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Die Strassen haben sie verschluckt, schreibt ihre Schwester. Und sie konnte es nicht verhindern.

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Obdachlosigkeit Noras Geschichte
Strassenmagazin Nr. 546 17. bis 30. März 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–

Entlastung

Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

STRASSENCHOR

Solidaritätsgeste

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Unterstützung

Entwicklungsmöglichkeiten

Expertenrolle Job

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

STRASSENMAGAZIN

Information

SURPRISE WIRKT

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Perspektivenwechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität

Zwei bezahlen, eine spendieren.

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Kultur
INS Kurzportraet GzD Layout 1 09 05 17 15:43 Seite 1

Das Wesentliche

Lotti hat wenig Geld. Mein Kollege Klaus Petrus traf die ältere Dame vor langer Zeit und schrieb ihre Geschichte für uns auf. In dieser ging es um das Leben als arme ältere Frau in unserer Gesellschaft. Was macht der Geldmangel mit ihr, was mit ihrem Sozialleben? Einige Jahre später traf er sie wieder. Und erzählt nun noch den zweiten Teil ihrer Geschichte, nämlich den über Lotti. Was sie so macht, und was sie mag. Weil sie mehr ist als nur arm. Oft erzählen Journalist*innen persönliche Geschichten so, als wären sie massgeblich durch einen zentralen Faktor bestimmt, in Lottis Fall die knappen Finanzen.

Dabei lassen sie manchmal aussen vor, dass eine Person möglicherweise auch gern schwimmt, Kinder zur Welt gebracht hat, welche Berufsausbildung sie hat und ob sie gern Velo fährt. Lotti zum Beispiel mag Kartoffelsalat. Für einen aussagekräftigen Artikel spielen nicht immer alle Facetten einer Person eine Rolle. Sehr wohl aber für deren Identität. So ist es für Lotti, und so sind auch die Protagonist*innen der Recherche von Lea Stuber über die Lebensmittelversor-

gung von Armutsbetroffenen mehr als nur knapp bei Kasse – auch wenn wir uns auch diesmal auf diesen Aspekt ihres Lebens beschränkt haben, um eine klare Aussage zu treffen. Wer wenig Geld hat, kann sich nur selten aussuchen, was er oder sie isst – und ist oft sogar auf andere angewiesen, um satt zu werden.

Unsere Titelgeschichte fokussiert nicht auf einen besonderen Sachverhalt und wie dieser sich auf das Dasein einzelner Personen auswirkt. Im Gegenteil: Hier geht es um eine einzelne Person und die Vielfalt der Faktoren, die aus einem behüteten, verträumten Kind eine obdachlose junge Frau haben werden lassen. Und die Schwester, die Autorin, die diese Entwicklung begleitet und trotzdem hilflos zuschauen muss. Doch auch hier ist nicht alles auserzählt. Wer weiss, ob sich wie bei Lotti irgendwann ein zweiter Teil anschliesst.

KNALLERPREISE 50 %

Surprise 546/23 3 Editorial
Aufgelesen
Na? Gut! Offiziell geprüft: die Vier-Tage-Woche
Vor Gericht Wer nötigt hier wen?
Verkäufer*innenkolumne Ein Stein in Davos
Die Sozialzahl Die Erwerbstätigenlücke
Obdachlosigkeit Nora in der Kälte 12 Ernährung Essen mit wenig Geld 16 Am Rand Arme Lotti 22 Literatur Wie Peter Stamm behandelt werden 24 «Exil-Literatur»: Chance oder Schublade? 25 #Al_Hassake_Mädchen
Veranstaltungen
Tour de Suisse Pörtner in Münsingen 28 SurPlus Positive Firmen
Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
Surprise-Porträt «Ich telefoniere täglich mit den Kindern» TITELBILD: PRISKA WENGER SARA WINTER SAYILIR Redaktorin
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Auf g elesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Ellas Tod soll Leben retten

Die neunjährige Britin Ella Adoo-KissiDebrah starb im Februar 2013 an einem schweren Asthma-Anfall. Als Ursache im Untersuchungsbericht wurde erstmals offiziell die Luftverschmutzung an ihrem Wohnort in Lewisham, South London, angegeben. Nun kämpft ihre Mutter Rosamund Adoo-Kissi-Debrah zusammen mit Abgeordneten der Green Party für eine bessere Gesetzgebung: Die Clean Air Bill, bekannt als Ella’s Law, hat bereits das House of Lords passiert und wird derzeit im Parlament debattiert. Das Gesetz fordert unter anderem wirksamere Massnahmen gegen Luftverschmutzung in den nächsten fünf Jahren sowie regelmässige Kontrollmessungen.

Studie zeigt Übergriffe

Hohe Todeszahlen

36,6 % 29

der Frauen mit einer Behinderung in Österreich gaben an, Opfer von sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Die Übergriffe finden im Elternhaus, in der Schule, in Institutionen oder im öffentlichen Raum statt. Menschen mit Behinderung sind deutlich öfter von Gewalt betroffen als Menschen ohne. Dies sagt die Studie «Erfahrungen und Prävention von Gewalt an Menschen mit Behinderungen», die letztes Jahr veröffentlicht wurde.

