Strandgut 6/2022

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LIteratur Kolumne: Alf Mayers Blutige Ernte

Der Medusa niemals ins Gesicht schlagen ... wenn man sich rechtzeitig vor dem geflügelten Pferd ducken kann. Alf Mayer über Sybille Ruges Roman »Davenport 160 × 90« Früher begann der Tag mit einer Schusswunde (Wolf Wondratschek), bei Sybille Ruge beginnt er mit einer Beerdigung. Der ihres Vaters. Sie nennt ihn den Mann, dessen X-Chromosom sie besitzt. Sie hat weder einen Toten noch einen Koffer in Berlin, sie ist ein schnodder-schnäuziges Frankfurter Gewächs und schon mit diesem Debüt eine der besten deutschen Stimmen seit Ulf Miehe und Marlene Dietrich. Ihr Roman »Davenport 160 × 90« hat mich umgeworfen. Diese Frau kann schreiben. Und wie. Große Verneigung. Im Lauf dieses Textes – und vor allem auch bei Joachim Feldmann – mehr dazu. Doch der Reihe nach. Das Buch beginnt so: »Meinen Vater lernte ich auf seiner Beerdigung kennen. Seine Auslöschung hatte bereits zu Lebzeiten stattgefunden. Die Gründe dafür sind mir unbekannt geblieben. Meine Mutter hatte sechs Wochen zuvor, kurz vor ihrem Tod, erstmals seinen Namen erwähnt. Nachdem die Asche meiner Mutter versenkt worden war, wollte ich das Familiending liquidieren. Mit 45 sollte man das in irgendeiner Weise geschafft haben, dachte ich.« Nach nur 14 Zeilen stöckelt die Erzählerin über einen Friedhof im Spessart, Blasen an den Füßen. Sie trägt schwarz als Waise. Tanktop und Jogginghose, bewusst billig. »Touristen starrten mich an. Die Männer auf meinen Arsch, die Frauen auf den Chanel-Rucksack.« Ein paar Zeilen weiter erfahren wir ihren Namen. Slanski.

Sybille Ruge: Davenport 160 x 90. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. Klappenbroschur, 264 Seiten, 15 Euro.

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»Der Name, den ich aus einer Ehe mitgebracht hatte. Ein Intermezzo während des Studiums (...) Ich verzichte seit dieser Zeit auf alles, was nur im Entferntesten nach Vertrag aussieht. Ich treffe Vereinbarungen, bei denen ich jederzeit aussteigen kann. Den Namen habe ich behalten, weil er gut in den Blocksatz meiner Website passt.« Die Beerdigungssache dauert ihr schnell zu lange. Sie habe ohnehin einen starken Drang, sich in keinem Szenario länger aufzuhalten. Und das schon immer. Nie Lust auf einen geregelten Job, auch auf keinen akademischen Grad: »Ich wollte auch nicht den intellektuellen Deppen spielen, der theoretische Grundlagen für Wachstum und Profit generiert.« Sie will ihre Ruhe. Findet, mit dem Geld muss man machen, was einem der liebe Gott geschenkt hat. Bei ihr ist es »das sichere Gefühl für den Schlussstrich«. Sie denkt sich »als Einzeller in einer vibrierenden Heimatlosigkeit, wo nicht geredet wird. Die Zeit stürzt nach vorn. Ihre Maßeinheit heißt CASH. Die Folge ist Abstand. Abstand brauche ich wie nichts anderes auf dieser Welt.« In ihrem Büro genießt sie Freiheit. Das muss man erst mal sagen können. Slanski (Vorname Sonja, wie wir erst später erfahren) zieht das durch. Ihr Büro und ihre Arbeit bewahren sie vor dem sogenannten Kollektiv. Sie hat Klienten, die ihr das Honorar über den Schreibtisch reichen, die ihr die Reisen bezahlen und die sie sitzenlassen kann, wenn sie nerven. Über ihren Job redet sie grundsätzlich nicht. Sie legt einfach ihre Karte hin. Vorne eine Telefonnummer, auf der Rückseite ein Wort. FORDERUNGSMANAGEMENT. Slanski betreibt ein Inkassobüro. Aber nicht für Kleinbeträge. Sondern für die Banken-, Börsianer-, Anzugs- und Anwaltswelt am Finanzplatz Frankfurt. Als Romanfigur hat uns so jemand gefehlt. Solch ein Frankfurt-Buch hat uns gefehlt. Sybille Ruge, Lyrikerin, Schauspielerin, Kostümbildnerin und Schöpferin edler Textilien mit Interesse an Raumfahrt, Soziologie und den

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© emotional gallery/Suhrkamp Verlag

Texten von Heiner Müller – so ihre Kurzbiografie – liefert uns diese Figur. Serviert sie uns mit dem coolsten Buchauftakt seit Eric Amblers »Der Brief mit der Warnung traf am Montag ein, die Bombe selber am Mittwoch. Es wurde eine betriebsame Woche«, damals 1981 in »Mit der Zeit – The Care of Time«. Wer so selbstbewusst auftritt, muss auch liefern. Das ist der Grund, warum so viele konfektionierte Kriminalromane von vornherein lieber keine laute Tonart anschlagen, warum es erzählerisch bestenfalls plätschert. Im aktuellen Suhrkamp-Logbuch ist nachzulesen, warum auf dem Cover von

»Davenport 160 × 90« der Begriff »Roman« steht und nicht »Kriminalroman«. Die Ultra-Kurzfassung davon: des Mehrwerts wegen. Und weil manche Begrifflichkeiten einfach zu kurz greifen oder nur eingeschränkte Erwartungen bedienen. Natürlich ist der abgebrühte, hartgesottene Held, seit Humphrey Bogart hinterm Schreibtisch saß, ein Stereotyp. Ebenso wie das Klischee stammt dieser Fachausdruck aus der Drucktechnik und bezeichnet wiederholte, vorgefertigte Drucktexte. So etwas kreativ und subversiv gegen den Strich zu bürsten (wieder eine Begrifflichkeit aus dem Metier) erfordert neben viel


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