kopf, Herz und Hand». Zeigen, was man hat
Mit dem finanziellen Aufschwung in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts konnte die Stadt daran denken, mit dem St. Peter eine neue, architektonisch wirklich protestantisch gedachte Kirche
zu bauen. 1705 wurde das morsche Kirchenschiff abgebrochen und ein mit aufwändigen Stuckaturen in protestantisch gebremstem Rokokostil aufgeheiterter Kirchenraum gebaut. Ab 1713 wurde das Fraumünster renoviert. Man riss den Südturm ab und erhöhte dafür 1732 den Nordturm und wertete den Münsterhof städtebaulich auf. Durch das nun weitherum hörbare Geläut wurde der Le-
Das Langhaus von St. Peter ist der erste Kirchenneubau nach der Reformation. Blick zum Chor und zur Kanzel im Lettner.
Blick vom Zunfthaus zum Rüden zum Fraumünster, dem Münsterhof und zum 1757 vollendeten Zunft-
Vordergrund. Der Weinplatz daneben hat sich bis heute so erhalten.
haus zur Meisen. Es folgen die schlichten Häuser der Wühre. Unter dem Petersturm, den bis 1809 eine
astronomische Uhr schmückte, erkennt man eine markante Baugruppe mit dem «Storchen» im
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Das Muraltengut, einst eine ländliche Idylle, ist seit 1943 im
Besitz der Stadt Zürich. Diese nutzt es seitdem zu Repräsentationszwecken. Der Garten ist frei zugänglich.
bensrhytmus der Stadt beeinflusst. Beide Massnahmen waren eigentlich nur bedingt religiöser Natur, sie sprechen eher für den etwas eigennützigen Pragmatismus der Zürcher. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann eine kleine Elite, ihre Prosperität, ihre Weltläufigkeit und ihren Patriotismus mit residenzartigen Bürgerhäusern ausserhalb der Stadtmauern, aber nahe der Stadt zu demonstrieren. So liess der Handelsherr Johann Heinrich Frey in der Enge ein Landhaus im französischen Stil erbauen – das heutige Freigut –, das damals von einem deutschen Besucher als plumpe und altmodische Zurschaustellung des Reichtums abqualifiziert wurde. Raffinierter machte es wohl
Johannes Werdmüller, der beim Bau moderne Gerätschaften zum Einsatz brachte und damit die Neugier der Mitbürger stillte. Stilistisch orientierte sich der Bauherr des ebenfalls in der Enge, aber am See liegenden und heute als Muraltengut bekannten Anwesens an Berner Vorbildern – dagegen konnte ja wohl niemand etwas einwenden. Rechts davon das weithin sichtbare Hotel Schwert, die damals «beste und vornehmste Absteige weit
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und breit» und die Untere Brücke. Der Bildausschnitt endet mit der Ostfassade des Rathauses.
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Der bedeutendste Privatbau dieser Zeit ist wohl der Rechberg, der zwischen 1759 und 1770 an der Zürichberghalde erbaut wurde. Hier war ein Palais, eine Stadtresidenz, entstanden, das den stilistischen Anforderungen seiner Zeit entsprach. Der Seidenfabrikant, Zunftmeister und Obervogt Hans Caspar Werdmüller liess sich hier als Herkules feiern und scheute sich nicht, monarchistische Motive zu bemühen. Überhaupt waren das Haus zum Rechberg, das Muraltengut oder der Beckenhof steinerne Werbemassnahmen, die die eigene Bonität demonstrieren sollten – die aber ziemlich quer zum zwinglianisch-zurückhaltenden Gestus der Zürcher und zum finanziell knapp gehaltenen Landvolk standen. Das Zunfthaus zur Meisen, von der Limmatseite und der Münsterbrücke her gesehen.
Den prächtigen Privatbauten musste durch städtische oder zünftische Bauvorhaben, die einem gemeinsamen Nutzen dienten, ein Ausgleich entgegengehalten werden. Das wurde erleichtert, weil ein geschickt betriebenes Kreditgeschäft um 1750, zusätzlich zu den gestiegenen Zolleinnahmen, die bereits volle Staatskasse geäufnet hatte – dies ganz im Gegensatz zum restlichen Kontinent, wo man überall mit dem Bankrott kämpfte. So wurde der Neubau des Zunfthauses zur Meisen, zwischen 1752 und 1757 in unmittelbarer Nähe des Fraumünsters erbaut, zu einem regelrechten Zunftpalast, der sich repräsentativ zum Münsterhof hin öffnete. Dennoch war hier war kein Palais für ein einzelnes Geschlecht gebaut worden, vielmehr zeugte es vom Gemeinwillen vornehmer Familien, die über den Nukleus der Zunft der städtischen Gesellschaft insgesamt Räume nicht nur für die Geselligkeit, sondern beispielsweise auch der Physikalischen Gesellschaft zur Verfügung stellte, die hier zudem ein von ihr geplantes Observatorium einbauen konnte. In den 1750er-Jahren drangen Rousseaus Ideen in die zahlreichen Zürcher Zirkel (die Gesellschaften) ein – seine Saat ging auf: Noch stärker als sein Kampfruf «retour à la nature» 16
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und sein Discours sur l’origine et des fondements de l’inégalité parmi les hommes und der etwas später erschienene Contrat social, der bereits 1762 in der Stadt kursierte, löste Rousseaus Erziehungsroman Émile ou de l’Éducation einen Impuls zu einer Tat aus, die das erwachende soziale Gewissen von Rat, Kirche und Zunft demonstrieren sollte: Die Waisenpflege war seit Langem einer der grossen Tolggen im Reinheft des Stadtstaats. Seit dem Jahr 1637 wurden im Nordflügel des Ötenbachklosters jeweils an die 140 Waisen untergebracht. Hier sollten sie fortan, in unmittelbarer Nähe zum Zuchthaus im Westtrakt, zusammen mit Kleinkriminellen und Vaganten durch harte Arbeit vom Müssiggang abgehalten werden, Das Waisenhaus in Zürich von der Abendseite, um 1800, Aquatinta-Radierung von Johann Jakob Aschmann. Geplant wurde es vom italienischen Architekten Pisoni, der mit seinem Entwurf eines barocken Grossmünsters nicht zum Zug gekommen war.
«Der Neue Hof, samt dem ganzen Thal-Acker und dem Feld-Hof in der Vorstadt zu Zürich» – Wer erkennt hier den künftigen Paradeplatz?
der bekanntlich der Anfang allen Lasters ist. Nun aber sollten die Kinder als Mündel des Staats nicht mehr länger als potenzielle Straftäter gelten, sondern künftig zu wertvollen Mitbürgern der Stadt erzogen werden und mit guter Ernährung und umfassender Bildung der Armut entkommen. Das imposante, in der Gesamtwirkung dennoch ausgewogene Gebäude wurde 1771 eingeweiht und zeugt auch heute noch – ironischerweise als Hauptwache der Stadtpolizei – vom gebändigten Repräsentationswillen der Stadt.
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Die Waldquelle, 1788. Gouache auf Papier von Salomon Gessner.
