revue 2021/38

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16   POLITIK & WIRTSCHAFT

Ein bunter Haufen Bei der bevorstehenden Bundestagswahl nehmen so viele Parteien wie nie zuvor teil. Die Fragmentierung der Parteienlandschaft schreitet voran. Wenn Olaf Scholz aus dem Fenster der Berliner SPD-Parteizentrale schaut, sieht er die zahlreichen Wahlplakate der Parteien, die sich um den Einzug in den 20. Deutschen Bundestag streiten. So viele wie noch nie seit der ersten Bundestagswahl von 1949 sind zugelassen. Damals waren es 14 Parteien. Die Zahl stieg bis 2017 auf 42 an, dieses Mal auf 54. Doch von ihnen werden sieben Parteien aus unterschiedlichen Gründen nicht antreten, weder mit Landeslisten noch mit Wahlkreiskandidaten. Damit können 47 Parteien teilnehmen, unter ihnen diese, die im Bundestag vertreten sind – CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne, Linke und AfD – sowie zahlreiche Kleinparteien. Von Letzteren hat wohl keine eine realistische Chance, die nötigen fünf Prozent Stimmenanteil zu erreichen, um in das Parlament einzuziehen. Trotzdem nutzen sie zumindest die Gelegenheit, um auf sich aufmerksam zu machen. Alles in allem ein bunter Haufen, der von Esoterikern bis Satirikern, von Links- bis Rechtsextremisten reicht. Für Aufsehen sorgte die Satirepartei Die PARTEI, die sich 2004 als „Die Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative“ gründete und gleich in den ersten Wochen eine rasante Zunahme an Mitgliedern verzeichnete. Sie ist eng verbunden mit dem Satiriker Martin Sonneborn und dem Satiremagazin „Titanic“. Die PARTEI führte bereits im Vorfeld der vorgezogenen Bundestagswahl im September 2005 Sondierungsgespräche mit der „Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands“ (APPD) über eine gemeinsame Liste als „Zweckbündnis“, organisierte ein „Kandidatinnencasting“, bei dem sich „gleich zwei schöne, politikinteressierte junge Frauen unter 35“ durchsetzten, und sorgte für Schlagzeilen, als sie ihre TV-Wahlwerbezeit

über eBay zum Verkauf anbot. Und Sonneborn behauptete, frei nach Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht, eine Regierung zu bilden!“ Wahlsiegerin Angela Merkel wurde konsequent als „das Merkel“ bezeichnet. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte Die PARTEI um ein Prozent, bei der Europawahl 2019 sensationelle 2,4 Prozent. Sonneborn sitzt bereits seit 2014 als fraktionsloser Abgeordneter im Europaparlament. Im Bundestag schloss sich ihr 2020 der fraktionslose frühere SPD-Abgeordnete Marco Bülow an. In ihrem aktuellen Wahlprogramm fordert sie eine „Wirecard für alle“, mit der Menschen ohne Einkommen und Vermögen bezahlen könnten, „was immer sie wollen“. Weiter im Programm: Korruption und „Profitlobbyismus“ sollen bekämpft und verantwortliche Politiker nach Aserbaidschan abgeschoben werden; Tierversuche sollen abgeschafft und stattdessen Medikamente an Spitzensportlern getestet, die humanmedizinische Versorgung auf dem Land von Tierärzten übernommen werden. Die PARTEI tritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine Vermögensobergrenze von zehn Millionen Euro ein. Statt eines Zwei-Prozent-Ziels des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben soll es eins für Bildungsausgaben geben. Nicht zuletzt treten Sonneborn & Co. für eine Bierpreisbremse ein, die in Kraft tritt, sobald in der Wirtschaft zwei Indikatoren auftreten: „großer Durst und eine nachweisbare Gläserleerstandsquote“.

So präzise Wahlversprechen wie jene der Satiriker fallen anderen Politikern schwer vor dem Urnengang am 26. September. Die „Partei des Fortschritts“ zum Beispiel, die ganz allgemein dem Rückschritt den Kampf angesagt hat, stochert dabei ziemlich im Nebel. Ungleich besser weiß man, mit wem man es zu tun hat, bei „Menschliche Welt“ aus dem spirituellen Zentrum Ananda Ashram, dem Hauptquartier in Wolfsegg im Oberpfälzer Landkreis Regensburg. Die „Menschliche Welt“ bietet nach eigener Wahlwerbung „jeder Person Möglichkeiten, ihr wahres Potenzial zu entfalten“. Wer Spitzenkandidatin Ursula Kraus seine Stimme gibt, sollte wissen: „Nichts ist unmöglich“, wie es auf der Website gezielt heißt. Möglich wäre den Fortschrittlern im Falle eines Wahlsiegs eine Koalition mit der „Europäischen Partei Liebe“. Die – wie der Name schon sagt – proeuropäisch ausgerichtete Partei ist Mitglied des internationalen Zusammenschlusses „Partei European L´AMOUR“. Liebe als Ausgangspunkt und Triebkraft des menschlichen Zusammenlebens und politischen Handelns. Dass die Partei ihre Stärken in der Familien-, Gesundheits- und Umweltpolitik hat, versteht sich von selbst. Außerdem will sie eine Stärkung von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft. Die himmlischen Tropfen der inneren Einkehr scheinen die „Deutsche Protestantische Liga“, die „Jesusparty – Partei des Evangeliums“ und das „Bündnis C – Christen für Deutschland“ verabreicht bekommen zu haben,

Die PARTEI fordert eine „Wirecard für alle“ und eine „Bierpreisbremse“ bei großem Durst.


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