Stereot ypen Haben Sie Vorurteile? Unser Bild von anderen sagt viel über uns selbst aus. Seite 8 Strassenmagazin Nr. 541 6. bis 19. Januar 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–
Café Surprise – eine Tasse Solidarität
Zwei bezahlen, eine spendieren
Café Surprise ist ein anonym spendierter Kaffee, damit sich auch Menschen mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.
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Achte aufdieses L o og
Verhängnisvolle Schubladen
Wir machen uns ständig Bilder von anderen und malen uns zugleich aus, was für Bilder die anderen wohl von uns haben. Diese Stereotypen ergeben angeblich auch evolutionsbiologisch Sinn. Wir Menschen sind nämlich nicht in der Lage, die Fülle von Informationen, die immerzu auf uns hereinprasseln, zu verarbeiten. Stereotypen funktionieren da wie Filter, sie machen die Welt für uns überschaubarer, berechenbarer, und schaffen so Sicherheit.
Doch haben diese Bilder in unserem Kopf auch eine Kehrseite. Sie können leicht in Vorur teile umschlagen. Dann wird’s bisweilen schlimm. Vor allem, wenn wir sie dazu brauchen, das Gegenüber abzuwerten, zu stigmatisieren, zu verhöhnen und in seiner Integrität zu verletzen – freilich immer auch mit dem Ziel, uns selbst über die anderen zu stellen. Welche Macht Vorurteile haben und wie sie unser Zusammenleben prägen, lesen Sie ab Seite 8.
Diese Sache mit den Vorurteilen begegnet uns in unserer Arbeit eigentlich auf Schritt und Tritt. Auch die Geschichte von Kathy M. handelt
davon. Schon früh musste sie Gewalt erfahren, Alkohol und andere Drogen gaben ihr vorerst Halt. Doch dann lösten Scham, Stigmatisierung und fehlende Unterstützung eine Abwärtsspirale aus. Wie die Surprise Stadtführerin damit umzugehen lernte, lesen Sie ab Seite 16.
Um die Wirkung von Bildern geht es auch in einer Ausstellung über Fotografien aus psychiatrischen Einrichtungen aus den Jahren 1880 bis 1935, ab Seite 22. Gezeigt werden Porträtaufnahmen, die nicht den einzelnen Menschen in den Fokus nehmen. Vielmehr geht es um angeblich typische Gesichtsmerkmale, anhand derer die betreffenden Personen schubladisiert und pathologisiert wurden. Damals zementierten diese Bilder wie selbstverständlich den Blick auf Kranke – heute lösen sie, hoffentlich, im Minimum Befremden
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aus. 4 Aufgelesen 5 Na? Gut! Kein Rassismus in diesem Hause 5 Vor Gericht Irrtum ausgeschlossen? 6 Verkäufer*innenkolumne Weiterentwicklung 7 Moumouni … ... ist parat 8 Stereotypen Macht der Vorurteile 14 Klima Klimaschutz muss regional sein 16 Suchtmittel Die Gewaltspirale 22 Psychiatrie Sich Bilder machen 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Winterthur 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Ein Leben, in dem es Platz für Liebe und Wärme hat» TITELBILD: KLAUS PETRUS
KLAUS PETRUS Redaktor
Auf g elesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Ehrenamtlich tätig
Jüngere Menschen engagieren sich häufiger ehrenamtlich: 44,7 Prozent der 30- bis 49-Jährigen sind unbezahlt sozial aktiv, bei den über 65-Jährigen sind es nur noch 31,2 Prozent. Das sagt der deutsche Freiwilligen-Survey 2019. Zwischen den Geschlechtern gibt es kaum signifikante Unterschiede, mit 40 Prozent lagen deutsche Männer 0,8 Prozent vor den ehrenamtlich engagierten Frauen. Gut die Hälfte der Ehrenamtlichen setzt sich für Kinder und Jugendliche ein, 18,1 Prozent für finanziell oder sozial schlechter Gestellte, 17,8 Prozent für Hilfe- oder Pflegebedürftige und 16,1 Prozent für Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei engagieren sich Menschen mit einem Monatseinkommen ab 2000 Euro netto aufwärts deutlich häufiger als Menschen, die netto mit monatlich unter 1000 Euro auskommen müssen.
Fluchtstation Calais
Nachts versuchen die Geflüchteten bei Calais in Nordfrankreich auf einen der vorbeifahrenden Lastwagen in Richtung Grossbritannien aufzuspringen und sich dort zu verstecken. Das ist gefährlich, Verletzungen sind an der Tagesordnung. Die Autobahn liegt nur ein paar hundert Meter vom Camp entfernt, das Geräusch der Fahrzeuge ist ein konstantes Dröhnen, die Fahrer wissen, dass sie hier nicht langsamer werden dürfen. Die Abzweigung zum Hafen ist nah. Ein einzelner Esszimmer-Stuhl steht auf einer Anhöhe, damit man den Verkehr beobachten kann. Er erinnert auf bizarre Weise an ein solides Zuhause inmitten all der Zelte im mannshohen Gras. So wie auch die sorgfältig aufgereihten Schuhe vor einem Zelteingang oder die Zahnbürsten- und Zahnpasta-Stationen.
In die Armut entlassen Mindestens 40 Prozent der Haftentlassenen in Österreich leben im Alter unter der Armutsgrenze. Wer keinen Pensionsanspruch hat, muss mit der Mindestpension auskommen, die derzeit bei 1030,49 Euro liegt. Die Armutsgrenze befindet sich etwa 340 Euro darüber. Von den Inhaftierten mit österreichischem Pass lebten 11 Prozent vor der Inhaftierung von der Mindestsicherung, in Freiheit tun das gerade mal 2,2 Prozent. Weitere 18,4 Prozent bezogen Arbeitslosengeld, rund 13 Prozent waren einkommenslos, vermeldet das Österreichische Justizministerium. Auch der deutsche Rechtswissenschaftler Ronen Steinke stellt fest: Menschen aus einkommensschwachen Verhältnissen landen schneller in Haft, haben schlechteren anwaltschaftlichen Beistand, bekommen höhere Strafen und erfahren weniger Hafterleichterungen.
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HINZ & KUNZT, HAMBURG
AUGUSTIN, WIEN
THE BIG ISSUE, LONDON
FOTOS: STEVEN MACKENZIE (3)
Kein Rassismus in diesem Hause
Wo man wohnt, da möchte man sich zuhause fühlen können. So weit, so klar. Was aber, wenn «sich zuhause fühlen» für einen bedeutet: andere rassistisch zu behandeln?
Ein Haus, irgendwo in der Schweiz. Einer der Mieter*innen belästigt den Hausmeister regelmässig rassistisch. Als der Eigentümer und Vermieter dies erfährt, möchte er mit dem Mann sprechen. Doch dieser geht nicht ans Telefon, wenn er anruft, und reagiert nicht auf die E-Mails.
Um herauszufinden, wie die Situation rechtlich aussieht, meldet sich der Vermieter bei der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Zwei Gesetzesartikel helfen ihm weiter. Erstens, Art. 257f OR: Wenn ein Mieter sich so verhält, dass es für die anderen Mieter*innen und den Vermieter nicht akzeptabel ist, kann dies ein Grund für eine Kündigung sein. Und zweitens, Art. 261bis StGB: Rassistisches Verhalten kann strafbar sein. Unterstützt von der EKR schreibt der Vermieter eine Abmahnung an den Mieter und lädt ihn zu einem Gespräch ein. Doch weder das eine noch das andere führt zu etwas, der Mieter bleibt uneinsichtig.
Der Vermieter überlegt, dem Mieter tatsächlich zu kündigen. Aus Sicht der EKR ist eine ordentliche Kündigung möglich und angemessen. Wenn Mieter*innen missbräuchlich gekündigt wird, können sie dies anfechten – das wäre hier, argumentiert die EKR, aber nicht der Fall. Also kündigt der Vermieter dem Mieter den Mietvertrag, in seinem Haus will er keinen Rassismus haben. LEA
Irrtum ausgeschlossen?
Ein Geschäftsmann aus dem Zürcher Oberland steht vor Gericht, weil er mit Kratom gehandelt hat. Und nein, es ist keine Bildungslücke, wenn Sie gerade denken: Was zur Hölle ist Kratom? Selbst der Vorsitzende am Obergericht Zürich hatte noch nie davon gehört. Deshalb zum Prozessauftakt etwas Pflanzenkunde.
Der Kratombaum ist vor allem in Südostasien verbreitet. Dessen Blätter werden seit Jahrhunderten als Heilmittel und zu Rauschzwecken genutzt. Psychoaktiv sind die Substanzen Mitragynin und 7-Hydroxymitragynin. Doziert der Gerichtspräsident: «In niedriger Dosis putschen die Stoffe auf, höher dosiert sedieren sie.» Was ihn erstaunt: Als Schmerzmittel soll Kratom x-fach potenter und weniger suchtbildend sein als Morphin.
Dazu meint der Geschäftsmann: Leider habe die Pharmaindustrie die Pflanze nie genutzt, lasse sich eben schlecht monetarisieren. Der Kratom-Handel sei immer nur ein kleiner Teil seiner Geschäftstätigkeiten gewesen, sagt der Beschuldigte. Vertrieben hatte der 49-Jährige das Grünzeug über Websites in der Schweiz und in Deutschland. Nach bestem Wissen und Gewissen, wie er betont. Er will denn auch einen Freispruch.
Quelle: Ludovic Vérolet, Fälle aus der Beratung, in: TANGRAM – Zeitschrift der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, Struktureller Rassismus, Nummer 46, Oktober 2022, Bern.
In Deutschland ist Kratom bis heute legal, in der Schweiz wurde es im Oktober 2017 verboten. Auf der Schweizer Website, sagt der Unternehmer, habe er deshalb umgehend einen entsprechenden Hinweis aufschalten lassen. Laut Staatsanwaltschaft
geschah dies allerdings erst im Dezember 2017. Unbestritten ist, dass es den hiesigen Kund*innen weiterhin möglich war, das Kraut auf der Website der Tochterfirma in Deutschland zu bestellen – und diese lieferte in die Schweiz. Rund dreissig Pakete, insgesamt über 12 Kilogramm Blätter, fing der Zoll zwischen November 2017 und April 2018 ab. Marktwert: rund 2000 Euro.
Der Beschuldigte sagt, er sei erstens davon ausgegangen, dass dieser Handel unter das deutsche Recht falle. Zweitens, dass ohnehin die Kundschaft verantwortlich sei, schliesslich habe diese das Kraut eingeführt. Der Richter wundert sich etwas: «Sie glauben also, dass man Heroin aus einem Land, wo es erlaubt ist, einfach so über das Internet weltweit vertreiben darf?»
Die Nachfrage deutet es an: Die Oberrichter*innen nehmen dem Mann den angeblichen Rechtsirrtum nicht ab. Sie sprechen ihn auch in zweiter Instanz schuldig. In einem Punkt geben sie dem Mann aber Recht: Bei der in Hausdurchsuchungen sichergestellten Ware handelt es sich nicht sicher um Kratom. Das diesbezĂĽgliche Gutachten scheint nicht ĂĽber alle Zweifel erhaben zu sein.
So richtig freuen dürfte sich der Mann trotzdem nicht. Zwar reduzieren die höheren Richterinnen die Geldstrafe von 180 auf 120 Tagessätze. Aber weil der Unternehmer erfolgreich unterwegs ist, erhöht sich der Satz von 50 auf 200 Franken, also von 9000 auf satte 24 000 Franken. Die Strafe ist bedingt, also nur zu zahlen, wenn der Unternehmer während der Probezeit von zwei Jahren erneut straffällig wird. Dennoch: Auf den Verfahrenskosten von über 20 000 Franken bleibt er sitzen.
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Vor Gericht
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in ZĂĽrich.
Weiterentwicklung
Man muss sich stetig weiterentwickeln, denn wie wir wissen: Stillstand ist Rückschritt. So habe ich mir gedacht, ein bisschen Philosophie könne mir bestimmt nicht schaden. Vielleicht finde ich bei dieser Gelegenheit bei einem der vielen Philosophen ausserdem ein paar treffliche Sätze, welche ich während meiner Arbeit als Surprise-Verkäufer in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil verkaufsfördernd bei Frau und Mann anbringen kann. Kurz entschlossen lese ich die «Kritik der reinen Vernunft» von Immanuel Kant, der Titel scheint mir vielversprechend, in der Reclam-Ausgabe immerhin knapp tausend Seiten umfassend.
