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Strassenmagazin Nr. 515 17. Dez. 2021 bis 6. Jan. 2022

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Konsens

Wir müssen reden Sechs Personen erarbeiten sich im Gespräch eine gemeinsame Basis. Seite 4


Zuhören ist manchmal nicht einfach. Wir wünschen Ihnen viel Geduld, Verständnis und Empathie für Ihre Mitmenschen. Zu Weihnachten und fürs ganze Jahr.


TITELBILD: GORAN BASIC

Editorial

Gekonnt streiten Letztes Jahr an dieser Stelle dachte ich noch, dass bis heute vielleicht wieder Normalität eingekehrt wäre. Oder zumindest hatte ich das irgendwie gehofft. Vielleicht habe ich mir auch einfach nicht vorstellen können, dass 2021 so verlaufen würde – dass diese Pandemie so vieles bestimmt und überlagert, und sich doch darunter weiterhin Leben abspielt, ergänzt um eine tragisch-verlustreiche Komponente. Also verbringen wir noch einmal ungewöhnliche Feiertage und einen Jahreswechsel, von dem wir uns vielleicht nicht mehr ganz so viel Wandel, dafür graduelle Besserung erhoffen. So in etwa geht es mir. Ich schreibe diese Zeilen in dem Bewusstsein, dass nicht alle unter Ihnen es schätzen werden, wenn ich der Pandemie hier Raum gebe, wo sie doch sowieso schon so viel einnimmt. Womöglich bin ich auch noch fürs Impfen! Ja, ja, auch das noch. Ich glaube schon: Gemeinschaft vor Individuum. Wir schreiben hier ja auch mit Gendersternchen und setzen uns für die gleichberechtigte Teilhabe benachteiligter Gruppen an der Gesellschaft ein, weil wir darin demokratische Notwendigkeiten sehen. Das strengt an, alle Seiten. Dieses Gefühl

von Anstrengung ist übrigens ein gutes Zeichen, wie der deutsche Autor Aladin El-Mafaalani in seinem Buch «Das Integrationsparadox» schreibt: Denn dass der Streit lauter wird, heisst auch, dass bereits mehr gesellschaftliche Gruppen am Tisch Platz finden und um die Verteilung des Kuchens feilschen. Wichtig ist, dass wir weiter verhandeln, reden, diskutieren, zuhören (!) und uns austauschen. Und anstatt uns die Köpfe einzuschlagen, auch mal die eigene Position hinterfragen und in Ruhe durchdenken. Wir können das: Wir leben in einer Demokratie – ein Privileg übrigens, das wir alle teilen. Aber auch wir müssen regelmässig üben. Wir haben als Lektüre für die Feiertage mal ausprobiert, wie so ein Verhandlungstisch aussehen kann. Und uns ein sehr schweizerisches Ziel vorgenommen: den Konsens. Viel Vergnügen beim Lesen, geruhsame Feiertage und ein gesundes 2022 wünschen wir Ihnen.

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

Bilder Goran Basic ist ein fotografischer Allrounder. Am meisten liegen ihm Portraits und Reportagen, die von Menschen handeln, am besten durch die journalistische Linse. Seine Bilder sind klassisch komponiert, reduziert, oft (inhaltlich) verdichtet, sehr gerade und nicht selten mehrschichtig. Er lebt in Zürich.

4 Versuchsaufbau

«Demokratie ist ein Experiment» 6 Thema I

Rechte und Pflichten 14 Thema II

Verzicht oder Verbot

32 SurPlus Positive Firmen 33 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 34 Surprise-Porträt

«Endlich ein sicheres Zuhause»

23 Thema III

Im Rausch

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«Demokratie ist ein Experiment» Diskussion Wir haben sechs Personen an einen Tisch gesetzt und ihnen drei Themen serviert. Vorgabe war: Konsensbildung. Also haben sie diskutiert. Und wie. TEXT SARA WINTER SAYILIR UND KLAUS PETRUS

Manchmal drängt die Zeit uns Fragen auf. Beispielsweise beim Klima – ist die Demokratie mit ihrer langsamen Entscheidungsfindung womöglich zu träge, um uns vor dem Kollaps zu bewahren? Vielleicht fallen Ihnen noch weitere Beispiele ein, wo Sie sich schon mal gewünscht haben, wir würden uns nicht erst sämtliche Argumente anhören müssen, zwischen den Positionen abwägen, alle Seiten berücksichtigen, sondern einfach schnell und effizient vorwärtsmachen. Aber was hiesse das im Umkehrschluss? Wer würde entscheiden, wohin es geht? Mit welchem Recht? Und würden Sie sich noch als Teil des Ganzen begreifen, wenn Sie gar nicht mehr gefragt würden? Die Schweiz ist eine Konkordanzdemokratie. Das Wortungetüm leitet sich ab vom lateinischen «concordare», was «übereinstimmen» bedeutet. Das ist eine besondere Form der Konsensdemokratie. Bei dieser eher seltenen Form der Demokratie wird besonders darauf geachtet, dass nicht allein die Mehrheit entscheidet – wie in den meisten anderen demokratisch regierten Ländern –, sondern dass die Repräsentation möglichst weiter Teile der Bevölkerung durch einen breit abgestützten Konsens gesichert wird. Es ist kein Zufall, dass wir uns dieses System gebaut haben. In stark kleinteilig organisierten und in viele Gruppen und Untergruppen zerfallenden Gesellschaften wie der schweizerischen ist dies eine gute Möglichkeit, die Fliehkräfte unter Kontrolle zu halten – also den Staat vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Sprich: Uns unterscheidet so vieles, so dass wir mehr Zeit und Energie als andere darauf verwenden müssen, das Verbindende zu suchen. Oder positiv formuliert: Wir verwenden mehr Zeit auf den Schutz des Gemeinwesens und der Partikularinteressen – und vergewissern uns damit immer wieder erneut: Wir gehören alle dazu und wollen auf diese Weise miteinander leben. Was es nicht heisst: Dass wir uns mehr einig sind als andere. Auch ist Konsensfindung in der Dynamik sicher eher etwas langsamer; grosse Veränderungen brauchen mehr Überzeugungsarbeit. Im politischen Alltag sieht unsere Konsensdemokratie auch oft gar nicht danach aus, als würden wir uns gemeinsam um eine möglichst gute Entscheidung bemühen, die für alle stimmt. Im Gegenteil: Die Kampagnenlogik befeuert das Gefühl von Lagerbildung – oft sind die Fliehkräfte stärker zu spüren als das Verbindende. Das hat natürlich auch mit der Grösse eines Staates zu tun, und dass man nur selten den Konsens mit Menschen aushandeln muss, denen man wirklich gegenübersitzt. Es sei denn, man ist in der Politik. Vielleicht werden auch in manchen Betrieben Entscheide das eine oder andere Mal als Konsens gefällt. Wobei die Wirtschaft in der überwiegenden Mehrheit eher hierarchisch funktioniert, auch wenn sich das Bewusstsein von der Nachhaltigkeit konsensgetragener Entscheidungen und flacher Hierarchien dort langsam durchsetzt. Denn je mehr Mitarbeitende einen Surprise 515/21

Entscheid der Geschäftsleitung verstanden haben und sich gehört fühlen, desto mehr sind bereit, diesen aktiv mitzutragen und umzusetzen. Und wie sieht es in den Familien aus? Sitzen Sie mit allen Beteiligten um einen grossen Tisch und entscheiden gemeinsam, ob nun ein Elektroauto oder ein Lastenrad angeschafft wird, wie die Zimmer in der Wohnung genutzt werden, wer wieviel arbeitet oder wohin es in die Ferien geht? Auch die unsägliche Pandemie, die wir nun schon lange gern zu Vergangenheit erklären würden, zeigt uns auf, wo unser System an seine Grenzen stösst. In den von Frieden und Wohlstand verwöhnten Industrieländern sind wir es einfach nicht gewohnt, dass etwas nicht diskutabel ist. Wir handeln doch sonst alles aus! Warum nicht auch «Covid – pro und contra»? Wir machen doch zu sonst allem eine Forumsdiskussion. Oder eine «Arena». Nun ist die «Arena» aber gar kein Ort, an dem Austausch passiert und man versucht, einander zu verstehen und das Verbindende zu suchen. Dort werden eher verfestigte Positionen wiederholt, ein Blick in die verschiedenen Lager geworfen. Das mag seine Funktion haben – manchmal wünscht man sich aber doch, es würde einander auch mal zugehört, aufeinander eingegangen, die eigene Position vielleicht hinterfragt. Deshalb erschien es uns als gute Idee, über die Feiertage und den Jahreswechsel mal wieder das zu üben, was uns als Schweiz trotz allem zusammenhält: die Erfahrung der magischen Wirkung von Konsens. Wir haben sechs Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären im Zürcher Sogar-Theater an einen Tisch geholt. Sie kannten sich nicht und wurden einander nur mit Vornamen vorgestellt. Sie kamen unvorbereitet und in Unkenntnis dessen, worum es genau gehen würde. Nacheinander haben wir ihnen drei Themen angerissen, die sie jeweils etwas über eine halbe Stunde miteinander diskutieren sollten. Die Vorgabe war: zu zwei der drei Themen muss ein Konsens erarbeitet werden. Es gab während des Gesprächs keine Moderation, keine Rollen und keine weiteren Regeln (ausser denen der Höflichkeit und des Anstandes). Wir haben bei der Auswahl versucht, die Gruppe in jeder Hinsicht möglichst divers zu zusammenzustellen. Einzig beim Bildungsstand haben wir bewusst einen Fokus darauf gelegt, dass die Gesprächspartner*innen einander möglichst ebenbürtig begegnen können, um eine gerechte Gesprächsgrundlage zu schaffen. Natürlich kann eine Gruppe von sechs nicht repräsentativ für unsere Gesellschaft stehen, und wir beanspruchen auch nicht, alle Faktoren gleichermassen berücksichtigt zu haben. Manches haben einfach der Zufall und die Verfügbarkeit bestimmt – so wie es auch im Leben oft genug der Fall ist. Wir wussten nicht, ob es gelingen würde. Wir wussten nur: Es ist ein Experiment und es ist spannend. Hier ist das Skript des Gesprächs in der Reihenfolge, wie es geführt wurde. 5


Rechte und Pflichten Wir haben ein Demokratiedefizit. Jede vierte Person, die in der Schweiz lebt, hat keine politische Stimme auf nationaler Ebene – weil sie keinen Schweizer Pass hat. Sie hat Pflichten, zahlt Steuern und Abgaben, besitzt aber keine Rechte. Gleichzeitig rühmen wir uns unserer weitgefassten Demokratie mit ihren vielen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Darin liegt ein Widerspruch. In einigen Bereichen ist dieser bereits aufgehoben: Auf kantonaler Ebene gewähren die Kantone Neuenburg und Jura ausländischen Staatsbürger*innen das Stimmrecht und das aktive Wahlrecht unter bestimmten Bedingungen. Und doch: Kein Kanton räumt ausländischen Staatsbürger*innen das passive Wahlrecht ein. Auf kommunaler Ebene

ist die Mitbestimmung von Menschen ohne Schweizer Pass etwas etablierter – hier zeigt sich übrigens auch, dass mehr Mitbestimmung nicht zwingend politische Mehrheiten verändern würde. In den 600 Schweizer Gemeinden, die das Ausländerstimmrecht kennen, hat sich herausgestellt: Zwar würden Ausländer*innen laut einer Studie eher linken Parteien ihre Stimme geben, das gilt jedoch nur für Menschen, die erst seit Kurzem in der Schweiz sind. Bei Secondos ist der Unterschied zur Schweizer Bevölkerung geringer, bei Terzos kaum mehr vorhanden. Sollte das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen flächendeckend eingeführt werden?