Täuschende Idyllen
Wenn die beiden Bodmerschüler Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Füssli gemeinhin als Originalgenies gelten, so muss man Salomon Gessner als erleuchteten Dilettanten im besten Sinn bezeichnen. Denn dieser war schulfern auf der Landschaft erzogen worden, absolvierte halbherzig in Berlin eine Buchhändlerlehre und bildete sich autodidaktisch in Literatur und Zeichnen aus. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Anakreontischen Lieder und 1756 erschien die erste Ausgabe der Idyllen, die im Lauf der folgenden Jahre in 20 Sprachen übersetzt wurden. Um 1760 begann er ebenfalls, seine literarischen Werke selber zu illustrieren und um 1770 dürfte er im Ausland neben Lavater zum bekanntesten Schweizer Autor geworden sein. Zugleich führte er den von seinem Vater geerbten Verlag weiter, den er später mit der Druckerei Orell zum Unternehmen Orell, Gessner, Füssli & Co zusammenführte. Ausserdem beteiligte er sich 1780 an der Gründung der Zürcher Zeitung und, nicht genug, 1763 an der Gründung der Fayenceund Porzellanmanufaktur Schooren bei Kilchberg. Ab 1765 gehörte er dem Grossen Rat, ab 1757 dem Kleinen Rat an, zudem verwaltete er eine Vogtei und von 1781 an die Sihlwaldungen. In den 1770er-Jahren war Zürich definitiv zu einem kulturellen Hotspot geworden. Goethe hatte die Stadt und ihre Bodmers, Lavaters, Hirzels dreimal, 1779 sogar quasi zur kulturellen Einführung, mit «seinem» jungen Herzog Carl August von SachsenWeimar besucht. Es folgten weiterhin Gelehrte, Adlige, Künstler und Flüchtlinge aus Frankreich, die auch nach dem Tod Bodmers 18
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und Gessners neben Lavater und Hirzel das «geistige Zürich» kennenlernen wollten und ihre Eindrücke auf lebendige Weise zu dokumentieren wussten. Die Idylle trog. Das Spannungsfeld zwischen Regierenden und Regierten, zwischen der Stadtbevölkerung und den Bauern und Arbeitern der Landschaft wuchs beständig an, ohne dass spürbare Reformen in Sichtweite gekommen wären. Immerhin bildete sich 1759 eine Oekonomische Kommission unter der Leitung des Oberstadtarzts Hans Caspar Hirzel, die zuerst einmal feststellen musste, dass man «wohl an Geld reich, aber doch an Lebensmitteln arm sein könne». In seiner Schrift Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers plädierte er für einen intensiven Meinungsaustausch mit und unter der Landbevölkerung und nannte als Beispiel eines bewussten Bauern den in der Nähe Rümlangs lebenden Jakob Gujer, genannt Kleinjogg, der seine landwirtschaftliche Tätigkeit auf einer genauen Naturbeobachtung aufbaute. Hirzel forderte eine symbolische Aufwertung des Bauernstands und hatte damit tatsächlich über die Grenzen hinaus Erfolg. Hirzel und seine Kommission gingen aber noch weiter, vermochten doch die im eigenen Land produzierten Nahrungsmittel nur noch zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung zu ernähren. Was würde geschehen, wenn die Erträge infolge wirtschaftlicher Rückschläge derart zurückgingen, dass man ausserstande wäre, die nötigen Nahrungsmittel im Ausland zu kaufen? So empfahl die Kommission, die extensive Weidewirtschaft auf Stallfütterung umzustellen und den in den Ställen anfallenden Mist als Dünger auf die Wiesen und Äcker zu führen, um damit die Erträge zu erhöhen. Auch sollte die Dreifelderwirtschaft zugunsten des Anbaus von Getreide und Kartoffeln
Kleinjogg vor seinem Hof. Druckgrafik nach einem Gemälde von Johann Heinrich Wüest.
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und weiterem Gemüse aufgegeben werden, was wegen der uralten Weidegerechtigkeiten, die nur schwer abzulösen waren, zu starkem Widerstand führte. Es brauchte die Hungerjahre von 1770/71, um die Landwirte zum beschleunigten Handeln zu führen, noch mehr half wohl auch, dass 1795 der Kartoffelanbau auf Brachfeldern, Rütenen und neuen Aufbrüchen für zehntfrei erklärt wurde. Die materielle Sicherheit der Landschaft war sehr unterschiedlich. 1771 waren, bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung auf der Landschaft von etwa 140 000 Bewohnern, um die 40 000 mittellos. Am meisten von Armut betroffen waren das Zürcher Oberland und das Unterland, kaum betroffen waren die Weinbaugebiete am Zürichsee, weil hier auch viel industrielle Heimarbeit verrichtet werden konnte. Die Einwohner der Landschaft hatten natürlich, nicht zuletzt durch die sich rasch verbreitenden Lesegesellschaften, mitbekommen, dass sich die Rhetorik der Aufklärung nicht auf den effizienten Anbau von Kartoffelfeldern beschränkte, und hatten an Selbstbewusstsein gewonnen. Scheinbar paradoxerweise kamen die vehementesten Forderungen nach Gleichstellung von Stadt und Land von den hablicheren Seegemeinden, die seit je den reichsten, aufgewecktesten und damit auch den unruhigsten Teil der Landbevölkerung stellten. Die Zürcher Zeitung vom 25. Juni 1789 berichtet über den Beginn der Französischen Revolution. Sie war als Nachfolgerin der Montagszeitung 1780 von Salomon Gessner im Verlag Orell,Gessner Füssli & Co, dem heutigen Orell Füssli Verlag, gegründet worden. Zu Beginn wurde das der Aufklärung verpflichtete Nachrichtenblatt vor allem von Redaktoren aus Deutschland produziert.
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Der Sturm auf die Tuilerien am 10. August 1792, von Jean Duplessis-Bertaux, Öl auf Leinwand, 1793. Im Vordergrund erkennt man an den roten Uniformen tote Schweizergardisten und an den blauen die Soldaten der französischen Nationalgarde.
