Strassenmagazin Nr. 498 23. April bis 6. Mai 2021
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Ostafrika
Äthiopien im Krieg Der Konflikt in Tigray spaltet das Land – und auch die Diaspora in der Schweiz. Seite 8
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TITELBILD: ANDY SPYRA
Editorial
Hoffnungen Als Abiy Ahmed im Jahr 2018 Premier von Äthiopien wurde, begann auch in der Diaspora in der Schweiz Hoffnung zu keimen. Der neue Premier schien ein Vermittler zu sein, er verfolgte eine Öffnungspolitik und wurde nach nur 18 Monaten im Amt bereits mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nun herrscht seit Anfang November letzten Jahres Krieg, in Tigray, der nördlichsten Region Äthiopiens. Auch hierzulande haben sich die Hoffnungen der Äthiopier*innen zerschlagen. Darauf, dass die Verwandten in der Heimat in Sicherheit leben können. Darauf, dass das Leiden dort ein Ende hat. Die Hoffnung auf Frieden bedeutete auch, dass eine Tür einen kleinen Spalt offenstand: diejenige zu einer möglichen Zukunft in der Heimat. Denn Politik, Krieg und Frieden sind mit der eigenen Identität verknüpft, dem eigenen Platz in der Welt. Der Konflikt droht die äthiopische Gemeinschaft auch hierzulande zu spalten. «Gerade auf Sozialen Medien kann man beobachten, wie aus ‹Freunden› plötzlich politisch wie eth-
nisch motivierte Anhänger*innen der jeweils anderen Kriegspartei werden», sagt die Migrationsbeauftragte Laurence Gygi. Die Bilder aus dem Flüchtlingslager im Sudan, in dem Geflüchtete aus der Tigray-Region unterkommen, zeigen keine plakativen Tragödien. Sie erzählen vielmehr von einer Verlorenheit, die – obwohl sie fast poetisch wirkt – vielleicht mehr Wahrheit über die Situation in sich trägt. Ab Seite 8. Eine recht düstere Ausgabe ist es diesmal geworden, optisch wie inhaltlich. Doch gerade in dem Text, der sogar «Memento Mori» heisst (Seite 21), steckt letzten Endes eine Hoffnung. Die Hoffnung, dass man alles auch anders machen könnte. Im Umgang mit dem Tod, aber auch mit dem Leben. Dem Zusammenleben. Eine Ahnung davon bietet der Text ab Seite 18, mit Pasta, Melanzane und Musik beim Piratenspielplatz. DIANA FREI
Redaktorin
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
8 Äthiopien
In Ungewissheit und Angst
24 Fotografie
Gegen die Reizüberflutung
Aufbruchstimmung 18 Pandemie 5 Was bedeutet eigentlich ...?
Mittlerweile brennt das Feuer immer öfters
25 Buch
Eine Insel mitten in der Schweiz
Anreize
28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Nachruf
21 Unsichtbarer Tod
26 Veranstaltungen
Viktor Zimmermann
6 Verkäufer*innenkolumne
Zu viel des Guten
27 Tour de Suisse
Pörtner am Eigerplatz 7 Vor Gericht
Seid doch lieb! 7 Die Sozialzahl
Wachsende Armut und materielle Entbehrung
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Aufgelesen
FOTO: GILES CL ASEN
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
DENVER VOICE / INSP.NGO
Mehr Junge auf der Strasse Über 40 Millionen Amerikaner*innen sind von Armut betroffen. Das grösste Problem ist Obdachlosigkeit. Man geht davon aus, dass mehr als eine halbe Million Menschen ständig ohne Bleibe ist, Organisationen reden von 3,5 Millionen Betroffenen. Zunehmend sind es Jugendliche, die auf der Strasse landen – vor allem in Grossstädten, wo die Lebenshaltungskosten explodieren und der Arbeitsmarkt hart umkämpft ist. Führend in Europa
Mehr Müll
Doppelt benachteiligt
6,2 Prozent der Österreicher*innen identifizieren sich gemäss einer Umfrage eines Berliner Marktforschungsinstituts als LGBT+, also als Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender sind. Damit ist der Anteil von LGBT+-Menschen in Österreich europaweit am höchsten.
Eine halbe Milliarde Kleidungsstücke hat sich seit Beginn von Corona in deutschen Geschäften angesammelt, das sind fast 50 Prozent mehr als in «normalen» Jahren. Laut Greenpeace werden die unverkauften Stücke geschreddert oder verbrannt, was umwelttechnisch problematisch sei. Offenbar ist die Vernichtung günstiger als die Neuvermarktung; auch Spenden ist aufgrund des Steuerrechts unattraktiv.
Nach einer Studie des RobertKoch-Instituts lag in Deutschland im Januar und Februar, also auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle, die Covid-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung.
MEGAPHON, GRAZ
BODO, DORTMUND
HINZ & KUNZT, HAMBURG
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Was bedeutet eigentlich ...?
Anreize Bis in die 1990er-Jahre sollte der Sozialstaat vor allem eines sein: solidarisch. Das änderte sich mit dem Aufkommen der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Neu musste der Sozialstaat auch «aktivieren». Das heisst: Wer Sozialleistungen bezieht, soll mithilfe von finanziellen Vorteilen («Anreizen») dazu gebracht werden, einen Job zu suchen und sich von der staatlichen Hilfe zu lösen. Heute hat sich dieses auf Selbstverantwortung basierende Anreizprinzip in vielen Bereichen der Sozialpolitik durchgesetzt – etwa bei der Invalidenversicherung, der Arbeitslosenversicherung oder in der Sozialhilfe. Die Stärkung der Eigenverantwortung stellt allerdings die Solidarität infrage. Denn für die staatliche Hilfe werden immer mehr Gegenleistungen erwartet. Nur wer sich anstrengt, für sich selbst sorgen zu können, wird unterstützt. Allen anderen drohen Sanktionen wie Leistungskürzungen. Und sie stehen im Verdacht, die Staatshilfe zu missbrauchen. Anreizmassnahmen geraten damit in eine Grauzone zwischen Kontrolle und Hilfe. Kritiker*innen stellen zudem infrage, ob die Anreize wirken. Erstens, weil sich Menschen bei Weitem nicht so rational verhalten, wie es das ökonomische Konzept der «Aktivierung» vorsieht. Und zweitens, weil der Erfolg von Eingliederung nicht nur von den Anspruchsberechtigten selbst abhängt. Auch strukturelle Faktoren wie die Nachfrage und die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt können Hindernisse sein. Diese sind allerdings schwer zu messen. Dies hat zur Folge, dass ein Scheitern tendenziell den Menschen selbst zugeschrieben wird. EBA
Martine Zwick Monney: Anreize. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020.
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Vor Gericht
Seid doch lieb! Willkommen zum alljährlichen Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)! Darin sind alle den Behörden schweizweit gemeldeten Straftaten erfasst. Es werden also nicht die rechtskräftigen Verurteilungen gezählt, sondern die Verzeigungen bei Widerhandlungen gegen die Straf- und Betäubungsmittelgesetze (StGB und BetmG) sowie gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Eine trockene Angelegenheit, ja. Aber die Zahlen können aufgeregte Gemüter beruhigen. Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften vom September 2019 glaubt über die Hälfte der Menschen im Land, die Kriminalität nehme stetig zu. Entsprechend unsicher fühlen sich die Befragten. Nur: Das Gefühl ist falsch, wie die diesjährige Statistik erneut bestätigt. Der mehrjährige Trend einer Abnahme der Kriminalität setzte sich auch 2020 fort: minus 2,4 Prozent beim StGB, minus 9,4 beim BetmG und minus 11,5 beim AIG. Einen Haken hat die Sache: Zwar wurden insgesamt weniger Straftaten gemeldet: 523 062, jedoch stieg die Zahl der Beschuldigten um zwei Prozent auf 83 318. Will heissen, dass mehr Menschen delinquierten, der oder die Einzelne jedoch weniger intensiv. Für das Plus bei der Zunahme der Anzahl der Beschuldigten sind mehrheitlich Minderjährige und junge Erwachsene bis 25 Jahre verantwortlich. Die Zahlen stehen auch im Zeichen der Pandemie. Bei bestimmten Straftatbeständen, etwa Diebstahl, ist der rückläufige Trend teils auf die Ausserordentliche Lage von März bis Juni zurückzuführen. Ladendiebstähle gingen um einen Viertel zurück,
Einbrüche in Privathäuser und -wohnungen um über sechzig Prozent. Es gab während der Shutdown-Monate auch weniger Verzeigungen wegen Drogen: minus 14 Prozent. Widerhandlungen gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz sanken um 37 Prozent. Bei anderen Delikten verzeichneten die Behörden gegenläufige Trends. Insgesamt gab es während des Shutdowns im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre zwar kaum Veränderungen. Doch die im Privatbereich verübten Gewalttaten nahmen in jenen Monaten deutlich zu: 11 Prozent. Über das ganze Jahr blieb der befürchtete Anstieg der häuslichen Gewalt aus, zumindest in der Statistik. Die Auslastungszahlen der Opferberatungsstellen und der Frauenhäuser dagegen sprechen eine andere Sprache. Die «Task Force Häusliche Gewalt und Corona» deutet dies als Hinweis auf eine Zunahme von Familienkonflikten und leichteren Formen häuslicher Gewalt, die nicht angezeigt werden. Bedenkt man, dass laut Bundesamt für Justiz davon auszugehen ist, dass ohnehin nur rund zwanzig Prozent der Fälle polizeibekannt werden, liegt der Schluss nahe: Ein weit verbreitetes Problem ist noch grösser geworden. Viele kriminelle Vorfälle nahmen aber auch im Corona-Jahr ihren gewohnten Lauf. Die Menschen in der Schweiz bleiben begeisterte Kiffer. Von den knapp 70 000 Widerhandlungen gegen das BetmG betraf fast ein Viertel den Hanfkonsum. Und wer glaubte, eine Pandemie würde das Wir-Gefühl stärken, irrt. Es wird nach Kräften beschimpft und verleumdet. Diesbezügliche Verzeigungen nahmen wie in den Vorjahren sprunghaft zu.
Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich.