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Danke! 6

Obdachlosigkeit gehört in die Vergangenheit. Schreiben wir gemeinsam Geschichte. Surprise 515/21


Hernâni: Also, ich kann jetzt gleich einmal loslegen, weil ich nämlich selbst Ausländer bin. Ich mische mich aber ständig ein. Denn Mitbestimmung und Mitsprache ist nicht das gleiche. Mitsprache betreibe ich extensiv, indem ich überall Propaganda mache und auch Referenden und Initiativen mitergreife. Auch wenn ich dann nicht stimmen kann, weil ich eben keine Stimmberechtigung habe. Ich denke, man sollte für Leute, die hier geboren sind, die keine Strafregistereinträge haben, die die Landessprachen sprechen und überall integriert sind, schon mal etwas machen. Ich bin zwar hier geboren, habe aber den Kanton so häufig gewechselt, dass ich nicht einmal einen Einbürgerungsantrag stellen kann. Jetzt wohne ich in Fribourg, da muss ich zwei Jahre in der gleichen Gemeinde gelebt haben, d.h. ich nächstes Jahr ein Einbürgerungsgesuch stellen kann, wenn der Nachrichtendienst es zulässt, weil der mag mich nicht. (alle lachen) Markus: Ich finde das System, wie es heute ist, eigentlich gut. Man muss eingebürgert sein, um seine Stimme abzugeben. Dass mit diesen Regeln zur Kantonsüberschreitung die Einbürgerung unnötig erschwert wird, das finde ich auch nicht mehr zeitgemäss. Generell finde ich aber, die Demokratie ist ja kein Selbstläufer, sondern etwas kulturell Gewachsenes. Eine Mehrheit kann eine Minderheit plattwalzen. Es braucht eine gewisse Tradition, dass man in einer Demokratie auch die Minderheiten respektiert. Da wächst man hinein. Ich finde es grundsätzlich gut, dass wenn man in die Schweiz kommt aus irgendeiner Kultur, wo diese Art Mitbestimmung vielleicht gar nicht existiert, dass man dieses doch relevante Bürgerrecht nicht sofort kriegt. Hernâni: Aber wenn man hier geboren ist, sollte man es schon sehr stark vereinfachen. Findest du nicht? Markus: Wenn man hier geboren ist und in die Schule geht, ist man ja auch irgendwann zehn Jahre hier und könnte sich einbürgern lassen. Wenn man denn will. Es gibt ja auch erstaunlich viele, die das gar nicht wollen. Das kann ich gar nicht nachvollziehen. Hernâni: Von meinen Eltern kann ich sagen: Die sind nur hier, um zu arbeiten, und wollen sofort zurück, wenn das Pensionsalter erreicht ist. Der Bezug zur Schweiz ist beschränkt. Sie arbeiten und zahlen Steuern, sind aber eigentlich immer gedanklich in Portugal. Markus: Mitbestimmung ist also in dem Sinne gar kein Wunsch? Hernâni: Nee, sie leiden jetzt auch nicht darunter. Bei mir selber ist das auch kein Problem. Ich mache genug Dinge, beeinflusse Abstimmungen und Wahlen, es ist also nicht so, dass ich mir ausgegrenzt vorkomme. Aber wenn ich abstimmen könnte, wäre das auch nicht schlecht. Gewählt werden will ich gar nicht. Lucia: Ich tendiere eher zu der Argumentation von Markus. Es gab in Basel-Stadt eine Abstimmung dazu: Damals war meine Reaktion, dass man diese Grenze durchaus beibehalten kann und soll. Hernâni: Welche Grenzen meinst du jetzt genau, die Kantonsgrenzen? Surprise 515/21

Lucia: Nein, die Frage, wer ab wann mitbestimmen darf und wie eingebürgert wird. Maurice: Warum? Lucia: Das ist einfach eine spontane Reaktion. Ich denke, wenn man teilhaben will am politischen Leben, dann ist es auch gut, wenn man das System ein wenig kennt und schon länger hier gelebt hat. Das ist für das System besser, als wenn es sich zu schnell verändert. Marina: Ich finde, der Schweizer Pass ist ein Privileg. Und ich habe aus verschiedenen Perspektiven miterlebt, wie dies für Ausländer*innen in der Schweiz zu Diskriminierung führen kann. Es geschehen Demütigungen basierend darauf, beispielsweise bei der Bewerbung um Studienplätze, Arbeits- oder Lehrstellen. Ich habe einen Schweizer Elternteil und einen nichtschweizerischen Elternteil. Das ist ein Zufall. Und ich habe Familienmitglieder, die dieses Privileg nicht hatten. Für sie war es schwierig, den Schweizer Pass zu bekommen. Sie sind ausgezeichnet ausgebildet, wunderbar integriert, haben viel geleistet für die Schweiz. Ich habe Menschen ohne Schweizer Pass erlebt, die von der Schweizer Seite in sehr wichtigen und wegweisenden Situationen ihres Lebens abgewiesen wurden. Ich denke, wenn wir Leute nicht auf dieser Ebene diskriminieren, könnten wir sie ganz anders integrieren und auch die Ressourcen anders nutzen. Lucia: Ich bin hier aufgewachsen in der Schweiz. Ich kenne diese Thematik nicht aus persönlicher Betroffenheit. Ich habe keinen Background, der mich besonders sensibilisieren würde. Denn, und das ist jetzt egoistisch gesprochen, für Leute wie mich funktioniert es ja so. Marina: Es geschieht sicher auf beiden Seiten Unrecht. Es gibt ja auch solche, die das System ausnutzen oder nicht adäquat nutzen. Maurice: Wie kommst du denn jetzt auf ausnutzen? Mitspracherecht heisst ja nicht, dass diejenigen, die von woanders herkommen und keinen Schweizer Pass haben, vollkommen andere Meinungen haben als die Schweizer*innen. Das Argument kann ich nicht nachvollziehen.

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«Mitsprache gehört dazu. Wenn du Pflichten hast, musst du auch Rechte haben. » MAURICE NDOTONI

Marina: Nein, nein. Ich meine beispielsweise, man arbeitet in der Schweiz, lässt sich dann das Geld auszahlen und verlässt die Schweiz. Aber das haben wir in der Schweiz auch! Maurice: In Basel gibt es ganz viele Menschen, die leben in Frankreich, gehen in Deutschland einkaufen und arbeiten in der Schweiz. Davon sind ganz viele Schweizer*innen. Marina: Stimmt, und es denken alle: Was nützt mir am meisten? Maurice: Ich finde, Mitsprache gehört dazu. Wenn du Pflichten hast, musst du auch Rechte haben. Markus: Wenn du jetzt in ein anderes Land gehst, würdest du erwarten, dass du dort auch sofort mit abstimmen kannst? Das wäre ja die Konsequenz daraus. Lavinia: Dass man sich beteiligen kann, ja. Markus: Also eine globale Personenfreizügigkeit im weitesten Sinne. Maurice: Wie du ja selbst gesagt hast: Du verstehst nicht, warum das mit den Kantonen so kompliziert ist. Du solltest eine gewisse Zeit im Land sein und dich ein wenig akklimatisieren, da widerspreche ich gar nicht, aber dass es zehn Jahre dauert, bis du einen Schweizer Pass hast, finde ich ein bisschen übertrieben. Oder dass du, wenn du den Kanton wechselst, wieder von vorne anfangen musst. Hernâni: In Schwyz und in Uri muss man zum Teil fünfzehn Jahre lang ansässig sein, im Kanton Fribourg reichen zwei. Das macht überhaupt keinen Sinn. Lavinia: Ich bin ja allgemein für Lösungen oder Entscheide, die dafür sorgen, dass alle gleichberechtigt sind. Nur dann findet für mich eine gerechte Welt statt. Wenn alle mitstimmen dürften, die hier leben, ohne diese ganzen Tests über die Schweiz – diejenigen, die sich einbürgern liessen, wissen mehr als ich –, dann wäre es immer noch nicht klar, ob jemand schliesslich abstimmen geht. Surprise 515/21

Aber ich finde es schön und einladend, wenn man sagt: Hey, ihr seid jetzt hier, ihr arbeitet hier, ihr zahlt Steuern, ihr habt Pflichten, ihr dürft auch dazugehören! Sozial, kulturell und politisch sollte man mitmachen dürfen, egal, woher man gekommen ist. Maurice: Gegenfrage, Markus: Wenn du nach Frankreich zögest, würdest du sofort abstimmen? Markus: Also wenn ich könnte, eventuell schon, ja. Wenn ich dürfte. Aber in der Schweiz mit der direkten Demokratie, das ist schon ein anderer Fall, das sind Bürgerrechte, die man so nirgends auf der Welt in dem Ausmass kennt. Und diese Entscheidungen lenken ja dann die Geschicke der Schweiz. Da hat sich über Generationen ein Staatsverständnis entwickelt, am Ergebnis gemessen ein erfolgreiches Modell. Leute aus anderen Staaten haben ein ganz anderes Staatsverständnis, sie sehen den Staat vielleicht als Feind. Maurice: Aber was macht das für einen Unterschied? Ich bin jetzt Secondo-Terzo, also beides, habe den Schweizer Pass, aber ich kenne auch andere, die in der Schweiz aufgewachsen sind, ihre Eltern aber nicht, die haben den Schweizer Pass, sehen die Schweiz aber nicht unbedingt als ihr Land und stimmen entsprechend ab. Der Pass macht nicht den Unterschied. Markus: Leute, die es anders sehen, gibt es immer. Aber es macht einen Unterschied, ob man hier aufgewachsen ist und die direkte Demokratie quasi inhaliert hat, oder ob man später aus einer ganz anderen Welt dazukommt. Das könnte schon dazu führen, dass man beispielsweise bei einer Abstimmung eher kurzfristig auf seinen eigenen Profit schaut, weil man es so kennt. Und in der Schweiz hat es sich eingebürgert, glaube ich, dass man bei Abstimmungen weiterdenkt – also nicht nur für sich, sondern auch fürs Gesamte. Lavinia: Ja, das muss man schon lernen irgendwie. Marina: Das Verrückte ist ja die Willkürlichkeit auf der kantonalen und teilweise auch auf der kommunalen Ebene. Markus: Beim Einbürgerungsprozess?

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Marina: Ja, genau. Hernâni: Zum Teil ist es volksgerichtmässig. Marina: Es sollte nicht willkürlich so sein, dass – wenn ich zum Beispiel aufgrund einer neuen Arbeitsstelle den Kanton wechsle – das Ganze wieder von Neuem zu zählen beginnt. Oder dass Schweizer*innen mit weitaus weniger guter Ausbildung darüber bestimmen, ob eine Familie mit gutem Ausbildungsstatus eingebürgert werden sollte oder nicht. Lavinia: Es geht hier gar nicht nur um Demütigung. Es geht darum, dass Menschen gewürdigt werden. Menschen haben Ressourcen. Solange wir solche Barrieren und Hürden aufrechterhalten, fühlen die Menschen sich nicht gewürdigt. Das ist schlimm. Hernâni: In diesem Zusammenhang ist auch die demokratische Legitimität interessant. Wir haben acht Millionen Menschen in diesem Land, und zum Teil verfügen zwei Millionen über die Richtung, die wir einschlagen. Auch weil die Stimmbeteiligung nicht immer der Hit ist, aber auch weil zahlreiche Leute ausgeschlossen sind, nicht nur Kinder, sondern auch Ausländer*innen. Markus: Wenn man sich entscheidet nicht zu wählen, dann ist es auch eine Entscheidung dafür, dass man das Ergebnis akzeptiert. Das ist okay. Ein anderes Problem ist der Einbürgerungsprozess. Zwar kann nicht jeder, der hier ist, abstimmen, aber der Schuh drückt doch mehr beim Einbürgerungsprozess. Marina: Wie man zum Schweizer Pass kommt und wer an die Urne darf, ich stelle beides in Frage. Grundsätzlich bin ich schon der Meinung, dass alle, die sich hier beteiligen, zur Schule gehen, studieren und arbeiten, abstimmen können sollten. Über die Schwelle müssen wir diskutieren. Hernâni: Du hast vorhin die Identitätsfrage aufgeworfen. Das ist bei mir noch lustig. Mein Bezug zu Portugal ist: cooles Land, ich habe da ein paar Verwandte. Aber hier setze ich mich die ganze Zeit ein. Ich bin auch Verfechter der direkten Demokratie. Ich habe das e-Voting bekämpft, weil das aus unserer Sicht die direkte Demokratie aushebelt. Im direkten Gespräch hat man mir schon oft gesagt: So einem wie mir solle man den Schweizer Pass doch direkt geben. Aber einen entsprechenden politischen Antrag hat nie jemand gestellt. Marina: Du hast nach Ansicht gewisser Personen die erwarteten Kriterien erfüllt. In diesen Erwartungen stecken aber auch wieder Vorurteile. Hernâni: Das ist so. Marina: Ihr habt das -ić, ihr habt das, also seid ihr dies oder das ... all das ist schwierig. Da geht es immer wieder um Kategorien. Lucia: Also hier geht es jetzt ja darum, dass wir einen Konsens finden. Es geht also um aktives Wahlrecht, um passives Wahlrecht und das Stimmrecht. Wir sind nun schon so weit, dass wir zwei (zeigt auf sich und Markus) sagen, es soll nicht grenzenlos geöffnet werden. Und auf der anderen Seite sagt ihr, man solle die drei Sachen allen geben von Tag eins an. Und dann gibt es noch das Verfahren, das 10

«Demokratie ist ein Experiment: Man probiert etwas aus, und hat aber die Möglichkeit, es zu korrigieren, wenn es nicht funktioniert. » LUCIA HUNZIKER