Und tatsächlich. Ich staune nicht schlecht, was der Mann so alles zu sagen hat. Ich nehme an, er wird auch in allem recht haben. So genau beurteilen kann ich das allerdings nicht, denn ich verstehe kein Wort von dem, was er da schreibt. Ich lese von der Apperzeption, der Inhärenz, der Rezeptivität, vom Kathartikon, vom mundus indelligibilis, von der natura materialiter spectata, der Apprehension, dem Correlatum, von der elenden Tautologie, den heuristischen Fiktionen, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Ich verstehe nur Bahnhof und mache mir um meine Weiterentwicklung grosse Sorgen, denn selbst im Fremdwörterlexikon von Konrad Duden sind längst nicht alle Kantschen Begriffe zu finden.
So wie zum Beispiel das Kathartikon. Ich überlege mir: Könnte Kathartikon etwas mit Karthago, der antiken phönizischen
Stadt nordöstlich von Tunis zu tun haben? Sie wurde in den Punischen Kriegen zwar von den Römern erobert, hat aber vor Christus im Mittelmeerraum ein paar hundert Jahre lang eine wichtige Rolle gespielt. Demnach könnte Kathartikon also Aufstieg und Fall bedeuten.
Nur, mit Ableitungen gerät man leicht auf Irrwege. Die Tautologie zum Beispiel erinnert mich an die Schlacht im Teutoburger Wald, wo im Jahre 9 nach Christus die Cherusker mit Verbündeten ein römisches Heer unter Publius Quinctilius Varus besiegt haben. Nur, die Tautologie von Immanuel Kant hat mit dieser Schlacht rein gar nichts zu tun, sie ist dafür im Duden zu finden und bedeutet: einen Sachverhalt doppelt wiedergebende Fügung, zum Beispiel schwarzer Rappe oder alter Greis. Uff!
Ich ziehe Fazit und sehe ein: So wird das mit meiner Weiterentwicklung nichts. Meine lieben Kundinnen und Kunden in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil müssen sich also wohl oder übel auch im 2023 mit ihrem altbekannten Surprise-Verkäufer zufriedengeben. Sorry.
URS HABEGGER, 66, verkauft Surprise seit 14 Jahren in der Bahnhofunterführung von Rapperswil. Als Nächstes will er zur Förderung seiner Weiterentwicklung Arthur Schopenhauer lesen. Charles Lewinsky zitiert ihn oft im Buch «Der Stotterer». Das hat ihm gefallen.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Verkäufer*innenkolumne
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ILLUSTRATION: ADELINA LAHR
Moumouni …
… ist parat
Hier: zum neuen Jahr ein hoffnungsvoller Text! Wir haben viel zu verlieren, das ist ein Privileg. Wir haben noch viel zu lernen, das wird spannend. Es ist noch nicht vorbei – und das ist gut so. Altes Brot macht gute Fotzelschnitten! Und lässt sich hervorragend in Fondue tünkle! Es gibt noch viel zu entdecken und zu erfinden. Zum Beispiel einen Schweizerdeutschen Namen für eben jenes Brot, das man ins Fondue tünklet. (Ich bin etwas überrascht, dass es dafür anscheinend keinen Ausdruck gibt, was unglaublich ist für eine Mahlzeit, die man aus einem Gagglo auf einem Röschochärzli isst. Vollkommen verschwendetes Potenzial für einen anständigen Helvetismus, der Touris «oh wie süss und eigenartig» jauchzen lässt!)
Der Wohlstand, die guten Strukturen, die tolle Organisation, die Ruhe, die Aufge-
räumtheit sind schon schön – aber irgendwann wird uns das zum Verhängnis werden. Wir leben zu bequem hierzulande. Die Luft nach oben wird dünn, und wir schauen nicht gern auf den Boden. Ich mache mir Sorgen um die Überlebenschancen der schweizgewohnten Bevölkerung angesichts des Chaos, des Klimawandels, der Weltlage, welche allesamt Improvisation, Anpassung und Komforteinschränkung erfordern. Landesweite Kampagnen raten uns in Anbetracht der Energiekrise, den Ofen vor Gebrauch nicht mehr vorzuheizen. Oho, jetzt wird’s brenzlig im Land der vor Sauberkeit glänzenden Abfalleimer.
Vor kurzem hat die SBB am Hauptbahnhof in Zürich ein Schild aufgestellt, das mich staunen liess: «Zurzeit ist im Bahnhof Löwenstrasse ein unangenehmer Geruch wahrzunehmen. Wir
haben die Reinigung intensiviert und beheben die Ursache so schnell wie möglich. Besten Dank für Ihr Verständnis». Man kann begründen, warum das Sinn macht, dass die Schweizer Bevölkerung ein Recht darauf hat zu erfahren, warum es am Bahnhof stinkt! Leute, die beispielsweise ein 1.-KlasseGA für über 6000 Franken besitzen: Denen muss wohl erklärt werden, warum ihr Aufenthalt am Bahnhof ein olfaktorisch eher drittklassiges Erlebnis ist und dass man sich auf jeden Fall darum kümmert!
Wie ich ein andermal schon sagte: Wir leben in einem Land, in dem Leute es normal finden, im Zug den WC-Deckel herunterzuklappen – weil sie nicht nachempfinden können, dass es eine der Regeln der normalen Welt ist, dass man WC-Deckel in öffentlichen Toiletten nicht anfassen will. Als würden sie inmitten des mit folkloristischer Tapete ausgeschmückten Scheisshauses noch einen Punkt machen wollen: Hier ist es sauber. Hier muss sich niemand grusen wie im Rest der Welt.
In der Europaallee in Zürich gibt es ein absurdes Kunstwerk. Eine Art flaches Becken mitten in der Strasse mit einer stillen Wasserfläche, die aussieht wie eine Pfütze. Mein Kollege Laurin Buser scherzt, diese Pfütze sei dazu da, den Flaneuren durch Kunst nachempfindbar zu machen, wie es ist, wenn die Kanalisation so schlecht ist und die Regenfälle so stark, dass das Wasser stehen bleibt. Ein Trainingsplatz für die echte Welt!
Ich glaube übrigens, es gibt sehr wohl die Möglichkeit, auch aus Schweizer Lebensweisheiten eine Mentalität zu entwickeln, die das Unperfekte und den Umgang damit als potenziell Positives miteinschliesst. Chli stinke muess es! Meh Dräck! Tsch Tsch. So. Lose, Luege, Laufe jetzt! Hopp Schwiiz, mir schaffet das mit dem Weltuntergang.
FATIMA MOUMOUNI freut sich ĂĽber Zuschriften bezĂĽglich des Fonduebrots.
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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL
Die Macht der Vorurteile
Stereot yp en Vorurteile haben ihr Gutes, sie helfen uns beim Einordnen komplexer Sachverhalte. Gefährlich werden sie, wenn sie in Feindbilder umschlagen.
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TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
Mein Schlüsselerlebnis in Sachen Vorurteile und festgefahrene Bilder im Kopf hatte ich im Winter 2017, in Horgoš, einem kleinen Grenzort an der serbisch-ungarischen Grenze. Ich war mit einer Gruppe von Geflüchteten unterwegs, sie hatten in verfallenen Häusern Unterschlupf gefunden und warteten nun auf Schmuggler, die sie, für viel Geld, in die EU bringen sollten. Die Tage zogen sich hin, es war bitterkalt, die jungen Männer kraftlos und in Gedanken versunken. Viele von ihnen hatten schon so oft versucht, die Grenze zu überqueren, doch wurden sie von der ungarischen Polizei aufgegriffen und zurück nach Serbien gebracht. Immer häufiger kam es bei diesen «Pushbacks» zu Gewalt gegen die Geflüchteten, und das sollte meine Story sein.
«Welches Bild haben andere von Ihnen?»
schlagartig klar, was er meinte. Zu jener Zeit gab es geradezu typische Bilder von «Flüchtlingen», die aus dem Nahen und Mittleren Osten über die sogenannte Balkanroute in die EU-Ländern wollten, und auch meine unterschieden sich kaum davon: Menschen, meist junge Männer, in Decken gehüllt, ihre Blicke irgendwo zwischen hoffnungslos und bedrohlich, im Hintergrund ein eingestürztes Gebäude, eine Tonne mit Feuer, es regnet oder, noch besser fürs Foto, es schneit.
Diese Frage hat der Fotograf und Surprise-Redaktor Klaus Petrus auf seinen Reisen und Reportagen immer wieder an Menschen herangetragen. Auf den folgenden Seiten sind einige von ihnen abgebildet. Die Antwort der Porträtierten lesen Sie auf Seite 13. Inzwischen können Sie sich beim Betrachten der Fotografien gerne selbst ein Bild machen.
Einer von ihnen war der Pakistani Jawad Z., damals 24 Jahre alt; er schilderte mir seine Fluchtgeschichte, erzählte von seiner Familie, zeigte mir seine Verletzungen. Als ich ihn zu fotografieren begann, meinte er, nun würde er sich erinnern: Er hätte mich schon einmal gesehen, im Frühjahr 2016, in Belgrad, am alten Busbahnhof, wo Tausende von Geflüchteten feststeckten und unzählige Medienschaffende aus aller Welt hinströmten, um «Europas Migrationskrise» zu dokumentieren. Es stimmte, ich war ebenfalls dort gewesen. Und dann sagte Jawad Z. diesen Satz, der für mich zum Schlüsselerlebnis werden sollte: «Damals haben wir gelernt, für euch zu posieren.» Mir war
Dieses Bild hat sich in uns eingenistet, es wird bis heute tausendfach reproduziert – und kaum hinterfragt. «Das sind nicht wir», sagte Jawad Z. damals. «Das ist bloss ein Bild in euren Köpfen, von uns als Flüchtlingen.»
Bilder in unserem Kopf – sie sind mächtiger als unsere Gedanken, mächtiger als unsere Gefühle. Walter Lippmann, der sich in den 1920er-Jahren als einer der ersten systematisch mit dem Thema befasste, war sogar der Ansicht, alles, was wir tun oder lassen, werde beherrscht von solchen Bildern im Kopf, von Stereotypen, wie er sie nannte. Der Grund bestehe schlicht darin, dass wir ohne sie gar nicht all die Eindrücke strukturieren könnten, so Lippmann. «Unsere Umgebung ist insgesamt zu gross und zu vielschichtig, um erfasst zu werden. Wir Menschen sind nicht dafür ausgerüstet, um es mit so viel Subtilität und so grosser Vielfalt aufzunehmen. Um die komplexe Welt zu durchwandern, brauchen wir einfache
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Karten.» ¹ Stereotypen oder Klischees haben also durchaus ihr Gutes; sie helfen uns, Komplexes auf Einfaches zu reduzieren und Fremdes vertraut(er) zu machen, indem sich z. B. unbekannte Personen anhand gewisser Schemata wie Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Zugehörigkeit etc. innerlich «schubladisieren» lassen.
Diese Stereotypen sind, als blosse Etikettierungen, zunächst einmal neutral. Doch sie werden meistens benutzt, um etwas oder jemanden zu bewerten, ob unbewusst oder willentlich. Auch das sei geradezu menschlich, sagt Lippmann. «Ohne zu bewerten, wären wir in dieser Welt vollkommen orientierungslos.»
Wie wir Menschen schubladisieren, bestimmt, welche Gefühle wir ihnen gegenüber entwickeln – sei es Wohlwollen, Bewunderung, Argwohn, Verachtung oder Respekt. Diese Gefühle werden in den Sozialwissenschaften «Vorurteile» genannt und können, je nach Stereotyp, der ihnen zugrunde liegt, positiv oder negativ sein. Ein Beispiel sind Menschen aus Osteuropa, denen hierzulande bekanntlich mit vielen Vorurteilen begegnet wird – allerdings sehr unterschiedlich. Roma und Sinti etwa lösen überwiegend negative Vorurteile aus; es wird beispielsweise und grossenteils ohne Belege unterstellt, sie seien faul, hinterlistig, schmutzig, asozial, sie würden betteln und stehlen. Dagegen werden osteuropäische Care-Arbeiterinnen häufig ganz anders wahrgenommen; sie gelten als fürsorglich und aufopfernd und lösen dementsprechend eher positive Gefühle aus und werden auch mal wie ein Familienmitglied behandelt.