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ILLUSTRATION: ELENA KNECHT
Verkäufer*innenkolumne
Zu viel des Guten Es gibt viel mehr gläubige Menschen, als man gemeinhin so denkt. Hätte ich alle christlichen Schriften und Tonträger, die ich im Laufe der Jahre bekommen habe, aufbewahrt, sie würden ein ganzes Tablar in meinem Regal füllen. Hat jemand ein biblisches Traktat in der Tasche, bin ich der Auserwählte, der es in feierlicher Manier überreicht bekommt, meist verbunden mit der Frage: «Glauben Sie an Gott?» Es kommt auch vor, dass die Schenkenden für meinen Geschmack in ihrem missionarischen Eifer überborden und gleich an Ort und Stelle mit mir beten wollen, vermutlich, um mich wohlwollend vor dem Fegefeuer zu bewahren. Ich denke: Das muss ein Scherz sein. Irrtum! Ist es nicht. Es ist ihr heiliger Ernst. Nun kann man die Bahnhofsunterführung zu Rapperswil wahrlich nicht gerade als Kathedrale oder stilles Kämmerlein bezeichnen. Nicht nur wegen der 6
Räumlichkeit. Es herrscht hier reger Betrieb. Und zwar nicht kirchlicher, sondern eher weltlicher Natur. Frauen, Männer und Kinder, die ihren Geschäften, Verpflichtungen und Freizeitaktivitäten nachgehen. Ein emsiges Kommen und Gehen. Alle bleiben von den Missionierenden verschont. Ausser ich! Herrgott nochmal, bin ich denn sündiger als alle anderen, bloss weil ich Surprise verkaufe? Sehen diese Menschen darin eine wohlverdiente Strafe Gottes, welche ich, in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt, zu verbüssen habe? Wenn dem so wäre, dann ist er ein gnädiger Gott, denn er kennt mich ja und weiss also, dass ich dieses Heft sehr gerne verkaufe und dies für mich nie und nimmer eine Strafe ist. Ich spinne den Faden weiter: Nehmen wir an, ich verbüsse eine Strafe Gottes. Immerhin erhalte ich während meines Strafvollzugs, ich vermute wegen
guter Führung, häufig Komplimente: «Sie machen einen guten Job.» – «Es ist schön, dass Sie da sind.» – «Wir würden Sie vermissen.» – Mal hat mir jemand im Vorbeieilen zugerufen: «Das ist Ihre Berufung!» Um die Frage «Glauben Sie an Gott?» noch zu beantworten: Ich glaube nicht. Ich weiss. URS HABEGGER, 65, lebt seit zwölf Jahren vom Surprise-Verkauf am Bahnhof Rapperswil. Er ist kein Kirchgänger, aber der christlichen Lehre durchaus nicht abgeneigt. Nur mit dem Wort «glauben» steht er auf Kriegsfuss. Es ist für ihn ein Unwort, ein Wischi-Waschi-Wort, nichtssagend, weder schwarz noch weiss, weder heiss noch kalt.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: SILC (ERHEBUNGEN ÜBER EINKOMMEN UND LEBENSBEDINGUNGEN)
Die Sozialzahl
Wachsende Armut und materielle Entbehrung Die Armutsquote lag 2019 in der Schweiz bei 8.7 Prozent. Das ist der höchste Wert der letzten zehn Jahre. 735 000 Personen waren von Einkommensarmut betroffen. In diesen Zahlen sind die Auswirkungen der Corona-Krise noch nicht enthalten. Die Berechnung der Armutsquote ist nur ein Konzept, um die Lebenslage vulnerabler Menschen zu beschreiben. Ein anderes ist die Messung der materiellen Entbehrungen. Von materieller Entbehrung wird gesprochen, wenn Personen aus finanziellen Gründen einen Mangel an elementaren Lebensbedingungen und Gebrauchsgütern aufweisen, die von der Mehrheit der Bevölkerung als wesentlich erachtet werden. Zurzeit werden europaweit neun verschiedene Kategorien verwendet. Die prekäre Lebenssituation spiegelt sich demnach im Ausmass der materiellen Entbehrungen, die Haushalte leisten müssen. So wird auch in der Schweiz regelmässig gefragt, wer sich zum Beispiel keine Woche Ferien im Jahr, unerwartete Rechnungen von 2500 Franken im Monat, kein Auto, keinen Fernseher oder keinen Computer leisten kann. Über die einzelnen Kategorien kann man streiten. Ob ein fehlendes Auto zur materiellen Entbehrung dazu gehört, mag für viele in der Schweiz fraglich sein, im dünn besiedelten Finnland sieht das anders aus. Auch die Frage nach dem Computer müsste wohl mit dem Zugang zum Internet ergänzt werden, wenn man an den Zwang zum Homeoffice in der Corona-Krise denkt.
Quote in der Schweiz 4.9 Prozent. Sieht man sich einzelne Kategorien an, gewinnt das Bild der Prekarität an Kontur. 8.9 Prozent der Bevölkerung haben Zahlungsrückstände, 20.7 Prozent können keine ungeplanten Ausgaben von 2500 Franken tätigen, 8.8 Prozent sich keine Woche Ferien leisten. Unter besonders hoher materieller Entbehrung leiden Einelternhaushalte. Hier beträgt die Quote 16.2 Prozent. Fast die Hälfte der Alleinerziehenden können unerwartete grössere Ausgaben nicht tätigen, weil sie auf kein Erspartes zurückgreifen können. Rund ein Viertel kann sich keine Ferien leisten. 6.7 Prozent dieser Familien müssen sich sogar beim Essen einschränken und können nicht mal jeden zweiten Tag eine komplette Mahlzeit zu sich nehmen. Mit dieser Statistik gewinnt man einen genaueren Eindruck der materiellen Armut, als wenn man sich nur auf die nackte Zahl der Einkommensarmut konzentriert. Deutlich wird, mit welchen Einschränkungen Menschen leben müssen, die kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. In permanenter Furcht vor neuen Rechnungen müssen sie sich beim täglichen Bedarf einschränken und auf soziale Teilhabe verzichten. Leider müssen wir davon ausgehen, dass sich das Ausmass an materieller Entbehrung für viele in der Corona-Krise weiter akzentuiert hat. Auch in der reichen Schweiz!
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Die Quote der materiellen Entbehrung zeigt denjenigen Anteil der Bevölkerung auf, der in mindestens drei der neun Kategorien materieller Entbehrung ausgesetzt ist. 2019 beträgt diese
Materielle Entbehrung 2019 Gesamtbevökerung Einelternhaushalte Quote der materiellen Entbehrung
4,9 % 16,2 % Surprise 498/21
Anteil der Bevölkerung, die in einem Haushalt lebt mit mindestens einem Zahlungsrückstand
8,9 % 22,9 %
Anteil der Bevölkerung, die in einem Haushalt lebt mit fehlenden materiellen Ressourcen für … das Tätigen einer unerwarteten Ausgabe von 2500 Franken innerhalb eines Monats
20,7 % 46,6 %
eine Woche Ferien im Jahr
8,8 %
eine komplette Mahlzeit jeden zweiten Tag
eine ausreichende Beheizung der Wohnung
2,5 %
0,3 %
24,6 % 6,7 %
1,4 %
ein Auto
4,7 % 11,5 %
einen Fernseher
einen Computer
eine Waschmaschine
0,3 %
1,7 %
0,0 %
1,3 %
4,2 %
0,0 % 7
Äthiopien Seit letztem November herrscht in Tigray Krieg. Ungewissheit und Angst treibt die Leute im Land um – wie auch die Diaspora in der Schweiz.
Der Krieg um Tigray Ein Hintergrundbericht, Stimmen von Diaspora-Angehörigen, ein Interview und Bilder aus einem Flüchtlingslager – der Versuch, sich einem Konflikt zu nähern, aus dessen Innern kaum Informationen nach aussen dringen. FOTOS ANDY SPYRA
Am 4. November 2020 marschierte die Armee des äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed in die Tigray-Region im Westen des Landes ein. Kurz darauf war von Massakern die Rede, von zehntausenden Toten und noch mehr Geflüchteten. Der Konflikt zwischen der Regierung, an deren Seite auch eritreisches Militär kämpft, und der Tigrinischen Volksbefreiungsfront dauert bis heute an. Doch was sind eigentlich die Wurzeln dieser neuerlichen Auseinandersetzungen, wie konnte es so weit kommen und wie geht es weiter? Korrespondent Marc Engelhardt, der viele Jahre aus Afrika berichtete, beleuchtet für uns die Hintergründe des Konfliktes. Wie die Situation vor Ort ist, wer welche Verbrechen begeht und was mit den Zivilisten geschieht, ist allerdings immer noch unklar; die Berichte sind spärlich und Medienschaffende haben kaum Zugang zur Kriegsregion. Der Fotojournalist Andy Spyra ist in den Süden des Sudans gereist, wohin derzeit die meisten Menschen aus der um-
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kämpften Tigray-Region flüchten, von über 60 000 ist die Rede. Seine Bilder aus dem Flüchtlingslager Um Racouba sind Zeugnisse einer gewaltsamen Vertreibung, deren Konsequenzen noch niemand kennt. Welche Auswirkungen dieser Konflikt für die Diaspora in der Schweiz hat, darüber haben wir mit Äthiopier*innen und Eritreer*innen geredet. Die meisten von ihnen möchten anonym bleiben, zu gross ist die Furcht vor Repression für sie selbst oder ihre Familien zuhause. Dabei scheint sich mehr und mehr ein Misstrauen untereinander auszubreiten: Wo bis vor Kurzem noch die äthiopische Identität im Zentrum stand, spielt nun plötzlich eine Rolle, aus welcher Region man stammt, welche Sprache man spricht, welcher Ethnie man angehört – Oromo (35 Prozent der äthiopischen Bevölkerung), Amhara (30 Prozent) oder Tigray (7 Prozent). Eine Beobachtung, die auch Laurence Gygi von der Kirchgemeinde Wohlen in Bern macht, wie sie im Interview mit Surprise ausführt. KP
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Regionen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen QUELLE: DEUTSCHE WELLE
Flüchtlingsbewegung TIGRAY
ERITREA
SUDAN AMHARA
SOMALIA
Addis Abeba OROMIA
ÄTHIOPIEN
SÜD-SUDAN
KENIA
Geflüchtete auf einem Hügel über dem Flüchtlingslager Um Racouba im Süden des Sudans, wo derzeit 20 000 Menschen leben.
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FOTO: ZVG
Andy Spyra Der deutsche Fotograf Andy Spyra, 37, hat in Hannover Bildjournalismus und Dokumentarfotografie studiert und berichtet für internationale Medien vor allem aus dem Mittleren Osten, Balkan und der Subsahara. Im März dieses Jahres war er für eine Reportage im Süden des Sudans an der äthiopischen Grenze unterwegs. Seine Bilder stammen aus dem Flüchtlingscamp Um Racouba, einem von zwei permanenten Lagern, in denen Geflüchtete aus der Tigray-Region unterkommen. Fast die Hälfte der 20 000 Menschen in Um Racouba sind jünger als achtzehn Jahre. Die Geflüchteten werden von grossen Organisationen wie UNHCR oder Ärzte ohne Grenzen unterstützt. Nebst medizinischer Grundversorgung werden provisorische Schulen eingerichtet, es gibt inzwischen auch kleine Läden, die Geflüchteten versuchen eine gewisse Normalität in ihr Leben zu bringen. Vor Ort konnte Spyra allerdings auch beobachten, wie sich ein Teil der vorwiegend jungen Tigray-Männer politisch radikalisiert, je länger der Konflikt anhält. Sie wollen offenbar lieber zurück in ihr Gebiet und gegen die Armee der Regierung kämpfen als weiter im Flüchtlingscamp auszuharren und auf eine Rückkehr zu hoffen. KP
Im Lager Um Racouba gibt es kleine Läden, in denen Geflüchtete wie diese Frau (oben) Waren verkaufen oder Getränke anbieten. Für die Wasserversorgung (unten) sind internationale Organisationen zuständig.