Thema mit der Würde. Und jetzt müssen wir auf einen Punkt hin: Was wäre ein Kompromiss oder ein Konsens? Also, die Demokratie ist ja ein Experiment ... Lavinia: Aha? Lucia: ... man probiert etwas aus, und hat aber auch die Möglichkeit, es zu korrigieren, wenn es nicht funktioniert. Also bin ich jetzt grundsätzlich offen für das Experiment, dass man zum Beispiel dieses Kantönli-Ding abschafft und ein nationales Konzept daraus macht. Markus: Um in Richtung Konsens zu kommen, finde ich noch etwas anderes relevant: die wirtschaftliche Selbsttragfähigkeit. Wenn man sagt: Man ist in der Schweiz und kann wirtschaftlich für sich sorgen, dann ist das ganz eine andere Ausgangslage, als wenn jemand hier ist und das nicht macht. (Alle reden aufgeregt durcheinander.) Markus: Oder kommen wir da auf Abwege? Maurice: Ich finde schon. Marina: Das ist ein riesiges Thema und schwierig, hier einen Konsens zu finden. Ich verstehe euch (zu Markus und Lucia gewandt), ich verstehe, dass es irgendeine Form von System geben muss – Hernâni: Aber gegen erleichterte Einbürgerungen nach gewissen Bedingungen hat jetzt, glaube ich, niemand etwas. Markus: Das ist vielleicht der Konsens: Dass diese Kantönli-Grenze des Umziehens in der Schweiz aufgehoben werden sollte. Hernâni: Ab Tag eins, würde ich jetzt auch sagen, das wäre zwar idealistisch toll, aber das ist absurd und nicht umsetzbar. Marina: Kompliziert ... gerade wenn man von Wirtschaftlichkeit spricht. Es gibt Leute, die flüchten müssen. Surprise 515/21


Maurice: Selbsttragfähigkeit finde ich auch schwierig. Du kommst in ein Land, hast keinen Pass und kannst nicht arbeiten. Das funktioniert ja nicht. Und dann kannst du nicht mitreden, eben weil du geflüchtet bist – Lavinia: Was habt ihr dagegen, dass jemand, der noch nicht lange da ist, aber das System cool findet, mit abstimmen will? Wenn er hier wohnt, hier lebt? Lucia: Finde ich schwierig, weil – Maurice: Weil was? Wovor habt ihr Angst? Lavinia: Oder was willst du schützen? Lucia: Ich habe das Gefühl, es geht zu einem gewissen Grad um Loyalität. Marina: Loyalität, das ist interessant. Ist schon auch spannend, eure Haltung. Lucia: Weil man in dem Gärtchen, in dem man aufgewachsen ist, sich darum bemüht, dass die Blumen schön wachsen. Maurice: Hast du Angst, dass jemand von aussen kommt und sagt: Diese Blumen gefallen mir nicht? Markus: Ich will unseren Wohlstand schützen in der Schweiz. Lavinia: ... vielleicht bringt ja jemand eine neue Blume dazu? Lucia: Ja, das schon, aber – Lavinia: Es wird schwierig, einen Konsens zu finden. Hernâni: Wir müssen ja nicht alles aufs Mal verlangen. Lavinia: Schritt für Schritt. Markus: Ich glaube, es wäre für unseren Wohlstand nicht förderlich, wenn jeder hier sofort mitbestimmen könnte. Die Schweiz ist wirtschaftlich sehr erfolgreich, und das aufgrund der Entscheidungen, die getroffen wurden. Andere Länder sind weniger stabil und erfolgreich, und wenn diese Hintergründe hier mit einfliessen, leuchtet es mir nicht ein, warum es dann besser rauskommen sollte. Maurice: Beispiel? Markus: Zum Beispiel, wenn es um Migrationspolitik geht. Da ist es mir wichtig, dass Leute, die schon lange hier sind, darüber auch entsprechend entscheiden können. Logischerweise sieht das jemand, der gerade erst gekommen ist, ganz anders. Lavinia: Die können ja auch die Sprache noch nicht ... Wir sollten ihnen aber doch die Möglichkeit geben zu verstehen und mitzumachen. Warum nicht? Lucia: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Menschen sollte meines Erachtens nichts damit zu tun haben, ob jemand das Wahl- und Stimmrecht bekommt. Es gibt Leute, die wenig Steuern zahlen, sich aber stark für die Gemeinschaft engagieren, und andere haben einfach extrem viel Geld und engagieren sich ansonsten gar nicht. Markus: Ich meine die Fälle, wo jemand hier ist und quasi nur auf Kosten der Gemeinschaft lebt. Marina: Wer bestimmt, dass jemand nur auf Kosten der Allgemeinheit lebt ... schon das ist schwierig. Lucia: Ja. Man muss eine Mischrechnung machen. Marina: Ich denke, man kann keinen Konsens finden. Hernâni: Also ich denke, wir können schon einen Konsens finden. Markus: Mindestens, was die erleichterte Einbürgerung angeht. Surprise 515/21

Maurice: So ganz pragmatisch-schweizerisch finden wir schon einen Konsens. Markus: Einen Kompromiss vielleicht. Maurice: Ja. Auf kantonaler Ebene darf man abstimmen, wenn man hier wohnt oder so-und-so lange hier wohnt. Zum Beispiel: Wenn du zwei Jahre in der Schweiz bist, kannst du abstimmen. Markus: Wer hier geboren ist, darf ab 18 abstimmen. Dafür wäre ich auch. Maurice: Zum Beispiel. Und wenn du länger als so-und-so lange hier bist, darfst du auch abstimmen, egal, ob du den Schweizer Pass schon hast oder nicht. Da finden wir schon einen Konsens. Marina: Aber wenn jemand als Flüchtling mit 5 in die Schweiz kommt und die Person wird 18, darf die dann nicht abstimmen? Markus: Wer die Schulzeit in der Schweiz absolviert hat. Hernâni: Wir könnten eine Frist definieren, zum Beispiel fünf Jahre oder zehn Jahre. Portugal macht es auch so: Sie legalisieren übrigens auch Sans-Papiers. Von denen haben wir 200 000 in diesem Land. Die leben komplett unter dem Radar. Da sind wir schon ein bisschen sehr restriktiv. Das ist auch ein Wirtschaftsfaktor, der informelle Bereich, die arbeiten da für sehr wenig Geld, alles eigentlich illegal, aber da machen dann auch Schweizer*innen mit, weil Sans-Papiers oft am günstigsten sind. Das ist schon auch ein bisschen ein asoziales Konzept. Marina: Schau dir mal den Pflegesektor an – Hernâni: Ja. Markus: Aber mit einem sehr niederschwelligen System hätte man ja auch die Schattenseite: Es kommt jemand her, ist an nichts interessiert, will sich nicht integrieren – Maurice: Aber das haben wir ja auch jetzt schon! Markus: Aber jetzt kann diese Person noch abstimmen. Maurice: Jemand, der sich nicht interessiert, wird auch nicht abstimmen. Und jemand, der sich nicht interessiert und einen Schweizer Pass hat, wird auch nicht abstimmen oder asozial abstimmen.

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Hochschule der Künste Bern Bern Academy of the Arts hkb.bfh.ch/infotage

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Lavinia Besuchet, 53, vier erwachsene Kinder und zwei Enkel, soziokulturelle Animatorin, momentan Pflegemutter des einen Enkels, ehemalige Leiterin Surprise Strassenfussball. Arbeitet an ihrem neuen Projekt Papp-City, einem Bau- und Übernachtungserlebnis für Kinder. Lebt in Basel.

Markus Schmidlin, 43, Wirtschaftsinformatiker, Basler Start-UpUnternehmer im Bereich Steuer- und Compliance-Software für Grosskonzerne. In seiner Freizeit treibt er viel Sport und verbringt gern Zeit mit seinem 12-jährigen Sohn.

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Hernâni: Das ist ein schwieriges Thema. Schliesslich haben wir jetzt in der Coronakrise sehr viele Schweizer*innen, die im höchsten Masse staatsgefährdend sind. Aber das machen wir jetzt nicht weiter auf, ja? Marina: Wo ist der Konsens, wo finden wir ihn? Lavinia: Ich glaube und habe das auch im Kleinen immer wieder gesehen oder festgestellt: Wenn wir die Rollen richtig verteilen, die Hierarchie ausnivellieren und alle auf Augenhöhe zusammenarbeiten für das gleiche Ziel, dann funktioniert es besser. Und es macht mehr Spass. Man kann schon sagen: Komm zuerst an, lern ein paar Wörter und versteh ein bisschen das System, geh in einen Verein oder mach einen Kurs. Aber du darfst mit abstimmen, wenn du hier leben wirst. Hernâni: Realpolitisch ist es sowieso so, dass bei der Einbürgerung einiges geprüft wird, auch die wirtschaftliche Fähigkeit, sich selber zu erhalten, sowie irgendwelche Sachen über das Land, die Schweizer*innen nicht mal wissen. Zum Beispiel, wer die Bundesräte grad sind. Ich muss übrigens ständig Schweizer*innen erklären, wie eigentlich unser System funktioniert. Viele wissen es selber nicht. Auch wenn man einfach mal die Verfassung lesen könnte oder auch Gesetze. Das ist eigentlich wirklich noch amüsant. Wenn man sich jetzt darauf einigt, dass man die Fristen schweizweit vereinheitlicht, sodass man leichter an den roten Pass kommt, wenn man gewisse Bedingungen erfüllt, dann wäre das doch schon ein Kompromiss. Solche Initiativen wurden allerdings auch schon mehrmals abgelehnt. Markus: Was ich nicht möchte ist, dass wir es umkehren: Also Menschen kommen her, bekommen alles und aufgrund dessen hoffen wir dann, dass sie sich deswegen integrieren. Also da bin ich skeptisch. In meiner Firma versuchen wir das, alles möglichst flat, keine Hierarchien, da können wir es aber irgendwie kontrollieren. Für das ganze Land aber glaube ich nicht daran, dass es funktionieren würde. Lavinia: Und nach wieviel Jahren dürften sie ...? Maurice: ... abstimmen. Und unter welchen Voraussetzungen? Lavinia: Und mit welcher Bewilligung: A, B, C, D, ...? Das ist ja auch so verrückt. Markus: Na, das ist gar nicht so dumm. Mit einer C-Bewilligung ist man permanent in der Schweiz. Wenn man das Stimmrecht bekäme, sobald man dauerhaft hier ist – Marina: Finde ich gut, mit C. Hernâni: Und das Ding kriegst du sowieso erst nach fünf Jahren. Markus: Das C, genau. Und man muss arbeiten. Das fände ich jetzt noch einen guten Punkt. Lavinia: Wenn ich jetzt sage, diesen Konsens kann ich mitunterschreiben: Was bekommen denn diejenigen an politischer Mitsprache, die noch nicht so lange da sind oder nicht hier zur Schule gegangen sind und noch keine Bewilligung C haben? Lucia: Die Gesellschaft bietet ja noch andere Möglichkeiten. Wenn man schreiben, wenn man reden kann, kann Surprise 515/21

man überall hingehen. Wahl- und Stimmrecht ist einfach ein Aspekt, der längerfristig wichtig ist, aber wenn man sich kurzfristig engagieren will, kann man bei sich im Quartier anfangen. Hernâni: Als Gemeinde könnte man die Ausländer*innen, die gerade gekommen sind, auch proaktiv informieren: Da gibt es Parteien, geht doch mal dahin. Lucia: Also die Stadt Basel macht das. Hernâni: Also ich bin jetzt in keiner Partei, aber da kann man eigentlich sogar als Ausländer*in anfangen, die Lokalpolitik mitzubestimmen. Man kann auch Papiere schreiben. Ich habe zum Beispiel beim e-Voting schon mit Nationalräten zusammengearbeitet, die haben dann meine Texte 1:1 ins Parlament eingebracht. Und das wurde von jemandem ohne Stimmrecht verfasst. Es geht ja um die guten Ideen und dass man diese einbringen kann. Damit kann man ja auch unten anfangen. Man kann viel beeinflussen, wenn man sich aktiv einschaltet. Lavinia: Ich bin da einverstanden. Maurice: Ich kann den Kompromiss mit der C-Bewilligung unterschreiben, aber ich möchte darauf hinweisen: Das ist nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich unterschreibe mit dem Ziel, dass es sich in der Zukunft noch verbessert und wir daran noch weiterarbeiten können. Weil wir ja alle die gleiche Vorstellung haben: Dass wir zusammen die Schweiz weiterbringen wollen. Das ist ja der Grundgedanke, von dem du, Markus, selber auch gesagt hast: Das ist ein Ideal. Markus: Ein Wunschgedanke. Maurice: Eben, wir müssen darauf hinarbeiten. Und nicht sagen: Ich habe Angst, nein, wir machen das nicht. Deswegen suchen wir einen Konsens. Markus: Ich glaube, der trägt der menschlichen Realität nicht Rechnung. Hernâni: Das C kann man übrigens auch verlieren, wenn man strukturell in finanzielle Abhängigkeit verfällt. Das C ist eigentlich direkt schon ein Filter. Da werden Markus’ wirtschaftliche Bedenken noch berücksichtigt. Maurice: Also ist das unser Konsens? Lavinia: Wer kann das noch einmal klar formulieren? Lucia: Also als ersten Schritt haben wir mal einen Konsens, dass man diese Einbürgerungsverfahren auf nationaler Ebene regelt statt auf kantonaler. Das ist das eine. Und das andere? Maurice: Und wenn du die Bewilligung C hast, dann darfst du auch abstimmen. Markus: Und wenn du in der Schweiz geboren bist, dann auch. Lucia: Genau. Maurice: Stimm- und Wahlrecht. (alle klatschen) Aufgezeichnet von Sara Winter Sayilir.