Haben sich Stereotype einmal verfestigt – durch Historie, Kultur, Politik, Ideologie, Medien, Fotografie, Kunst, Witze und anderes mehr –, entziehen sie sich der Kontrolle des Einzelnen.
Der Historiker Frank Reuter, der sich eingehend mit dem Konstrukt des «Zigeuners» auseinandergesetzt hat, sagt es sinngemäss so: Sieht eine Person eine Gruppe von Roma oder Sinti, werden in ihrer Vorstellung wie automatisch die Eigenschaften aktiviert, die im betreffenden Stereotyp enthalten sind, und die Menschen werden nur noch durch den Filter des «Zigeuners» gesehen sowie beurteilt.
Klar könnte, so Reuter, diese Person die Bilder in ihrem Kopf kritisch hinterfragen. «Da Menschen aber eine starke Präferenz haben, ihre bereits bestehenden Vorstellungen zu bestätigen, bedeutet es wesentlich weniger Aufwand, ein Stereotyp zu bekräftigen, als es zu wiederlegen.» ²
Wir gegen sie
Stereotype und Vorurteile haben mit der Realität fast nie etwas zu tun und sind gegenüber Korrekturen und Einwänden äusserst resistent, wenn nicht sogar immun. Ihr Wirksamkeit wird dadurch nicht geschmälert, im Gegenteil.
Im Falle von negativen Vorurteilen hat dies erhebliche und mitunter gefährliche Konsequenzen. Denn diese dienen fast immer dazu, die schubladisierte Person oder Personengruppe nicht bloss zu bewerten, sondern auch abzuwerten – und zwar gegenüber der eigenen Person oder Personengruppe. Solche Vorurteile markieren einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Anderen und dem Eigenen, und dazwischen liegt ein Gefälle. ³ Besonders augenfällig ist das, wenn negative Vorurteile in Feindbilder umschlagen: Die Anderen sind in jedem Fall weniger wert als die Eigenen und dürfen deshalb nicht bloss ausgegrenzt, stig-
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matisiert und verhöhnt werden, sondern auch missachtet, verletzt oder gar getötet. So oder so: Negative Vorurteile dienen immer auch dazu, die eigene Gruppe zu stärken oder sich der eigenen Überlegenheit zu vergewissern. Am obigen Beispiel gesagt: Eine Gruppe von Roma und Sinti aktiviert in unserer Vorstellung nicht bloss die negativen, rassistischen Eigenschaften des «Zigeuner»Stereotyps, sondern gleichzeitig auch positive Eigenschaften von uns und unseresgleichen.
Dass es dabei eigentlich nie um Individuen geht – um Persönlichkeiten mit einem Namen, einer Biografie, mit Freunden und Freuden –, ist ebenfalls ein Charakteristikum von Stereotypen und Vorurteilen. Zwar wird, sprachlich gesehen, oft der Singular benutzt, wenn von den Anderen die Rede ist: «der Flüchtling» etwa, «der Jude» oder «die Obdachlose». Aber genau genommen ist damit immer eine Gruppe gemeint; «der Flüchtling» ist bloss ein Stellvertreter für ein ganzes Kollektiv, das mit negativen Eigenschaften versehen wird.
Die amerikanische Wissenschaftlerin Elaine Scarry hat in diesem Zusammenhang auf ein interessantes Phänomen hingewiesen: Da Vorurteile bewirken, dass Individuen gewissermassen in einer Gruppe verschwinden, werden diese als einzelne Personen unsichtbar. Zugleich aber werden sie dadurch in hohem Masse erst sichtbar – nämlich als die Anderen, als ein fremdes, minderwertiges, abstossendes, womöglich bedrohliches Kollektiv.
4 Dabei hat diese Rolle als Stellvertreter, als Typus ohne persönliche Kontur, quasi endgültigen Charakter: «der Flüchtling» kann im Grunde tun, was er will, er wird immer dem vorgefassten Klischee entsprechen. Ist er abweisend oder wütend, bestätigt
er das Vorurteil; ist er dagegen offen und freundlich, tut er bloss so als ob, denn in Wahrheit ist «der Flüchtling» ja anders – nämlich so, wie man sich eingeredet hat, er müsse sein.
Anders erzählen
«Das sind nicht wir. Das ist bloss ein Bild in euren Köpfen, von uns als Flüchtlingen», sagte Jawad Z. damals an der serbisch-ungarischen Grenze. Hatte er recht?
Ich denke schon. In den Medien wie auch in unserer Wahrnehmung werden Menschen wie Jawad Z. häufig auf eine bestimmte Rolle reduziert – nämlich die eines Geflüchteten, der sich in Europa ein besseres Leben erhofft. Wir haben dieses Bild von ihnen mit erschaffen, und nun betrachten wir sie durch diese Brille mitsamt den damit verknüpften, weitgehend negativen Vorurteilen, die wir laufend reproduziere.
Natürlich ist es nicht derart platt. Viele Berichterstattungen und Reportagen versuchen uns die Menschen näherzubringen, sie berichten im Detail über deren Fluchtgeschichte, über deren Ängste und Hoffnungen. Und doch: Was wir über sie erfahren –was wir Medienschaffende bei ihnen erfragen –, bleibt meist auf ihre Rolle als Geflüchtete bezogen. Womöglich heisst dieser Mensch dann Jawad Z. – doch er könnte, solange er auf diese Rolle reduziert wird, auch Hassan W. heissen oder Ahmad S. oder wie auch immer.
Wie es anders machen? Diese Frage stelle ich mir oft. Sultan H., ein afghanischer Journalist aus Kabul, ebenfalls auf der Flucht und ein Freund von Jawad Z., hatte sie damals in einem Gespräch in Horgoš so beantwortet: «Natürlich würde ich ebenfalls von
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meinem Kummer und den Sorgen schreiben, von der ganzen Flucht und so. Aber ich würde auch davon erzählen, dass ich Spaghetti über alles mag. Dass ich als Junge eine Plastikkamera fand und den Reporter mimte. Dass ich nur Journalist wurde, weil ich zu faul war, an die Uni zu gehen. Dass mein Vater der beste Schachspieler in unserer Strasse war. Und Jazzliebhaber. Dass ich schon als Junge meiner jetzigen Frau hinterherschaute und sie das gar nicht mochte. Dass ich diese Flucht manchmal als Abenteuer erlebe und ich mich zugleich schäme, wenn ich an meine Familie denke, an meine Kinder, die so weit weg sind, immer noch.» Und noch vieles mehr zählte Sultan H. auf, manches davon war berührend, einiges unfassbar, anderes lustig und schräg, das meiste aber – ziemlich normal.
Das für mich Faszinierende an dieser Erzählweise ist, dass sie auf subtile Art die Mechanismen von Vorurteilen untergräbt. Zum Beispiel sind Stereotype und Vorurteile darauf aus, dass sie unsere Sicht auf die Wirklichkeit massiv verengen. Sie reduzieren, um es ein wenig pathetisch zu sagen, das Mannigfaltige des Menschseins auf eine einzige Form – auf die des bettelnden «Zigeuners», der asozialen Obdachlosen, des bedrohlichen Flüchtlings. Diese Verengung verstümmelt buchstäblich unsere Phantasie. Je wirksamer Vorurteile nämlich sind, desto weniger können wir uns vorstellen, dass ein Mensch wie Horváth mehr ist als «der Roma», Corinna mehr als «die Obdachlose» oder Jawad Z. mehr als nur «der Flüchtling» auf dem Weg nach Europa. Sultans Erzählweise tut genau das: Sie öffnet Räume der Vorstellungskraft, indem sie noch von vielem anderem handelt als von der Flucht.
Zwangsläufig ist eine solche Geschichte, wie Sultan sie in der vollen Länge erzählen würde, vielfältiger, sinnlicher, aber auch kantiger und womöglich widersprüchlicher als eine, die auf Vorurteilen gründet und diese unkritisch weitergibt. Denn auch das ist ein Wesenszug von Stereotypen: Sie sind in aller Regel in Schwarz-Weiss gehalten und funktionieren nach dem Prinzip «wir-sie». Graustufen, Differenzierungen oder gar Selbstzweifel sind darin nicht vorgesehen. Die Welt der Vorurteile und Feindbilder ist, wie die Publizistin Carolin Emcke einmal sagte, eine «bereinigte» Welt – bereinigt von jeder sozialen, historisch gewachsenen politischen und sozialen Vielfalt. 5 Ebenso hat das Normale, das in Sultans Erzählweise vorkommt, darin keinen Platz. In den mit Vorurteilen besetzten Schilderungen über «den Flüchtling» kommt nichts Belangloses oder Heiteres oder Skurriles vor, sondern nur permanent Problematisches, das wir abermals vorgefassten Mustern zuordnen, wie «Flüchtlingsströme», «Schmarotzertum», «religiöser Fanatismus» und so fort.
Schliesslich: Je stärker die Vorurteile sind und je mehr sich dadurch unsere Sicht auf die Wirklichkeit verengt, umso mehr schwindet die Empathie, unser Mitgefühl für das Gegenüber. Wenn wir uns nicht mehr vorstellen können (oder wollen), dass dieser konkrete Mensch mehr ist als die eine negativ besetzte Rolle, in der wir ihn gerade wahrnehmen, werden wir auch nicht erkennen (wollen), dass er uns in grundsätzlichen Dingen ähnelt – wie etwa darin, dass diese Person, wie wir anderen auch, verletzlich ist. Die schon erwähnte Denkerin Elaine Scarry bringt es auf den Punkt: «Die Fähigkeit des Menschen, anderen Ver-
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letzungen zuzufügen, ist deshalb so gross, weil unsere Fähigkeit, uns ein angemessenes Bild von ihnen zu machen, so klein ist.» Besonders krass ist dies bei ausgeprägten Feindbildern: Indem das Gegenüber entmenschlicht wird, wird es zu einem Etwas, mit dem man kein Mitgefühl haben muss. Anders die Erzählweise Sultans. Je vielfältiger eine Person geschildert wird, umso menschlicher erscheint sie uns, umso mehr erkennen wir, dass wir uns ungemein ähneln. Empathie ist nicht möglich ohne die Erfahrung des Gemeinsamen.
Am Ende wird auch Sultans Erzählweise unsere Vorurteile nicht aus der Welt schaffen. Und das muss sie auch nicht. Walter Lippmann, der Pionier der Stereotypenforschung, war überzeugt, dass ein differenziertes, vielschichtiges Urteil nicht möglich ist ohne ein Urteil davor – ein Vor-Urteil. Nach Lippmann verdankt sich der Wandel vom Vorurteil zum Urteil letztlich einem Perspektivenwechsel; er verlangt von uns, bisher Wahrgenommenes mit anderen Augen zu sehen. So ist es auch bei Sultan H.; er erzählt nicht von «dem Flüchtling», sondern von einem Menschen, der vieles erlebt hat und der auch flüchten musste.
1 Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung, Frankfurt a. M. 2018, S. 65. 2 Frank Reuter, Im Bann des Fremden, Göttingen 2014, S. 38.
3 Der Mechanismus, der dieser Abwertung zugrunde liegt, wurde u.a. treffend analysiert von Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt 1987. 4 Elaine Scarry, Das schwierige Bild der Anderen, in: Schwierige Fremdheit, hrsg. Friedrich Balke u. a., Frankfurt a. M. 1993.
5 Carolin Emcke, Gegen den Hass, Frankfurt a. M. 2018, 63.
«Welches Bild haben andere von Ihnen?» Hier sind die Antworten der Porträtierten: (1) Wiktor, 48, Ukraine: mutig und unerschrocken. (2) Emmamos, 26, Uganda: mit allen Wassern gewaschen, ein guter Fussballer, gläubig. (3) Bewar, 38, Nordirak: müde und in sich gekehrt. (4) Martina, 60, Schweiz: ernst, nett, älter, manchmal schlecht gelüftet. (5) Dalal, 42, Syrien: offen, hilfsbereit, eine gute Mutter und manchmal ein Schlitzohr. (6) Guuleed, 39, Somaliland: draufgängerisch, charmant, ein Grossmaul mit Visionen. (7) Besim, 58, Bosnien: gutherzig, aufbrausend, auf keinen Fall käuflich. (8) Araba, 90, Südsudan: wenig gereist, viel gesehen, demütig und alt. (9) Silver, 52, Frankreich: eine verlorene Seele, ein guter Freund. (10) Danica, 47, Schweiz: zufrieden, zurückhaltend, ruhig – und junggeblieben. (11) Aydan, 22, Afghanistan: voller Tatendrang, hilfsbereit und witzig. (12) Shania, 17, Demokratische Republik Kongo: verletzlich, eine Mutter ohne Kind. (Cover) Jürg, 70, Schweiz: gelebt, erlebt, alt und gepflegt.