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Abstieg im Eiltempo Als Abiy Ahmed vor drei Jahren zu Äthiopiens Regierungschef bestimmt wurde, galt er als Hoffnungsträger. Jetzt ist davon kaum noch etwas zu spüren. TEXT MARC ENGELHARDT
Im März 2018 bestimmte die äthiopische Regierungspartei EPRDF Abiy Ahmed als neuen Premier. Die Wahl war unerwartet: Der damals gerade einmal 41-Jährige gehörte den Oromo an, der grössten Volksgruppe im Vielvölkerstaat am Horn von Afrika. Vor allem diese hatte drei Jahre lang protestiert und damit den Rücktritt von Abiys glücklosem Vorgänger Hailemariam Desalegn erzwungen. Zehntausende Jugendliche waren auf die Strasse gegangen, hatten sich dem schwer bewaffneten Militär entgegengestellt und gerufen: «Kommt her, erschiesst uns doch. Was haben wir schon zu verlieren?» Abiy, so die Hoffnung, würde die junge Bevölkerungsmehrheit befrieden können. Gut zwei Drittel der 105 Millionen Äthiopier*innen sind unter 25 Jahren, 50 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Innerhalb von Wochen krempelte Abiy das Land mit seinen 105 Millionen Einwohner*innen komplett um. Er liess Tausende politische Gefangene frei und verbotene Parteien wieder zu, schloss Frieden mit Eritrea und vergab die Hälfte der Kabinettsposten, das oberste Richter- und das Präsidentenamt an Frauen. Zur Chefin der Wahlkommission kürte er eine prominente Oppositionelle. Ein Jahr später wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Der rapide Wandel löste bei den jungen Äthiopier*innen eine ungekannte Euphorie aus. Die Folgen von Abiys Öffnungspolitik schienen unumkehrbar: Auf einmal wurde offen über Politik geredet, die Angst vor den omnipräsenten Spitzeln war verschwunden. Dabei hatte Abiy den repressiven Überwachungsstaat der Vorgängerregierungen massgeblich mitgetragen, einige sagen: mitgeprägt. Unter anderem baute er den berüchtigten InternetGeheimdienst auf, der Blogger*innen und SocialMedia-Nutzer*innen kontrollierte. So musste ihm klar sein, wem er auf die Füsse trat, als er vor allem Mitglieder der bis dahin in Politik, Verwaltung und Militär einflussreichen Elite aus der Tigray-Region im Norden entmachtete – jener Elite, die 1989 in der Tigrinischen Volksbefreiungsfront (TPLF) das brutale Mengistu-Regime gestürzt und dann die Macht im Staat übernommen hatte. Die früheren Profiteure des Regimes sind gefährliche Gegner. Abiy hat bereits einen Anschlag und einen Putschversuch überstanden. Vor allem im Militär, dessen korrupte Geschäfte durch Ermittlungen der Regierung mehr
und mehr ans Licht kamen, war der Widerstand von Anfang an gross. Viele frühere Generäle stammen aus Tigray. Zeitgleich wuchs nicht nur dort, sondern auch in anderen Regionen der ethnische Nationalismus. 1989 hatte TPLFChef Meles Zenawi die Revolutionäre demokratische Front der äthiopischen Völker (EPRDF) unter Führung der TPLF geschmiedet. Ihr wichtigstes Ziel: Äthiopien als Staat zusammenzuhalten – koste es, was es wolle. Unter Abiy, der die EPRDF in eine neue Partei umformte, zerbrach die Allianz. In den Regionen wächst die Gewalt: Milizen von Oromo und Amharen überfallen Minderheiten. Separatist*innen haben Zulauf, nicht zuletzt in Abiys Heimatregion Oromia. Dass Abiy die für 2020 geplanten Wahlen – offiziell wegen Covid-19 – mehrfach verschoben hat, lässt manche an seiner Legitimität zweifeln. Die Ankündigung der TPLF, Tigray von Äthiopien loszusagen, führte im November 2020 zum Einmarsch der äthiopischen Armee – wohl auch, um andere Regionen von ähnlichen Vorhaben abzuhalten. Auf Abiys Seite kämpfen eritreische Truppen, die Human Rights Watch für Massenhinrichtungen von Zivilisten in der Stadt Axum verantwortlich macht. Sie sollen ausserdem ein Massaker im Kloster Maryam Dengelat verübt haben, bei dem mehr als hundert Pilger und Einheimische während einer Messe überfallen und ermordet wurden. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hat Äthiopiens Regierung aufgefordert, eine unabhängige Untersuchungskommission ins Land zu lassen. Doch Abiy lehnt das bislang ebenso ab wie Vermittlungsversuche aus der Region – womöglich, weil Aktivist*innen schwere Menschenrechtsverletzungen aufseiten der äthiopischen Armee (wie auch der TPLF) dokumentiert haben. Wie die Lage in Tigray konkret aussieht, lässt sich schwer sagen. Auch Journalist*innen haben keinen Zugang zum Bürgerkriegsgebiet. Viele der sieben Millionen Einwohner*innen sind auf der Flucht. Gut 60 000 haben es bisher in den Sudan geschafft.
Innerhalb von wenigen Wochen krempelte Ministerpräsident Abiy Ahmed Äthiopien komplett um.
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Hintergründe im Podcast: Der Autor Marc Engelhardt im Gespräch mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk
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«Nach so viel Hoffnung kommt so viel Leid» Der Krieg in der Tigray-Region bereitet auch den Äthiopier*innen in der Schweiz grosse Sorgen. Manche beziehen klar Stellung, andere wünschen sich ein vereintes Äthiopien. Stimmen aus der Diaspora.
«Ich dachte, jetzt kommt die Demokratie» «Als Abiy an die Macht kam, träumte ich davon, nach Äthiopien zurückzukehren, ich dachte, jetzt kommt die Demokratie, der Frieden und alles wird gut. Wie naiv. Ich habe Angst, dass alles noch schlimmer wird, dass sich der Krieg wieder ausweitet nach Eritrea, aber auch in den Sudan.» SEMERE M.*, 38, Tigray, aufgewachsen in Adigrat, lebt seit fünf Jahren in der Schweiz.
* Name geändert
«Die Tigray-Herrschaft hat alles kaputtgemacht» «Vor dreissig Jahren spielte es keine Rolle, wer du bist, welche Sprache du redest, es gab nur eine einzige Flagge, die äthiopische. Dann kam die Tigray-Herrschaft, sie hat alles kaputtgemacht, hat uns zu Separatist*innen und Rassist*innen gemacht. Früher war der Mensch wichtig, jetzt zählt bloss: Bist du Tigray, bist du Omoro, bist du Amhara, bist du ein Somali? Es ist fürchterlich.» MAKEDA N.*, 36, Amhara, aufgewachsen in Dese, lebt seit vier Jahren in der Schweiz.
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Insgesamt 60 000 Menschen mussten bisher infolge des Tigray-Konfliktes aus Äthiopien in den benachbarten Sudan flüchten. Wie deren Zukunft aussieht, ist ungewiss.
«Wir müssen den Opfern dieses Krieges eine Stimme geben» «Die Kinder, die alten Menschen, die Frauen, die jetzt leiden müssen wegen des Krieges, das alles geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann gar nicht anders, ich muss mich politisch engagieren, auch wenn es gefährlich ist. Wir dürfen nicht schweigen, müssen den Opfern dieses Krieges eine Stimme geben. Wir organisieren Demos, es ist wichtig, dass wir jetzt zusammenhalten, speziell wir Oromo und Tigray. Eigentlich gibt es nur eines: Präsident Abiy müsste sich mit den Oppositionellen und der Tigrinischen Volksbefreiungsfront an einen Tisch setzen, sie müssten miteinander reden und verhandeln. Ob das realistisch ist? Ich weiss es nicht, ich weiss nur, eine andere Lösung gibt es nicht. Sonst wird es immer so weiter gehen, das Ganze wird nie ein Ende haben.» ASMERON M.*, 32, Oromo, aufgewachsen in Goba, lebt seit sechs Jahren in der Schweiz.
«Alles ist beim Alten» «27 Jahre wurden wir von den Tigray beherrscht und unterdrückt. War man nicht einer von ihnen und redete man nicht ihre Sprache, bekam man keine Arbeit, musste untendurch. Und jetzt? Alles ist beim Alten. Abiy Ahmed, der neue Präsident, hat den Vermittler gespielt, hat dafür sogar den Friedensnobelpreis bekommen. Was für ein Witz! Er ist um keinen Deut besser, er belügt die Menschen und veranstaltet Massaker. Manche sagen, das sei deswegen, weil er Oromo ist. Das glaube ich nicht. Würde morgen ein Amhara an die Macht kommen, es würde keinen Unterschied machen. Ich habe Angst um mein Land, ich fürchte, es wird zerfallen.»
«Sie werden verfolgt, haben nichts zu essen, müssen draussen schlafen» «Ich bin halb Oromo, halb Amhara, deswegen bin ich hier in der Schweiz auch nicht in Gruppen, die entweder nur aus Oromo bestehen oder nur aus Amharen. Ich finde es auch nicht gut, wenn sie ihre eigenen Fahnen haben, sich voneinander abgrenzen, wir sind doch alle Äthiopier*innen. Ich habe keine Arbeit und deshalb viel Zeit zum Nachzudenken, was jetzt mit all den Menschen in der Tigray-Region passiert, sie werden verfolgt, haben nichts zu essen, müssen draussen schlafen. Das alles bereitet mir grosse Sorgen.» NESANET A .*, 34, Oromo-Amhara, aufgewachsen in Addis Abeba, lebt seit 6 Jahren in der Schweiz.
«Es war von Föderalismus die Rede» «Als Abiy Ahmed vor drei Jahren an die Macht kam, hat er von Föderalismus geredet. Das ist eine schöne Idee, mir gefällt sie: Wir akzeptieren einander wie wir sind, lassen einander in Frieden, wir helfen einander, wenn wir Not ist. Doch nun frage ich mich: Um welchen Preis? Als ich von den Massakern in der TigrayRegion hörte, als ich diese Videos sah mit all den Toten – Frauen, auch kleine Kinder waren darunter –, da konnte ich es nicht fassen. Nach so viel Hoffnung kommt so viel Leid! Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich bin Oromo wie unser Präsident. Doch mein Mann sagte, was können wir dafür? Die Familie einer Freundin von mir, die ebenfalls hier in der Schweiz lebt, kommt aus dem Osten Tigrays. Wochenlang hatte sie nichts von ihren Eltern und ihrem Bruder gehört, sie hatte grosse Angst, war unter Schock. Dann erfuhr sie auf Umwegen, dass sie in den Sudan geflüchtet sind. Dort sind sie noch immer, in einem Lager, es geht ihnen gut, sie leben.» ALEMEE M.*, 31, Oromo, aufgewachsen in Nekemte, lebt seit fünf Jahren in der Schweiz.
GEBRE T.*, 31, Oromo, aufgewachsen in Addis Abeba, lebt seit acht Jahren in der Schweiz.
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«Über Politik aber reden wir nicht» «Es wird noch viele Probleme geben» «Ich bin Eritreer, bin vor drei Jahren in die Schweiz geflohen. Wenig später gab es Frieden zwischen uns und Äthiopien, wir waren alle sehr erstaunt. Und glücklich. Aber jetzt? Die eritreische Armee ist in Tigray einmarschiert, sie töten dort unsere Nachbarn, aber auch die eigenen Brüder und Schwestern, denn viele Eritreer*innen mussten vor Jahren nach Tigray flüchten. Das ist nicht gut, es wird noch viele Probleme geben.» KIDANE N.*, 28, Eritrea, aufgewachsen in Keren, lebt seit drei Jahren in der Schweiz.
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«Ein Bekannter von mir ist Separatist, ein Oromo, er wettert bei jeder Gelegenheit gegen die anderen, vor allem gegen uns Amharen. Das kann er machen, ich kann es ihm ja nicht verbieten. Über Politik aber reden wir nicht, wir würden uns doch nur streiten. Aber ansonsten haben wir es gut, wir machen Sachen zusammen, helfen einander aus.» EREMIAS O.*, 39, Amhara, aufgewachsen in Addis Abeba, lebt seit zehn Jahren in der Schweiz.
Aufgezeichnet von KL AUS PETRUS
Nach Angaben des UNHCR wurden für die 20 000 Geflüchteten im Lager Um Racouba rund 3800 Zelte, 180 Duschen und 350 Toiletten aufgestellt. Die Lage sei, so das UN-Flüchtlingshilfswerk, nach wie vor prekär.