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Verzicht oder Verbot Die Welt kränkelt, das Klima spielt verrückt. Verantwortlich dafür sind vor allem wir. Also sind auch wir es, die dringend etwas dagegen tun sollten. So weit, so gut. Nur, wen meinen wir eigentlich mit «wir»? Sie und du und ich? Und wenn ja, was können wir denn – als Einzelne – anrichten? Ich mag mich ja, mit gutem Vorsatz und einer Portion schlechtem Gewissen, ordentlich im Verzicht üben, ÖV fahren, radeln, kaum noch fliegen, die Heizungen runterdrehen und mich vegan ernähren. Doch bringt das überhaupt etwas, macht das denn wirklich einen Unterschied? Die Macht von Einzelnen ist letztlich ziemlich beschränkt – auch wenn aus Einzelnen zwischendurch mal ein paar mehr werden. Doch was wäre die Alternative, um das Klima und damit gewissermassen auch uns selbst zu retten? Nicht wenige meinen, es brauche eine straffe Hand: Nicht der oder die Einzelne ist gefragt, sondern der Staat. Aber auch hier stellt sich die Frage: Wie stark soll oder darf der Staat eingreifen? Wie sehr darf er die persönliche Freiheit von Individuen einschränken? Lippenbekenntnisse gerade auch von Nationen, das sehen inzwischen viele so, gibt es zuhauf. So hat die EU-Kommission einen «Green Deal» vorgestellt, bei dem vor allen die Wirtschaft umweltfreundlicher und nachhaltiger

gestaltet werden soll. Kritiker*innen halten dies bloss für ein Bekenntnis, dem nicht zwingend Taten folgen müssen. Dasselbe, so werfen sie ein, gelte für die Klimapläne der Vereinten Nationen, auch sie blieben jedenfalls bislang immer sehr stark hinter den Erwartungen zurück. Braucht es seitens des Staates demzufolge striktere Massgaben, vielleicht sogar Verbote – oder muss zumindest der Lebensstil, den wir uns leisten und der sich negativ aufs Klima auswirkt, staatlich gesteuert erheblich teurer werden? Aufs Klima und unsere Mobilität bezogen, könnte das bedeuten: Verbot von SUVs, Verbot von Inlandflügen, Verteuerung der Fleischproduktion, etc. Was hätte das für Konsequenzen, nicht nur für uns als Individuen, sondern auch für unsere Gesellschaft? Würden rigorose Massnahmen des Staates nicht eine Gefahr darstellen für die Wirtschaft und damit letztlich unseren Wohlstand bedrohen? Und würde eine Verteuerung gewisser Produkte oder Dienstleistungen nicht dazu führen, dass sich eine neue Schere auftut zwischen Reich und Arm? Droht irgendwann die Gefahr sozialer Unruhen?

Maurice: Als Vegetarier bin ich Verboten gegenüber gar nicht so abgeneigt. Bloss denke ich, man sollte das «nur» in der Frage streichen. Denn es braucht beides, Massnahmen des Staates und auch uns, die Gesellschaft, die endlich etwas ändern muss. Das Bewusstsein, dass wir etwas fürs Klima tun müssen, ist, denke ich, inzwischen schon vorhanden. An der Umsetzung aber hapert es noch, da braucht es eben den Staat. Zum Beispiel SUVs verbieten, das fände ich in Ordnung. Lucia: Ich bin grundsätzlich liberal eingestellt und denke, man sollte die Leute eher übers Portemonnaie packen. Mir kommen Lenkungsabgaben in den Sinn oder die Berechnung der effektiven Gesamtkosten, die das Fliegen verursacht. Also nicht bloss die Maschine, das Kerosin oder das Personal, sondern auch die ökologischen Kosten.

Das würde zu einer massiven Verteuerung des Fliegens führen – eine Massnahme, die jede und jeden Einzelnen von uns konkret betreffen würde, der wir aber als Kollektiv zugestimmt hätten. Das finde ich eigentlich das Wichtigste: dass ein Bewusstsein geschaffen wird für die ökologischen Kosten unseres Lebensstils. So könnte man auch die höheren Preise rechtfertigen. Hernâni: Und das sollte möglichst bald passieren! Sonst droht uns am Ende noch ein totalitäres System, wo man das Verhalten der einzelnen Leute mit einem Punkte-System bewertet, so à la: Du bist jetzt schon so-und-so oft geflogen, jetzt darfst du nicht mehr. Ich glaube nicht, dass wir das wollen. Dann lieber, wie Lucia sagt, über das Geld lenken. Was Verbote angeht, finde ich, dass man die Konzerne besser im Auge behalten sollte. Da gibt es solche,

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Das Klima retten: Geht das wirklich nur über Verbote oder ginge es auch anders?

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die die Natur wirklich krass und nachhaltig schädigen. So etwas kann man nicht über höhere Kosten regeln, das sollte schlichtweg verboten werden. Markus: Das sehe ich auch so, wenn es um die Vergiftung der Umwelt geht. Aber wenn wir vom Klima reden, betrifft das ja vor allem den CO2-Ausstoss. Würdet ihr da auch Verbote wollen? Lavinia: Verbote oder nicht, ich bin skeptisch, dass die Lösung so einfach ist. Wir, die Älteren, sollten versuchen, den Jüngeren etwas vorzuleben, das die Welt ein Stück besser macht. Zum Beispiel, dass man nicht immer neue und noch grössere Autos braucht. Und nein, auch keine Elektroautos, denn dann kommen diese noch zu den anderen dazu, sondern überhaupt keine. Man kann ganz bequem den ÖV benutzen oder das Rad, das geht doch auch. Was das Fliegen angeht, bin ich inzwischen recht radikal geworden. Meine Verwandten leben zerstreut in der Welt, ich besuche sie nicht mehr. Markus (lacht): Wegen der Verwandten oder des Klimas? Lavinia: Wegen des Klimas. Aber wir sehen uns ab und zu per Zoom (lacht). Auch hier, ich versuche im Kleinen ein Vorbild zu sein und so zu leben, dass meine Kinder und Enkel zumindest die Chance haben, in einer Welt zu leben, die nicht völlig zerstört ist. Aber vielleicht bin ich ein bisschen naiv, es braucht wohl vier oder fünf Generationen,

bis sich ein Wandel einstellt. Manchmal werde ich fast verrückt bei dem Gedanken, was wir Menschen alles anrichten, was wir uns antun und der Natur. Wie soll das gehen? Hernâni: Du sagst, dass du deine Verwandten im Internet triffst. Je nach Plattform, die du benutzt, ist das auch nicht gerade die ökologischste Variante – die Digitalisierung frisst immens viel Strom. Und dann kommt noch der Kampf um die Mineralien hinzu – in der Demokratischen Republik Kongo etwa –, die es braucht, um unsere Handys und Computer zu bauen. Lavinia: Ja, das habe ich meinen Verwandten auch gesagt, es ist vertrackt. Markus: Davon habe ich auch schon gehört: Der Netflix-Konsum und das ganze Streaming brauchen etwa gleichviel Energie wie die Fliegerei. Wenn also jemand aus Überzeugung nicht fliegt, daheim aber die ganze Zeit Netflix schaut, ist er gleich weit. Am Schluss müsste man extrem viel einschränken. Hernâni: Dann ist es eben auch ein bisschen widersprüchlich, wenn die Jugendlichen mit ihren Handys fürs Klima hüpfen. Übrigens: Als jüngst Facebook nicht funktionierte, brach der Datenverkehr um über fünfzig Prozent ein. Das war messbar und gut fürs Klima. Maurice: Das wäre doch jetzt so ein Fall, wo der Staat regulativ eingreifen könnte. Klar, wir selbst müssen uns auch

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an der Nase nehmen, aber die grossen Konzerne haben eben auch eine Verantwortung, und die nehmen sie zu wenig wahr. Hernâni: Diese Firma sollte man eh dichtmachen. Was da teils abgeht, ist demokratiezersetzend. Aber das ist ein anderes Thema. Markus: Zumindest hätten grosse Konzerne einen gewissen Einfluss. Denn wir als Einzelne können den Klimawandel nicht ändern. Auch wir als Schweiz nicht. Maurice: Das stimmt jetzt aber so nicht ... Markus: Ich meine damit nicht, dass wir die Umwelt nicht schützen sollten. Im Gegenteil, wir können als gutes Beispiel vorangehen. Allerdings dürfen wir damit nicht das Risiko eingehen, dass wir unserer Wirtschaft schaden und erfolgreiche Unternehmenszweige mit zu hohen ökologischen Auflagen einschränken. Um ein Beispiel zu nennen: Wir fahren Kohlekraftwerke zurück, in China dagegen hat das Kohlezeitalter gerade erst begonnen, sie bauen massenweise Kraftwerke, das wird ein riesiger Markt. Ich finde das nicht gut, aber so ist es halt. Wenn wir in Schweiz jetzt anfangen, uns einzuschränken und auf alles zu verzichten, nicht mehr Auto fahren und nicht mehr Netflix schauen, dann bringt das nichts, wir können damit das Klima nicht retten. Und wenn wir durch Verzicht die Wirtschaft gefährden, verringern wir dadurch bloss unsere Chance, mit neuen Technologien nachhaltige Lösungen zu entwickeln, und zwar im Sinne des Klimas. Ich sehe hier den stärkeren Wirkungshebel. Hernâni: Tatsächlich könnte die Schweiz Weltmeister im Export nachhaltiger Technologien werden. Wir hätten die Möglichkeiten dazu plus das Know-how. Nur müsste der Bund dann bereit sein, ein paar Milliarden in entsprechende Start-ups zu stecken. Markus: Die Investition in nachhaltige Technologie wäre so gesehen ein sinnvolles Gegenkonzept zum Verzicht. Maurice: Das sehe ich nicht so. Wir können doch nicht sagen, OK, jetzt lassen wir den Verzicht, bloss weil wir in Technologie investieren. Es muss beides Hand in Hand gehen, denn wir stehen alle in der Verantwortung.

MARKUS SCHMIDLIN

Lavinia: Ich versuche es mit einem Bild: Angenommen, du erfährst, dass du zuckerkrank bist. Was tust du dann? Du verzichtest auf Zucker, ganz einfach. Und so ist es doch auch mit unserem Planeten. Er ist krank, und wir sollten auf das verzichten, was ihn krank macht. Allein auf Wirtschaft und Technologie vertrauen, nein, das möchte ich nicht. Die sind sowieso darauf aus, immer mehr zu produzieren. Jedenfalls war das bisher so, warum sollte sich das jetzt ändern? Nochmals: Ich bin fest überzeugt, dass wir Älteren schon heute den Jüngeren vorleben sollten, wie es auch anderes gehen könnte. Es gibt viele Jugendliche, die sind vernarrt in Autos oder Modemarken. Solange die Wirtschaft findet, man muss jetzt noch grössere Autos produzieren, noch krassere Labels oder noch saftigere Burger, wie sollen die Jugendlichen die richtige Haltung entwickeln können, um die Welt zu verändern?