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«Klimaschutz muss regional sein»
Klima Internationale Klimagipfel verlaufen oft harzig und bringen nicht immer Erfolg. Sind lokale Vorstösse letzten Endes genauso wichtig wie globale Vereinbarungen? Ein Gespräch mit dem Schweizer Klimaforscher Thomas Stocker.
INTERVIEW STEFAN BOSS
Thomas Stocker, die Lausanner Uni-Professorin Julia Steinberger und andere Aktivist*innen von Renovate Switzerland haben sich aus Enttäuschung über das schleppende Vorankommen beim Klimaschutz an die Strasse festgeklebt. Verstehen Sie ihre Enttäuschung?
Thomas Stocker: Absolut. Ich teile diese Enttäuschung schon seit rund zwanzig Jahren. Es gab ja so viele politische Vorstösse in der Schweiz im Bereich Energie und Klima. Und seit Jahrzehnten sind es immer die gleichen Akteure wie Economiesuisse und Gewerbeverband, die solche Vorlagen durch zum Teil aufwendig gemachte Abstimmungskampagnen verhindern oder abschwächen. Deshalb verfügen wir noch immer über kein griffiges Klimaschutzgesetz. An die Strasse festkleben würde ich mich persönlich nicht, ich kann aber absolut nachvollziehen, was Julia Steinberger und ihre Kolleg*innen machten. Die rote Linie ist jedoch für mich überschritten, wenn man Kulturgüter beschädigt oder sie durch Aktionen in Mitleidenschaft zieht.
Der Pariser Klimavertrag von 2015 sieht vor, die Temperaturerhöhung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen. Ist die Schweiz auf Kurs, dieses Ziel zu erreichen? Leider ist sie in keiner Weise auf Kurs. Man muss ja den gesamten Konsum betrachten, nicht nur die in der Schweiz ausgestossenen Treibhausgase, die zum Beispiel durch das Heizen und das Autofahren verursacht werden. Im Ausland hergestellte Konsumgüter müssen mitberücksichtigt werden, man spricht hier von sogenannten grauen Emissionen.
Die UNO-Klimakonferenz in Sharm el-Sheikh hat kaum Fortschritte gebracht. Industrie- und Entwicklungsländer sind sich uneinig. Man darf nicht von jeder Klimakonferenz erwarten, dass sie den Durchbruch bringt.
Klimakonferenzen sind notwendig als internationale Dialogplattform. Die Einigung auf das Pariser Klimaabkommen von 2015 war sicher ein historischer Erfolg –sie war das Ergebnis von 21 Klimakonferenzen seit 1995. Die Klimakonferenz 2022 in Sharm el-Sheikh brachte nun einen Stillstand. Ein Problem bestand darin, dass vor Ort die Vertreter von Big Oil sehr einflussreich waren.
Besteht die Lösung in mehr staatlichen Vorschriften?
Ja, es braucht Rahmenbedingungen auch innerhalb der Schweiz. Wenn man als Gesellschaft in eine Richtung gehen will, ist es am einfachsten, wenn alle dies tun. Ein Beispiel: Wenn Sie auf der Autobahn in eine gefährliche Kurve fahren, sind Sie froh, dass es eine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Wenn man sagen würde, es
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ist Eigenverantwortung, sieht der eine oder die andere die gefährliche Situation vielleicht nicht und bringt sich oder andere in Gefahr. Mit einem Tempolimit ist die Sache für alle geregelt. Dies ist eine Norm, welche die Gesellschaft als Ganzes akzeptiert hat. So wie wir auch akzeptieren, dass wir alle Steuern bezahlen. Eine solche gesellschaftliche Vereinbarung braucht es auch für den Klimaschutz.
Das Parlament hat letzten Herbst einen Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative verabschiedet, über den wir wohl noch dieses Jahr abstimmen werden. Darin wird festgehalten, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral werden soll. Zudem stellt der Bund jährlich 200 Millionen Franken für Gebäudesanierungen und den Ersatz alter Heizungen zur Verfügung. Ein Schritt in die richtige Richtung? Auf jeden Fall. Das CO²-Gesetz, das im Juni 2021 in der Volksabstimmung nach einer massiven Nein-Kampagne scheiterte, wäre zwar deutlich besser gewesen. Die neue Vorlage ist aber ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung. Es gilt nun aufzeigen, dass Klimaschutz eine riesige wirtschaftliche Chance ist, die wir packen sollten. Wenn ich bei mir zuhause eine Wärmepumpe einbaue oder ein Fenster ersetze, profitiert das KMU um die Ecke. Und ich schaffe damit Arbeitsplätze vor Ort. Wenn ich dagegen mit fossiler Energie heize, bezahle ich den Scheich von Abu Dhabi oder Putin, die mir den Brennstoff verkauften.
Auch einzelne Städte und Kantone machen vorwärts: Die Stadt Zürich will klimaneutral werden bis 2040. Der Kanton Basel-Stadt will dieses Ziel gar bis 2037 erreichen, wie die Abstimmung über die «Klimagerechtigkeits-Initiative» klarmachte. Können dies Vorbilder sein für andere Kantone?
Absolut. Der Klimaschutz muss regional erfolgen. Es gibt zwei Ebenen: Es braucht internationale Vorgaben. Eine globale Abgabe für die Emissionen fossiler Energie wäre ideal, ist aber kaum zu realisieren. Gleichzeitig braucht es lokale Massnahmen, weil wir lokal konsumieren und Emissionen verursachen. Neben Zürich und Basel gibt es noch ein anderes gutes Beispiel: Der Kanton Glarus hat 2021 beschlossen, die Neuinstallation fossiler Heizungen zu verbieten. Dank einem Entscheid durch die uralte Tradition der Glarner Landsgemeinde ist nun der von aussen gesehen konservative Kanton Glarus zum Pionierkanton im Schweizer Klimaschutz geworden.
Was sagen Sie zum etwa von der SVP vorgebrachten Argument, die kleine Schweiz könne nichts beitragen zum Klimaschutz?
Dieses Argument hören wir seit dreissig Jahren. Meine Antwort lautet: Den Steuer-
betrag, den ich bezahle, gibt mein Wohnkanton – der Kanton Bern – in rund sieben Minuten des Jahres aus. Nun könnte ich sagen: Der Kanton kann doch auf diesen Steuerbetrag verzichten, wenn er für sieben Minuten sein Portemonnaie nicht öffnet. Als Gesellschaft haben wir aber gemeinsame Projekte. Deshalb müssen alle Steuern bezahlen. Der Klimaschutz ist auf globaler Basis ein solches gemeinsames Projekt, bei dem die Schweiz ihren Beitrag leisten muss. Dieser muss pro Kopf sogar höher sein als derjenige eines Chinesen oder einer Chinesin, weil wir schon viel länger Treibhausgase emittieren und deshalb eine historische Verantwortung tragen. Seit der industriellen Revolution haben die alten Industriestaaten nämlich mehr als die Hälfte aller weltweiten Treibhausgase ausgestossen.
Nun hat der neue SVP-Bundesrat Albert Rösti das Umweltdepartement übernommen. Was bedeutet das für den Klimaschutz?
Schwer zu sagen. Die Erdölimporteure und Auto Schweiz haben nun persönlichen Zugang zum Umwelt-, Klima- und Energieminister. Das verheisst nichts Gutes. Allerdings muss sich Albert Rösti als Bundesrat mit Fakten auseinandersetzen und kann nicht mehr mit einfachen Parolen oder Falschaussagen seiner Partei die Bevölkerung beeinflussen. Er will sicher auch etwas vorweisen können, und im Klimaschutz heisst das: Reduktion der Treibhausgasemissionen, einschliesslich der grauen Emissionen. Daran wird seine Arbeit gemessen.
THOMAS STOCKER, 63, ist Klimaforscher an der Universität Bern und leitet dort die Abteilung für Klima- und Umweltphysik.
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FOTO: REMO EISNER
Der Rhonegletscher fällt dem Klimawandel zum Opfer. Abdeckungen sollen die Schmelze aufhalten.
FOTO: MARTIN BICHSEL
«Man wird unsicher, man sucht die Schuld bei sich und verharmlost das Erlebte», sagt Kathy M. –«um besser damit umgehen zu können.»
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Die Gewaltspirale
Suchtmittel Wer von Alkohol oder Drogen abhängig ist, erlebt mit hoher Wahrscheinlichkeit Gewalt. Was das für Kathy M. bedeutet.
Diese zwei Stunden alle zwei Wochen, sie mag sie sehr. Wenn sie mit den anderen Frauen in Bern im Büro der Kirchlichen Gassenarbeit sitzt, vor ihr ein Blatt Papier, in der Hand einen schwarzen Stift und im Kopf die Gedanken, die sie nun in Worte fassen kann. «Die Atmosphäre in diesem Raum voller Frauen gibt mir Sicherheit», sagt Kathy M. «Gerade als gebrannte Frau.»
Die Texte erscheinen im Magazin «Mascara», das die Gassenarbeit herausgibt. Mal schreibt Kathy M. über Inflation, mal verfasst sie Gedichte über ihre chronischen Rückenschmerzen. Und manchmal, da schreibt sie über die Gewalt, die sie als Kind erlebt hat.
«Ich liege nachts wach und starre an die Decke. Langsam bahnt sich eine Träne ihren Weg über meine Wange. Erinnerungen, Flashbacks halten mich wach.»
Kathy M. war neun Jahre alt, 1991, als sie zum ersten Mal sexuell missbraucht wurde. Als ihr in der Anlaufstelle jemand K.o.-Tropfen in ihren Eistee leerte und sie danach sexuell missbrauchte, das war 2019, da war sie 37 Jahre alt. Heute ist Kathy M. 40 Jahre alt und die Gewalt, sexualisiert, psychisch und physisch, war in all den Jahren immer irgendwo mit dabei. Kathy M. versuchte mit Schlaftabletten, ab 16 auch mit Cannabis und Alkohol, mit dem Erlebten umzugehen. Später, mit Anfang 30, mit Kokain und Heroin. Die Tabletten- und Alkoholabhängigkeit hatte sie in den Griff bekommen, doch dann erlebte sie wieder Gewalt. Psychisch ging es ihr nicht gut genug, um die Lehre zur Röntgenassistentin, später zur Fachfrau Gesundheit abzuschliessen. Auch eine Eingliederung der IV zur Fachfrau in der Behindertenbetreuung scheiterte.
Jeden Tag geht Kathy M. mit ihrem Mops Miley durch die Strassen der Stadt bis zur Heroinabgabestelle Koda. Sie bekommt ihr Heroin nun als Medikament gegen die Opiatabhängigkeit. Am Donnerstag spielt sie Theater, am Sonntag bruncht sie im offenen Haus La Prairie. Wenn sie nicht als Soziale Stadtführerin von Surprise durch das Monbijou-Quartier führt (siehe S. 21), verbringt sie gerne Zeit an ihrem «heiligen Ort», der, so möchte es Kathy M.,
geheim bleiben soll. Hier, auf den weichen Sofas in den langen Gängen, durch die leise Stimmen hallen, schreibt sie und liest viel. Hier trifft sie nie jemanden von der Gasse an, sie wird in Ruhe gelassen, wenn es ihr nicht gur geht.
«Manchmal reicht ein Wort oder ein Satz, ein Geräusch oder ein Duft, um bei mir Flashbacks auszulösen. Traumatische Erinnerungen werden reaktiviert und ich werde von Gefühlen und Bildern von früher überwältigt.»
Am Tag, nachdem sie K.o.-Tropfen erst im Getränk und dann im Blut hatte, fiel einer Sozialarbeiterin der Contact Anlaufstelle Kathy M.s. geschwollene, gerötete Wange auf. «Mir ist das, was ich nicht mehr weiss, lieber als das, was ich noch weiss», sagt Kathy M. Sie war nicht die einzige, die – von K.o.-Tropfen bewusstlos – sexuell missbraucht wurde. Die Anlaufstelle hängte Zettel an die Wand, auf denen sie zur Vorsicht mahnte: Bitte lasst keine Getränke unbeaufsichtigt.