Der Wind weht von Westen
Zudem war in Frankreich die Revolution ausgebrochen. Anfang 1789 vermeldete die Zürcher Zeitung blutige Unruhen, im April «gefährliche Ausbrüche des öffentlichen Missvergnügens» und im Juli «Grosse Revolution in Paris». Sie berichtete auch von den Umtrieben des Herzogs von Orléans (Philippe Égalité) und den Rettungsversuchen von Mirabeau und Necker – man war also informiert. Politisch herrschte hierzulande der Eindruck vor, dass das französische Volk nun durch die konstitutionelle Monarchie Mitsprache und Freiheit erhalte, wie diese hierzulande bereits vorhanden seien . Aber Johann Heinrich Pestalozzi mahnte 1791: «Sonst sind wir in unserer Schweiz lethargisch glücklich, mitten unter der sich bewegenden Welt. Indessen behagt meinem Personalgefühl dieses Glück nicht; vielleicht habe ich unrecht.» Im selben Jahr stimmte die Zürcher Regierung der Neuvereidigung der Schweizer Regimenter auf die Konstitution der französischen Nationalversammlung zu, statt wie bisher auf den König, und anerkannte damit die inzwischen durch die Revolution geschaffenen Tatsachen. Statt heroischer Gesten mahnten die Zürcher, oft gegen Bern, Solothurn und Freiburg, dass ein Krieg gegen Frankreich, auch zusammen mit einer Koalition – gemeint waren deutsche Monarchien und Österreich – nur zum Untergang führen würde. Am 10. August 1792 wurden aber in Paris die Tuilerien, die von den Schweizer Garden beschützt wurden, blutig gestürmt. Das zürcherische Regiment, das keine Gardefunktionen hatte und heil davongekommen war, traf Mitte Oktober zu Hause ein. 1794 formulierten die Stäfner Johann Caspar Pfenninger und Hans Heinrich Neeracher, der eine Chirurg und der andere Hafner, die in Gesprächsrunden gesammelten Klagen in einem Entwurf zu einer Denkschrift, die als Stäfner Memorial historisch geworden
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ist. Begütigend wurde darin erklärt, dass die Verfassung «keine Veränderung leide», sie solle «nur allgemein über das ganze Land ausgebreitet» werden. Weil aber gleichzeitig massive Angriffe auf die Zünfte geführt wurden, die ja fundamental mit eben dieser Verfassung verbunden waren, war eigentlich klar, dass sich diese nicht auf die Landschaft übertragen liess. Die Klagen drängten auf Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit, Ablösung von Zehnten und Grundlasten, Gleichstellung im Wehrwesen und Wiederherstellung von vergessenen Gemeinderechten und -freiheiten. Alles in allem war es eine Vermischung der Forderungen nach natürlichen Rechten und der Abschaffung von Privilegien. Nun war die Zürcher Regierung, bei aller «Väterlichkeit», nie sehr für Kritik empfänglich gewesen – egal ob aus den eigenen Reihen oder den ländlichen Kreisen. Sie witterte Umsturzgedanken und reagierte heftig mit einem gerichtlichen Verfahren, bei dem Neeracher, Pfenninger und Andreas Staub, ein weiterer Stäfner, zur Verbannung verurteilt wurden und andere zu namhaften Geldstrafen. Angesichts der Ereignisse in Frankreich war dies eine kapitale Torheit: Nun solidarisierten sich Teile der Landschaft mit den Stäfnern und diese wiederum verstärkten ihre Forderungen. Am 5. Juli liess die Regierung Stäfa durch Truppen besetzen. Und wieder wurde ein Prozess gegen die Fehlbaren angestrengt – ihnen drohte nun die Todesstrafe. Darauf intervenierten in der Stadt, um Irreversibles zu vermeiden, unter anderen Lavater mit seinem Bruder Diethelm, Zunftmeister Bürkli und Pestalozzi. Die Urteile wurden deshalb abgemildert, über den Hauptschuldigen wurde symbolisch das Schwert geschwungen, Geldstrafen ausgesprochen und Lesegesellschaften verboten (sic!). Man versuchte zum «courant normal» überzugehen, aber der Kraftakt der Regierung hatte zu viel an Sympathien und vor allem Vertrauen gekostet. Das illustrierte ausgerechnet der Weltbürger und Zürich-Fan Goethe, der 1796 für längere Zeit in Stäfa zu Gast bei seinem Freund Heinrich Meyer (Goethes rechte Hand und bekannt als «Kunschtmeyer» oder «Goethemeyer») weilte und vom verbreiteten Wohlstand beeindruckt war. Er meinte: «Was man sonst vom Oekonomen wünschen hört, das sieht man hier vor Augen: den höchsten Grad von Cultur, mit einer gewissen mässigen Wohlhabenheit; (...) es ist hier keine Hütte hier am Ort, alles Häuser und meist grosse Gebäude, die aber anzeigen, dass ein Landwirt darinnen wohnt.» Und noch, dass der «allgemeine Wunsch des Volkes» nicht erfüllt sei und sich dies «hie und da in kleinen Unruhen» äussere. Johann Heinrich Meyer aber sprach unverblümt von «einer völligen Revolution, die man hier am Ort vor zwei Jahren angefangen habe», und zur Situation der ganzen Eidgenossenschaft meinte er, «dass die Lage äusserst gefährlich sei, und es niemand übersähe, was daraus entstehen könne».
«Stäfner Memorial zum Jahr 1794. Ein Wort zur Beherzigung an unsere theüresten Landes-Väter!»
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1783 endete das jährliche Exerzierprogramm der Gesellschaft der Pförtner mit einem Schaumanöver in Form einer Seeschlacht. In friedlichen Zeiten nahmen die durchaus ernsten Zwecken dienenden Manöver fast den Charakter einer Volksbelustigung an. Johann Jakob Aschmann zeichnete den kolorierten Umrissstich.
In den ersten Wochen des Jahrs 1798 behandelte der Rat unter dem steigenden Druck der ländlichen Unzufriedenheit die Fragen der Handels-, Gewerbe- und Studienfreiheit für die Landschaft und die Amnestie der Stäfner. Diese konnten denn auch Ende Januar in einem festlichen Triumphzug heimkehren. Im Februar erklärte sich der Rat der 200 für provisorisch und proklamierte zugleich die Gleichheit von Stadt und Landschaft – zu spät, um die Landschaft zu befriedigen. Einige exponierte «Aristokraten» setzten sich ab und am See wurden die ersten «Freiheitsbäume» errichtet. Als am 7. März die Eroberung Berns durch französische Truppen bekannt wurde, verbreitete sich «unglaublicher Schrecken». Der Grosse Rat trat am 13. März zum letzten Mal zusammen und auf dem Münsterhof wurde ein «Freiheitsbaum» aufgestellt. Am 26. April marschierten die Franzosen in Zürich ein, das nun zum ersten Mal fremde Truppen in seinen Mauern sah. An die Stelle der Alten Eidgenossenschaft trat die Helvetische Republik. Das Alte Zürich war zusammengebrochen, die neuen Gedanken der Aufklärung waren zwar von den Herrschenden aufgenommen, doch kaum verarbeitet und zu spät umgesetzt worden. Der moderne Kanton Zürich entstand in den 1830er-Jahren mit Elan. Viele der Forderungen der Aufklärung wurden umgesetzt, nicht zuletzt das Primat der Bildung mit einer durchgehenden Volksschule und dem Bau der Universität, die das Vermächtnis Scheuchzers, Bodmer, Breitingers und Füsslis, von Lavater und Sulzer, Hirzel und Pestalozzi quasi in den Genen hat. Bis zur Gründung des Bundesstaats, der modernen Schweiz im Jahr 1848, mussten aber noch 50 Jahre der Wirren und Neuanfänge und ein Bürgerkrieg folgen, die eigentlich nur eines beweisen: Es braucht den Willen und die Mitarbeit aller Bürgerinnen und Bürger, um einen prospektiven, dem Gemeinwohl verpflichteten Staat zu bilden. Das hatten die Zürcher Räte zu spät begriffen.