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Hernâni: Ich finde, viele Jugendliche haben inzwischen ein ökologisches Bewusstsein. Mir kommt es eher so vor, als würden die Erwachsenen denken: nach mir die Sintflut. Lavinia: Klar, von denen gibt es immer welche. Kennt ihr «Changes», den Song von David Bowie? Darin geht es um eine ältere Generation, die keine Veränderung will und die Jugend bremst, wo sie nur kann, doch die Jugend hört nicht auf zu rebellieren. Heute haben wir «Extinction Rebellion». Das ist gut so, wir müssen handeln, dürfen nicht wegschauen. Lucia: Du machst das im Kleinen, versuchst ein Vorbild zu sein. Markus: Ich sehe das alles nicht so negativ. Unserer Welt geht es heute besser als je zuvor, gerade im Bereich Umweltschutz läuft viel, das Bewusstsein wächst. Auch in der Schweiz gibt es immer mehr Gesetze zum Schutz der Umwelt. Ja, es besteht noch Handlungsbedarf, das ist unbestritten. Doch bin ich zuversichtlich, dass sich die Situation insgesamt verbessern wird. Auch bezüglich des Klimas: Wir werden uns an die veränderten Klimabedingungen adaptieren, und wir können das auch, da bin ich mir sicher. Der Mensch ist sehr anpassungsfähig, Grund zur Panik sehe ich nicht. Lavinia: Panik nicht, aber Anlass zur Sorge gibt es schon. Marina: Ich sehe das Problem eher darin, dass alles so komplex geworden ist. Ich finde nicht, dass wir die Schweiz

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isoliert betrachten dürfen. Wir sind vernetzt mit anderen Ländern und deren Interessen, was problematisch sein kann und uns oft handlungsunfähig macht – denken wir nur an die Schweiz als Finanzplatz, als Zentrum des weltweiten Rohstoffhandels und anderes mehr. Ich sage das im Zusammenhang mit Markus’ Vorschlag: Wenn die Schweiz in ökologisch nachhaltige Technologien investieren soll, müssen wir uns nicht bloss überlegen, welches Businessmodell wir verfolgen, sondern auch, welche unternehmungsethischen Werte uns wichtig sind. Und diese Werte müssen das gesamte System betreffen, nur so werden neue Massstäbe gesetzt. In dieser Hinsicht könnte die Schweiz viel kreativer sein. Solange wir uns wirtschaftlich am alten System laben, wird nichts passieren. Um dein Bild, Lavinia, nochmals aufzunehmen: Ja, wenn wir zuckerkrank sind, sollten wir auf Zucker verzichten, nur: Das System-Problem ist doch, dass wir erstmal überhaupt zuckerfreie Produkte entwickeln müssen. Markus: Wir können doch freiwillig auf Zucker verzichten, wenn er uns schadet. Marina: Sicher, aber die Frage ist: Reicht das? Da könnte man doch – von oben dirigiert – sagen: Sorry, aber wir hören jetzt aus ethischen Gründen auf, schädliche Dinge zu produzieren! Lavinia: Genau: Wenn etwas schädlich ist, wieso kann man dann nicht ethische Werte gelten lassen? Marina: Solange wir so viel Wohlstand haben, interessiert die Ethik niemanden. Lavinia: Deshalb müssen wir denen, die mehr Wohlstand wollen, vorleben: Weniger ist mehr! Marina: Ich denke nicht, dass hier weniger mehr wäre. Aber ich finde, Wohlstand kann träge machen. Und wenn wir auf nachhaltige Technologien setzen wollen, müssen wir aufwachen. Wir dürfen wir nicht am Status quo festhalten und einfach so weitermachen, wir müssen bereit sein, das System zu hinterfragen. Hernâni: Man braucht nicht unnötig zu moralisieren. Es ist ja kein Geheimnis, dass unsere Wirtschaft rein kapitalistisch gesehen auf Profitmaximierung ausgerichtet sein muss. Ethik hat da in den meisten Fällen keinen Platz. Aber ein paar Rahmenbedingungen könnte man schon setzen. Wir haben zum Beispiel von Verteuerungen geredet. Man könnte den Firmen sagen: Verdient euer Geld, seid innovativ, aber dies geht jetzt so nicht mehr und jenes wird nun teurer, usw. So könnte man es einigermassen liberal lösen. Einschnitte aber sind nötig, denn ich glaube nicht, dass der Markt es regeln wird – bei allem Glauben an freiheitliche Systeme. Markus: Solche Rahmenbedingungen und Regeln gibt es doch bereits, und die werden auch, mit gutem Grund, von Jahr zu Jahr verschärft: Man kann Lieferketten zurückverfolgen, Firmen erstellen Nachhaltigkeitsberichte, sie weisen ihren ökologischen Fussabdruck aus, usw. Das war früher nicht so. Maurice: Ich finde das Argument, früher sei alles schlimmer gewesen, nicht schlüssig, denn das klingt so, als sei jetzt alles gut. Was einfach nicht stimmt. Surprise 515/21


Maurice Ndotoni, 31, Sekundarlehrer für Französisch, Mathematik, Sport und Ethik/Religion/Gemeinschaft. Er ist Mitbegründer der Trendsporthalle OverGround in Basel und Präsident von World’s Parkour Family. Lebt in Zürich.

Lucia Hunziker, 40, studierte Geschichte und Wirtschaft, arbeitet als Fotografin, vor allem Porträts und Reportagen für Medien und Firmen, neu auch Film. Lebt in Basel.

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Markus: Ja, man kann im Detail sicher noch mehr machen. Was ich sagen will: Da ist schon einiges am Laufen, und es ist nicht so, dass wir einfach so weitermachen wie bisher und an die Wand rennen. Zu sagen, es passiere nichts, ist mir zu pessimistisch. Hernâni: Wobei man auch erwähnen muss, wenn man schon die Schweiz als Vorbild nennt: Unser ökologischer Fussabdruck, zu dem ich übrigens mit meinen Langstreckenflügen auch beitrage, ist extrem gross. Wenn wir das so beibehalten und China, Vietnam oder afrikanische Länder uns in diesem Punkt als Vorbild nehmen, sind wir komplett geliefert. Markus: Noch einmal, global geht es den Menschen insgesamt heute besser als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das gilt auch für China. Vor nicht allzu langer Zeit war das Land noch ein Armenhaus, heute boomt es. Hernâni: Und genau das ist die Gefahr: Wenn jetzt westliche Länder auf China blicken und sagen, «Schaut mal, die führen ihre Leute mit einem totalitären System aus der Armut heraus und haben auch sonst alle Probleme im Griff!», dann könnte das plötzlich auch bei uns wirken – es gibt schon jetzt Politiker*innen, die in irgendwelchen Talkshows so Sätze sagen wie: «Die Chines*innen machen das eigentlich ganz gut». Das finde ich gefährlich. Ich möchte nicht in einem totalitären System leben.

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Markus: Die Chines*innen sind trotz ihres totalitären Systems weitergekommen und nicht wegen. Hernâni: Ich hoffe, du hast recht. Lucia: Mich dünkt, wir kommen in der Diskussion immer wieder an denselben Punkt: Es geht nicht um entweder Verzicht oder aber Verbot, sondern beides spielt hinein – Verzicht auf der individuellen Ebene, Verbote auf staatlicher Ebene. Da sind wir uns, glaube ich, einig. Aber das ist natürlich noch immer sehr abstrakt, und Idealismus bringt nicht viel. Mich würde eher interessieren: Welche Verbote oder Regulierungen sind realpolitisch mach- und wünschbar? Was macht die Schweiz schon jetzt gut, was müsste anders werden? Hernâni: Wie schon gesagt, ich wäre dafür, dass der Bund ein paar Milliarden in Start-ups für innovative, nachhaltige Projekte investiert. Nicht, dass der Staat diese Projekte selbst macht, das käme nicht gut. Es sollte aber genügend Geld abrufbar sein, um auch wirklich etwas realisieren zu können. Sicher, das wäre für den Bund Risikokapital, aber das braucht es. Vielleicht könnten auch noch ein paar Reiche mitmachen und einen Fonds gründen. Bisher ist die Schweiz da viel zu vorsichtig. Markus: Nochmals zu den Verboten. Es muss auch möglich sein, sie zu hinterfragen. Beispiel Kernkraftwerke. Denkt man ans Klima, müsste man sich überlegen, ob man dieses Verbot nicht wieder rückgängig macht und ob man sich technologisch neu ausrichten will. Verbote sind ja eigentlich dazu da, um das Verhalten der Menschen zu beeinflussen und zum Beispiel die Anzahl Flüge festzulegen, die man zugute hat. Dafür müsste man für alle ein Kontingent festlegen. Aber wie soll das gehen? Der eine muss fliegen wegen der Arbeit, die andere will ihre Verwandten besuchen ... Hernâni: Genau hier müsste man mit Verteuerungen arbeiten. Markus: Aber auch bei diesem Vorschlag sollte man kritisch sein: Wenn Kerosin und Benzin mehr kosten, können sich plötzlich nur noch die Reichen Flüge oder ein Auto leisten. Damit straft man den ärmeren Teil der Gesellschaft ab. Ist das gerecht? Hernâni: Stimmt, man kann es übertreiben, und es kann auch die Falschen treffen: Leute zum Beispiel, die keinen ÖV haben. Was dann passieren kann, hat man in Frankreich mit den «Gelbwesten» gesehen. Dann brennt plötzlich alles. Lavinia: Also Markus, du bist gegen Verbote. Aber bist du wenigstens damit einverstanden, dass wir am System etwas ändern müssen? Oder würdest du sagen: Nein, denn wir sind sowieso auf einem guten Weg! Dann würden wir bei diesem Thema wohl nicht zu einem Konsens finden, dafür wären die Werte zu unterschiedlich. Markus: Grundlegend etwas am Kurs mithilfe von Verboten ändern, nein, das würde ich nicht. Ich rede jetzt von der Schweiz. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es in China keine Kohlekraftwerke mehr gibt. Maurice: Dann könnte das ein Konsens sein: dass es zumindest auf globaler Ebene Verbote oder Regulierungen braucht? Surprise 515/21


Markus: Es gibt ja bereits viele Verbote, international wie auch in der Schweiz. Ich möchte einfach nicht, dass wir durch noch mehr Verbote und Regulierungen unsere Innovationskraft zerstören, denn die brauchen wir, um das Klimaproblem zu lösen oder dessen Folgen zu bekämpfen. Lavinia: Aber wärst du dafür, dass wir unsere Häuser weniger wärmen und stattdessen mehr Kleider anziehen? Denn Heizen ist ein grosser Posten, wenn es um Energieverbrauch geht. Marina: Und die Probleme hören da ja nicht auf, denken wir nur an all das Plastik. Markus: Das sehe ich auch so, da muss dringend etwas gemacht werden. Maurice: Aber dann widersprichst du dir, denn das ginge ja nicht ohne Verbote oder zumindest Regulierungen! Markus: Ja, wenn es um Umweltverschmutzung geht. Aber ich habe vom Klima geredet und von der Erderwärmung, und da glaube ich eben nicht, dass wir mit Verboten weiterkommen. Wie gesagt, ich möchte die Umwelt schützen und nachhaltige Technologien und Produkte fördern, aber ich möchte nicht unseren Wohlstand verschrotten. Maurice: Ich kann dein Vertrauen in die Wirtschaft und die Technologie nicht nachvollziehen. Marina: Selbst wenn wir in Sachen Umwelt und Klima vergleichsweise viel erreicht haben, dürfen wir nicht vergessen, dass die Schweiz als Finanzplatz mit all den Banken eine besondere Verantwortung hat. Hernâni: Das wird von der Klimajugend ebenfalls thematisiert. Lavinia: Ok, dann vielleicht so: Innovation ja, aber mit weniger Strom und vielleicht mit ein paar sinnvollen Regulierungen? Wäre das ein Konsens, wenigstens ein kleiner? Jedenfalls gibt es niemanden von uns, der oder die sagen würde: Alles gut, wir machen weiter so, bauen ein neues Benzinauto, das noch grösser und noch schneller ist. Oder? Markus: Wir sollten mehr in Richtung Nachhaltigkeit gehen, ich denke, damit sind wir alle einverstanden. Maurice: Da haben wir einen Konsens. Wenn es um die Frage geht, wie wir das machen können, haben wir vermutlich keinen Konsens. (alle stimmen zu)

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Im Rausch Drogenpolitik ist ein hochemotionales Thema. Drogen machen uns Angst – nicht ohne Grund. Aber Rausch ist auch ein menschliches Bedürfnis, ein fester Bestandteil von Übergangsritualen und sozialen Feierlichkeiten. Erwiesen ist auch – sei es auf nationaler oder internationaler Ebene: Verbote bringen nichts. Durch Prohibition wurden weder der Konsum noch der Handel von verbotenen Betäubungsmitteln vermindert. Laut einem Bericht des Bundesrates von April 2021 hat ein Drittel der Schweizer Bevölkerung schon mindestens einmal Cannabis probiert, gut 200 000 konsumieren regelmässig. Nur 8 Prozent der Bevölkerung haben Erfahrung mit einem anderen verbotenen Betäubungsmittel. Der Heroinkonsum ist auf tiefem Niveau stabil, und es gibt keine Anzeichen, dass die in den USA grassierende Opioid-Epidemie auf die Schweiz überschwappen könnte. Der Kokainkonsum ist steigend, während sogenannte neue psychoaktive Substanzen (NPS) in der Schweiz bislang wenig verbreitet sind. Substanzen wie Cannabis, MDMA und Kokain werden – auch in Verbindung mit Alkohol – vor allem als Freizeitvergnügen konsumiert. Die grosse Mehrheit der Erwachsenen in der Schweiz tut dies auf risikoarme Art und Weise, das heisst, sie haben genügend Kontrolle darüber. Diese Menschen werden derzeit durch das Betäu-

bungsmittelgesetz pathologisiert und kriminalisiert, mit teilweise weitreichenden Folgen. Offenbar stimmt unsere Gesetzeslage mit der Realität, in der wir leben, nicht mehr ausreichend überein. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Ungleichbehandlung von Cannabis- und Alkoholkonsum im Strassenverkehr, die kaum sachlich zu rechtfertigen ist. Auch könnten wir durch eine weitgehende Entkriminalisierung sowie Teststationen oder gar eine kontrollierte Abgabe rauscherzeugender Substanzen der problematischen Qualität der auf dem Schwarzmarkt gehandelten Drogen entgegenwirken. Zudem würde die Medizin von der erleichterten Forschung und dem Einsatz derzeit noch verbotener Betäubungsmittel profitieren. Ganz anders verhält es sich beim Schutz von Jugendlichen: Regelmässiger Substanzkonsum kann sich negativ auf deren Entwicklung auswirken. Durch die hohe Tabuisierung des Themas wird allerdings zu wenig offen darüber gesprochen. Hier bedarf es einer wirksamen, substanzübergreifenden Präventionsarbeit und eines sinnvollen Jugendschutzes.