Hohe HĂĽrden
In der Schweiz erlebt laut Kinderschutz Schweiz jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt. Diese Kinder, die häufig auch psychische und physische Gewalt erleben, werden gemäss dem Fachbuch «Frauensuchtarbeit in Deutschland» später mit zwei bis drei Mal höherer Wahrscheinlichkeit heroinabhängig. Und, so schreiben die Autorinnen weiter, wer eine Sucht entwickelt, erlebt mit grösserer Wahrscheinlichkeit Gewalt. Diese Spirale kennen alle darauf angesprochenen Fachstellen im Kanton Bern – die Stiftung Contact (zu der die Anlaufstelle gehört), die Gassenarbeit, die Notschlafstelle Sleeper, das Passantenheim der Heilsarmee, der Gassenbus der Vineyard-Gemeinde sowie das Sleep-In in Biel oder die Notschlafstelle in Thun. Eine betroffene Frau zu finden, dauert hingegen länger. Dass schliesslich Kathy M. zusagt, die sich bei Surprise in der Ausbildung zur Sozialen Stadtführerin eingehend mit ihrer Biografie auseinandersetzte, könnte ein Zeichen dafür sein, wie viel Arbeit und Reflexion notwendig ist, um überhaupt darüber sprechen zu
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TEXT LEA STUBER FOTOS KLAUS PETRUS
können. Die Sozialarbeiterin sei für sie zum «Fels in der Brandung» geworden, sagt Kathy M. Sie war eine der wenigen, mit der sie offen über all das reden konnte, was ihr passiert war. Sie schlug Kathy M. vor, im Spital die Spuren zu sichern, und bot an, sie zu begleiten. Sie kam auch mit zu Lantana, der Opferhilfefachstelle bei sexualisierter Gewalt in Bern.
Drogenabhängige Frauen werden oft von Mitarbeitenden einer Fachstelle begleitet, sei es vom Sozialdienst, von der Berner Gesundheit, von der städtischen mobilen Interventionsgruppe Pinto oder von der Fachstelle Sexarbeit Xenia. Das sagt Gina Bylang, Beraterin bei Lantana. Bei ihnen seien nur wenige Frauen drogenabhängig.
dort keinen Zugang. Kathy M. sagt: «Es ist belastend, immer im Hinterkopf zu haben: Egal, was passiert – allein wegen der Diagnose wird mir ein Frauenhaus keinen Schutz bieten können. Man wird unsicher, man sucht die Schuld bei sich und verharmlost das Erlebte, um damit umgehen zu können.» Warum, fragt Kathy M., dürfen Frauen, die ihr Heroin kontrolliert von einer Abgabestelle bekommen und keinen Beikonsum haben, nicht in ein Frauenhaus? «Nicht alle, die drogenabhängig sind, sind ungepflegt, laut und aggressiv. Manche haben den Rank gefunden, brauchen aber noch Krücken.»
Bylang vermutet, dass die Hürden für manche zu hoch sind – wer sich beraten lassen möchte, muss einen Termin vereinbaren und sich an diesen halten, entweder via Telefon oder vor Ort bei Lantana.
Um an Heroin heranzukommen, habe sie «ekelhafte Dinge» gemacht, sagt Kathy M. Sie hätte noch Nein sagen können, doch sie wollte die Gefahr nicht eingehen, dass es eskalieren könnte, gerade wenn beide Drogen konsumiert hatten. Auch die Schockstarre kenne sie gut. «Ich versuchte, es möglichst schnell hinter mich zu bringen und möglichst schnell zu vergessen. Der Grat ist schmal: Wie viel steuere ich noch? Und wo bin ich schon gefangen?»
Vielen Frauen falle es schwer, erlebte Gewalt als solche einzuordnen, sei es in einer Beziehung, bei der Sexarbeit oder beim Beschaffen von Drogen, so Bylang von Lantana. «Ich werde oft gefragt: War das, was ich erlebt habe, überhaupt ein Übergriff?» Laut «Frauensuchtarbeit in Deutschland» zeigen Studien, dass ein erheblicher Teil der Frauen bei der Beschaffungsprostitution physische oder sexualisierte Gewalt erlebt. Unter dem Einfluss der Drogen oder wegen Entzugserscheinungen können Frauen sich weniger gut wehren, wenn sie zu sexuellen Handlungen gezwungen werden. Bei Lantana helfen die Beraterinnen, das Erlebte einzuordnen, und informieren die Frauen anhand des Opferhilfegesetzes über ihre Rechte, zum Beispiel den Anspruch auf eine rechtliche Beratung, und leisten wo nötig finanzielle Soforthilfe.
Mit Anfang 20 war Kathy M. wegen einer anderen «längeren Geschichte», über die sie hier nicht reden möchte, bei der Opferhilfe. Sie erfuhr, dass sie wegen ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht in ein Frauenhaus darf. Frauen mit akuten psychischen Problemen sowie Frauen mit akuten Suchtproblemen haben
Die stellvertretende Leiterin des Frauenhauses Bern, deren Namen aus Sicherheitsgründen nicht hier steht, sagt: «Im Gespräch klären wir ab, ob bei der Frau eine Suchtmittelproblematik besteht und ob sie psychisch genug stabil ist, um die Tagesstrukturen wahrzunehmen.» Die Bewohnerinnen nehmen morgens an der Sitzung teil und wechseln sich mit Einkaufen und Kochen ab. Regelmässig führen sie Gespräche mit ihren Bezugspersonen, hinzu kommen Termine mit Anwält*innen, Therapeut*innen und Fachstellen wie der Kesb. Damit das Team weiss, dass die Frauen in Sicherheit sind, müssen sie, wenn sie aus dem Haus gehen, erreichbar sein. Andernfalls, so die stellvertretende Leiterin, sei dies belastend. Auch Kindern bietet das Frauenhaus Schutz. «Wenn eine Frau auf Entzug kommt oder Drogen herumliegen lässt, kann dies den Kindern Angst machen oder ihre Sicherheit gefährden», sagt die stellvertretende Leiterin. Auch muss der Standort des Hauses geheim bleiben. Wenn die Sucht Priorität habe, könnten die Abmachungen vergessen gehen. Mit Mitte 20 verliebte sich Kathy M. Bald zog sie mit der Frau, die auch
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«Wie oft habe ich die Flucht ergriffen und versucht der Gewalt zu entkommen. »
KATHY M.
Hilfe für die Betroffenen Erleben Sie psychische, physische oder sexualisierte Gewalt? Unterstützung bietet die Opferhilfe, sie berät kostenlos, vertraulich und anonym. Die kantonalen Beratungsstellen finden Sie unter opferhilfe-schweiz.ch. Unter frauenhaeuser.ch sind alle Frauenhäuser aufgeführt. Die Berner Frauenhäuser zum Beispiel sind unter der Hotline AppElle! rund um die Uhr erreichbar: 031 53 30  303
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FĂĽr Kathy M. war das Offene Haus La Prairie in Bern Treffpunkt und wichtige StĂĽtze in einem Leben, das von Gewalt und Drogen dominiert wurde.
eine Alkoholabhängigkeit hatte, zusammen. Wenn sie betrunken waren, gingen sie einander verbal an. «Ich bin mit Gewalt aufgewachsen, ich kannte nichts anderes, um Konflikte zu lösen», sagt Kathy M. «Auch ich war zu einem Arsch geworden.» Eines Tages habe ihre damalige Partnerin, mit einem Messer in der Hand, gedroht: Wenn sie jetzt nicht gehe, dann steche sie sie ab. Vom einen Tag auf den anderen brauchte Kathy M. eine neue Unterkunft.
«Ich konnte mich inzwischen auch wieder daran erinnern, dass ich damals sehr wohl versucht habe, um Hilfe zu bitten. Doch meine Schreie wurden ignoriert.»
Frauen, die wegen einer Suchtmittelabhängigkeit nicht im Frauenhaus aufgenommen werden, werden an die Contact Anlaufstelle vermittelt. Dank eines Fonds der Stiftung kann diese bei Härtefällen für einige Nächte ein Hotelzimmer finanzieren. Melody Di Antonio, Sozialarbeiterin bei der Stiftung Contact, ist froh um diese Möglichkeit, sagt aber: «Ein Hotelzimmer ersetzt kein Frauenhaus.» Selbst dafür sei die Hürde für viele sehr hoch, häufig sagten Frauen in letzter Minute doch ab. Die Vorstellung, die Nacht allein in einem Hotelzimmer zu verbringen und von niemandem aufgefangen zu werden, sei sehr schwierig, sagt Di Antonio.
Kathy M. meldete sich gar nicht erst beim Frauenhaus. Sie bekam in einer betreuten, aber wenig strukturierten Frauen-WG eines Vereins ein Zimmer, obwohl auch hier eigentlich nicht aufgenommen wird, wer Alkohol oder illegale Drogen konsumiert. Kathy M. sagt: «Der Alkohol wurde zu einem stummen Freund, der mich nie wegstiess oder verurteilte. Um die Gewalt auszuhalten, griff ich als erstes wieder zu Suchtmittel und rutschte immer tiefer.»
Für Frauen wie Kathy M. betrieb in Nürnberg ab 1998 Lilith, die zweitgrösste von elf feministischen Drogenanlaufstellen in Deutschland, eine WG mit geschützter Adresse. «Abwärtsspiralen werden durch die fehlenden Schutzräume ausgelöst», sagt Silvia Kaubisch, stellvertretende Geschäftsführerin von Lilith. Weil die Drogenanlaufstelle langfristig nicht finanziert werden konnte, wurde sie nach knapp zehn Jahren geschlossen. Praktisch alle Frauen, die zu Lilith kommen, erlebten Gewalt, sagt Kaubisch. Bei Lilith, wo Männer – anders als in der Berner Anlaufstelle – keinen Zugang haben, würden die Frauen sich trauen, davon zu erzählen. Kaubisch sagt: «In gemischtgeschlechtlichen Anlaufstellen werden die Themen von Männern dominiert.»
In der Contact Anlaufstelle in Bern machen Frauen einen Viertel der Klient*innen aus. Einmal pro Woche, am Montag ab 17.30 Uhr, ist sie nur für Frauen geöffnet. In einer Weiterbildung sensibilisierte die Stiftung Contact
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Drogenanlaufstelle in Bern: Ein Viertel der Süchtigen sind Frauen, einmal die Woche ist die Anlaufstelle nur für sie geöffnet.
die Mitarbeiter*innen zum Thema Gewalt und entwickelte einen Gesprächsleitfaden. Für die Klient*innen hat die Anlaufstelle in einer Aktionswoche Aushänge gemacht und Flyer verteilt. Sie plant, bei Neueintritten und Standortgesprächen mit den Klient*innen auch das Thema Gewalt zu besprechen. «Viele unserer Klient*innen haben schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht, sie sind misstrauisch und fürchten sich», sagt Melody Di Antonio von Contact. Es könne helfen, wenn eine Beratung an einem Ort stattfindet, den die Frauen kennen. Darum bietet Lantana neu an, für eine Beratung – wenn eine Frau dies wünscht – zur Anlaufstelle zu kommen.
Schutzräume sind gefragt
Einen niederschwelligen Schutzraum für drogenabhängige Frauen fände die stellvertretende Leiterin des Frauenhauses Bern «definitiv sinnvoll». So sieht es auch Di Antonio. Doch die Herausforderung bestünde darin, Geld dafür aufzutreiben und ein geeignetes Haus zu finden. Und die Sicherheit der Bewohnerinnen zu gewährleisten. «Im schlimmsten Fall müssten die Frauen, um illegale Substanzen zu beschaffen, in das Umfeld zurückkehren, vor dem man sie schützen möchte», sagt Di Antonio. Dann könnten die Frauen und das Haus schnell gefunden werden.
«Wie oft habe ich die Flucht ergriffen und versucht der Gewalt zu entkommen. Doch überall wurde ich wieder zurückgeschickt, wo die Strafen immer härter ausfielen.»
Wenn drogen- oder alkoholabhängige Frauen bei Institutionen nicht die Unterstützung finden, die sie brauchen, bleibt ihnen oftmals nur ihr privates Umfeld. Für einige Monate nahm Kathy M. eine Frau bei sich auf, die von ihrem Partner geschlagen wurde. Am Anfang sei dies gut gegangen, sagt sie. Doch die Frau war alkoholabhängig und so habe auch Kathy M. wieder mehr getrunken, sie habe sich allein gelassen gefühlt. Irgendwann möchte sie anderen betroffenen Menschen den Weg aus der Gewalt hinaus zeigen.