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1698 Das neue Rathaus präsentiert sich selbstbewusst zwinglianisch Der Neubau des Rathauses drückt das neue Selbstverständnis der Stadtrepublik Zürich aus. Obwohl es prächtig sein sollte, wurde aus Geldmangel und zwinglianischer Bescheidenheit ein Gebäude nach einem Architekturkatalog gebaut. Das erste Zürcher Rathaus wurde 1252
an der unteren Brücke neben dem allgemeinen Markt und dem Fischmarkt errichtet. 1398 baute man am selben Ort ein neues repräsentatives Rathaus. Es widerspiegelte das Zürcher Selbstverständnis einer durch territoriale Er-
schen Frieden nach dem Dreissigjährigen Krieg erhielt Zürich 1648 den Status der souveränen Republik, was ein grösseres Repräsentationsbedürfnis zur Folge hatte, dem das alte, baufällige Rathaus nicht mehr genügte. Der Neubau sollte die Manifestation
werbungen wachsenden Stadt (1350– 1430) und als Vorort der Eidgenossenschaft. Das Gebäude war mit reichen Fassadenmalereien von Hans Asper verziert, die Landschaften und den Jahresverlauf darstellten. Unter den einzelnen Monaten hatte er die Fische des Zürichsees und der Limmat dargestellt – ausser während ihrer Laichzeiten; so war ersichtlich, wann welche Art Schonzeit hatte. Seit 1219 war Zürich freie Reichsstadt im Heiligen Römischen Reich; mit dem Westfäli-
dieses aristokratischen Stadtstaats sein. Ende 1693 beschlossen die beiden Räte den Neubau, im März 1694 wurde mit dem Bau begonnen. Als ausführender Baumeister wurde Stadtbaumeister Hans Heinrich Holzhalb bestimmt. Als Folge des Dreissigjährigen Kriegs hatte die Stadt 1642 begon-
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nen, eine dritte Stadtbefestigung zu bauen. Dieses Bauwerk belastete die städtischen Finanzen stark und die Vollendung zog sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hin. Deshalb wählte man aus einem Katalog: Wahrscheinlich hatten die beiden massgebenden Werke der Architekturtheorie des 16. und 17. Jahrhunderts, eine venezianische Vitruv-Ausgabe Fra Giovanni Giocondos von 1511 und Joseph Furttenbachs «Architectura recreationis» in der Augsburger-Ausgabe von 1640 das Aussehen des Zürcher Rathauses massgeblich beeinflusst. Das neue Rathaus wurde auf den Fundamenten seines Vorgängers aus Sandstein dreigeschossig Der Rathaussaal, 1833 von Hans Caspar Stadlergestaltet. Damals wurde der Zwischenboden entfernt. Hinter dem Ratspräsidium hängt der gestickte Wandteppich von Lissy Funk-
Düssel, die ihn zwischen 1940 und 1945 nach einem Entwurf von Willi Dünner schuf, die Löwen sind aus reinen Goldfäden gestrickt. Die Decke ist noch original von 1697/98.
erbaut. Es erinnert an einen Palazzo, seine Fassade ist der Spätrenaissance verpflichtet. Die Nord- und Südseite sind dreiachsig, die Längsseiten neunachsig, dadurch prägen 72 Fensterfelder, wovon eines für das Portal verwendet wurde, das Aussehen. Das Portal wurde aus grauem, hell geädertem Richterswiler Marmor gefertigt, der Türrahmen hat einen Bogenabschluss. Die Türflügel wurden erst 1867 zurückversetzt. Über dem Portal thronen zwei Wappenlöwen mit ihren Hoheitszeichen Schwert und Palmwedel. Das ursprüngliche Portal hatte bis 1838 eine dreistufige Podesttreppe, die den barocken Eindruck verstärkt hatte. Im Erdgeschoss befanden sich die Räume des Wächters, ein allegorisch geschmückter Saal und der Rechenrat, das eigentliche Finanzministerium. Das erste Geschoss gehörte den Räten. In der kleinen Ratsstube tagte der
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ZÜRICH ZUR ZEIT DER AUFKLÄRUNG
Johann Melchior Füssli malte zwei Tafeln, worauf er die Gattungen aller See- und Limmatfische systematisch auflistete, er bildete sie nahezu foto-
Kleine Rat. Das Parlament, der Rat der 200, tagte in der Räth- und Bürgerstube. Die prächtige Ratslaube verband die beiden Haupträume. Im zweiten Geschoss befanden sich der obere Saal und die Wohnung des Grossweibels. Im Dachgeschoss waren zwei Gefängniszellen eingerichtet. Durch Umbauten im 19. und 20. Jahrhundert ging der ursprüngliche Grundriss verloren, obwohl man 1937/38 versuchte, einen Teil davon wiederherzustellen. Die «Rathausfische» von Johann Melchior Füssli
Hans Erhard Escher wies im Jahr 1692 34 Fischarten im Zürichsee aus, im 21. Jahrhundert gibt es noch deren 24. Fische aus dem See und der Limmat blieben auch nach der Reformation und der Abschaffung der katholischen Fastentage bis ins 19. Jahrhundert Grundnahrungsmittel der Bevölkerung: vor allem Lachs, Maifisch und Neunauge, hablichere Familien assen auch Hecht und Barsch. Um den See
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realistisch ab. Jeden Fisch versah er mit einer Ziffer und führte im unteren Teil des Gemäldes die Schonzeiten nach Monaten geordnet auf.
vor Überfischung zu schützen, wurden Schonzeiten verfügt. Die ersten Fischereivorschriften wurden bereits 1370 erlassen, 1767 arbeiteten 104 Berufsfischer auf dem See. Mit dem Abriss des alten Rathauses ging auch Hans Aspers gemalte Fischereiverordnung verloren, weshalb der Zeichner, Kupferstecher und Radierer Johann Melchior Füssli den Auftrag erhielt, als Ersatz neue Tafeln zu schaffen. Diese wurden an der Wand zum Fischmarkt hin angebracht. Johann Melchior Füssli besass eine Werkstatt und einen Verlag, David Herrliberger war sein wohl bekanntester Schüler. Zwischen 1709 und 1729 schuf Füssli für verschiedene Gesellschaften Neujahrsblätter. Sein Hauptauftraggeber aber war Johann Jakob Scheuchzer, für den er zwischen 1716 und 1718 dessen Helvetiae historia naturalis illustrierte. Sein wichtigstes Werk sind die 735 Zeichnungen zu Scheuchzers grandioser Physica sacra, die von 1731 bis 1735 entstanden.