Lavinia: (atmet hörbar aus) Hernâni: Ich bin für ultraliberale Drogenpolitik. Das Betäubungsmittelgesetz würde ich weitestgehend aufheben. Wichtig ist, dass man Informationen dazu hat, was man genau zu sich nimmt. Ich habe selbst vor allem in meiner Jugend einige Drogenexperimente mit ethnobotanischen Substanzen gemacht – wie zum Beispiel mit Pilzen. Genügend informiert wird hierzu im Jugendbereich nicht. Da nehmen Jugendliche zum Beispiel Engelstrompeten. Da ist Scopolamin drin – das geht auch aufs Herz-Nerven-System. Das kann so weit führen, dass man nicht mehr weiss, wie man heisst. Oder Atropin, Belladonna, was in Tollkirschen vorkommt, schlägt ebenfalls aufs Herz-Nerven-System. Das muss man wissen. Ich habe mich mit meinen Freunden immer umfassend informiert, was passiert denn da und was nicht. Gewisse Dinge wie Engel-

strompeten oder Tollkirschen habe ich deswegen auch nie ausprobiert, weil die Gefahr da sehr hoch ist. Es braucht vor allem Informationen an Schulen direkt, weil die Kinder und Jugendlichen nehmen das sowieso, und dann geht es eben schief bis hin zur Intensivstation. Bei Cannabis ist es sowieso ein Witz: Das machen ja so viele Leute. Rechtliche Normen sollten ja so sein, dass sie die Gesellschaft auch abbilden. Wenn so viele Leute Abweichler sind, also quasi Kriminelle, dann ist das – und ich sage das jetzt so – Bullshit. Marina: (lacht laut) Hernâni: Und der sogenannte «war on drugs» ist ja gescheitert. Heute geht alles wieder in die andere Richtung. Zahlreiche Bundesstaaten in den USA haben LSD, Psilocybin und solche Stoffe wieder legalisiert. Bei Kokain und Heroin kann man sicher kritischer sein, dass man das

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Wie könnte ein sinnvoller politischer Umgang mit psychoaktiven Substanzen aussehen, der sowohl den besonderen Schutzbedarf von Jugendlichen als auch erwachsenen Freizeitkonsum berücksichtigt?

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«Mit mehr Informationen und Kontrolle über die Inhalte der Substanzen würden die Konsument*innen sicherer. Auch in Bezug auf die Steuern könnte es sich lohnen. » HERNÂNI MARQUES

irgendwo kontrolliert holen kann, damit man weiss, was man einnimmt. Das wäre sicher auch besser, als wenn man das gestreckt auf dem Schwarzmarkt kauft. Für mich wäre das nun wiederum nichts, weil ich sehr schnell abhängig werden würde. Aber es gibt Drogen, die können einem etwas bringen, neue Einsichten, man sollte einfach sehr bewusst damit umgehen. Man sollte vielleicht auch nicht gerade schizophren sein. LSD und Pilze werden auch in Therapien eingesetzt, um Depressionen zu bekämpfen und Ängste zu überwinden. Ich finde das sinnvoll. Ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, das Betäubungsmittelgesetz total zu revidieren. Habe ich jetzt gerade eine politische Rede gehalten? Maurice: Ja, schon ein bisschen (lacht). Lucia: Ich muss zu diesem Thema sagen: Mir ist das persönlich fremd, weil ich gar keine Drogen konsumiere. Ich habe Erfahrungen mit Medikamenten, aber nicht im Sinne von Drogen. Darum ist das für mich weit weg und sehr abstrakt. Ich mache mir da Sorgen um Leute, die denken: Ich kann ja jetzt mal Pilze probieren, weil das ja legal ist, und dann haben sie ein lebenslanges Problem. Hernâni: Deshalb Informationen. Lucia: Es gibt natürlich auch Leute, die dann sagen: Geil, mache ich! Und sich dazu überhaupt nicht informieren. Ich habe mich auch nie informiert und bisher wenig Interesse dafür aufgewendet. Hernâni: In Klubs wirft man sich einfach Sachen ein, ohne zu wissen, was genau drinsteckt. Mit mehr Informationen und Kontrolle über die Inhalte der Substanzen würden die Konsument*innen sicherer. Auch in Bezug auf die Steuern könnte es sich lohnen: Der Staat könnte ja analog zur Tabak- und Alkoholsteuer etwas verdienen – ja, also ich sehe eigentlich nur Vorteile. Maurice: (lacht) Lavinia: (atmet noch einmal tief aus) Marina: Lavinia, los, sag, was du sagen willst. Lavinia: Das Thema ist nahe bei mir. Ich habe seit drei Jahren eine sehr extreme Erfahrung mit Jugendlichen in 24

dieser Richtung. Und ich bin, wie bei allem, auch für Entkriminalisierung, aufmachen, informieren, Präventionsarbeit. Aber das Problem ist, wie beim Klima: Wir sind schon zu weit gegangen. Und du, Hernâni, redest einfach als informierter, intelligenter, erwachsener Mann. Marina: Und als Konsument. Lavinia: Ich habe auch selbst experimentiert. Alles bewusst und unter Kontrolle. Auch mit einer Portion Glück. Heute sind es aber 12-Jährige, die bei den Eltern im Apothekerschrank Xanax, Antidepressiva, Schlafmittel und so weiter finden und reinschmeissen. Und damit dealen. Kommt dazu, dass sie Gangsta-Rap, überhaupt Rap, und alles was dazugehört, Kleidung, Musik, Videos kopieren und konsumieren – mit 12 Jahren sehen sie so einen Star-Gangsta-Typ, der sagt: Waffen, Frauen, Drogen – Hernâni: Ja, da bin ich auch nicht so der Fan. Lavinia: Und was für Drogen! Drogen, die im Haushalt sind! Und dann nehmen sie diese, machen Party, einer stirbt dabei. Im Freundeskreis von meinem Sohn schon vier mittlerweile. Hernâni: Ui. Lucia: Gestorben? Lavinia: Ja. Nicht mehr aufgewacht. Sie sagen, «ja, Lavinia, wir haben es im Griff». Ich habe sie ja konfrontiert. Ich bin vom Beruf her im Präventionsbereich tätig. Ich habe sie konfrontiert, ich habe versucht, sie abzuholen und so weiter und so fort, und sie sagen, «wir haben es im Griff». Was heisst das? «Wir nehmen nur vier Xanax.» Lucia: Was ist Xanax? Lavinia: Ein Antidepressivum, Pillen, farbige Bonbons. Die sehen super aus, sind nicht so schwierig zum Einnehmen. Und dazu nehmen sie Hustensirup mit Sprite gemischt, das heisst Lean. Hernâni: Oh mein Gott. Lavinia: Da ist Codein drin, das ist ein Opiatersatz, von wegen Amerika, das ist hier in der Schweiz! Es ist sogar ein Psychiater verurteilt worden, weil er das Zeugs verkauft hat, also bestellt und verteilt hat. Auf dem Schwarzmarkt. 14-Jährige kommen jetzt ins Darknet, bestellen dieses Zeugs und verkaufen es. Und die Behörden sind überfordert. Hernâni: (zustimmender Laut) Lavinia: Es ist ein schreckliches, grosses Problem, in Baselland riesig. Viele, die eben nicht informiert und nicht in Kreisen sind, wo man intelligent über Dinge redet, die sind irgendwo unterwegs – und schmeissen das Zeugs. Und wenn du sie fragst: Wisst ihr, wie gefährlich und eigentlich unschön das ist? «Ja, aber macht ja nix.» Aber ihr könnt daran sterben! Der Freund vor drei Wochen – tot! Mit 16. Der ist nicht mehr aufgewacht. «Ja, macht nichts, ähm, dann habe ich ein letztes Mal einen lustigen Abend gehabt.» Marina: (atmet tief ein) Hernâni: Ja. Lavinia: Das nenne ich Depression. (zustimmende Laute von mehreren) Lavinia: Sie wollen nicht mehr aktiv was erleben und an Grenzen kommen, wie beim Klettern oder Parkour, sondern konsumieren, konsumieren, konsumieren. Und in diesem Surprise 515/21


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Von fremden Federn und anderen

Geschichten NONAM Seefeldstr. 317 8008 Zürich Di bis Sa 13–17 Uhr So 10–17 Uhr Mo geschlossen


Marina Bräm, 41, studierte Graphic Design, Scientific- und Knowledge Visualization und wirkte jahrelang im Journalismus. Als Inhaberin ihrer Firma vermittelt sie heute Fakten auf anschauliche Weise und unterrichtet an mehreren Hochschulen. Lebt in Chur.

Hernâni Marques, 37, ist Pressesprecher des Chaos Computer Club Schweiz, einer zivilgesellschaftlichen Hackerorganisation, die sich mit Chancen und Gefahren der Digitalisierung beschäftigt. Beruflich ist er im Bereich der Kryptografie, also Ende-zu-EndeVerschlüsselung, tätig. Lebt in Fribourg.

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Alter willst du ja auch cool sein. Du willst in der Peergroup eine Rolle spielen. «Oh wow, der dealt mit dem Zeug!» Hernâni: Was Illegales machen. Lavinia: Mit 15 kommen sie ins Gefängnis. Ich habe das als Mutter erfahren. In der Schweiz kommst du mit 15 ins Gefängnis, wenn du konsumiert und gedealt hast. Hernâni: Ok. Lavinia: Und dann kommst du in Heime und so weiter, und wenn es nicht geht, wechselst du. Junge Menschen brauchen heutzutage wirklich eine starke Hand plus eine klare Richtung, damit sie sich identifizieren können. Und lernen, zu ihrem Charakter zu kommen und stark zu werden. Ich sehe da ganz traurige Geschichten. Puh. Im Quartier. Ein Bünzli-Quartier übrigens. Lucia: Was heisst das jetzt unter dem Strich? Prohibition oder Legalisierung? Lavinia: Legalisierung (lacht). Trotzdem. Legalisieren, aber klar mit Altersgrenzen – wie mit dem Alkohol und so weiter. Alkohol ist immer noch das grösste Problem. Lucia: Ok. Was denkt ihr dazu? Markus: Ich kenne mich nicht so aus aufgrund von persönlichen Erfahrungen. Ich habe auch miterlebt in meiner Jugend, wie jemand durch Cannabis auf die schiefe Bahn kam und sein Potenzial verwirkt hat. Weil er keine Motivation mehr hatte und bis heute strauchelt. Und das war ganz ein cleverer Kerl, das war schade. Dann auch mit Heroin. Das war auch ein Riesendrama für die Person und das ganze Umfeld. Wenn man das irgendwie verhindern kann – aber wie, weiss ich nicht. Ein Verbot hat sicher den Nachteil, dass auch verunreinigtes Zeug auf den Markt kommt. Wenn man es legalisiert, hat man das nicht, es ist viel besser kontrolliert. Hernâni: Also in Zürich (sowie auch an anderen Stellen der Schweiz, Anm. d. Red.) wird Heroin kontrolliert abgegeben. Markus: Andererseits hätte Kokain mich auch interessiert. Wenn es das in der Apotheke geben würde, hätte ich das wohl mal gekauft. Aber ich würde nie irgendwo zu einem Dealer gehen und etwas kaufen, das vielleicht verunreinigt ist. Von dem her – Lavinia: Auch Gras ist heutzutage sehr gefährlich, es ist x-mal stärker und gestreckt mit Scherben und solchen Dingen. Das ist nicht mehr deine Pflanze rauchen. Hernâni: Und an Heroin klebt ja auch Blut, wenn es über den Schwarzmarkt hierherkommt. Das könnte man auch geordnet über Handelskanäle machen. Lavinia: Das Wort Konsum ist wichtig, egal, welche Sucht. Die Menge macht das Gift, oder wie das heisst. Darum geht es ja. Und um Haltung. Es geht darum zu wissen, was auf dieser Welt läuft, was aktuell ist, auch im Quartier, und drüber zu reden und Menschen zu begleiten. Und nicht Sachen zu verbieten oder zu bestrafen, sondern zu versuchen, dass der Mensch proaktiv wird für sich selbst. Dass er an Selbstvertrauen und Selbstwert gewinnt und weiss, was er macht. Viele Menschen sind heute so ausgeliefert. Viele Jugendliche tun mir leid – auch wenn es ganz viele top junge Menschen gibt. Hernâni: Mir ist absolut bewusst, was du da sagst – Engelstrompeten zum Beispiel würde ich nie nehmen. Weil Surprise 515/21