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«Es herrscht Misstrauen» Der Tigray-Krieg könnte die Diaspora spalten, befürchtet Migrationsbeauftragte Laurence Gygi. Doch es gebe auch Gegenstimmen. INTERVIEW KLAUS PETRUS
Laurence Gygi, Anfang November letzten Jahres brach in der Tigray-Region im Nordwesten Äthiopiens der Krieg aus. Wie hat die äthiopische Diaspora in der Schweiz darauf regiert? Der Grundtenor unter den Äthiopier*innen ist in meiner Wahrnehmung Enttäuschung und Entsetzen. Enttäuschung darüber, dass nach all den Hoffnungen, welche die neue Regierung unter dem neuen Premierminister Abiy Ahmed geweckt hat, nun ein neuer Konflikt das Land erschüttert. Und Entsetzen über die schiere Brutalität, mit der hier vorgegangen wird. Was bereitet den Leuten am meisten Sorge? Das kommt darauf an, wie stark sie selber betroffen sind. Es gibt Äthiopier*innen, deren Familienmitglieder werden nach wie vor vermisst oder wurden ermordet. Dass sie von hier aus nichts tun können, macht sie hilflos, lässt sie verzweifeln. Andere haben Angst davor, dass der derzeitige Konflikt bloss den Anfang einer lang andauernden
Krise darstellt – manche befürchten gar einen landesweiten Bürgerkrieg. Das alles weckt schlimme Erinnerungen an jene Zeit, da sie selber noch in Äthiopien lebten oder fliehen mussten. Die Berichte aus der Tigray-Region sind nach wie vor spärlich. Wie kommen die Leute aus der Diaspora zu ihren Informationen? Manche sind in Kontakt mit Angehörigen, die in der Region leben, viele schauen al-Jazeera oder halten sich an äthiopische und eritreische Sendestationen, denen man allerdings je nach Standpunkt nicht sonderlich traut. Und dann sind da natürlich die Sozialen Medien, über die Informationen ausgetauscht werden. Was allerdings ein Problem sein kann. Inwiefern? Die Gefahr der Propaganda ist sehr gross, was unter den einzelnen Gruppierungen Misstrauen erzeugt. Zudem 15
sind viele dieser Informationen – YouTube-Videos zum Beispiel – sehr ungefiltert. Sie zeigen in aller Offenheit und Brutalität Plünderungen, Massaker und Vergewaltigungen. Ganz oft fehlt der Kontext, der helfen würde, das Geschehene einzuordnen. Das alles entwickelt dann eine Art Sog: Ich kenne Leute aus der Diaspora, die sich regelrecht verpflichtet fühlen, ihre Gemeinschaft fast rund um die Uhr zu informieren und die dann diese schlimmen Bilder nicht mehr loswerden.
Schwierig zu sagen. Die äthiopische Diaspora gilt gemeinhin ja als eine grosse Gemeinschaft: Man feiert, ungeachtet der Herkunft, Religion, Sprache oder Ethnie, gemeinsam Feste, geht an Hochzeiten und Begräbnisse. Und tatsächlich haben sich mir die Leute bisher immer als Äthiopier*innen vorgestellt. Neuerdings erwähnen sie aber, zu welcher ethnischen Gruppe sie gehören, ob Amhara, Oromo oder Tigray. Ich habe gehört, dass sich Äthiopier*innen, die sich früher in der Stadt oder am Bahnhof begegnet sind und miteinander geredet haben, nun eher aus dem Weg gehen. Smalltalk wird offenbar vermieden, man möchte keine kritischen Themen ansprechen, da man befürchtet, einen Streit zu provozieren oder zu spalten. Einige verzichten sogar auf den Kirchenbesuch, der für sie nicht nur spirituell, sondern auch sozial ein wichtiges Ereignis darstellt.
Hat der Konflikt die Diaspora zusätzlich politisiert? In Teilen wohl schon. Wie gesagt, vieles wird auf den Sozialen Medien ausgetragen und richtet sich vor allem an die Landsleute – an jene zuhause, aber auch an die Diaspora weltweit. Auf diesen Kanälen wird oft sehr klar Stellung bezogen für die eine oder andere Seite. Daneben gibt es in verschiedenen Schweizer Städten wieder vermehrt Demonstrationen, die sich an die Regierungen oder die Uno richten. Möglich, dass mein Eindruck trügt, aber ich glaube, auch diese Anlässe sind schon entlang L AURENCE GYGI der ethnischen Gruppen organisiert.
«Smalltalk wird vermieden, man fürchtet einen Streit.»
Bahnt sich ein Streit an? Es herrscht zumindest Misstrauen. Und es gibt derzeit viele Fragen, von denen man nicht weiss, wie das Gegenüber zu ihnen steht: Was ist vom Krieg in Tigray zu halten? Ist er wirklich ungerecht? Wer genau hat ihn angezettelt? Wer hat die Massaker befohlen? Was ist mit den Zivilisten geschehen, wo sind sie jetzt? Und welche Rolle spielt Ministerpräsident Abiy beim Ganzen? Gerade auf Sozialen Medien kann man beobachten, wie aus «Freunden» plötzlich politisch wie ethnisch motivierte Anhänger*innen der jeweils anderen Kriegspartei werden. Eine Frau sagte zu mir, sie habe jetzt Angst, abends allein von der Arbeit nach Hause zu gehen, denn in Amerika hätten sich seit Kriegsbeginn Äthiopier*innen gegenseitig umgebracht.
Viele Diaspora-Äthiopier*innen scheinen mit ihrem Land stark verbunden zu sein, auch wenn sie schon seit Jahren in der Schweiz leben. Das stimmt. Diese Menschen sind ja nicht zum Vergnügen in die Schweiz gezogen, sie wurden von der alten, Tigray-dominierten Regierung verfolgt oder sahen in ihrem Land schlicht keine Perspektive mehr. Trotzdem lieben sie ihre Heimat, die jahrtausendealte Geschichte, sie vermissen die Sprache, Kultur, ihre Familien. Die meisten, die ich kenne, würden sofort zurückkehren, gäbe es in ihrem Land nur Sicherheit und Demokratie.
Droht nun auch der äthiopischen Community in der Schweiz eine Spaltung? 16
FOTO: ZVG
Tatsächlich erlebt man auch als Journalist immer wieder, dass Geflüchtete aus Äthiopien und Eritrea sehr zurückhaltend sind, wenn es um politische Äusserungen geht; zumindest möchten sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Teilen Sie diese Einschätzung? Ja, die Vorsicht ist immer da und gross. Die Gründe dafür sind allerdings sehr unterschiedlich: Manche möchten öffentlich nicht Stellung nehmen, weil sie Angst vor negativen Reaktionen aus der Diaspora haben. Das kann man auch gegenwärtig beobachten, wenn es um den Tigray-Konflikt geht, wo die Meinungen sehr kontrovers sind. Andere möchten sich gegenüber der Regierung in ihrem Heimatland bedeckt halten, weil sie keinen gefestigten Aufenthaltsstatus haben und befürchten, irgendwann nach Äthiopien zurückkehren zu müssen. Wieder andere wollen sich nicht exponieren, weil sie ihre Familien zuhause keinen zusätzlichen Gefahren aussetzen möchten.
Gibt es auch Leute aus der Diaspora, die sich aktiv gegen eine mögliche Spaltung der Community wehren? Ja, diese Erfahrung mache ich durchaus auch. Es sind vor allem Amharen, die sich gegen eine Spaltung aussprechen. Allerdings muss man hinzufügen, dass sich gerade sie aufgrund ihrer Stellung mit der Idee eines Vielvölkerstaats wohl leichter tun. Immerhin ist ihre Sprache die offizielle Hochsprache Äthiopiens. Auch haben sie das jahrtausendealte äthiopische Kaiserreich ethnisch wie kulturell stark geprägt. Das unterscheidet sie von anderen Volksgruppen wie Oromo oder Tigray, die immer wieder für ihre politische Gleichstellung kämpfen mussten und die der Idee eines eigenen Staates entsprechend mehr abgewinnen können.
Laurence Gygi, 55, ist seit 2006 Migrationsbeauftragte der Reformierten Kirchgemeinde Wohlen/BE und seit 2015 zudem Koordinatorin der Wohlener Flüchtlingsarbeit.
Inzwischen gibt es in Um Racouba auch Schulen für Kinder und Jugendliche. Fast die Hälfte der 20 000 Geflüchteten im Lager ist unter 18 Jahren.
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Pandemie Das Corona-Virus macht krank. Was ebenso auf der Hand liegt, aber wieder vergessen zu gehen scheint: Eigentlich wäre es ein Anstoss, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten zu überdenken.
Vielleicht werden wir nicht mehr die Gleichen sein Das Corona-Virus hat eine schmerzliche Lücke in unseren Alltag geschlagen und uns an den Rand der Katastrophen gebracht, die unter der Oberfläche schlummern. Es hat uns aber auch näher ans Menschsein herangeführt. TEXT SERAINA KOBLER
ILLUSTRATIONEN KLUB GALOPP
Gestern Abend brannte das Feuer wieder. In der Mitte der Gartenstadt-Siedlung gibt es eine weitläufige Fläche. Piratenspielplatz wird sie von den Kindern rundherum genannt. Wenn sie ganz klein sind, dann krabbeln sie durch den tiefen Kies und wühlen in den Steinen. Irgendwann klettern sie dann auf die sieben Meter hohe Plattform, sozusagen der Ausguck des Schiffes. Von dort oben sehen sie über die gelben Häuser mit den vielen Giebeln, Erkern und Ziegeldächern. Die Siedlung ist ein wenig wie ein eigenes Dorf im Quartier. Und in diesem seltsamen Pandemie-Jahr wurde sie noch viel mehr. Als wir uns oft wochenlang nur noch im Dreieck zwischen Sportplatz, Lebensmittelladen und dem Zuhause bewegten. Da wurde die Siedlung Dreh- und Angelpunkt unserer Welt. Im Sommer, als wir das Meer vermissten, in dieser kurzen Atempause, die uns der erste Lockdown verschafft hatte, reihten wir Holzbänke und Stühle auf dem Trottoir aneinander. Kochten Pasta und Melanzane oder was einen gerade an den Süden erinnerte und lauschten abends den Musiker*innen, die – coronakonform – zwischen den verschiedenen Gruppen hin und her gingen. Irgendwann im Winter sind wir müde geworden. Sehr müde. Und dann, als die Dämmerung schon wieder jeden Abend etwas länger am Himmel glühte, sah ich das Feuer brennen. Jemand hatte Holz mitgebracht, jemand anderes briet Würste auf dem Feuer. Rundherum spielten die Kinder in der Dunkelheit. Niemand hatte so richtig miteinander abgemacht, aber alle waren dankbar für diesen kurzen Moment des Beisammenseins. Mit Abstand, natürlich. Und frischer Luft. Schliesslich wohnten wir ja alle hier. Mittlerweile brennt das Feuer immer öfters. Selbst wenn das Abendessen gerade fertig ist, dann packen wir es ein Surprise 498/21