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1700 Zürich führt den gregorianischen Kalender ein Obwohl es mit dem julianischen Kalender, den Julius Cäsar 46 v. Chr. eingeführt hatte, einen einheitlichen Kalender gab, herrschte auf dem Gebiet der Schweiz im Mittelalter je nach Bistum ein anderes Auslegesystem in Bezug auf den Jahresanfang: In den Bistümern Chur, Konstanz, Basel und dem deutschsprachigen Teil des Bistums Lausanne begann das neue Jahr am 25. Dezember, im sogenannten Natalstil. Auch im französischsprachigen Teil der Diözese Lausanne war im 11. und 12. Jahrhundert der Natalstil in Gebrauch; im Lauf des 13. Jahrhunderts setzte sich aber der Annuntiationsstil (25. März) durch. Im 13. Jahrhundert gab es auch noch den Osterstil. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts setzte sich im Gebiet der Schweiz der Circumcisionsstil (1. Januar) des sogenannten bürgerlichen Jahrs durch. Das julianische Jahr dauert im Vergleich zum astronomischen Jahr 11 Minuten und 13 Sekunden zu lange. Der neue Kalender spaltet das Land
Am 24. Februar 1582 führte Papst Gregor XIII. einen neuen Kalender ein. Um die Differenz zwischen dem bürgerlichen Jahr und dem astronomischen zu beseitigen, verfügte er das Überspringen von zehn Tagen. Die sieben katholischen Orte mit Ausnahme von Ob- und Nidwalden übernahmen 1584 den neuen Kalender, auf den 12. Januar folgte der 22. Unterwalden folgte einen Monat später. Neben den bäuerlich geprägten Regionen gab es auch durch die reformierten Orte Widerstand gegen den Kalender, Letztere behielten den julianischen Kalender bei. Der Widerstand wurde von Zürcher Theologen mit astronomischen Kenntnissen, beispielsweise dem Fraumünsterpfarrer Burkart Leeman, angeführt. Um die grössten Differenzen beizulegen, verfügte 1585 die Badener Tagsatzung, dass die Feiertage nach dem neuen Kalender gefeiert wurden, die reformierten
Orte konnten Weihnachten, Stephanstag, Neujahr, Ostern, Auffahrt und Pfingsten nach dem alten Kalender feiern. Einführung als solidarischer Akt
Durch die verschiedenen Kalender kam es zu Schwierigkeiten im Handel und Verkehr. Die zwei Kalender wurden jedoch über 100 Jahre nebeneinander verwendet. Die Eidgenossenschaft war nicht alleine, auch im Deutschen Reich lehnten die evangelischen Reichsstände den gregorianischen Kalender ab. Dass die reformierten Städte Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen auf das Jahr 1701 doch noch den gregorianischen Kalender einführten, liegt daran, dass im Deutschen Reich die evangelischen Reichsstände 1699 zum gregorianischen Kalender übergegangen waren. Als Akt der Solidarität mit den Glaubensbrüdern ennet des Rheins folgten die vier reformierten Stadtorte. Damit nicht der Eindruck entstand, man hätte den katholischen Orten nachgegeben, wurde der Begriff gregorianischer Kalender tunlichst vermieden, stattdessen sprach die Obrigkeit vom «neu verbesserten julianischen Kalender». Der Bülacher Pfarrer Johann Kaspar Diebolt verfasste dafür eine Propagandaschrift: Ein freundliches und kurzweiliges Gespräch von dem verbesserten Kalender zwischen zweyer Eidgenossen von beiden Religionen. Die Hauptursache zur Vereinheitlichung des Kalenders waren handelspolitische Motive. Der Transitverkehr im internationalen Handel verlangte eine einheitliche Zeitrechnung. Es führte gar so weit, dass Zürich Graubünden, das damals zugewandter Ort der Eidgenossenschaft war, ermahnte, als Pass- und Transitland seinen Widerstand gegen den neuen Kalender aufzugeben. Ende des 18. Jahrhunderts galten wiederum zwei Kalender. Am 26. Juni 1798 erliess die Helvetische Republik ein Gesetz, dass der französische Re-
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Persönlicher Kalender, gefertigt von seinem Benutzer Johann Jakob Aschmann. Aquarell auf Karton, 1777.
volutionskalender parallel zum gregorianischen Kalender beigefügt werden musste. Almanache folgten diesem bis 1805. 1812 büsste der Kanton Graubünden die beiden
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Gemeinden Schiers und Grüsch, weil sie sich weigerten, den gregorianischen Kalender zu übernehmen. Sie taten dies als letzte Gemeinden in West- und Mitteleuropa.
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1700 Die Zürcher Land- und Obervogteien um 1700 Die Stadt Zürich hatte im 14. und im 15.
Jahrhundert zumeist durch Kauf ein ausgedehntes Territorium erworben. Der daraus entstandene Staat war aber nicht ein geschlossener Flächenstaat im heutigen Sinn, in dem sich alle Hoheitsgewalt von einer einheitlichen Staatsgewalt ableitet. Vielmehr beanspruchte die Stadt Zürich bis zur Staatsumwälzung von 1798 zwar die «Landeshoheit», respektierte aber noch aus dem Mittelalter stammende Sonderrechte einzelner Teile ihres Herrschaftsgebiets und fand sich auch damit ab, dass neben ihr einzelne Personen oder gar andere «Staaten» auf ihrem Territorium Rechte ausübten, die heute als staatliche Rechte gelten. Dagegen verfügte die Stadt unbeschränkt über die Militärhoheit im ganzen Gebiet. Zudem verfügte sie seit der Reformation über die kirchlichen Dinge, das «Kirchenregiment». Und für einen grossen Teil des Territoriums war der Zürcher Rat die letzte Appellationsinstanz und war mit dem Recht versehen, Steuern zu erheben.
Die Stadt, die Munizipalgemeinden und «die Landschaft»
Winterthur und Stein am Rhein genossen als Munizipalstädte am meisten Freiheiten, sie waren mehr oder weniger unabhängig, was die Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse betraf. Auch wenn immer wieder Konflikte zwischen der Hauptstadt Zürich und der Munizipalstadt Winterthur auftraten, so verbanden diese viele gemeinsame Interessen, wie etwa die der Gerichtsherrschaften oder der Einnahmen der Zehntenrechte und Grundzinsen, für deren Eintreibung sie nötigenfalls auf die Hilfe der Zürcher Obrigkeit angewiesen waren. Und um ihre Bürger vor Konkurrenz zu schützen, wandten sich die Winterthurer Behörden gerne an den Rat in Zürich, damit dieser den Handwerkern auf der Landschaft verbot, ihr Gewerbe auszuüben. In den ländlichen Gebieten übten die Gerichtsherren das niedere Gericht aus, das für die Beurteilung zivilrechtlicher Streitigkeiten zuständig war, sie erliessen Gebote und Verbote und ahndeten als Strafrichter meist geringfügige Delikte. In ihrem Gerichtsbezirk hatten sie das Jagdrecht und konnten gewerbliche Betriebe wie Wirtschaften, Mühlen und Ziegelhütten erlauben.