«Junge Menschen brauchen heutzutage eine starke Hand plus eine klare Richtung, damit sie lernen, zu ihrem Charakter zu kommen und stark zu werden.» L AVINIA BESUCHE T

der Wirkstoffgehalt viel zu stark variiert in der Natur. Aber es gibt Fälle, wo Jugendliche auf YouTube darüber auch noch so grosskotzig gepostet haben. Wenn man an den Schulen rechtzeitig sagen würde: Leute, Finger weg von dieser Pflanze oder, wenn ihr es nehmt, dann wirklich ganz wenig und zwei Stunden warten, dann wäre das Risiko schon um ein Vielfaches minimiert. So landen die Kinder irgendwo auf der Intensivstation und wissen nicht mehr, wie sie heissen, wenn sie aufwachen. Lavinia: Es geht darum, den anderen zu zeigen, dass ich wer bin – und das ist gefährlich. Hernâni: Ja! Lavinia: Ich denke, wir Erwachsenen müssen mutig sein und im Gespräch bleiben. Wie oft haben sie mich doof gefunden, klar! Sonst machen sie einfach, was sie wollen, und sie bekommen nicht einmal einen Spiegel und ein Feedback von uns Erwachsenen, von uns. Lucia: Darf ich mal unterbrechen? Mich würde mal interessieren, was ihr anderen denkt. Ihr sitzt hier ja auch mit am Tisch. Also ich habe mich zum Beispiel als Outsiderin geoutet. Marina: Ja. Ich persönlich bin auch Outsiderin in Sachen Drogen. Sehr früh habe ich mich eigentlich entschieden, dass das nicht in meinen Lebenslauf gehören soll. Marihuana habe ich im frühen Erwachsenenalter ausprobiert, aber absolut nicht vertragen – von Herzrasen bis zu Schwindel und Ohnmacht bei kleinsten Mengen und ohne Kombination von Alkohol. Da hat mein Körper bereits rebelliert und das Thema war somit für mich persönlich erledigt. Hernâni: Vernünftig. Marina: Dadurch war das für mich relativ einfach. Das Ding ist, weil ich relativ früh mit Musik und Bands angefangen hatte, war ich in einer Kultur und Szene unterwegs und bin es immer noch, wo das immer ein Thema ist. Es ist schon schwierig, vor allem wenn man noch jünger ist, da die Uncoole zu spielen und zu sagen: Kokain interessiert mich nicht. Es ging auch so weit, dass ich mich sehr ärgerte beim Konsum von Freunden. Lavinia: (lacht) Sehr schön. 27


Marina: Ich hatte von früh auf eine alternative Umgebung aus Künstler*innen und Musik*innen. Einige sind auf Heroin abgestürzt. Hernâni: Ui. Marina: Tragisch! Viele Ressourcen, die dadurch kaputtgingen. Und dann habe ich aber auch einen Teil im Bekanntenkreis, der gut damit unterwegs ist. Den Mehrwert verstehe ich allerdings auch da nicht. Also was soll ich sagen? Für mich war es immer klar, dass Drogen bei mir nichts verloren haben. Ich kenne relativ viele Leute, die das kontrolliert nehmen, so wie du, Hernâni. Für mich war sicherlich auch die Prävention an der Schule sehr zentral, auch wenn das jetzt spiessig klingt. Hernâni: Aber du hattest Drogenaufklärung an der Schule? Marina: Ja. Und das hat mich auch sehr beschäftigt und kam sehr nah an mich ran. Zum Beispiel das Buch und der Film «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo», damals mit 13. Dann, als ich nach Zürich an die Kunsti wollte, hiess es im Rheintal, du musst aufpassen, wenn du mit 15 nach Zürich gehst. Ich hatte sicherlich viel Respekt. Lucia: Also für mich finde ich es jetzt noch schwierig zu beurteilen, wofür ich mich entscheiden sollte: Verbot oder Legalisierung? Marina: Schwierig. Maurice: Aber das ist, finde ich, eigentlich gar nicht das Thema. Lucia: Aber das ist doch die Kernfrage? Maurice: Ob sie damit umgehen können oder nicht, ist nicht das Thema. Marina: Es gibt leider auch die Schattenseiten. Maurice: Ja, es gibt die Schattenseiten. Das ist ein grosses Ding. Ich musste auch schon einen Kollegen von mir einweisen, weil er eben Schizophrenie hatte und Drogen genommen hat. Ich selber habe noch nie was genommen. Ich trinke vielleicht drei, vier Mal im Jahr und sonst nichts. Ich kenne das auch: Du bist uncool. Am Anfang sagen sie: Trink doch was, trink doch was, trink doch was, und irgendwann wissen sie, der trinkt halt nichts. Aber grundsätzlich meine ich auch: Mit der Legalisierung kann man es besser kontrollieren als jetzt, wo es verboten ist. Und die Kontrolle braucht es. Sowie Aufklärung.

Marina: Wie hast du dich entschieden, nie Drogen zu nehmen, Lucia? Lucia: In meiner Familie, in meinem Umfeld war das kein Thema. Erst im Gymi und dann an der Uni hatte ich Freunde, bei denen das vorkam. Das ist die Sozialisierung, die gemacht hat, dass ich nicht mit Drogen in Kontakt kam. Hernâni: Aber es gibt auch Ritalinmissbrauch an Unis. Lavinia: Und Medikamente. Lucia: Ich hatte auch Angst. Lavinia: Ist ja auch gefährlich. Hernâni: Gerade bei halluzinogenen Substanzen, wenn du da in einem Panikmodus reingehst, wirst du einen katastrophalen Trip erleben. Dann sollte man so etwas nicht nehmen. Aber das muss man eben auch erzählen. Es kann nicht sein, dass man an eine Party geht und dann etwas angeboten bekommt, etwa so wie: «Willst du noch ein paar Pilze»? Lucia: Gibt es einen Staat auf der Welt, der alles einfach legalisiert hat? Hernâni: Portugal hat komplett entkriminalisiert. Und Tschechien – Lucia: Und wie funktioniert das da? Hernâni: Sie arbeiten sehr viel mit Information. Lucia: Und hat es weniger Tote, weniger Abhängige? Hernâni: Ja. Lucia: Wie lange ist das schon so? Hernâni: So ein Jahr, zwei, glaube ich. Lucia: Also noch relativ frisch. Hernâni: Aber Holland ist ja so ein Beispiel: Da laufen auch nicht alle bekifft herum, nur weil es legal ist. Marina: Das stimmt. Hernâni: Wir sitzen ja auch nicht betrunken hier, nur weil man Alkohol kaufen kann. Und Alkohol ist ja wohl das grösste Problem: Alkohol, Psychose, Gewalt. Aber auch Koks: Es gibt Leute, die werden auf Koks zu den grössten Arschlöchern überhaupt, weil sie einfach das Gefühl haben, sie seien jetzt Gott. Das ist einfach eine Scheissdroge. Lavinia: Ich habe eine Frage an die Runde. Wenn man etwas entkriminalisiert oder legalisiert und dann merkt – und ich sage einmal mehr: wegen der Social Media und

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«Für mich war immer klar, dass Drogen bei mir nichts verloren haben. Für mich war sicherlich die Prävention an der Schule sehr zentral.» MARINA BR ÄM

Natels und Internet –, dass wir nicht mehr an die jungen Menschen herankommen. Hernâni: Das Bundesamt für Gesundheit soll Werbung machen. Lavinia: Mein Sohn ist übers Internet mit fremden Dealern in Kontakt gekommen. Die spüren die Grenzen und die Gefahr nicht mehr. So kannst du einen jungen Menschen nicht mehr begleiten. Ich habe wirklich alles probiert, und nicht nur alleine. Auch mit Profis. Marina: Hat sonst noch jemand Kinder hier? Markus: Ich habe einen Sohn, der ist jetzt zwölf. Ich glaube zu wissen, das dies bei uns noch überhaupt kein Thema ist. Ich hoffe, das bleibt noch lange so. Wenn die Peergroup damit anfängt, dann wird es als Eltern ganz schwierig. Hernâni: Aber du solltest jetzt schon mal mit ihm sprechen. Tabuisierung bringt nichts. Lucia: Also kann man sagen, ein Konsens ist: Informationen hochfahren. Hernâni: Absolut. Und das BAG müsste unterstützen. Lucia: Aber bei der Legalisierung würde ich jetzt nicht sagen, alles einfach erlauben. Da würde ich sagen, es braucht Zeit und es braucht irgendwie Kontrolle.

Hernâni: Wenn man es bei einer staatlichen Stelle holen kann oder in einem Laden, so dass man weiss, was drin ist. So mit einem Siegel, auf dem steht, so-und-so-viel Wirkstoff ist darin. Zigaretten kaufst du ja auch nicht auf der Strasse. Lucia: Gibt es einen Schwarzmarkt für Zigaretten? Hernâni: Es gibt einen Schwarzmarkt für Zigaretten dort, wo die Preise zu hoch werden. Solange die einigermassen moderat sind, gehst du nicht in die Langstrasse und suchst einen Dealer für Tabak. Lucia: Aber wenn es erlaubt ist und der Staat trägt das mit, ist es vielleicht auch eine Motivation? «Komm, wir probieren mal Pilze.» Auch für Leute, für die es sonst nicht infrage gekommen wäre? Hernâni: Ja, du musst klare Warnhinweise anbringen. Markus: Und Medikamente, würdet ihr die auch legalisieren? Lavinia: Nein! Auf Rezept. Hernâni: So wie jetzt. Markus: Ritalin wäre dann also nicht erlaubt, beziehungsweise auf Rezept, weil es ein Medikament ist. Aber Koks oder Gras könnte man dann einfach holen auf der Apotheke? Hernâni: Vielleicht müsste man ein Registrierungssystem einführen. Markus: Oder alles auf Rezept, und der Arzt klärt einen auf. Hernâni: Genau. Also ich habe auch einmal an einem Experiment mit Psilocybin teilgenommen, das habe ich mal kontrolliert an der Psychiatrischen Universitätsklinik eingenommen. Da haben sie vorher Tests mit mir gemacht, ob ich Stimmen höre oder Dinge sehe, die andere nicht sehen. Das war eigentlich cool: Ich habe ein komplettes Bild von mir bekommen, bei dem sie am Schluss gesagt haben, ok, du bist zugelassen. Vielleicht könnte man auch so noch ein wenig arbeiten. Derzeit wird ja einfach alles schwarz eingenommen. Maurice: Aber eine komplette Legalisierung von heute auf morgen, bei der wir sagen: Jetzt ist alles legal, viel Spass, wir informieren euch dann noch, geht nicht. Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Es geht um einen Grundsatzentscheid. Und der müsste heissen: Wir legalisieren. Und dann müsste eine Strategie entwickelt werden. Die Auf-