und nehmen es mit raus. Es gibt Dinge, die sind in diesem Jahr so kompliziert geworden, wie eine Ausfallsentschädigung anzumelden. Andere waren schmerzhaft. Als der Vater eines Freundes starb, mussten er und sein Bruder entscheiden, wer sich in echt von ihm verabschieden darf, weil nur noch einer Zutritt ins Krankenhaus erhielt. Ich denke an all die stillen Beerdigungen im engsten Kreis. Das Virus hat den Verstorbenen die Möglichkeit einer würdigen Abdankung geraubt. Den Trauernden das trostspendende Totenmahl. Eine von vielen Facetten der Lähmung, die uns auch als Gesellschaft immer wieder ergriff. Das weiche Kissen der Zivilisation Das Jahr hatte schon so angefangen. Nachts rüttelten und zerrten die Winde an den Fensterläden. Bianca. Petra. Sabine. Sturmtiefs wie Vorahnungen, die mitten im Winter schwülwarme Luft brachten. Am Dreikönigstag gab ich das Manuskript meines ersten Romans ab. Eine nahe Dystopie, die in einem vom Klimawandel gezeichneten Zürich spielt. Ich hatte viel recherchiert. Nachrichten von schmelzenden Eisschilden. Der heisseste Sommer. Der wärmste Winter. Und ein Himmel voller Flugzeuge, die sich wie ein breites Band pausenlos um den Globus schlangen. Wenn ich im Bett den gleichmässigen Atemzügen meiner Kinder lauschte, dachte ich über Kaskadeneffekte nach. Steigende Meeresspiegel. Versteppte Regenwälder. Das Ende der Evolution. Erst wenn ich mir eine Dokumentation über Pottwale oder indigene Völker im Amazonas ansah, konnte ich einschlafen. Und wenn ich wieder aufwachte, musste ich mich als Erstes von den verhedderten Kabeln der Ohrstöpsel befreien. 19
Doch im Grossen und Ganzen hatte ich mich daran gewöhnt, dass die Möglichkeit einer Katastrophe permanent präsent war. Viel eher wunderte ich mich darüber, dass es den anderen ganz offensichtlich nicht so zu ergehen schien. Wenn ich mit dem Fahrrad der Limmat entlang durch die Altstadt fuhr, vorbei an Reisegruppen und Pärchen, die Liebesschlösser an Brücken anbrachten, spielte ich im Kopf mögliche Szenarien durch. Dürren. Brände. Oder vielleicht auch nur eine einzige feindliche Zelle, die im Geheimen zu wuchern begann und mich aus dem Leben stossen würde. Dann war sie auf einmal da, die Katastrophe. Unsichtbar eingeflogen. Ohne Vorwarnung, dafür mit exponentiellem Wachstum. Und während ein paar hundert Kilometer weiter südlich die ersten Menschen im Fieber auf den Krankenhausfluren erstickten, schwante uns langsam, dass das weiche Kissen der Zivilisation, in das wir uns jederzeit fallen lassen konnten, mit einem Schlag bedroht war. Im unendlichen Wirtschaftswachstum Auf den ersten Blick sah es damals, in diesem ersten Frühling der Pandemie, aus, wie es an einem ganz normalen Morgen im Frühling aussieht. Ein paar Jungs spielten Rollhockey. Die Magnolien standen vor ihrer flüchtigen Blüte, die Natur war bereit für eine neue Runde. Erst nach und nach fiel auf, dass nur Geschwister und Familien beisammen standen. Die Schweiz war über Nacht zu einem Hochrisikoland geworden. Die Grenzen abgeriegelt. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich nicht mehr zu meiner Grossmutter, meinen Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen, die in Deutschland nicht weit der Grenze leben. Ich dachte an den Lockdown, der am Nachmittag kommen würde. Lockdown. R-Wert. Social Distancing. Herdenim-
Wir fuhren mit dem Fahrrad nach Dübendorf, wo die aufgereihten Flugzeuge zum Symbolbild des Zusammenbruchs geworden waren. munität. Worte, die in meinem Sprachgebrauch zuvor nicht existierten. In diesem Jahr hatte sich auch ihre Verwendung exponentiell vermehrt. Die Pandemie verpasste unseren Tagen einen neuen Takt. Deren Höhepunkte darin bestanden, einen Kopfsalat, ein Stück Käse, Äpfel und dunkle Schokolade zu kaufen. Oder in der Dunkelheit ein paar verstohlene Runden zu drehen. Stillstand in der Multioptionsgesellschaft. Plötzlich war aber vieles klar, auch die Kanäle von Venedig, wo man jetzt kleine Fische sah, die am Boden herumflitzten, vor der Stadt gar Delfine statt der Kreuzfahrt-Giganten. Am Zürcher Hauptbahnhof watschelten 20
Schwäne die verlassenen Perrons hinab. Wir fuhren mit dem Fahrrad nach Dübendorf, wo die aufgereihten Flugzeuge zum Symbolbild des Zusammenbruchs geworden waren. Die Schwachstellen unserer Zivilisation zeigten sich gnadenlos. Eine Wirtschaft, die auf unendlichem Wachstum basiert. Ständige Flugreisen. Die Auslagerung der Produktion. All das funktionierte plötzlich nicht mehr. Was wir der Natur antun, fällt irgendwann auf uns zurück. Und doch beuten wir Rohstoffe aus, kolonialisieren, reissen dabei die Grenzen zu anderen Lebewesen ein. Solange wir das tun, ist die nächste Zoonose nicht weit. Denn die Pandemie ist Symptom derselben Ursache wie die Klimakrise: unserem Lebensstil. Fragend in Richtung Zukunft Was wird bleiben? Das fragen wir uns, als wir am Feuer stehen. Jemand sagt, dass in ein paar Wochen, wenn alles wieder hochgefahren ist, selbst so ein spontanes Treffen nicht mehr einfach möglich sein wird. Wenn wir wieder durch unsere Leben hasten. Zuerst vielleicht noch gemächlich, vorsichtig. Doch dann werden wir zusehen, wie sich ein Ereignis ans nächste reiht. Ein wenig fürchte ich mich davor. Denn «normal» war es ja auch vorher nicht. Trotz allem öffnete sich während der Pandemie auch ein Blick in die Zukunft. Die Hoffnung wuchs, dass der «friendly reminder», den uns die Natur da schickte, als solcher erkannt wird. Die Krise hat gezeigt, wie schnell Regierungen weitreichende Entscheidungen zum Schutz von Menschen treffen können. Die Menschen haben gezeigt, wie viel Kraft und Kreativität sie an den Tag legen können, um füreinander da zu sein. Solidarität war plötzlich nicht mehr nur ein politisches Schlagwort, sondern Tausende von brennenden Kerzen auf dem Bundesplatz. Einkaufsdienste für Nachbar*innen in Quarantäne oder an Zäune gebundene Plastiktüten mit haltbaren Lebensmitteln für jene, die diese gerade brauchten. Letztendlich war es nicht das relativ junge, erst mit der Sesshaftwerdung entstandene Besitzdenken, sondern es waren die Kooperationen, welche die menschliche Evolution über Hunderttausende von Jahren hinweg ermöglichten. «Alles ist Wechselwirkung», schrieb schon der Naturforscher Alexander von Humboldt. So gesehen ist die gegenwärtige Krise ein deutliches Zeichen dafür, dass die Verbindungen nicht mehr im Gleichgewicht sind. Nicht mehr zusammenpassen. Unsere Aufgabe wird sein, fragend in Richtung Zukunft zu gehen. Wird das Pflegepersonal weiterhin so schlecht verdienen? Werden wieder Kreuzfahrtschiffe mit 3000 Passagier*innen über die Weltmeere schippern? Werden wir weiterhin T-Shirts für CHF 4.99 kaufen? Schon heute liefert sich der Detailhandel eine Rabattschlacht. Es gibt viel nachzuholen. Die Lager sind voll. Doch vielleicht werden wir nicht mehr die Gleichen sein. Weil wir gemerkt haben, dass uns die ersehnten Schneeglöckchen vor der Türe, ein spontanes Beisammensein am Feuer und gegenseitiger Trost länger zufrieden machen als ein schneller Kauf. Surprise 498/21
Memento Mori Die Pandemie zeigt, wie sehr wir das Sterben aus der Öffentlichkeit verbannt haben. Wollen wir wieder einen anderen Umgang mit dem Tod lernen, müssen wir uns zuerst unseren eigenen Ängsten stellen. TEXT SIMON JÄGGI
Stellen Sie sich vor, am Morgen geht die Sonne auf und Sie sind nicht mehr. Eine schwierige Übung. Allzu gerne verdrängen wir das Wissen um die (eigene) Endlichkeit. Doch in der Corona-Pandemie klappt es mit dem Ignorieren des Todes auch in unserer risikominimierten Gesellschaft immer schlechter. Tagtäglich flimmern neue Zahlen zu Erkrankten, Hospitalisierten, Verstorbenen über die Bildschirme und erinnern uns an die unbequeme Wahrheit: Wir alle vergehen. Selten war es so schwierig, diesem Wissen zu entkommen. Die Geschichte der Corona-Pandemie ist denn auch eine Geschichte unseres Umgangs mit dem Tod. Versammlungsverbote, Schutzmasken, Ausbau der Intensivbetten – all das sind Massnahmen mit einem Ziel: Das Sterben zu verhindern. Während wir alle gebannt auf Statistiken blicken, bleiben die Sterbenden und ihre Angehörigen weitgehend ungesehen. Wir diskutieren über R-Werte und Sterblichkeitskurven – unsere eigene Endlichkeit schweigen wir tot. Das Sterben, das früher beinahe öffentlich vonstatten Surprise 498/21
ging, ist nicht erst seit Corona in blickdichte Räume verbannt. Aber die Pandemie verdeutlicht, wie radikal wir den Tod aus unserem Alltag verdrängen. Rund 80 Prozent aller Menschen in der Schweiz sterben hinter den Mauern von Spitälern und von Alters- und Pflegeheimen, mit Corona nimmt ihre Zahl weiter zu. Und selbst wer sich in diesen Institutionen bewegt, sieht kaum je einen toten Menschen. Verstorbene verschwinden rasch und unauffällig durch Hinterausgänge und Tiefgaragen. Wir schauen weg, so gut es eben geht. Dies einfach mit Ignoranz zu erklären, wäre verkürzt. Die Angst vor dem Sterben ist Teil unseres Seins, sie befällt uns bereits in den ersten Lebensjahren. Im Alter von rund vier Jahren realisieren Kinder erstmals die Endlichkeit des Lebens. Die Erkenntnis, dass irgendwann unsere Eltern und auch wir selber vergehen, erfüllt uns mit Entsetzen. «Wir alle sind getrieben vom unbewussten Versuch, unsere eigene Sterblichkeit zu negieren», formulierte es 1973 der US-Anthropologe Ernest Becker in 21
seinem Buch «The Denial of Death», für das er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. «Wir bauen Charakter und Kultur auf, um uns vor dem verheerenden Bewusstsein der zugrundeliegenden Hilflosigkeit und dem Schrecken unseres unausweichlichen Todes zu schützen.» Wie sehr die Angst vor dem Tod unser Menschsein prägt, wurde seither in verschiedenen Studien untersucht. Der US-Sozialpsychologe Sheldon Solomon ist einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet. «Die Angst vor dem Tod ist eine der treibenden Kräfte hinter menschlichem Handeln», schreibt er 2015 im Buch «The Worm at the Core: On the Role of Death in Life». Schreckens-Management-Theorie nennen Solomon und seine Forschungskollegen ihr Modell, das sie insbesondere in Westeuropa und den USA erforscht haben. Demnach weckt das Bewusstsein des unausweichlichen Todes bei den meisten Menschen ein Gefühl «lähmender existenzieller Furcht». Ein internationales Forschungsteam aus Israel und Frankreich entdeckte vor zwei Jahren zudem einen Mechanismus im Gehirn, der das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit aktiv unterdrückt.