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Gerichtsherrschaften im Kanton Zürich um 1750 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Amt Uhwiesen Ellikon am Rhein Trüllikon-Truttikon Marthalen Rudolfingen Weiach Berg am Irchel Teufen Wülflingen-Buch Hettlingen Kefikon Niederweningen Lufingen Pfungen Oberwinterthur- Mörsburg
16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Stocken Elgg Weiningen Opfikon Nürensdorf Brütten Turbenthal Uitikon Maur Freudwil Ottenhausen Werdegg-Kempten- Greifenberg 28 Wetzikon 29 Hinwil-Bubikon
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Zürcher Land- und Obervogteien um 1700 Landvogteien 1 Kyburg 2 Eglisau 3 Andelfingen 4 Regensberg 5 Greifensee 6 Grüningen 7 Knonau 8 Wädenswil 9 Sax-Forstegg
Innere Obervogteien 10 Bülach 11 Neuamt 12 Regensdorf 13 Rümlang 14 Höngg 15 SchwamendingenDübendorf 16 Vier Wachten 17 Altstetten 18 Birmensdorf 19 Bonstetten
20 21 22 23 24 25 26 27 28
Wollishofen Wiedikon Horgen Küsnacht Ebmatingen Meilen Männedorf Stäfa Erlenbach
Äussere Obervogteien im Thurgau 29 Steinegg-Stammheim 30 Neunforn 31 Pfyn 32 Wellenberg 33 Weinfelden
St Stein am Rhein W Winterthur Z Zürich
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1705 Von St. Peter in den ganzen Kanton Der barocke Neubau der St. Peterskirche ist der erste Bau nach reformierter Art in Zürich. Er wurde Vorbild einiger Kirchenbauten auf dem Land. Der Turm behielt sein mittelalterliches Aussehen. Am 20. Juli 1699 entging Zürich knapp einer Katastrophe, als der Blitz in den Turm von St. Peter einschlug und dieser bis auf die Höhe der Wachtstube der Feuerwächter abbrannte und der Turmhelm in die heutige Thermengasse stürzte. Hätte das Feuer auf das benachbarte Munitionslager des Zeughauses übergegriffen, wäre es zu einem Inferno gekommen. Der Turm wurde wieder gleich aufgebaut, aber die Kirche war in einem desolaten Zustand. Die Kirchgemeinde rang sich 1700 schliesslich zu einem Neubau durch. Von der Gründung von St. Peter ist keine Urkunde erhalten. Erstmals schriftlich erwähnt wurde St. Peter 857, es handelte sich um eine frühkarolingische Kapelle mit einer Apsis. Die
Forschung konnte nicht endgültig klären, ob diese Kapelle anstelle eines dem römischen Gott Jupiter geweihten Heiligtums errichtet worden war. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde die Kapelle durch eine spätromanische Chorturmkirche ersetzt. Teile dieses Mauerwerks sind im Turm sichtbar. Das Kreuzrippengewölbe im Chor und einige übermalte Fresken sind ebenfalls von dieser Kirche erhalten geblieben. Das Langhaus wurde 1450 als spätgotische Kirche erneuert. Turm und Feuerwächter
St. Peter ist die älteste Pfarrkirche von Zürich. Sie wurde wahrscheinlich als Ersatz für die zu klein gewordene St. Stephankirche im heutigen Selnaugebiet
Der Turm der St. Peterskirche überragt die Häuser an der Wühre. Unter der Uhr des Turms erkennt man eine astronomische Uhr, die diesen bis 1809 schmückte.
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Das Langhaus von St. Peter ist der erste Kirchenneubau nach der Reformation in Zürich. Das barocke Konzept einer Halle mit Emporen in den Seiten-
schiffen verbindet sich mit klaren Renaissanceformen der farbigen Säulen und einer zurückhaltenden Stuckatur zu einem statisch ernsten Raum.
gebaut. Dass die Kirche ihrer Kirchgemeinde gehört, der Turm aber der Stadt, ist eine Besonderheit. Bereits im Richtebrief von 1304 beanspruchte die Bürgerschaft der Stadt für sich ein Verfügungsrecht über den Turm und die Glocken. 1340 setzte der Stadtrat einen Turmwächter für die mindere Stadt ein, 1363 kam die Ratsglocke hinzu und 1366 bis 1768 wurde die erste öffentliche Uhr der Stadt angebracht und der Stundenschlag in Zürich eingeführt. Dass der Turm noch heute im Besitz der Stadt ist, beruhte lange Zeit auf Gewohnheitsrecht, erst nach der Auflösung des Stadtstaats Zürich im Jahr 1798 wurde der Besitz geregelt.
te gefeiert werden. Das neue Kirchenschiff erhielt eine Halle von sieben Jochen und wurde in ein mit hoher Rundung überwölbtes Hauptschiff und zwei Seitenschiffen mit abgeflachter Wölbung eingeteilt. Die Männer sassen auf aufgereihten Einzelstühlen, die Frauen auf Bänken mit abgetrennten Plätzen im Kirchenschiff, die Empore war den Männern vorbehalten. Die neue St. Peterskirche war die erste Kirche der Stadt Zürich, die nach dem Prinzip der reformierten Kirche gebaut wurde. Diese eigenständige Kirchenbautradition manifestiert sich seit dem 17. Jahrhundert. Da die Verkündigung im Zentrum steht, soll der Raum möglichst wenig ablenken. Die Neubau als reformierte Kirche Trennung zwischen Klerus und Volk Die Kirchgemeinde begann 1705 wewurde aufgehoben, weil Letzteres zum gen des schlechten Zustands und Handlungsträger innerhalb des GottesPlatzmangels nach einer fünfjährigen diensts wurde. Im St. Peter entstand Planungsphase mit dem Neubau des zwischen Chor und Langhaus ein KanLanghauses. Am 18. Juli 1705 fand die zellettner. Der Zürcher Gipser SaloGrundsteinlegung statt. Die Arbeiten mon Bürkli und Franz Schmuzer aus kamen schnell voran, noch vor Weih- dem schwäbischen Wessobrunn waren nachten konnte im «Widder» Aufrich- für die Stuckaturen verantwortlich. 34
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Die Glaslünette mit dem Schmiedeeisenkranz über der Eingangstür von St. Peter von innen gesehen.
Der Taufstein von 1598 wurde vor den Chorstufen aufgestellt. Nach einer Bauzeit von nur 17 Monaten fand der Einweihungsgottesdienst statt. Renovationen im Sinn Breitingers
Die Renovation von St. Peter war ein Erfolg. Deshalb wagte man 1728, den Südturm des Fraumünsters auf Höhe des Dachs des Langhauses einzuebnen und den Nordturm vier Jahre später zu erhöhen. Am 24. August 1763 steckte ein Blitz den Glockenturm des Grossmünsters in Brand. In der Folge wurde ein Abbruch und ein barocker Neubau im Stil der St. Peterskirche durch Gaetano Matteo Pisoni diskutiert. Johann Jakob Breitinger gehörte zu den Gegnern. Er liess die Fundamente untersuchen mit dem Resultat, dass die Kirche stabil sei. Breitinger warnte eindringlich, dass man die Zerstörung des mittelalterlichen Münsters später
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bereuen würde. Mit dieser Argumentation gelang es ihm, einen Meinungsumschwung herbeizuführen. Letztlich wurden nur die Türme einander angeglichen. Das Kircheninnere wurde barockisiert, bei den Renovationen im 19. und 20. Jahrhundert wurde der romanische Innenraum wiederhergestellt. Bei der Kirche St. Peter entschied man sich Anfang der 1970er-Jahre zu einer umfassenden Renovation – ganz im Geist Breitingers –, den barocken Raum zu erhalten und nicht einer gotischen Kirche nachzuempfinden. So ist das Langhaus von St. Peter ein wichtiger Zeitzeuge des frühen 18. Jahrhunderts geblieben.
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Taufe zu St. Peter in Zürich, 1751, Kupferstich von David Herrliberger. Die aristokratische Gesellschaft Zürichs wusste sich barock zu repräsentieren. Im kirchlichen Ritus hielt sie aber betont an puritanischer Strenge fest.
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1713 Die Verfassungsänderung zementiert den Status quo Mit dem Aussterben der Zähringer erhob Kaiser Friedrich II. 1219 Zürich zur freien Reichsstadt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt trat auch der Zürcher Rat als Rechtspersönlichkeit in Erscheinung. In den folgenden Jahrhunderten weitete er seine Befugnisse sukzessive aus auf Kosten des Fraumünsters, dessen Äbtissin seit 1245 Fürstäbtissin war. Mit der Zunftrevolution von 1336 wurde das bis 1798 gültige Regiment eingeführt. Die Zunftrevolution verbot die Bildung von Zünften als politische Körperschaften, sie dienten als Berufsgilden. Ritter Rudolf Brun führte die Zunftrevolution an, er schuf das Amt des Bürgermeisters, das er diktatorisch ausübte. Nachdem Hans Waldmann im 15. Jahrhundert mit seiner Verfassung einerseits den Staat modernisierte, veränderte er die Verfassung auch zu seinen Gunsten ab, was schliesslich zu seiner Verurteilung und zur Todesstrafe führte. In der Folge wurde
Die gedruckte Verfassung von 1713 (7. Geschworenenbrief) war die erste Verfassung des Stands Zürich, die gedruckt wurde. Sie wurde in dieser Form der Constaffel und den Zünften übermittelt, sodass die Bürger Einsichtnehmen konnten. Damit wurde erstmals Verfassungsöffentlichkeit geleistet.