«Manchmal frage ich mich, ob es mir heute nicht besser gehen würde, hätte ich in einem anderen Umfeld gelebt. Hätte, könnte, würde … Es ist, wie es ist. Noch muss ich einen Weg finden, in Zukunft besser damit umzugehen.»
zurĂĽck ins Leben
Frauensuchtarbeit in Deutschland, hrsg. von Martina Tödte, Christiane Bernard (Transcript, 2016), insb. Kap. «Frauen, Gewalterfahrungen und der Konsum von Alkohol und anderen Drogen» von Irmgard Vogt.
Seit vergangenem November ist Kathy M. als Surprise Stadtführerin tätig. Auf ihrer zweistündigen Tour durch das Monbijou-Quartier führt sie die Besuchergruppen durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens: Von der Berner Gesundheit über die Opferhilfe Bern bis hin zur Interventionsgruppe Pinto oder zum offenen Haus La Prairie. Sie stellt jene Institutionen vor, die sie auf ihrem schwierigen Weg zurück ins Leben begleitet haben, und sie schildert, wie sie heute ihren Alltag meistert.
Als Expert*innen der Strasse schaffen Kathy M. und die weiteren 12 Surprise Stadtführer*innen ein Bewusstsein für die Hintergründe von Armut und deren ganz konkrete Folgen. Die Touren in Basel, Bern und Zürich sind eng mit den Biografien der Stadtführer*innen verwoben und greifen verschiedene Themen auf, etwa Obdachlosigkeit, Suchterkrankungen, Gewalt, Schulden oder Arbeitslosigkeit. Die persönlichen Erfahrungen und Geschichten der Stadtführer*innen werden mit Armutsstatistiken und Hintergrundwissen verknüpft. So entstehen differenzierte und authentische – aber niemals voyeuristische – Einblicke in Lebenswelten, die vielen Menschen in der reichen Schweiz fremd sind.
Die Touren von Kathy M. finden unter anderem an folgenden Daten statt:
— Mittwoch, 18. Januar um 13 Uhr
— Freitag, 20. Januar um 13.30 Uhr
— Freitag, 3. Februar um 13 Uhr
Weitere Tourdaten, Anmeldung und alle Infos unter surprise.ngo/Stadtrundgang
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FOTO: ZVG
In ei g ener Sache Der Kampf
Sich Bilder machen
Psychiatrie Das Ausstellungs- und Buchprojekt «Hinter Mauern» zeigt historische Fotografien aus zehn psychiatrischen Einrichtungen der Schweiz. Entstanden ist ein Einblick in die Welt der Psychiatrie, aber auch eine Reflektion der Typisierung von Menschen.
TEXT DIANA FREI
Eine ältere Frau sitzt in Anstaltskleidung vor der Kamera – und scheint zu schlafen. Ein Mann in einer Kutte, die Arme verschränkt, der Blick zielt aus dem Bild hinaus, vorbei an der Kamera, als ob er sich der Situation entziehen wollte. Dann eine Frau mit der Hand auf ihrer Brust, ernst und abweisend der Blick, fast feindselig schaut sie in die Kamera.
Diese Bilder stammen alle aus dem Fundus des PsychiatrieÂMuseums Bern in den Jahren 1915 bis 1930, vermutlich wurden sie in der damaligen «Kantonalen Irrenanstalt Waldau» aufgenommen. Es sind keine Porträtaufnahmen im eigentlichen Sinn, vielmehr dienten sie als Diagnoseinstrumente. Es waren «gestohlene Bilder»: Die Patient*innen wurden in die Aufnahmesituation hineingezwungen. «In der Klinik sollte ein Fotoporträt nicht die Persönlichkeit eines Menschen zum Ausdruck bringen, sondern vermeintliche Fakten eines Krankheitsbildes dokumentieren», schreibt die Kunsthistorikerin und CoÂKuratorin der Ausstellung Katrin Luchsinger in der gleichnamigen Begleitpublikation. Aufgrund äusserlicher Merkmale schloss man darauf, was mit den Patient*innen nicht stimmte – wobei die Grenzen zwischen tatsächlichen psychischen Leiden und Abweichungen von einer sozialen Norm schnell verschwammen.
Die Lehre, aus GesichtszĂĽgen auf scheinbar wissenschaftliche Art Hinweise auf den Typus Mensch abzuleiten, war Anfang des 20. Jahrhunderts nicht neu. Bereits im Jahrhundert zuvor hatte der italienische Kriminalanthropologe und
Psychiater Cesare Lombroso die sogenannte «Physiognomie» geprägt. Indem er sich vor allem auf GesichtszĂĽge und Schädel konzentrierte – auch auf die Form von Ohren und Ohrläppchen–, diagnostizierte er etwa kriminelle Neigungen. Durchaus auch ohne dass die betreffende Person ein Verbrechen begangen hätte. Der Psychiater und Amateurfotograf Hugh Welch Diamond (1809 – 1886) folgte im Kern dem gleichen Gedanken und stellte in England Fotoserien mit dem Titel «Physiognomie der Geisteskrankheit» aus. Bei ihm sind VorherÂnachherÂBilder zu finden, die heute geradezu grotesk anmuten: eine Frau «vor der Behandlung» im Anstaltshemd und mit zerzausten Haaren sowie «nach der Behandlung» in fast exakt der gleichen Pose – diesmal aber, als einziger erkennbarer Unterschied, ordentlich frisiert, in einem bĂĽrgerlichen Kleid. «Hier wird deutlich, dass es ganz stark um geltende Normen ging», sagt Stefanie Hoch, Kuratorin am Kunstmuseum Thurgau. Sie hat die Ausstellung zusammen mit Luchsinger konzipiert. «Die Patient*innen galten als ‹geheilt›, wenn sie äusserlich und in ihrem Verhalten wieder einigermassen gesellschaftsfähig waren. Das Foto zeigt vor allem, dass die Frau auf das Funktionieren in der Gesellschaft hergerichtet ist. Als ob man mit dem NachherÂBild sagen wollte: ‹So sieht man aus, wenn man normal ist.›» Den Therapien der psychiatrischen Anstalten haftete damit etwas Disziplinarisches an, man folgte dem Gedanken einer geltenden Norm, die oft zum Gradmesser wurde, ob jemand ins «IrrenÂ
haus» gehörte. Man beurteilte die Patient*innen entsprechend nach der äusseren Erscheinung und danach, ob sie sich in Gesellschaft zu benehmen wussten.
Hermann Rorschach, der Erfinder des Rorschachtests, war begeisterter Hobbyfotograf und ordnete die Fotos seiner Patient*innen in 14 Alben, die er mit damals gängigen Diagnosen wie etwa «Hysterie» beschriftete. Auch er suchte dabei nach «Typen», obwohl er die Menschen freier, in sozialen Alltagssituationen und in Bewegung fotografierte. Er war unter anderem Assistenzarzt in der Heil und Pflegeanstalt Münsterlingen; viele Bilder der Ausstellung stammen aus seinem Fundus.
Die Typenlehre bildete lange ein Kernstück der Psychologie. Der Gedanke dahinter pflanzte sich fort, ursprünglich von der Kriminologie über die Psychiatrie bis zu einer späteren allgemeinen Faszination für die Darstellung «sozialer Typen»: der Arbeiter, die Bäuerin, der Künstler. Nach 1930 konnte bekanntlich die nationalsozialistische Rassenlehre auf der Typenlehre aufbauen.
Die Fotografie versprach als chemischÂphysikalisches Medium eine besondere Objektivität, die sich fĂĽr wissenschaftliche Kategorisierungen scheinbar anbot. Auch die Anthropologie setzte das Medium Fotografie ein. Ein Foto aus dem kolonialen Kontext findet sich in der Sammlung des PsychiatrieÂMuseums Bern: ein Glaspositiv einer Frau aus dem Sudan mit Skarifizierungen, also Schmucknarben. Offenbar sah man Parallelen zwischen sogenannten «Wilden» und «Irren», in der
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«Hinter Mauern. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 bis 1935»,
Ausstellung, bis So, 16. April, Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen, Warth kunstmuseum.ch
Ab Fr, 26. Mai 2023 bis April 2024 wird sie im PsychiatrieMuseum in Bern gezeigt.
Buch, hrsg. von Katrin Luchsinger und Stefanie Hoch, mit Beiträgen von Urs Germann, Stefanie Hoch, Markus Landert, Katrin Luchsinger, Sabine Münzenmaier und Martina Wernli, Zürich, Scheidegger & Spiess 2022, Fr. 45.00
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BILDER: PSYCHIATRIE-MUSEUM BERN K11-037; PSYCHIATRIE-MUSEUM BERN PM K03-043
1 Das Bild, das zum Buchcover wurde: Patient in der Varekzelle, undatiert, Kantonale Irrenanstalt Waldau.
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2 Patientinnen in der Luftkur der Pflegeanstalt Perreux, Neuchâtel, undatiert.
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1 Patientinnen mit ihren Selbstporträts, ca. 1920, Kantonale Irrenanstalt Waldau.
2 Patienten als Dachdecker, 1921, Waldau.
3 Pfleger*innen vor der Anstalt, vor 1933, Waldau.
Waldau waren auch Fotos der Tätowierungen von Patient*innen abgelegt. «Man dachte daran, unterschiedliche Entwicklungsstufen des Menschen ausmachen zu können und war der Meinung, ‹Wahnsinnige› seien ein Stück näher bei indigenen Völkern. Es gab die Vorstellung, dass Menschen im Wahn in einen Urzustand oder in eine archetypische Stufe zurückfallen. Das ist natürlich ein gefährlicher Gedanke», sagt Hoch.
Auf der anderen Seite kamen im Anstaltsalltag Ansätze auf, die noch heute modern wirken: Kreativer Ausdruck und Kunst wurden gefördert, um die Monotonie aufzubrechen; es gab Anstaltstheater, Maskenbälle, Silvesterpartys. Wilde KostĂĽmierungen gehörten dazu. Es war derselbe Hermann Rorschach mit seinen DiagnoseÂAlben, der auch leidenschaftlich TheaterauffĂĽhrungen mit Patient*innen veranstaltete und Jahrmärkte besuchte, Wandertheater und Chöre in die Anstalt einlud, FasnachtsumzĂĽge und Tanzfeste organisierte. Seiner Schwester schrieb er in einem Brief: «Weihnachten, Sylvester wird halt in MĂĽnsterlingen sehr intensiv gefeiert, sehr lebhaft, und beides doppelt. Nachher kommt die Fasnacht mit zwei Maskenbällen! Also du siehst, man braucht im Irrenhaus nicht zu versauern!»
Ein scheinbar seltsamer Gegensatz zu den rigiden disziplinarischen Therapieansätzen. Da die Behandlungsmethoden in Wahrheit aber beschränkt waren – eigentliche Therapien gab es Anfang des 20. Jahrhunderts, ausser etwa über Stunden oder Tage ausgedehnte Bäder in einer Wanne, noch kaum – versuchte man, eine Struktur zu schaffen. Dies geschah zum einen mit der sogenannten Arbeitstherapie, zum anderen mittels Aufbrechen des eher öden Alltags. Die persönlichen Interessen und Leidenschaften der Ärzte vermischten sich so auch mit Diagnosemethoden und Therapieversuchen. In der Ausstellung sind etliche Bilder von Theateraufführungen zu sehen, Szenen auf dem Karussell, eine Zirkustruppe und Tanzvergnügen auf dem Gartenfest. Auch ein Äffchen ist abgebildet, mit dem Rorschach versuchte, einen Zugang zu den Patient*innen zu finden.