Die Wissenschaftler um Solomon fanden auch heraus, dass die Erinnerung an den Tod eine Reihe von vorhersehbaren Verhaltensstrategien hervorruft, alle mit demselben Ziel: unser sicheres Ende zu leugnen. Diese Strategien treten auch deutlich im Umgang mit der Corona-Pandemie hervor: Wir waschen uns sehr oft die Hände (Sicherheits-Strategie), wir negieren die Gefährlichkeit des Virus (Verleugnungs-Strategie) und wir ignorieren die Toten und die mit ihnen verbundenen Schicksale (Verdrängungs-Strategie). Weil alle diese Mechanismen durch die Dauer und Allgegenwart der Pandemie an ihre Grenzen stossen, leidet die Psyche vieler Menschen. Von der Stube ins Spital verlegt Wie ein anderer Umgang mit dem Sterben möglich wäre, zeigt ein Blick zurück. Vor der Säkularisierung des Alltags bis weit ins 20. Jahrhundert waren das Abschiednehmen und Sterben auch in Westeuropa fester Bestandteil des Lebens. Die Menschen starben zuhause, umgeben von ihren Angehörigen, eingebettet in Rituale. Die Angehörigen wuschen den Leichnam und kleideten ihn ein. Sie bahrten
ihn mehrere Tage zuhause auf und hielten Wache. Im Sterbezimmer versammelten sich Verwandte und Nachbarn ums Totenbett. Bräuche, die nicht erst mit Corona grösstenteils aus der westlichen Kultur verschwunden sind. Im Mittelalter bestand das Leben aus dem Glauben an ein kurzes diesseitiges und ein ewiges jenseitiges Leben. Die Kirche unterrichtete die Menschen in der Sterbekunst, der sogenannten Ars moriendi. Entstanden war diese im Gefolge der Pest-Pandemie. Ihr fiel zwischen 1347 und 1350 die Hälfte der westeuropäischen Bevölkerung zum Opfer. Der tote Körper verschwindet von der Bildfläche Noch 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz keine fünfzig Jahre, die Kindersterblichkeit war hoch. Doch mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Medizin wandelte sich unser Umgang mit dem Tod grundlegend. Hinzu kam der Bedeutungsverlust der Kirche, die den rituellen Rahmen des Sterbens stark geprägt hatten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts sei der Tod «ausgebürgert» worden, schreibt der französische Historiker Philippe Ariès in seiner «Geschichte des Todes». Das Sterben wurde zunehmend aus den Wohnungen in die Spitäler verlegt und den Ärzt*innen überlassen. Der Walliser Ethnologe und Soziologe Bernard Crettaz, der sich sein halbes Leben lang mit dem Tod beschäftigt hat, spricht von der «Marginalisierung» des Sterbens. Er macht sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fest, in der Ära der Konsumgesellschaft und der Wirtschaftswunderjahre. Vor allem der tote Körper sei damals von der Bildfläche verschwunden, schreibt Crettaz: «Er wurde beseitigt, jeweils so rasch wie möglich.» Die Einschränkungen während der Corona-Pandemie verstärken diese Entwicklung: Die meisten Kranken sterben in Intensivstationen und isolierten Abteilungen. Das eigentliche Sterben, obwohl in Zahlen und Statistiken präsent, wird noch unsichtbarer. Doch die Schicksale der Angehörigen sowie die Ängste von alten und kranken Menschen bleiben. «Diese Menschen brauchen Unterstützung und Anteilnahme. Zum Beispiel, indem ihre Trauer durch Rituale und die Möglichkeit von Gesprächen und Begleitungen gewürdigt wird», sagt Susanna Meyer Kunz, leitende Seelsorgerin am Universitätsspital Zürich. Sie erlebt in ihrer Arbeit während der Pandemie, wie verletzlich Angehörige und Betroffene sind, wenn die Freiheitsrechte in den Institutionen eingeschränkt sind. Die übliche Tabuisierung des Sterbens wird so verstärkt, zusätzliche Ängste werden geschürt. Es gibt Stimmen, die – ganz unabhängig von Corona – behaupten, der Tod kehre seit einigen Jahren wieder in die Gesellschaft zurück, so etwa der deutsche Kulturphilosoph Thomas Macho. Als ein Beleg gelten oft die Sozialen Medien. Dort teilen schwerkranke Menschen zunehmend ihre Leidensgeschichten, verschicken Selfies aus dem Krankenbett und lassen die Öffentlichkeit an ihrem Sterben teilnehmen. Auch im öffentlichen Diskurs gewinnt das Thema wieder an Raum. Säuberlich verpackt in eine Sprache, in welcher der Schrecken des Todes kaum Erwähnung
findet. Sie handelt von «Patientenverfügungen» oder «Palliative Care». Es ist die Sprache einer Gesellschaft, die auf der Suche ist nach einem neuen Umgang mit dem Tod. Auch Dinge entsorgen ist ein Abschied Wie eine Auseinandersetzung mit dem Tod gelingen kann, mit dieser Frage befasst sich Roland Kunz seit dreissig Jahren. Er leitet an den Zürcher Stadtspitälern Triemli und Waid die Palliativmedizin. Dort kümmert er sich um unheilbar Kranke, die nur noch eine kurze Lebenszeit haben, und begleitet sie bis zum Tod. Vergangenes Jahr erschien von ihm das Buch «Über selbstbestimmtes Sterben». Darin plädiert er für einen offeneren Umgang mit dem Tod. Dazu gehöre, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu machen, wie man sterben möchte. Etwa mit Blick auf medizinische Eingriffe oder lebenserhaltende Massnahmen. Kunz beobachtet, dass die meisten Menschen auf die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung zunächst mit Entsetzen reagieren. «In meiner Arbeit sehe ich, wie die Angst vor dem Sterben aber für viele immer kleiner wird, je näher der Tod kommt. Sie durchleben oft eine Art Reifeprozess.» Mit fortschreitender Krankheit verliere vieles an Wichtigkeit, die Menschen beginnen loszulassen. «Am Schluss wünschen sich viele, dass sie jetzt gehen
Ein Forschungsteam aus Israel und Frankreich entdeckte einen Mechanismus im Gehirn, der das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit aktiv unterdrückt.
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können.» Oft seien es die Angehörigen, die sich schwer tun, die klammern und das Sterben nicht akzeptieren wollen. «Viele wachen rund um die Uhr am Bett. Und in dem Moment, wo sie dann mal kurz rausgehen, Kaffee holen oder einen Anruf machen, stirbt die Person. Weil sie nicht mehr zurückgehalten wird.» Das Sterben sei auch eine Kunst des Loslassens, sagt Kunz. Am besten übten wir uns darin, während wir noch mitten im Leben stehen. Es brauche Momente der Ruhe, wo wir uns mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Wenn wir Dinge entsorgen, den Wohnort wechseln oder etwas Neues beginnen, sind das immer auch kleine Abschiede. «Wenn wir diese bewusst wahrnehmen, hilft uns das bei der Vorbereitung auf den grossen Abschied.» Vor einigen Jahren kam Roland Kunz dem eigenen Tod nahe. Er hatte einen schweren Autounfall, wurde mehrere Male operiert und verbrachte drei Wochen im Spital. «Das war mein persönliches Memento mori», sagt Kunz. Wir sollten die Erinnerungen an die eigene Sterblichkeit nicht meiden, sondern suchen. «Der Gedanke an den Tod muss nicht nur Angst auslösen. Das Leben gewinnt an Kraft und verliert Angst, wenn wir im Bewusstsein leben, dass es eines Tages vorbei sein wird.» 23
Gegen die Reizüberflutung Fotografie Mit der Wanderausstellung «Ich sehe was, das du nicht siehst» macht
Eline Keller-Sørensen die Wahrnehmung von Menschen mit Autismus spürbar.
FOTOS: ELINE KELLER-SØRENSEN
TEXT MONIKA BETTSCHEN
Der 15-jährige Niklas Svend und die 38-jährige Joëlle Lynn wenden eigene Strategien an, wenn ihr Umfeld sie überfordert.
Wenn wir anderen Menschen begegnen, läuft das jedes Mal etwas anders ab. Deshalb wenden wir unbewusst Verhaltensweisen an, die wir uns im Laufe des Lebens angeeignet haben. Wir erfassen die Körpersprache des Gegenübers und wissen intuitiv, wann eine Umarmung oder bloss ein verbaler Austausch angemessen ist. «Für viele Menschen aus dem autistischen Spektrum aber bedeuten ungewohnte Gesprächssituationen gewaltige Hürden, weil sie das Verhalten von anderen häufig nicht gut lesen können», sagt die Fotografin Eline Keller-Sørensen, die Mutter einer zehnjährigen Tochter, die auch betroffen ist. Wie kann ich dir nur helfen und mit dir in Verbindung treten? Diese Frage dominiere den Alltag von betroffenen Familien. Die Zeit, bis ihre Tochter die Diagnose bekam, beschreibt KellerSørensen als zermürbend. «Man möchte Kontakt herstellen, aber man weiss lange nicht wie.» Was an einem Tag problemlos gehe, zum Beispiel auf den Spielplatz gehen oder der Besuch einer Nachbarin, sei am nächsten Tag vielleicht gerade jener Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringe. Mit einer genauen Planung von wiederkehrenden Abläufen, etwa von Besuchen oder auch von Haare waschen, könne man einem autistischen Kind dabei helfen, sich besser in seinem Umfeld zurechtzufinden. «Da es Betroffenen schwerfällt, Gefühle und nonverbale Signale zu lesen, müssen sie mühsam lernen, die Mimik von anderen zu verstehen.» Um für Begegnungen gerüstet zu sein, greifen viele zu einem Trick: Sie imitieren andere Leute, wobei sie manchmal übertreiben. Solch einstudiertes Verhalten kann irritierend wirken. «Diese Schwierigkeiten beim Kontakt mit 24
anderen werden von der Gesellschaft leider fälschlicherweise als Gefühlskälte interpretiert. Man reduziert sie oft auf das Klischee des verschrobenen IT-Genies: Einige Betroffene verfügen tatsächlich über sogenannte Inselbegabungen, zum Beispiel in der Informatik, wo soziale Interaktionen nicht so zentral sind. Dabei sind autistische Menschen sehr wohl empathiefähig, oft sogar überempathisch. Aber sie verfügen aufgrund von gewissen biologischen Faktoren nicht über die Fähigkeiten, um das zu zeigen.» Funktionieren als Kraftakt Mit ihrer Fotowanderausstellung «Ich sehe was, das du nicht siehst», die sie zusammen mit dem Verein «Autismus deutsche Schweiz» realisiert hat, möchte Eline Keller-Sørensen solchen hartnäckigen Vorurteilen entgegenwirken. Der Titel des Projekts verweist auf die Tatsache, dass autistische Menschen die Welt anders wahrnehmen, indem sie Sinneseindrücke anders verarbeiten. Das kann sich auch in einer Überempfindlichkeit auf Licht, Lärm oder bestimmte Gerüche äussern. Die Fotografin porträtierte elf junge Menschen zwischen 6 und 38 Jahren in der Deutschschweiz in Situationen, in denen sie sich wohl und sicher fühlten. Dafür wählte sie eine RolleiflexKamera, bei der man das Gerät nicht direkt vor die Augen hält, sondern nach unten schaut. «Das erlaubte mir ein stilles Beobachten, währenddessen ich dem Gegenüber Raum geben konnte. Es ging hier nicht darum, eine Situation zu inszenieren, sondern teilzuhaben an einem Moment.» Surprise 498/21
Eine Insel mitten in der Schweiz
Durch eine Kamera, die hinter einem Spionspiegel angebracht war, konnten sich die Porträtierten ausserdem selbst fotografieren, wobei von allen Teilnehmer*innen Tableaus mit mehreren Selbstporträts entstanden. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung fliessen in diesem Fotoprojekt ineinander und erschaffen ein Gesamtbild, das feinfühlig und ausdrucksstark vom Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe, aber auch von einer Neugier auf das eigene Selbst erzählt. Wie zum Beispiel beim 15-jährigen Niklas Svend. Nach einer Odyssee von Abteilung zu Abteilung im Kinderspital stand seine Diagnose im Alter von zehn Jahren schliesslich fest. Frühkindlicher Autismus high functioning, also eine Form ohne kognitive Beeinträchtigung. In einer Tonaufnahme, die auf der Webseite zum Projekt zu hören ist, erzählt der Jugendliche gemeinsam mit seiner Mutter, welche Strategien er anwendet, wenn ihn sein Umfeld überfordert. Er macht dann einen Spaziergang oder zieht sich in eine reizfreie Umgebung zurück. Keller-Sørensen durfte ihn bei ihrem zweiten Besuch in seinem Zimmer fotografieren, zeichnend an seinem Schreibtisch. Ein Vertrauensbeweis, beim ersten Besuch fühlte er sich dazu noch nicht bereit. «Auch das gehört zum autistischen Spektrum: Für Betroffene ist jeder Tag ein Kraftakt und eine enorme Anpassungsleistung an die Konventionen unserer Gesellschaft, die Extrovertiertheit und Austausch so hoch gewichtet. Wenn die Reize zu viel werden, ziehen sie sich zurück. Man darf solche Reaktionen nicht mit Trotz verwechseln. Betroffene können in diesen Momenten einfach nicht anders», sagt Keller-Sørensen, die überzeugt ist, dass mit einer frühen Diagnostik sehr viel Leid verhindert werden könnte. «Der Schuleintritt stellt bereits viele Weichen. Wenn betroffenen Kindern Raum gegeben wird, sich bei Bedarf zurückzuziehen, können auch sie von einer guten Bildung profitieren und sich später ihrem Potenzial entsprechend eine selbstbestimmte Zukunft aufbauen.» Dafür sei aber Verständnis seitens des Schulsystems und der Gesellschaft erforderlich. Es herrsche rund um das Thema Autismus sehr viel Unwissen, so sei sie im Gespräch über ihre Tochter einmal gefragt worden, ob das ansteckend sei. Ein andermal sagte ihr eine Frau, sie habe schon immer gedacht, dass ihre Tochter irgendwie anders aussehe. «Dabei sieht man den Autismus niemandem an, es ist eine strukturelle Störung im Gehirn.» Die 38-jährige Joëlle Lynn liess sich für das Projekt versunken in das Aneinanderreihen von bunten Legosteinen fotografieren. Diese hat sie immer bei sich, um sich in Stresssituationen wieder sammeln zu können. Eines ihrer Spiegelselbstporträts ist stark verschwommen. Es ist nicht möglich, darauf ihren Gesichtsausdruck zu erkennen. Es ist eines jener Bilder, das einen intuitiv darüber nachdenken lässt, was Wahrnehmung ganz grundsätzlich eigentlich ausmacht.