1498 die Macht des Zunftmeisterkollegiums beschränkt. Diese Verfassung blieb bis 1713 massgebend. Im 16. und 17. Jahrhundert entwickelte sich der Rat immer mehr zu einer Aristokratie weniger Familien. Die Bürgerunruhen von 1713
1712, während des Zweiten und siegreichen Villmergerkriegs, hatte ein Weissgerber Felle für Trommelböden an einen Meister geliefert, hierfür wären aber die Pergamentbereiter zuständig gewesen. Streitigkeiten unter Handwerkern wegen unerlaubter Lieferungen an Dritte waren üblich, dieser Fall eskalierte jedoch, die Vorgesetzten der Gerwezunft konnten die Angelegenheit nicht schlichten. Nun hätten die 24 Zunftmeister, das heisst immer zwei pro Zunft, darüber befinden müssen. Stattdessen kam der Fall vor den Rat und dieser schützte den Weissgerber. Die Gerwezunft verlangte, dass die Rechtmässigkeit dieses Vorgehens überprüft werden sollte. Der Rat untersagte jedoch die Untersuchung. In der Folge witterten auch die übrigen Zünfte Rechtsbeugung, deren Ursache die Überheblichkeit der Zunftmeister sei. Diese würden durch das «Praktizieren» die Wahlen beeinflussen, was mit Höflichkeitsbesuchen, Einladungen zum Essen bis hin zu Geldgeschenken geschah. Besonders das Handmehr bei den Zunftmeisterwahlen wurde kritisiert, dieses würde die Abwahl von nicht genehmen Kandidaten verhindern. Die Reformer erwarteten, dass geheime Wahlen bessere Ergebnisse bringen würden. Nach Diskussionen führte der Rat am 13. Juni 1713 das heimliche Mehr für die Zunftmeisterwahlen ein. Der Konflikt schwelte noch weiter, weil sich auch die Oberschicht durch die Reformen bedroht sah. Obmann Johann Heinrich Bodmer, Zunftmeister der Zimmerleuten, warf Bürgermeister David Holzhalb Bestechlichkeit vor. Am 2. Sep-
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Versammlung der Deputierten im Zunfthaus zur Schiffleuten am 15. September 1713. Kopie nach einer Zeichnung von Johann Melchior Füssli.
tember verlangte er, dass der gesamte Kleine Rat von einer Kommission untersucht werde. Die Untersuchung ergab, dass sich einzelne Räte tatsächlich aufgrund ihrer bescheidenen Gehälter für ihre Amtsdienste bezahlen liessen und auch Bestechungsgelder annahmen. Der Grosse Rat fällte äusserst milde Strafen und Obmann Bodmer erhielt für sein Verhalten einen obrigkeitlichen Verweis. Dies wiederum liess Bodmer nicht auf sich sitzen und rief zum Aufstand auf. Gemässigtere Kreise der Reformbewegung konnten eine Volksversammlung auf dem Lindenhof einberufen, die am 8. September 1713 stattfand. Rund ein Viertel der Bevölkerung fand sich auf dem Lindenhof ein. Unter Führung von Johann Jakob Scheuchzer erreichte die Reformbewegung die Einsetzung einer Reformkommission, in die jede Zunft zwei Mitglieder delegieren konnte. Als diese vier Tage später ihre Arbeit aufnahm, wurden entgegen den Vor
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stellungen der Zünfte zwei Arbeitsgruppen gebildet, eine bürgerliche Kommission mit 26 Mitgliedern und eine Ehrenkommission mit 22 Räten. Scheuchzer leitete die bürgerliche Kommission. Die Abgeordneten trafen sich täglich. Aus den Forderungen, die durch die Zünfte in eigenen Versammlungen zusammengestellt wurden, erarbeitete die Kommission 115 Beschwerdepunkte, die in 14 Sachgruppen zusammengefasst waren, von der Kirche über das Schulwesen bis zur Zunftverfassung. Dabei zeigte sich deutlich, wie stark sich die Zunftmeister und Ratsherren von den gewöhnlichen Zünftern entfernt hatten. Am 23. November versammelten sich die Zünfte zur Besprechung des Resultats. Dabei waren viel mehr Zünfter zum Nachgeben bereit, als die anfängliche Empörung erwarten liess. Als sich auch die eidgenössischen Stände für die Krise in Zürich zu interessieren begannen, wurde der Zürcher Rat nervös.
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Am Meistertag vom 10. Dezember 1713 wurden die Zunftmeisterwahlen in geheimer Abstimmung durchgeführt. Zur Überraschung vieler Zeitgenossen wurden alle Zunftmeister im Amt bestätigt, aber Einzelne hatten ein schlechteres Wahlresultat als bei offenen Wahlen erzielt. Der Rat nutzte die Situation aus, führte kurze Nachverhandlungen und legte den Zünften am 13. Dezember die neue Verfassung mit einer ergänzenden Deklaration vor. Die Ernüchterung über das schlechte Resultat der Reformen war gross und die meisten Zünfte drohten mit der Verweigerung des Eids, nahmen die Reformvorschläge dennoch an, nachdem der Rat mit Gewalt gedroht hatte. Die Zünfte leisten im Grossmünster dem Bürgermeister den Eid auf den Geschworenenbrief, Stich von David Herrliberger um 1750.