Viele andere Aufnahmen zeigen die Patient*innen bei der Arbeit. Beim Korbflechten und Gemüserüsten, bei Näharbeiten, beim Dachdecken und Befüllen von Güterloren am Bodensee. «Oft waren die Kliniken Selbstversorgerbetriebe, ehemalige Klöster mit viel Landwirtschaft. Es gab also
ein wirtschaftliches Interesse, dass die Patient*innen arbeiteten», sagt Hoch. «Die Arbeit diente auch als Therapie. Die Anstalten waren überfüllt und standen oft in der Kritik, weil die Patient*innen angeblich nur herumsassen. Mittels Arbeit schuf man eine Struktur und verbesserte gleichzeitig das Bild in der Öffentlichkeit.» Oft war in Zusammenhang mit diesen Arbeitstherapien wieder von «sozialer Heilung» die Rede: Gemeint war damit vor allem die «verbesserte Anpassung an die Anforderungen des Anstaltsbetriebes und letztlich an die Gesellschaft», schreibt der Historiker Urs Germann im Buch zur Ausstellung. Man hatte nun «Ruhe und Ordnung», wo früher ein «Durcheinander», «Lärmen» und «Gezeter» war. Und konnte gegen aussen zeigen, dass man fleissig und nützlich war in der Anstalt. Die Fotografien, die in den psychiatrischen Institutionen gemacht wurden, hatten vielfältige Funktionen: Sie waren, wie erwähnt, Diagnoseinstrument und wurden für Weiterbildungszwecke verwendet, sie hatten aber durchaus auch eine soziale Funktion in der Beziehung zwischen Personal und Patient*innen. In Broschüren wiederum wurden sie in geschönter Form für die Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt, im Gegenwind der Kritik an den Zuständen in den Anstalten.
Die Machtgeste nicht wiederholen Misstrauen gegenĂĽber Absicht und Wirkung der Bilder ist in allen Fällen angebracht. «Wenn Fotografien einen Ort abbilden, dessen Wahrnehmung von Vorurteilen und Projektionen bestimmt ist, dann stellen sich bei der Betrachtung und Bewertung der Werke besondere Probleme», schreibt Luchsinger. Die Frage ist: Wie zeigt man solche Bilder nun einem heutigen Publikum? «Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener, die den BeÂ
griff der ‹gestohlenen Bilder› geprägt hat, verwendet die entsprechenden Bilder selbst nur ganz klein, um die abgebildeten Personen nicht ein weiteres Mal auszustellen und damit die entwürdigende Geste zu wiederholen», sagt Hoch. «Wir haben diesen Ansatz zuerst als Referenz genommen. Dann haben wir aber gemerkt, dass wir der Sache so auch nicht gerecht werden, der Erkenntnisgewinn anhand der Bilder ist so in einer Ausstellung sehr gering. Wir haben versucht, auf Bilder zu verzichten, die Menschen blossstellen. Man kann sich natürlich fragen: Soll man sie gar nicht zeigen? Dann verschwinden sie, und das sehe ich als grosse Gefahr. Dafür sind die Bilder dann doch zu wichtig.»
Das Buchcover zeigt einen Patienten in der Tür einer Isolierzelle, der sogenannten Varekzelle. Varek ist Seegras, mit dem die Zelle ausschliesslich ausgebettet war. «Der Mann hat sich selbst kostümiert – im Grunde ganz der damaligen anthropologischen Auffassung des sogenannten ‹Wilden› entsprechend», sagt Hoch. «Wir haben lange über das Cover diskutiert und kamen dann zum Schluss, dass hier die scheinbare Umkehrung der Machtverhältnisse spannend ist. Der Patient wirkt souverän, der Pfleger daneben klein und verschüchtert. Der Insasse der Isolierzelle schafft sich mit dem, was er hat, diese fast königliche Verkleidung.» Man kann die Szene als Akt der Selbstermächtigung lesen. Oder reproduziert hier der Psychiatriepatient doch gerade selbst ein Stereotyp seiner Zeit: der Irre als Wilder? Wenn ja, könnte es auch eine bewusste Subversion sein? Hoch sagt: «Die Ausstellung wirft sicher mehr Fragen auf als sie beantwortet.» Und dabei lehrt sie uns, den eigenen Blick zu überdenken – auf Bilder, auf Stereotypen. Auf Bilder, die man sich von Menschen macht.
Buchverlosung
Gewinnen Sie mit etwas Glück ein Exemplar des Buches «Hinter Mauern. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 – 1935». Senden Sie uns eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Hinter Mauern» und Ihrer Postadresse an info@surprise.ngo bzw. Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Einsendeschluss ist der 29. Januar 2023.
Ăśber den Wettbewerb wird keine Korrespondenz gefĂĽhrt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise fĂĽr Marketingzwecke verwendet.
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BILDER: PSYCHIATRIE-MUSEUM BERN K01-063; PSYCHIATRIE-MUSEUM BERN K07–055; PSYCHIATRIE-MUSEUM BERN
K8–065
Bern
12. Norient Festival, Sa, 11. bis Mi, 15. Jan., verschiedene Spielstätten, Festivalzentrum Stube im Progr, Atelier 012 (Westflügel), Speichergasse 4. norient-festival.com
Veranstaltungen
rigkeit in die Wiege gelegt. Er gehört zu den Zeichner*innen, die den Comic vor dem Hintergrund der kulturellen Umwälzungen der 1960erund 70er-Jahre mit anspruchsvollen Themen und literarischem Anspruch für ein erwachsenes Publikum erweitert haben. In seiner international bekannten Serie «Jonathan» führt Cosey in 17 Bänden durch die weiten Landschaften Asiens und Nordamerikas und auf Reisen durch Europa – und gleichzeitig in das komplexe Innenleben seines
Das Norient Festival erforscht die zeitgenössische Welt durch Musik und Klang. Zum Beispiel mit Filmen, die Musiker*innen oder Musik, Klang und Geräusche als Seismographen unserer Zeit porträtieren. Oder mit Live-Shows, DJ-Sets, Performances und Talks. Bei alldem wird die globale Vernetzung und die kollektive Erfahrung von künstlerischem und kreativem Schaffen angeschaut. Von Kenia bis in die Schweiz und nach Deutschland, von Marokko bis nach Uganda geht es um Themen wie psychische Gesundheit, Care, Freundschaften und Beziehungen oder Umweltverschmutzung – kurz: um den Sound des Zustands der Welt. Und um die Frage, wie kollektiver Widerstand zum Ausgangspunkt für künstlerische Kollaborationen werden kann. Das Norient Festival 2023 möchte neue Räume der Begegnung schaffen und künstlerische Praktiken, Erfahrungen und Überlegungen zusammenbringen, die sich in Sound und Bild manifestieren. So beschreibt es die künstlerische Leiterin Claudia Popovici. DIF
ZĂĽrich
«Luca Zanier – Inventory», Ausstellung, bis So, 29. Jan., Mi und So, 12 bis 18 Uhr, Do bis Sa, 12 bis 21 Uhr, Sihlquai 125, 2. Stock, freier Eintritt; Artist Talk moderiert von Susanne Kunz, Do, 19. Jan., 19 bis 20 Uhr. photobastei.ch
Ausland und gründete dann sein eigenes Studio in Zürich. Seit 1993 ist er als freischaffender Fotograf mit den Schwerpunkten Architektur und Landscapes sowie Reportagen und freien künstlerischen Arbeiten tätig. Seine Fotografien wurden in über 100 Ausstellungen auf der ganzen Welt gezeigt, haben mehrere Preise gewonnen und sind nun erstmals in einer umfassenden Werkschau in der Photobastei Zürich zu sehen. Im Gespräch mit Susanne Kunz erzählt Zanier, wie seine Projekte und Fotografien entstehen und gibt anhand diverser Beispiele Einblick in die Arbeitsschritte vom originalen Bildmaterial bis zum finalen Resultat. DIF
suchenden Protagonisten hinein. Die Reisen in die Berglandschaften des Himalaya konfrontieren Jonathan, ein idealisiertes Alter Ego des Autors, mit brisanten Fragen um die Besetzung Tibets durch den chinesischen Staat. «Vers l’inconnu» zeigt 200 Originalzeichnungen und Inspirationsquellen wie Fotografien, Skizzenbücher, Objekte und Filme.
DIF
Pfäffikon SZ
«doing family», Ausstellung, bis So, 19. März, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Vögele Kultur Zentrum, Gwattstrasse 14. voegelekultur.ch
Natürlich ist umgekehrt auch die besondere Form der bedingungslosen Liebe etwas, das es in Familien gibt. Geborgenheit und Sicherheit. Und genau die gleichen Bande können wiederum auch einengend und erdrückend wirken. Es gibt Tabus und Familiengeheimnisse, es gibt aber auch aussergewöhnliche Projekte, die gemeinsam angerissen werden. Und ganz grundsätzlich gibt es immer auch die Öffentlichkeit, die mitredet, bis hinein ins vermeintlich ganz Private. Die Familie ist immer Teil der Gesellschaft. Alle Familienmitglieder sind in grössere Kreise eingebunden, die das familiäre Leben mitprägen: Schule, Freunde, Hobbys, Kultur, Staat. Das alles wirkt auf uns alle ein. Die Familie prägt uns – bettet uns vielleicht in einen Zusammenhalt (oder wenigstens -hang) oder aber zerrt an uns. DIF
Bern
«Après-Lift. Skiberge im Wandel», Ausstellung, bis So, 28. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Alpines Museum der Schweiz, Helvetiaplatz 4. alpinesmuseum.ch
Sei es der Uno-Sicherheitsrat in New York oder ein Fusionsreaktor in Südfrankreich: Mit einem Gespür für ungewöhnliche Blickwinkel findet Luca Zanier neue Ansichten von bekannten, aber oft schwer zugänglichen Orten. Es sind Machtzentren, Energieanlagen und Stadtansichten, die zu präzise durchkomponierten Bildern mit dem Reiz des Abstrakten werden. Zanier, 1966 geboren, arbeitete nach seiner Ausbildung zum Fotografen als Assistent im In- und
Basel
«Cosey. Vers l’inconnu», Ausstellung, bis So, 26. Feb., Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch
Cosey, 1950 in Lausanne als Bernard Cosendai in eine aus den USA stammende Familie geboren, wurden Fragen nach Identität und Zugehö-
Eine Ausstellung «über Erwartungen, Macht und Liebe»: Es stecken viele Themen im Konstrukt Familie, die es sich näher anzuschauen lohnt. So wollen Menschen ihre Herkunft kennen, um ihren Platz in der Gegenwart zu finden; deswegen sind Stammbäume und Ahnentafeln so wichtig und Geschichten über (auch verstorbene) Verwandte so interessant. Sie helfen dabei, sich selbst zu verstehen. Auch Fragen von Geld und Macht strukturieren das Zusammenleben aller, die gemeinsam unter einem Dach leben. Etwa in der Rollenverteilung, im Umgang miteinander – bis hin zu Grenzüberschreitungen wie häuslicher Gewalt.
Nach Walde im Ruedertal fuhr man zum Skifahren. Dort stand einst der längste Skilift des Aargaus. «Auch unsere Verwandten kamen hierher, um skizufahren. Das war Freiheit. Hier lernte man Leute kennen», erzählt René Bollinger, Skiliftbetreiber zweiter Generation, in einer von sechs Hörstationen der Ausstellung. Auch in anderen Kantonen der Schweiz eroberten Skilifte die Berge teils bis in tiefe Lagen und wurden zu Treffpunkten für das ganze Dorf. Doch viele Lifte laufen heute nicht mehr, so auch der Bügellift in Walde. Die Ausstellung in Bern nimmt sechs Fallbeispiele aus verschiedenen Landesteilen in den Blick: Walde, Schmiedrued (AG), Col de Montvoie, Fontenais (JU), Cùlmina, Moneto/Centovalli (TI), Breitenebnet, Trogen (AR), Super St-Bernard/Col de la Menouve, BourgSaint-Pierre (VS), Erner Galen, Ernen-Mühlebach (VS), Tête de Ran, Les Hauts-Geneveys/Val de Ruz (NE).
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BILD(1): KIBUUKA OSCAR, BILD(2): LUCA ZANIER, BILD(3): COSEY, BILD(4): DANIEL ANKER
DIF
Pörtner in Winterthur
Surprise-Standort: Bahnhof
Einwohner*innen: 120    955
Sozialhilfequote in Prozent: 24,8
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 5,6
Anzahl Museen: 16
Die hintere Unterführung des Bahnhofs Winterthur ist der Verkaufsplatz von Seynab Ali Isse, deren Kolumnen hin und wieder hier spielen. Heute ist sie nicht da, das neue Heft erscheint erst morgen. Es wäre auch kein guter Verkaufstag, nach einer Woche Regen scheint endlich wieder die Sonne, die Leute sind draussen. Die Unterführung ist modern und sauber, herausgeputzt und gemieden. An der Seite verläuft ein Veloweg, was auf den ersten Blick verwirrt, wenn plötzlich Velos durch die Unterführung flitzen. Doch fahren sie auf einer eigenen, abgegrenzten Spur, die andernorts definitiv fehlt.