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macht Ausgrenzung und Fremdsein spürbar. Eigentlich könnte die Geschichte, die die Autorin Samira ElMaawi in ihrem Debütroman erzählt, eine Liebesgeschichte sein. Eine Schweizerin verliebt sich in Sansibar in einen Afrikaner. Sie heiraten, entscheiden sich, in der Schweiz zu leben, haben zwei Kinder, sind glücklich. Der Mann, ein gelernter Chemiker – dessen Ausbildung in der Schweiz nicht anerkannt wird –, arbeitet als Koch in einer Kantine. Dort allerdings darf er nur nach Vorschrift kochen, ohne den Reichtum an Zutaten und Düften seiner Heimat. Das ist nur am Wochenende und zuhause möglich, wo seine Küche zu seinem Heimatland wird und zum einzigen Ort, an dem er seine eigene Sprache wie eine Geheimsprache spricht. Hier baut er sich «eine Insel mitten in der Schweiz», auf der alles voller Liebe ist. Die Gerichte, die Gewürze, die Gerüche, der Duft der Haut. Doch diese Haut ist braun. Und macht den Vater und die Kinder anders unter all den Anderen, die weiss sind. Selbst der Gott in der Kirche, die sie besuchen, ist weiss und für den Vater ein Ausländer. El-Maawi erzählt von diesem Anderssein anhand des Mikrokosmos einer Familie, in der niemand einen Namen hat. Namen tragen nur die Anderen. Als hätten die, die ausgeschlossen sind, die nicht als Individuen betrachtet werden, denen mit Misstrauen und Vorurteilen begegnet wird, kein Anrecht darauf. Selbst innerhalb dieser Familie gibt es feine Trennlinien. Denn die Mutter ist eine «weisse Afrikanerin», eine Afrikaspezialistin, der Afrika zwar am Herzen liegt, die Afrika aber nicht im Herzen trägt wie der Vater. Als der Vater seinen Job verliert, verschärfen sich diese Unterschiede. Die Familienmitglieder entfremden sich unter dem Druck der Umstände, der zunehmenden Geldknappheit, dem Verlust des Selbstwertgefühls. Neuen Halt findet der Vater erst wieder, als er zum Koran und zu seinem eigenen Gott findet. Doch was für ihn ein neuer Anfang ist, lässt die Familie endgültig zerbrechen. El-Maawi erzählt aus der Perspektive eines der beiden Kinder. Die Sprache ist einfach, aber zugleich voller Poesie. Es gelingt der Autorin, alles einzufangen und lebendig zu machen: die Liebe, die Gerüche, die Verletzungen, die Demütigungen, den Verlust, die Trauer. Und immer wieder auch die Zerrissenheit der Erzählerin, die «aussen braun und innen weiss» ist. Eine Fremde in der Schweiz, die doch die einzige Heimat ist, die sie hat. Es ist ein eindrücklicher und einfühlsamer Debütroman, der berührt und gefangen nimmt und das Fremd- und Anderssein spürbar macht. CHRISTOPHER ZIMMER
FOTO: ZVG
«Ich sehe was, das du nicht siehst», Fotoausstellung, Mi, 19. Mai bis Fr, 9. Juli, Berner Generationen Haus, Bahnhofplatz 2, 3011 Bern; weitere Ausstellungsorte geplant: Informationen online. www.ich-sehe-was-das-du-nicht-siehst.ch/neue-events
Buch Samira El-Maawis poetischer Debütroman
Samira El-Maawi In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel Zytglogge 2020, CHF 27.90
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Bern «auawirleben», Theaterfestival, Mi, 5. bis So, 16. Mai, verschiedene Spielorte in Bern und online. auawirleben.ch Die Bühnenkunst wird wieder zum Leben erweckt, und in Bern erst noch gleich mit einem Theaterfestival. Silke Huysmans und Hannes Dereere nehmen uns mit auf Recherchereise. Das Duo geht in seiner Arbeit von realen Situationen, Begebenheiten oder Orten aus und erstellt daraus theatrale Collagen. Die Destination heisst diesmal «Pleasant Island» oder offiziell Nauru, eine kleine Insel im Pazifischen Ozean. Nach der Entdeckung riesiger Phosphatvorkommen wurde Nauru zu einem der reichsten Länder der Erde. Bis die natürlichen Ressourcen der Insel erschöpft und die Landschaft völlig zerstört waren. Huysman und Dereere bringen Interviews mit den Einwohner*innen in Bühnenform. Auch das Kollektiv La tristura arbeitet an der Grenze von Theater-Poesie und dokumentarischem Text. Für «Future Lovers» haben die Theatermacher*innen mit Jugendlichen gemeinsam das Skript entwickelt: Es handelt von sechs jungen Menschen, alle ums Jahr 2000 geboren. Sie erleben ihre Zeit des
Olten «Infinite Deep: The Photographic World Of David Lynch», Fotoausstellung, bis So, 27. Juni, Mi/Do 14 bis 18 Uhr, Fr 11 bis 21 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Haus der Fotografie, Kirchgasse 10. ipfo.ch David Lynchs Filme kennen viele von uns, «The Elephant Man» (1980), «Blue Velvet» (1986), «Lost Highway» (1997) oder «Mulholland Drive» (2001). Aber der Mann malt, fotografiert und komponiert auch (wenn er nicht meditiert), seine künstlerischen Wurzeln liegen in der bildenden Kunst. Lynchs rätselhafte Bildsprache prägt also nicht nur seine ikonischen Filme. Seit den 1980er-Jahren hat er ein beeindruckendes fotografisches Werk entwickelt. Da ist zum Beispiel die Faszination für Industriearchitektur. Sie ist auf der Locationsuche für «The Elephant Man» entstanden, als er in England Fabrikgelände besuchte. Wie in seinen Filmen herrscht auch in Lynchs fotografischem Werk eine bedrohliche Atmosphäre. Die im Winter fotografierten Familien-
Aufbruchs, in der persönliche Weichen gestellt werden. Ihre Gedanken und Entscheidungen sind von der Multioptionsgesellschaft ebenso geprägt wie von der Sorge um die Umwelt und der Sehnsucht nach etwas Dauerhaftem. Anderes am Festival wurde streng coronakompatibel aufgegleist. Zum Beispiel «aua in box». Die Box bestellt man bis am 2. Mai, dann bekommt man sie per Post zugeschickt und dazu tägliche Anleitungen via die App Signal. Die Theatertruppe machina eX wiederum setzt mit «Homecoming» ein Live-Theater-Game für zuhause um. DIF
Bern «Death and Birth in My Life», Ausstellung/Langzeitprojekt, bis So, 30. Mai, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16. mfk.ch Mats Staub hat sich mit seinen Arbeiten zwischen Theater, Journalismus und Ausstellung einen Namen als Reisender in Sachen Erinnerungen gemacht. Und nun also Geburt und Tod – Anfang und Ende. Staub nimmt die Eckpunkte des Lebens als Anstoss zum Nachdenken darüber, was uns wichtig ist. Die Geburt eines eigenen Kindes: ein aufwühlendes Erlebnis, das nicht selten das eigene Leben auf den Kopf stellt. Genauso wie der
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Tod einer nahestehenden Person – etwas, das mit Corona leider an Aktualität gewonnen hat. Der Tod seines Bruders konfrontierte den Künstler 2014 unerwartet persönlich mit dem Tod. Daraus entstand ein Langzeitprojekt, zu sehen jetzt als Installation im Spannungsfeld zwischen Video und Ausstellung. Über mehrere Jahre lud Staub auf der ganzen Welt Menschen zu einem Dialog über ihre Erlebnisse zu Geburt und Tod ein. Die Gespräche wurden zum gemeinschaftlichen Ort der Reflexion. Ein Raum, der es ermöglicht, dem Leben und dem Tod ganz nahe zu kommen, ohne sich dabei selbst allzu verletzlich zeigen zu müssen. Genau solche Orte hat Mats Staub nach dem Tod seines Bruders vermisst. DIF
häuser aus der Serie «The Snowmen» wirken von aussen beunruhigend: Man erahnt kein häusliches Glück hinter den geschlossenen Vorhängen. Und selbst ein scheinbar unschuldiges Motiv wie der Schneemann steht düster und ahnungsvoll da. Auch wenn Lynch Körper fotografiert, verschiebt er sie ins Unheimliche. Als würden sie uns einladen, in die Tiefen des Unbewussten einzudringen. Es ist das Gefühl, das wir schon auf dem Lost Highway hatten. DIF
Aarau «Sammlung im Fokus: Sophie Taeuber-Arp in unbekannten Fotografien», bis Mo, 24. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch Während im Kunstmuseum Basel die grosse Sophie-Taeuber-ArpAusstellung «Gelebte Abstraktion» noch bis am 20. Juni zu sehen ist, zeigt das Aargauer Kunsthaus zurzeit ausgewählte Fotografien der Künstlerin, die sehr persönliche Einblicke in ihr Leben geben. Das Aargauer Kunsthaus kaufte vor fünf Jahren 98 Fotografien von
Taeuber-Arp (1889–1943) für die Sammlung an. Von ihrer Kindheit in Trogen (AR) bis zu den Jahren in Zürich dokumentieren die zwischen 1891 und 1942 entstandenen Aufnahmen sowohl das Leben der Künstlerin als auch ihre unablässige Auseinandersetzung mit den gestalterischen Möglichkeiten des Kunsthandwerks. Und zwar gern beides auf einmal. Da sind zum Beispiel die von der Mutter aufgenommenen Fotos, in denen Taeuber-Arp in zahlreichen selbst angefertigten Verkleidungen posiert: Inspiriert von den Gewändern der indigenen Bevölkerung Nordamerikas oder der orientalischen Textilkunst, verfolgte die Künstlerin spielerisch und experimentell ihre Faszination fürs Kostümieren. Die Aufnahmen zeigen ihre Persönlichkeit, ihre Vielseitigkeit und das interdisziplinäre Denken in ihrer künstlerischen Praxis. DIF
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BILD(1): BEA BORGERS, BILD(2): DAVID LYNCH BILD(3): ERIKA SCHLEGEL UND SOPHIE TAEUBER-ARP, FOTOGRAF*IN UNBEKANNT, AARGAUER KUNSTHAUS
Veranstaltungen
sorgte orange Plastiklatschen liegen. Eigentlich ist es noch zu früh im Jahr zum Sandalen liegen lassen und aus Versehen barfuss nach Hause gehen. Die Wärme ist überraschend gekommen, die Leute, die auf dem Heimweg sind, tragen Mäntel und Mützen. Vielleicht liegen sie seit dem letzten Sommer da, als Füsse im Brunnen gekühlt wurden. Ein junger Mann und eine junge Frau mit Skateboards treffen sich, aber nicht zum Skateboarden, sondern zum Pingpongspielen. An einer Vorverkaufsstelle hängen Plakate mit lauter gestrichenen Konzerten. Eine grosse Agentur kündigt Bands vorsichtshalber ohne Datum an. Die meisten sind schon seit Jahrzehnten im Geschäft, eine ist seit knapp dreissig Jahren auf Abschiedstournee. Der Kiosk ist halb ausgeräumt, der Plattenladen hingegen wieder offen. Aber erst am Donnerstag.
