FOTO: BODARA
Surprise-Porträt
«Endlich ein sicheres Zuhause» «Lange konnte ich meinen Mitgefangenen nur über Klopfzeichen an der Wand ‹Guten Morgen› sagen. In Eritrea sass ich zwei Jahre lang in Einzelhaft. Über Klopfzeichen vergewisserte ich mich, dass meine Zellennachbarn noch lebten, wenn im Gefängnis mal wieder Schüsse gefallen waren. Das Schlimmste für mich war, dass es keine Regeln gab. Du weisst nicht, wie lange du noch in deiner Zelle sitzen musst oder wann der Wächter mit dem Gewehr bei dir vorbeischaut. Ich hatte Glück. Nach zwei Jahren wurde ich freigelassen. Allerdings war meine Frau verschwunden. Von Freunden erfuhr ich, dass sie in den Sudan geflohen war – vermutlich aus Angst, selbst ins Visier der Regierung zu geraten. Ich hatte über zwei Jahre keinen Kontakt zu ihr. Sie wusste also nicht, ob ich je wieder zurückkommen würde. Als kurz nach meiner Freilassung erneut ein Brief mit der Aufforderung zum Militärdienst kam, verliess auch ich das Land. Ich suchte meine Frau in den UNHCR-Flüchtlingslagern im Sudan. Dort wurde mir gesagt, sie habe es über die Mittelmeer-Route – von Libyen nach Italien – in die Schweiz geschafft. Da ihr Asylgesuch angenommen worden war, konnte ich über den Familiennachzug direkt in die Schweiz reisen. Ich war so erleichtert. Nun leben meine Frau und ich seit über zehn Jahren in der Schweiz, unsere beiden Kinder sind hier geboren. Ich bin sehr dankbar, dass wir hier gemeinsam eine Zukunft aufbauen konnten. Wenn du aus einem Land wie Eritrea kommst, ist das nicht selbstverständlich. Mir ging es dort jedoch lange verhältnismässig gut. Ich bin in der Hauptstadt Asmara aufgewachsen und hatte mein eigenes Kleidergeschäft. Früher konnten wir Secondhandkleider aus Saudi-Arabien, China oder sogar Europa erwerben und diese zu guten Konditionen in Eritrea weiterverkaufen. Doch die Regierung unter Isayas Afewerki drängte das Land durch Geldgier und Vetternwirtschaft immer mehr in die Armut. Da unsere Währung im Vergleich zum Dollar immer schwächer wurde, ging ein Kleidergeschäft nach dem anderen bankrott. Heute sind viele Menschen in Eritrea arm und die Regierungstreuen werden immer wohlhabender – kein Wunder, wenn ein grosser Teil der Bevölkerung jahrelang Gratisarbeit im Militär leistet. Ich konnte mich lange von der Einberufung zum Militärdienst freikaufen. Irgendwann reichten diese Zahlungen jedoch nicht mehr aus. Aus diesem Grund landete ich im Gefängnis. 34
Tekle Tewelde, 55, verkauft Surprise in Horgen und spielt zwischendurch gerne Pingpong.
Hier in der Schweiz verdiene ich als Reinigungskraft zwar nicht viel, aber es reicht, um nicht von der Sozialhilfe leben zu müssen. Darauf bin ich stolz. Ich würde sehr gerne ein 100%-Pensum übernehmen, dann könnte ich meine Kinder besser unterstützen. Dies ist bei meiner jetzigen Stelle in einem Zürcher Schulhaus aber leider nicht möglich. Aus diesem Grund arbeite ich seit sieben Jahren auch für Surprise. Das bringt mir zwar kein gesichertes Einkommen, dafür schätze ich den Kontakt mit den Kund*innen sehr. Da ich im Gefängnis über zwei Jahre lang keine normalen Gespräche führen konnte, bedeutet mir auch heute noch jeder soziale Austausch sehr viel. Dies gilt auch für meine Arbeit im Schulhaus. Ich liebe es zum Beispiel, in meinen Pausen mit den Lehrpersonen oder den Schüler*innen eine Runde Pingpong zu spielen. Die Kinder bringen mir auch Schweizerdeutsch bei. Ich finde es wichtig, die Landessprache zu beherrschen. Schweizerdeutsch ist der Schlüssel für eine gute Integration. Und wenn ich den Schüler*innen am Feierabend einen direkten ‹Ellenbogengruss› geben und auf Schweizerdeutsch ‹En schöne Abig› sagen kann, dann ist das für mich mit meinem Hintergrund nicht nur einfach eine freundliche, Corona-konforme Geste. Diese Geste drückt jedes Mal aus, dass ich nun ein sicheres Zuhause habe.» Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER
Surprise 515/21