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klärung muss als Erstes starten: Wie kann man die Informationen in die Schulen bringen? Und was wird wie legalisiert: über ärztliche Abgabe oder wird man es einfach so im Laden kaufen können? Lucia: Und Medikamente und neue Substanzen, die so subkulturmässig mega trendy sind, da ist der Staat eigentlich immer zehn Jahre hinterher. Hernâni: Das ist wirklich schon ein Problem, teilweise werden diese neuen chemischen Substanzen vom Betäubungsmittelgesetz nicht erfasst. Der Staat hinkt hinterher, und man weiss eigentlich gar nicht, was die Auswirkungen von diesem Zeug sind. Maurice: Das Problem sehe ich nicht so. Entscheidend ist doch die Motivation. Wenn du noch nie eine Droge genommen hast, wirst du nicht zuerst eine Designdroge nehmen. Du wirst etwas nehmen, was legal ist, und mit dem anfangen. Ich denke, der Markt von Designdrogen würde kleiner, wenn viele andere legalisiert sind. Schliesslich sind das auch Produkte, die du vermarkten musst, was viel schwieriger ist, wenn vieles bereits legal ist. Hernâni: Derzeit haben wir vor allem keine Kontrolle, obwohl ein Drittel der Polizeiarbeit im Überwachungsbereich damit beschäftigt ist, gegen Drogen anzugehen. Ein uferloses Unterfangen. Man müsste es komplett umdrehen und mit dem Geld massiv Informationskampagnen fahren. Lavinia: Also ich bin dafür, dass man schlimme Musikmoden zensuriert. (alle lachen) Lavinia: Wenn mein 12-jähriges Kind einen Raptext hört und es geht nur um Geld, Macht, Waffen und Frauen – da drehe ich durch als Mutter, die ich meinen Kindern zeigen will, wie schön eigentlich vieles ist. Ohne naiv zu sein. Hernâni: Du könntest ihnen die Goa-Welt näherbringen. Maurice, Hernâni, Lucia: (lachen) Maurice: Es gibt im Fall auch gute Rapper, die nicht solche Texte haben. Da müsstest du dich informieren. Lavinia: Habe ich alles gemacht. Ich bin ja auch DJane. Ich habe ihnen Texte gegeben, von denen ich fand: Schaut mal, das ist ein guter Text. Aber nein: «Wir hören nur den und den und den.» Das ist wie ein Sog mit der Mode, mit der Haltung, mit den Kollegen. Und sie geben voreinander an, wie sie so-und-so-viele Tabletten genommen haben, posten die entsprechenden Bilder von sich online – nein! Marina: Das ist schon krass. Lavinia: Wir Erwachsenen haben mehr Erfahrung – und dann finde ich, sollten wir gewisse Sachen auch verbieten. Hernâni: Aber meinst du jetzt, Medikamente oder Musik? Lavinia: Videos. Das sind doch auch Fragen der Ethik, da fängt es doch an! Maurice: Ja, schon, aber auch da geht es grundsätzlich um die Frage der Bildung, Aufklärung, Ressourcen – Lavinia: Aber das funktioniert eben nicht immer. Maurice: – und Geld. Lavinia: Der Kampf ist zu gross. Je nachdem, in welchem Heim oder in welcher Schule dein Kind mit welchen Kollegen zusammenkommt, hast du verloren. Egal wie stark und laut du als Mutter bist, irgendwann kannst du nur noch zugucken und leiden. 30

Markus: Aber die Verbote, die bringen in einem solchen Fall eben auch nichts. Lavinia: Nein, du kannst nichts machen! Marina: Sie machen, was sie wollen. Lavinia: Ich habe den Behörden gesagt: «Wisst ihr, was cool gewesen wäre? Ein Kran, der mein Kind aus dem Umfeld heraushebt und es für sechs Monate auf einen Bauernhof oder in die Berge packt. Ohne Natel, tschüss, wir kommen dich dann besuchen in ein paar Monaten, schöne Zeit, ich liebe dich. Punkt.» Alles andere? Strafen, belohnen, strafen, belohnen ... und jedes Mal, wenn sie wieder Freiheit haben, machen sie wieder Mist, weil sie nichts anderes kennen. Marina: Schwierig. Markus: Ich habe keine starke Meinung. Dass man durch die Legalisierung den ganzen Schwarzmarkt austrocknet, die Polizei von Sisyphusarbeit befreit und diese Ressourcen lieber in Aufklärung und alles, was dazugehört, investiert, klingt für mich schon plausibel. Hernâni: Die Schweiz macht ja auch interessante Experimente im Bereich der Aufklärung, wenn es um das Testen von Substanzen kurz vor dem Konsum im Ausgang geht. Man hat sich eh schon von einer harten Schiene verabschiedet. Man müsste sich auch von den Sprechtabus verabschieden. Lavinia: Auch die Eltern müssen wissen, was sie für Medikamente zuhause haben. Ein Jugendarbeiter erklärte mir, wie viele Eltern nicht wüssten, dass ihre Schlaftabletten auf dem Schwarzmarkt als Drogen gehandelt werden. Hernâni: Da müssen die Eltern aber auch Verantwortung übernehmen. Maurice: Dann wäre dann also der Konsens: Legalisierung mit Kontrolle und massiver Aufklärung. Hernâni: Der Prozess würde ja so laufen, dass man das Betäubungsmittelgesetz revidiert. Dafür gibt es eine Vernehmlassung, das dauert schon einmal mindestens ein Jahr oder so. Maurice: Und währenddessen fängt man schon an mit der Kampagne. Hernâni: Die Entkriminalisierung könnte man eigentlich schneller machen. Die läuft eigentlich eh schon, zum Beispiel bei Cannabis, wo der Konsum nicht mehr geahndet wird. Lucia: Ich habe dazu keine Haltung, aber ich fand das jetzt sehr informativ. Ich würde auch zum Entscheiden das Feld anderen überlassen. Ich wüsste bei einer Abstimmung diesbezüglich nicht, wie ich abstimmen sollte. Aber Demokratie ist ja ein Experiment, wie ich schon mal gesagt habe, und grundsätzlich bin ich dafür, dass man das auch mal ausprobiert. Maurice: Die Drogen? (lacht) Lucia: Das Konzept. Nicht die Drogen. Aufgezeichnet von Sara Winter Sayilir.

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich

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Omanut. Forum für jüdische Kunst & Kultur

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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

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hervorragend.ch | Grusskartenshop

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Irma Kohli, Sozialarbeiterin, Bern

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Wir alle sind Surprise Rückmeldungen von Teilnehmer*innen der Sozialen Stadtrundgänge in Bern, Basel und Zürich

«Herr Fricker hat uns einen sehr authentischen Einblick in das Leben eines Obdachlosen gegeben. Er konnte unsere Fragen kompetent und ausführlich beantworten. Wir können nur lobende Worte finden und wünschen weiterhin viel Erfolg.»

«Die Tour hat alle Teilnehmenden stark beeindruckt und wichtige Einblicke in das Leben von Armutsbetroffenen gegeben.»

AN STADTFÜHRER BENNO FRICKER, 13. Okt., Basel

«Am meisten ist bei mir der Satzteil ‹die Einsamkeit und niemanden zum Sprechen zu haben› hängengeblieben. In Zukunft werde ich den SurpriseVer-käufer*innen nicht nur ein Heft abkaufen, sondern mir auch die Zeit nehmen und zuhören.»

«Der Bezug zur weiblichen Seite der Suchtproblematik war sehr eindrücklich. Ebenfalls war der biografische Faktor gut verknüpft. Es ist für eine Schulklasse aus dem Sozialbereich nachhaltig, einmal eine solche Perspektive praktisch zu erleben.» AN STADTFÜHRERIN FR ANZISK A LÜTHI, 14. Okt., Bern

«Sehr spannende Lebensgeschichte, eindrücklich erzählt. Guide war sehr empathisch, offen und kommunikativ.»

AN STADTFÜHRERIN DANICA GR AF,

26. Okt., Basel

AN STADTFÜHRERIN SANDR A BRÜHLMANN,

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«Sehr lebendige Beschreibung und vertiefte Kenntnisse sind gut erkennbar: Stadt, Kultur, Subkultur, entwicklungsgeschichtliche Aspekte. Offene Lebenshaltung, kaum wertend und nicht in Opferhaltung aufgetreten. Hat uns gut abgeholt.» AN STADTFÜHRER HANS PETER MEIER,

AN STADTFÜHRER TITO RIES, 22. Okt., Basel

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

Ständige Mitarbeit

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel,

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Simon Berginz, Monika Bettschen, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Goran Basic, Yahya Hazrouka,

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

abgelehnt.

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25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Dina Hungerbühler Wiedergabe von Artikeln und Bildern,

Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Endlich ein sicheres Zuhause» «Lange konnte ich meinen Mitgefangenen nur über Klopfzeichen an der Wand ‹Guten Morgen› sagen. In Eritrea sass ich zwei Jahre lang in Einzelhaft. Über Klopfzeichen vergewisserte ich mich, dass meine Zellennachbarn noch lebten, wenn im Gefängnis mal wieder Schüsse gefallen waren. Das Schlimmste für mich war, dass es keine Regeln gab. Du weisst nicht, wie lange du noch in deiner Zelle sitzen musst oder wann der Wächter mit dem Gewehr bei dir vorbeischaut. Ich hatte Glück. Nach zwei Jahren wurde ich freigelassen. Allerdings war meine Frau verschwunden. Von Freunden erfuhr ich, dass sie in den Sudan geflohen war – vermutlich aus Angst, selbst ins Visier der Regierung zu geraten. Ich hatte über zwei Jahre keinen Kontakt zu ihr. Sie wusste also nicht, ob ich je wieder zurückkommen würde. Als kurz nach meiner Freilassung erneut ein Brief mit der Aufforderung zum Militärdienst kam, verliess auch ich das Land. Ich suchte meine Frau in den UNHCR-Flüchtlingslagern im Sudan. Dort wurde mir gesagt, sie habe es über die Mittelmeer-Route – von Libyen nach Italien – in die Schweiz geschafft. Da ihr Asylgesuch angenommen worden war, konnte ich über den Familiennachzug direkt in die Schweiz reisen. Ich war so erleichtert. Nun leben meine Frau und ich seit über zehn Jahren in der Schweiz, unsere beiden Kinder sind hier geboren. Ich bin sehr dankbar, dass wir hier gemeinsam eine Zukunft aufbauen konnten. Wenn du aus einem Land wie Eritrea kommst, ist das nicht selbstverständlich. Mir ging es dort jedoch lange verhältnismässig gut. Ich bin in der Hauptstadt Asmara aufgewachsen und hatte mein eigenes Kleidergeschäft. Früher konnten wir Secondhandkleider aus Saudi-Arabien, China oder sogar Europa erwerben und diese zu guten Konditionen in Eritrea weiterverkaufen. Doch die Regierung unter Isayas Afewerki drängte das Land durch Geldgier und Vetternwirtschaft immer mehr in die Armut. Da unsere Währung im Vergleich zum Dollar immer schwächer wurde, ging ein Kleidergeschäft nach dem anderen bankrott. Heute sind viele Menschen in Eritrea arm und die Regierungstreuen werden immer wohlhabender – kein Wunder, wenn ein grosser Teil der Bevölkerung jahrelang Gratisarbeit im Militär leistet. Ich konnte mich lange von der Einberufung zum Militärdienst freikaufen. Irgendwann reichten diese Zahlungen jedoch nicht mehr aus. Aus diesem Grund landete ich im Gefängnis. 34

Tekle Tewelde, 55, verkauft Surprise in Horgen und spielt zwischendurch gerne Pingpong.

Hier in der Schweiz verdiene ich als Reinigungskraft zwar nicht viel, aber es reicht, um nicht von der Sozialhilfe leben zu müssen. Darauf bin ich stolz. Ich würde sehr gerne ein 100%-Pensum übernehmen, dann könnte ich meine Kinder besser unterstützen. Dies ist bei meiner jetzigen Stelle in einem Zürcher Schulhaus aber leider nicht möglich. Aus diesem Grund arbeite ich seit sieben Jahren auch für Surprise. Das bringt mir zwar kein gesichertes Einkommen, dafür schätze ich den Kontakt mit den Kund*innen sehr. Da ich im Gefängnis über zwei Jahre lang keine normalen Gespräche führen konnte, bedeutet mir auch heute noch jeder soziale Austausch sehr viel. Dies gilt auch für meine Arbeit im Schulhaus. Ich liebe es zum Beispiel, in meinen Pausen mit den Lehrpersonen oder den Schüler*innen eine Runde Pingpong zu spielen. Die Kinder bringen mir auch Schweizerdeutsch bei. Ich finde es wichtig, die Landessprache zu beherrschen. Schweizerdeutsch ist der Schlüssel für eine gute Integration. Und wenn ich den Schüler*innen am Feierabend einen direkten ‹Ellenbogengruss› geben und auf Schweizerdeutsch ‹En schöne Abig› sagen kann, dann ist das für mich mit meinem Hintergrund nicht nur einfach eine freundliche, Corona-konforme Geste. Diese Geste drückt jedes Mal aus, dass ich nun ein sicheres Zuhause habe.» Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

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Kultur

Solidaritätsgeste

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Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

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Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Information

Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden


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