Tour de Suisse
Pörtner am Eigerplatz Zahlen der Stadt Bern Einwohner*innen: 143 043 Sozialhilfequote in Prozent: 4,4 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 24,1 Motorfahrzeuge, die täglich den Eigerplatz passieren: 7000 bis 8000
Verwehte Masken und Take-away-Sprengsel verunzieren den Platz vor dem Grossverteiler. Sie werden wohl noch eine Weile zum Litteringprofil der Städte gehören. Immerhin ist es warm genug, um draussen zu essen, auf den Betonkreisen, die um dürre Bäumchen und einen Lüftungskamin angelegt sind. Ein Kind hat Streit mit der Mutter und der grossen Schwester, ein Velofahrer überlässt einem Fussgänger den Vortritt, obwohl das bedeutet, dass er am Hang anfahren muss. Das Schuhgeschäft verteilt Ballons an Plastikstängeln. Die Schwestern haben die Strasse überquert und sind wieder versöhnt. Hula-Hoop-Reifen werden spazieren oder ins Training geführt, obwohl Trainings gar nicht stattfinden dürfen, ausser vielleicht im Park. Es herrscht Feierabendverkehr trotz Homeoffice-Pflicht. Surprise 498/21
Beim Hintereingang des Einkaufszentrums gibt es ein Bestattungsinstitut. Diese sieht man hierzulande selten, ganz im Gegensatz zu den USA. Dort lief vor zwanzig Jahren die Serie «Six Feet Under», die von einer Bestattungsunternehmerfamilie handelte. Damals waren anspruchsvolle Serien etwas ganz Neues, oft Benasenrümpftes. Spätestens seit der Corona-Krise sind sie die am Weitesten verbreitete Form der Zerstreuung. Die gesamte sehenswerte Serie kann inzwischen wohlfeil gebraucht auf DVD erworben werden. «Liebdi säuber» steht auf einem Mäuerchen, was passt, denn hier verläuft der Philosophenweg. Bestimmt gibt es irgendeinen Philosophen, der das gesagt hat. Hinter der philosophischen Weisheit ist eine Bank angebracht, unter der ein paar vergessene oder ent-
Auf einem dreieckigen Kiesplatz lässt sich die Abendsonne geniessen, Stühle und Bänke stehen bereit, Bier wird mitgebracht, der Abstand eingehalten. Der Kostümverleih wird trotz Fasnachtszeit keine guten Geschäfte machen. Gefragter sind wahrscheinlich die nebenan angebotenen Bewerbungsfotos. Trotz der freien Bänke bevorzugt ein junger Mann den Elektrokasten beim Papierkorb als Verweilplatz. Der Ort ist strategisch gut gewählt, bald kommt ein kistenbeladener Bekannter vorbei, die beiden unterhalten sich. «Die Nacht gehört dir», verspricht ein vorbeifahrender Bus. Was angesichts des nicht stattfindenden Nachtlebens wohl stimmt. Nur was damit anfangen, ist die Frage. Abwarten und Bier trinken.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten 01
Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich
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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Andery-Reiseleitungen, Brugg und Zug
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wag GmbH, www.wag-buelach.ch
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debe: www.dorisberner.ch
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Schweizerische Kriminalprävention SKPPSC
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Breite-Apotheke, Basel
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Coop Genossenschaft, Basel
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EVA näht: www.naehgut.ch
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Restaurant Haberbüni, Bern-Liebefeld
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AnyWeb AG, Zürich
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Echtzeit Verlag, Basel
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Beat Hübscher, Schreiner, Zürich
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Lebensraum Interlaken GmbH
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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel
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Yogaloft GmbH, Rapperswil SG
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unterwegs GmbH, Aarau
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Infopower GmbH, Zürich
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Hedi Hauswirth, Privatpflege, Oetwil am See
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Gemeinschaftspraxis Morillon, Bern
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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
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sinnovec GmbH, Strategie & Energie, Zürich
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Barth Real AG, Zürich
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo
Negasi Garahlassie gehört unterdessen schon fast zum Winterthurer Stadtbild. Seit rund 15 Jahren ist Negasi Garahlassie als Surprise-Verkäufer tätig. Entweder verkauft der gebürtige Eritreer seine Magazine auf dem Wochenmarkt oder am Bahnhof Winterthur. Der Arbeitstag des 64-Jährigen beginnt frühmorgens und dauert meist so lange, bis der abendliche Pendelverkehr wieder abgenommen hat. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen ist er auf das Einkommen des Strassenmagazinverkaufs angewiesen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das SurPlus-Programm unterstützt ihn dabei: Mit Krankentaggelder, bezahlten Ferientagen und einem Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr.
Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.
Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!
Wir alle sind Surprise #495: Aus Gründen der Papierersparnis
#496: Märchen Eigenverantwortung
«Sauschwaben – können die heutigen Deutschen etwas dafür?»
«Reichtum bedeutet etwas anderes»
Wir sind regelmässige Kunden ihrer Zeitschrift, kaufen sie bei den Strassenverkäufern und haben dabei meistens einen sehr positiven Kontakt. Nun war ich tief enttäuscht: Jetzt kramt diese Zeitung alte, längs verjährte Probleme hervor: Die Verbrechen der Nazis! Wir haben das alles über die Jahre mitbekommen, an Informationen fehlt es uns (Interessierten) nicht. Nichts kann gesühnt werden, alle Betroffenen sind längst tot. Wozu also alten, perversen Mist nochmals auftischen, nochmals die Untaten der Nazi auffrischen? Sauschwaben hat man nach dem Krieg gesagt. Können die heutigen Deutschen noch etwas dafür? In der heutigen Situation sind wir alle auf freundliche und positive Kontakte angewiesen. Das Vorliegende dient nicht zu einer besseren Befindlichkeit. Wer auf solche Lektüre aus ist, findet entsprechende Berichte täglich unter Aktuelles.
Weshalb machen Sie die Aussage «in einem der reichsten Länder der Welt»? Ich vermute, Sie meinen damit unsere Schweiz. Die Schweiz ist verschuldet. Sie war vor der Pandemie verschuldet und hat sich seitdem noch mehr verschuldet. Weniger verschuldet als unsere Nachbarn. Unsere Nachbarn sind auch verschuldet. Bin ich reich, wenn ich verschuldet bin? Reicher als mein Nachbar, der mehr verschuldet ist als ich? Nein – nach meinem wirtschaftlichen Verständnis bedeutet Reichtum etwas anderes, als verschuldet zu sein. Es gibt vermögende Einwohner in der Schweiz und auch Betriebe, die rentieren. Also reiche Individuen, die sich um ihr Hab und Gut sorgen – eigenverantwortlich. D. GALLIKER, Basel
#491: Theresa und ich
«Aufsteller»
P. STUCKI, Diessenhofen
So schön bunt. Macht Freude, die Bilder anzuschauen. Ein Aufsteller. S. KOBI, Basel
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Marc Engelhardt, Klub Galopp, Urs Habegger, Elena Knecht, Seraina Kobler, Andy Spyra Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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FOTO: KLAUS PETRUS
Nachruf
Viktor Zimmermann 31. März 1953 bis 20. März 2021
Als Viktor Zimmermann zum ersten Mal bei einer Surprise-Chorprobe zur Tür hereinkam und allen einen verschmitzten, scheuen Gruss gab, erschrak die damalige Chorleiterin Ariane Rufino dos Santos erst mal ein bisschen: Die vom Nachtleben, Rauchen und Trinken angeschlagene Stimme krächzte auffallend. Doch gerade mit dieser Raucherstimme entwickelte Viktor sich zum ausdrucksstärksten Solosänger des Chors. Die Namen der Mitsänger*innen konnte er sich auch nach Jahren kaum merken, aber das tat seinem unwiderstehlichen Charme keinen Abbruch. Er blieb zwar etwas schüchtern, flirtete aber gern mit den Frauen. Er schrieb auch Texte, viele davon flossen in das letzte Jubiläumsprogramm des Strassenchors ein. Zur Probe erschien er immer gepflegt und sauber rasiert, selten verpasste er eine. Wenn er einmal nicht kam, wusste man, dass er zu viel getrunken hatte – oder dass «sein Magen spinnte», wie er sagte. Sein Lebenswandel konnte einen mit Sorge erfüllen. Ausser Flüssigem, oft auch Hochprozentigem, nahm er Nahrung nur sehr gelegentlich und in schlechter Qualität zu sich. Ein Leben lang war er mit illegalen Substanzen unterwegs und in rechtlich grenzwertige Aktionen und Erwerbstätigkeiten involviert. Immer wieder landete er auch im Gefängnis. Er selbst textete: Liebes Schicksal, ich danke dir Du warst bis heute gut zu mir Immer gewütet, auf die Spitze getrieben Und dennoch halbwegs bei Verstand geblieben. Viktor kostete das Leben aus. Kaum volljährig, drückte er in seinem Ford Transit aufs Gaspedal und fuhr zusammen mit drei Bekannten nach Afghanistan. Von dieser Reise erzählte er anlässlich der ersten Lesung der «Ungeschriebenen Memoiren des Viktor Z.» 2013 in der Basler Tiki-Bar, seiner Lieblingsbeiz. Viktor war in seinem Element, wenn er Geschichten davon erzählte, wie er in unwägbaren und schwierigen Situationen immer wieder davonkam. Anlässlich dieser Lesung entstand die Idee, er könnte mit seinem unglaublichen Erzähltalent doch Stadtrundgänge für Surprise machen. Auf der Gasse herumgetrieben habe er sich schliesslich genug, das Leben dort kannte er in allen Facetten. Ein paar Mal ging er probehalber auf Stadtführungen mit, aber er hat es sich dann doch nicht zugetraut, das regelmässig auf die Reihe zu kriegen. Dafür entdeckte er den Surprise Strassenchor. Die Tiki-Bar und die Aktivitäten ihrer Betreiber*innen ausserhalb der Bar prägten Viktors soziales Leben in den letzten Jahren. An allen grossen Feten bediente er 30
Die zerlebte Raucherstimme wurde zum Markenzeichen: Viktor Zimmermann war ein ausdrucksstarker Solosänger.
in «Tikilandia» den Bierstand und brachte seine Begeisterung für die Bands lautstark zum Ausdruck. Und immer kam Viktor am nächsten Tag zum Aufräumen. Hoffen wir nicht auf die Vernunft der Menschheit. Versuchen wir es lieber selbst. Wenn wir uns liebhaben können, haben wir schon viel erreicht. Ein Paradies können wir nicht errichten, aber vielleicht eine Welt mit etwas weniger Schmerz. Als er 2018 an Zungenkrebs erkrankte und operiert werden musste, lieferten ihm Freundinnen aus der Nachbarschaft täglich selbstgekochte Suppen, und selbst nach Beginn der Corona-Pandemie kamen sie ans Fenster und hielten einen lebensrettenden Schwatz. Trotzdem waren die Einsamkeit aufgrund der Selbstisolation als Risikopatient und die auf unbestimmte Dauer geschlossenen Bars sehr schwer für ihn. Möchte ich denn wirklich noch leben? Hab ich Freunden Liebe zu geben? Wenn ich morgen sterbe, was bleibt von mir? Die schönen Momente zwischen mir und dir. Kurz vor seinem 68. Geburtstag fanden ihn seine Freunde Silvan und Dieter in seiner Wohnung, wo er allein gestorben war. Wir sind alle sehr traurig. Viktor hinterlässt eine schmerzliche Lücke im Chor.
Basierend auf Texten der ehemaligen Surprise-Chorleiterin Ariane Rufino dos Santos und Freund*innen aus der Tiki-Bar, zusammengestellt von DIANA FREI
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Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
Information
Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | L‘Ultimo Bacio | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth‘s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine | Restaurant Dreigänger | Berner Generationenhaus | Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Specht IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum Graben | Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | Bistro Sein IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Quartiertreff Enge | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro
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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir sind froh, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit das Strassenmagazin kaufen. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank! Wo nötig tragen wir Masken.
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Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.
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