Das Erreichte erschien im Vergleich zu den Forderungen relativ gering, die geheime Wahl der Zunftmeister gegen das Praktizieren wurde eingeführt, das seit den Anfängen bestehende Anhörungsrecht der Gemeinde bei Bündnissen, Kriegen und Friedensschlüssen wurde schriftlich festgehalten. Die Kaufleute wollten eine eigene Zunft; seit der Verfassungsrevision von 1489 stand es ihnen frei, einer beliebigen Zunft oder der Constaffel beizutreten. Der Anteil der Kaufleute am Regiment machte 1713 27 Prozent aus. Ein Teil der Kaufleute hatte beträchtliche Vermögen erwirtschaftet und stand dadurch in Konkurrenz zu den traditionellen Magistratsfamilien, die zur Sicherung ihrer sozialen Stellung auf die staatlichen Stellen angewiesen waren. So wurde den Kaufleuten von den Reformern vorgeworfen, sie würden ihre wirtschaftlichen Interessen über das Wohl der Stadt stellen. So sei auch der Zweite Vill-
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mergerkrieg kaufmännisch regiert worden. Die Schaffung einer Kaufleutenzunft wurde abgelehnt! Letztlich war die Reformbewegung aber zu heterogen, um genügend Druck für konkrete Reformen aufzubauen. Die Handwerker verfolgten andere Ziele als die konkurrierenden Familien der Oberschicht. Zürich verpasste somit die Gelegenheit, sich zu erneuern. Scheuchzer haderte mit dem Regiment, und die Leitung der bürgerlichen Kommission brachte ihm mehr Missgunst als Dankbarkeit ein. Er dachte darüber nach, sich eine andere Wirkungsstätte zu suchen, wo er von Anfeindungen ungestört forschen konnte. Noch im selben Jahr wurde ein Lehrstuhl am Carolinum frei, doch Scheuchzer wurde übergangen. Zar Peter der Grosse berief den geschmähten Zürcher Gelehrten nach St. Petersburg, doch Scheuchzer lehnte ab. Um ihn in Zürich zu behalten, verbesserte die Stadt sein Salär. Aber erst 1729 konnte Scheuchzer am Carolinum naturwissenschaftliche Vorlesungen halten. Im Januar 1733 wurde er doch noch als Professor ans Carolinum berufen, starb aber fünf Monate später. Die Verfassung von 1713 war die erste, die gedruckt wurde. Sie wurde den Zünften und der Constaffel übermittelt, wo die Bürger Einsicht nehmen konnte. Die Zunftunruhen von 1777
Nach der Krönung von König Ludwig XVI. kam wiederum die Bündnisfrage mit Frankreich aufs Tapet. Obwohl die Zünfte seit 1775 über die Pläne informiert werden wollten, überzeugte Bürgermeister Johann Conrad Heidegger den Rat davon, den Verhandlungsprozess geheim zu halten, er wäre zu heikel, um die Bürgerschaft miteinzubeziehen. Auf Druck des Grossen Rats mussten am 26. Juni 1777 die Zunftmeister in ihren Zünften über das geplante Bündnis informieren. Vor vollendete Tat
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sachen gestellt, formierte sich eine Protestbewegung, 169 Personen, wovon 80 Prozent Handwerker waren, unterzeichneten eine Protestschrift, die verlangte, dass die Mitsprache im sogenannten Libell zum «Geschworenen Brief» genauer umschrieben werden sollte. Ein Wortführer war der redegewandte Rudolf Hofmeister, der am Weinplatz einen Krämerladen betrieb. Seine Überlegungen beruhten darauf, dass die Gemeinde der Gesetzgeber sei, weshalb in strittigen Fragen zwischen Rat und Bürgerschaft die Zünfte entscheiden sollten. Hofmeister gehörte der Saffranzunft an. Er wandte sich an den Stadtarzt Hans Caspar Hirzel, der ihn umstimmte. Die Hinhaltetaktik des Rats förderte jedoch die öffentliche Diskussion. Der Grosse Rat beschloss am 16. September, eine Kommission zu bilden, die den Unzufriedenen die Haltung der Regierung erklären sollte. In einer unverbindlichen Erklärung wurde den Zünften bei künftigen Bündnissen eine Bedenkzeit von acht Tagen eingeräumt. Am 27. September wurde der Text verlesen, in einigen Zünften kam es zu tumultartigen Szenen. Am 13. November diskutierte der Rat, wie die Situation beruhigt werden könnte; weder wollte der Rat nachgeben noch allzu hart gegen die Opposition vorgehen. Schliesslich wurden 31 Zünfter in das Rathaus vorgeladen und abgemahnt. Mit Bangen wartete der Rat auf den kommenden Meistertag im Dezember, bei dem es legal und üblich war, Klagen vorzubringen. Die öffentliche Abmahnung hatte gewirkt, einzig in der Zunft zum Widder gab es noch einen Nachhall der Proteste. Damit hatte es der Zürcher Rat zum letzten Mal verpasst, sein System von innen heraus zu reformieren. Als 20 Jahre später die Franzosen einmarschierten, fiel das Ancien Régime in sich zusammen.
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ZÜRICH ZUR ZEIT DER AUFKLÄRUNG
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1698–1798
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1714 Johann Jakob Scheuchzer findet Gott in der Natur «Mit der Zierde und Kunst der Natur suchte ich die ehrwürdige Heiligkeit der Offenbarung zu verknüpfen.» So fasste Johann Jakob Scheuchzer 1735 im Vorwort seiner Kupferbibel den Versuch zusammen, mit naturkundlichen Argumenten den Gottesbeweis zu erbringen. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) wuchs in Zürich als Sohn eines Stadtarzts auf. Von 1692 bis 1695 absolvierte er in Altdorf bei Nürnberg das Studium der Medizin und schloss es in Utrecht mit dem Titel eines Doktors der Medizin ab, um 23-jährig, wieder zurück in Zürich, Waisenhausarzt, Kurator der Bürgerbibliothek und Verwalter des Raritätenkabinetts zu werden. Schon als Jugendlicher, noch im Familienkreis, empfand er, wie anregend es sein konnte, Berge zu besteigen und dabei ein offenes Auge für die Natur zu haben. 1694 hatte er bei seiner ersten Alpenreise die Rigi, den Pilatus und andere Voralpengipfel bestiegen. Er wollte nun systematisch den Schweizer Alpenraum erforschen und dessen Bewohner genauer ken-
nenlernen. Dabei nahm er bei seinen Exkursionen als Erster regelmässig barometrische Höhenmessungen vor. Mit seinen Untersuchungen an Bergkristallen wurde er zu einem Mitbegründer der modernen Kristallografie, und seine Wetterbeobachtungen sollten den Beginn der meteorologischen Tätigkeit in der Schweiz bedeuten. Bekannt wurde er jedoch vor allem mit seinen paläontologischen Arbeiten, in denen er sich intensiver mit den Fossilien, besonders jenen der Tiere, befasste. In seiner Abhandlung zur Fossilienkunde Piscium querelae et vindicae (1708) beschrieb er Versteinerungen als Zeugnisse der Sintflut, und mit dem 1709 erschienenen Herbarium diluvianum wurde er zum Begründer der Paläobotanik. Auf 14 Tafeln Detail auseinem Kupferstich der Physica Sacra von Johann Jakob Scheuchzer. Scheuchzer glaubte, dass das Alte Testament eine sachliche Darstellung der menschlichen Geschichte und des natürlichen Lebens darstellte.
Johann Jakob Scheuchzer, 1734 von Hans Ulrich Heidegger (1700–1747) gemalt.
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WELTGEIST IN ZÜRICH François G.. Baer Yves Baer
Die Aufklärung erreicht Zürich Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Kleinstadt wird zu einem gesellschaftlich-kulturellen Hotspot – zu einem eigentlichen Limmat-Athen, das viele Geistesgrössen hervorbringt und anzieht. Scheuchzer, Bodmer, Lavater, Füssli und Pestalozzi prägen die neue Epoche der Vernunft und tragen ihre Ideen bis in die geistigen Hauptstädte Europas. Aber auch in Winterthur und auf der Landschaft werden die neuen Ideen leidenschaftlich diskutiert. Jedoch schafft es die Zürcher Aristokratie bis zum Einmarsch der Franzosen 1798 nicht, das mittelalterliche System der Zunftherrschaft zu reformieren. Die Autoren lassen Ereignisse, Schauplätze und Figuren dieser Zeit des Auf- und Umbruchs lebendig werden.
François G. Baer Yves Baer
WELTGEIST ¨ IN ZURICH Ereignisse, Schauplätze und Lichtgestalten zur Zeit der Aufklärung
ISBN 978-3-907291-73-3
9 783907 291733 www.nzz-libro.ch www.nzz-libro.de
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