Wahrscheinlich bietet die UnterfĂĽhrung Zugang zu den beiden Velostationen Stellwerk und Rudolf, letztere nach der Rudolfstrasse benannt und nicht nach dem Winterthurer alt Bundesrat Rudolf
Friedrich, dem die Winterthurer Anarchist*innen einst das Gartenhaus in die Luft gesprengt hatten, oder war es der Rollladen?
Neben einem Geschäft, das «Frau Hund» heisst, aber keinen Tierbedarf anbietet, gibt es vor allem Essen zu kaufen. Es findet sich auch ein Wartesaal, in dem ein Jugendlicher sitzt und auf dem Handy Videos schaut. Das passt, auch auf der Leuchtreklame sind Jugendliche abgebildet.
Die Bank ist bequem, USB-Steckdosen stehen bereit, die Lampen sind hübsch und geben warmes Licht. Es erstaunt, dass dieser Raum einfach so zu betreten ist, ohne dass ein Ticket vorgewiesen werden oder man einem Member- oder Executive-Programm angehören muss. Solche offenen Räume ohne Konsum-
zwang sind selten geworden. Nichtsdestotrotz ist das Wetter zu schön, um hier zu verweilen.
«Lust, etwas zu erleben?» fragt ein Schild, auf dem im Übrigen nur Winterthur.com steht, doch gleich nebenan werden verschiedene Vorschläge gemacht, in Winterthur etwas zu erleben, in der kleinsten Grossstadt oder, je nach Blickwinkel, der grössten Kleinstadt der Schweiz. Als solche verfügt sie über ein ausgeklügeltes Bussystem, das die Menschen vom und zum Bahnhof bringt, farbkodierte Plakate weisen den nicht immer einfachen Weg zur richtigen Kante.
Weil sich hier eine grosse Hoch- und auch sonst eine Menge Schulen befinden, ist das Mittagspublikum auffällig jung, modisch und Take-away-affin. Entsprechend erfolgreich ist, trotz aufziehender Wolken und rasch sinkender Temperaturen, die Verteilaktion einer Glace-Herstellerin. Eine Frau, Telefon am Ohr, geht eiligen Schrittes vorbei, aus ihrer Tasche ragt ein Heft mit dem Titel «Schritte Plus».
In der Bahnhofshalle ist das W mit Herz, das Logo der Stadt, wieder zu sehen, das Tourismusbüro ist gross, es bietet unter anderem Stadtwesten an: «lokal, reflektierend, modisch». So könnte sich auch manche Winterthurer*in beschreiben. Die ausgestellten Prospekte werben unter anderem für die vielen Museen, die mit demselben Tagespass besucht werden können, was allerdings ein etwas dichtes Programm wäre, die Erlebniskarte bietet weitere Attraktionen und Rundgänge.
Wer die Stadt bisher nicht als Tourismusdestination auf dem Schirm hatte, wird hier eines Besseren belehrt, allerdings erst hier, am Bahnhof Winterthur.
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Tour de Suisse
STEPHAN PĂ–RTNER
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
GemeinnĂĽtzige Frauen Aarau
Be Shaping the Future AG
Hofstetter Holding AG, Bern
Fontarocca Natursteine, Liestal
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
iris-schaad.ch Qigong in Goldau
Automation Partner AG, Rheinau
FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch
Maya-Recordings, Oberstammheim
Arbeitssicherheit Zehnder, ZĂĽrich
Femisanum – natürliche Intimpflege, Zuzwil
Scherrer & Partner GmbH, Basel
Breite-Apotheke, Basel
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
Kaiser Software GmbH, Bern
Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur
Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg
Liberty Specialty Markets, ZĂĽrich
Schwungkraft GmbH, Feusisberg
Coop Genossenschaft, Basel
AnyWeb AG, ZĂĽrich
Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, ZĂĽrich
Itsmytime.ch, Stefan KĂĽenzi, Berlingen
Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich
Stadt Illnau-E retikon
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?
Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.
Spendenkonto:
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Surprise, 4051 Basel
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewĂĽnschter Namenseintrag
Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
Kontakt: Caroline Walpen
Team Marketing, Fundraising & Kommunikation
GEMEINSAM SCHAFFEN
WIR CHANCEN
Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.
Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.
Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari
«Vor wenigen Jahren bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen –und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden.
Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»
Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.
Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person fĂĽr ein Jahr lang sicher.
Unterstützungsmöglichkeiten:
1 Jahr CHF 5000.–
½ Jahr CHF 2500.–
¼ Jahr CHF 1250.–
1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.
Spendenkonto:
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IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Vermerk: Chance
Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90
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T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 AB 500.– SIND SIE DABEI!
Herzlichen Dank fĂĽrIhrenwichtigen Beitrag!
#537: Starke Frauen «Grossartig»
K. MUELLER, Bern
Dieser Artikel hat uns sehr beschäftigt und beschämt. Von den schwierigen Lebensumständen der Erntearbeiter in Italien und Spanien wussten wir, aber dass die Preisdrückerei bis vor unserer Haustüre geschieht und wir als Konsument*innen der Grossverteiler auch unseren Beitrag dazu leisten – da gibt es kein Wegschauen.
#Strassenma g azin «Twint?»
Surprise ist eine tolle Sache und ich unterstütze immer wieder sehr gerne verschiedene Strassenverkäufer*innen mit einem Heftkauf. Die Inhalte in Ihrem Magazin sind redaktionell und thematisch ansprechend aufbereitet und immer wieder geschickt mit politischen oder gesellschaftlichen Themen verknüpft. Die Lektüre ist entsprechend lehrreich und spannend. Kürzlich ist mir aufgefallen, dass ich nur sehr selten Bargeld bei mir habe. Dies führt dazu, dass ich manchmal an Verkäufer*innen vorbeilaufen muss, weil man nur mit Bargeld zahlen kann. Wäre Twint nicht auch eine sinnvolle Kassiermöglichkeit für Ihre Surprise-Verkaufenden?
ANONYM, ohne Ort
Anm. d. Red.:
Surprise hat das bargeldlose Bezahlen via Twint-QR-Code bereits eingeführt. Den Entscheid, Twint anzubieten oder nicht, überlassen wir jedoch den rund 450 Verkäufer*innen selbst. Bei vielen ist Bargeld immer noch das beliebteste Zahlungsmittel. Die bei TWINT registrierten Verkäufer*innen tragen ein Umhängeband mit einem QR-Code um den Hals. Scannen Sie beim Kauf den QR-Code der verkaufenden Person und geben Sie den gewünschten Betrag ein. Zeigen Sie ihr anschliessend Ihr Smartphone mit der erfolgreichen Transaktion – erledigt!
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Mitarbeitende dieser Ausgabe
Martin Bichsel, Stefan Boss, Urs Habegger, Adelina Lahr, Emma Larsson, Sandra Pandevski
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. FĂĽr unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
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Danke fĂĽr ein grossartiges Heft.
Stark die Reportagen zu Traumaarbeit, Fentanyl und zu den Unsichtbaren in der Unternehmensgastronomie.
#538: Kamils letzte Kartoffel
T. UND F. KĂśPFER, Gipf-Oberfrick
Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Ein Leben, in dem es Platz für Liebe und Wärme hat»
Es ist kurz nach Mittag. In einem Einkaufszentrum im schwedischen Malmö gehen die Menschen ein und aus. Am Eingang sitzt Anita Rinkovec in einem Rollstuhl und verkauft das Strassenmagazin Faktum. Manche Leute können sich Faktum nicht leisten, bleiben aber trotzdem zum Plaudern stehen. Worüber sich Anita freut. Später wird sie von einem Bekannten im Auto abgeholt und nach Hause gebracht. In ihrer kleinen Wohnung hat es eine Küche, ein Badezimmer sowie ein Zimmer mit einem Einzelbett und einem Fernsehtisch. Alles ist säuberlich angeordnet. «Wenn deine Umgebung nicht sauber ist, kannst du nicht gedeihen», sagt Anita entschieden.
Gedeihen konnte sie lange nicht. Sie wurde als Fünfjährige von ihrem Stiefvater missbraucht, ihre eigene Mutter wusste davon und liess es geschehen. Ihre Schwester wurde ebenfalls missbraucht; sie habe sich nie davon erholen können und mit Mitte vierzig Suizid begangen, erzählt Anita. Die Probleme zuhause wurden zu Problemen in der Schule. Mit 14 Jahren brachte man Anita in ein Kinderheim, sie begann zu klauen und versuchte abzuhauen. Sie kam in eine Pflegefamilie, aber auch dort fand sie sich nicht zurecht. Eine Zeitlang verweigerte sie das Essen. Schon in der Zeit, als ihr Schwiegervater sie missbrauchte, musste sie viel erbrechen; ihre Mutter zwang sie zu essen. Auch die Selbstverletzungen nahmen im Laufe der Jahre zu, die Arme von Anita waren mit Narben übersät. Im Alter von 70 Jahren liess sie sich Tattoos stechen, um diese zu verdecken; das erste war eine grosse Rose auf der rechten Seite ihres Halses.
Das Schreiben bot Anita Trost, schon als Mädchen hatte sie ein Tagebuch. «Ich musste die Scheisse rauslassen», sagt sie heute. Die Aufzeichnungen hat sie beiseitegelegt, manchmal blättert sie darin. Dann findet sie Seiten über Seiten mit Notizen über ihre Kindheit, die Alkoholsucht, über Männer, die sie im Stich liessen, über mangelndes Geld und die Sorge um ihre Kinder. Inzwischen sind drei von ihnen bereits gestorben – alle an einer Überdosis. «Ich war krank», sagt Anita. «Ich konnte mich nicht um sie kümmern.» Das vierte Kind, eine Tochter, ist schwer beeinträchtigt und lebt in einem betreuten Wohnheim.
Trotz der vielen Schicksalsschläge hat sich Anita stets dagegen gewehrt, in Selbstmitleid zu versinken. In einem ihrer Tagebücher heisst es: «Ich, Anita Rinkovec, habe absolut nicht die Absicht aufzugeben. Ich kämpfe für ein besseres Leben, in dem es Platz für Liebe, Gemeinschaft, Wärme und Lebensqualität hat, in dem ich ich selbst bin und niemand anders, und nicht ein Clown, der ständig versucht, alle um sich herum zufrieden zu stellen. Jetzt ist es an der Zeit, mein Leben und meine Bedürfnisse ernstzunehmen, was wichtiger ist als alles andere.»
Doch es war und ist nicht einfach. Unlängst hat man herausgefunden, dass Anita ernsthafte Probleme mit den Nieren hat. Laut ärztlicher Prognose hat sie nur noch wenige Monate zu
leben. Anita will sich keiner Dialysebehandlung unterziehen. Sie ist der Meinung, dies sei keine würdige Art, ihre letzten Tage zu verbringen. Mit der Dialyse könnte sie womöglich noch zwei oder drei Jahre leben. «Aber was wäre das für ein Leben?», fragt Anita. «Ich könnte nicht mehr das Strassenmagazin verkaufen, ich hätte keinen Kontakt mehr zu Menschen, käme gar nicht mehr aus der Wohnung raus.» Es sei besser, auf natürliche Weise zu sterben, als immer wieder im Krankenhaus zu liegen.
Was ihr fehlen werde, wenn alles zu Ende geht, fragt sich Anita immer wieder. Ihre Antwort: «Ich werde es vermissen, Faktum zu verkaufen und mit den Menschen zu reden. So viele kommen zu mir und erzählen mir von ihren Problemen. Eigentlich sehe ich mich nicht als Verkäuferin, sondern als Psychologin.» Und ihre beste Freundin wird sie vermissen, mit der sie schon durch dick und dünn gegangen ist. «Ich habe gesagt, dass ich ihr zuliebe eine Dialyse machen würde. Doch sie will nicht, dass ich es für sie tue, sondern für mich selbst. Und ich will es nicht.» Anita weiss, ihre Freundin wird ihren Entscheid respektieren.
Aufgezeichnet von SANDRA PANDEVSKI
Ăśbersetzt von KLAUS PETRUS
Mit freundlicher Genehmigung von FAKTUM
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FOTO: EMMA LARSSON
Anita Rinkovec, 79, verkauft in Malmö die Strassenzeitung Faktum und versteht sich in dieser Rolle eher als Psychologin denn als Verkäuferin.
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ARMUT UND
Bild: Marc Bachmann
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