Mindestens 29 wohnungslose Menschen starben letztes Jahr in Dortmund. Die Zahlen dürften höher liegen, da die Stadt nur die offiziell als wohnungslos gemeldeten Menschen erfasst. Eine Ursache ist die schlechte Gesundheitsversorgung von Wohnunglosen, aber auch Lücken im System. Unter den Verstorbenen waren 12 Personen nicht­deutsche Staatsangehörige aber EU­Bürger, was sie von kommunalen Hilfen und oft auch Notunterkünften ausgeschlossen hatte.

Mieten steigen

4 %

Laut dem Immobilienportal Immowelt sind die Angebotsmieten in Freiburg im Breisgau im 2022 um 4 Prozent gestiegen. Die Aussage bezieht sich auf die im Portal zur Neuvermietung ausgeschriebenen Wohnungen ohne Neubau mit einer Grösse von 40 bis 120 Quadratmetern. Der Durchschnittpreis beträgt 12,60 Euro/m2. In München lag die Angebotsmiete bei Immowelt bei 18,70 Euro, in Berlin bei 10,90 Euro.

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FOTO: ROSAMUND ADOO-KISSI-DEBRAH AND THE ELLA ROBERTA FOUNDATION THE BIG ISSUE, LONDON MEGAPHON, GRAZ BODO, BOCHUM/DORTMUND FREIEBÜRGER, FREIBURG

Offiziell geprüft:

die VierTage-Woche

In Grossbritannien haben 61 Firmen sie getestet, die Vier­Tage­Woche bei vollem Lohn. Man kommt leicht ins Stutzen, wenn man durch die Resultate blättert, so geschwärmt wird überall von den positiven Effekten – für die Angestellten, aber auch für die Arbeitgeber*innen. Hat etwa die Vier­Tage­Woche­Lobby die Studie in Auftrag gegeben? Nein, unabhängige Forscher*innen der Universität Cambridge haben das Pilotprojekt wissenschaftlich begleitet. Es fand von Juni bis Dezember 2022 statt, mit Unternehmen aus dem Finanzsektor, der IT­ und Baubranche, aus der Gastronomie und dem Gesundheitswesen. Einige führten ein dreitägiges Wochenende ein, andere verteilten den freien Tag der Angestellten über die Woche oder koppelten ihn an Ziele.

Nun zu den Resultaten. Viele Angestellte fühlten sich weniger gestresst als vor dem Pilotprojekt (39 %) und waren weniger ausgebrannt (71 %). Sie konnten die bezahlte Arbeit besser mit Care­Aufgaben vereinbaren (60 %) sowie mit ihrem Sozialleben (62 %). Es gab weniger Krankheitstage (65 %), und verglichen mit der gleichen Periode des Vorjahres verliessen weniger Angestellte ihr Unternehmen (57 %). Ausserdem: Der Umsatz der Unternehmen stieg leicht an (durchschnittlich um 1,4 %).

Um wie viel, lautete eine Frage, müsste Ihr Lohn steigen, damit Sie zur Fünf­Tage­Woche zurückkehren würden? 15 Prozent der Angestellten sagten: Für kein Geld der Welt würden sie das tun. Wenig überraschend also, wollen 56 der 61 Unternehmen die Vier­TageWoche beibehalten. LEA

Wer nötigt hier wen?

Er ist 45, studierter Wissenschaftler und Lehrer. 2021 stellte er sich mit gut 200 Mitstreiter*innen und einem Transparent auf die Strasse vor der Polizeiwache Urania im Herzen Zürichs. «Wir wollen leben!»

Andere wollten freie Fahrt. Dass der Lehrer mit seinem Handeln vorübergehend den Verkehr in Zürichs Innenstadt behinderte, taxiert die Staatsanwaltschaft, wie in solchen Fällen üblich, als Nötigung. Nun steht er vor dem zuständigen Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich und bittet um ein weises Urteil. Er sagt: «Lassen Sie sich nicht einschüchtern!»

Dieser Satz fiel schon einige Monate zuvor in einer Verhandlung am selben Gericht, zum selben Protest – allerdings in umgekehrter Richtung. In jenem Fall ermunterte der Richter Roger Harris einen Klimaaktivisten, den Mut nicht zu verlieren. Und sagte öffentlich, dass er keine Schuldsprüche mehr gegen friedlich Demonstrierende aussprechen werde –, weil es die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) so verlangten. Es gebe ein Mass an Beeinträchtigung, das in einem Rechtsstaat geduldet werden müsse, um die Versammlungs­ und Meinungsäusserungsfreiheit zu gewährleisten. Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt das auch für unbewilligte Kundgebungen.

Diese Äusserungen hatten Folgen für Richter Harris: Sämtliche Dossiers betreffend Klimaaktionen wurden ihm entzogen. Die Staatsanwaltschaft drang beim Zürcher

Obergericht mit einem Ausstandsbegehren durch. Richter Harris sei befangen. Darüber wird das Bundesgericht befinden müssen. Mindestens zwei Beschwerden sind in Lausanne eingetroffen.

Doch zurück zum Lehrer, der zugibt, an der Demo teilgenommen zu haben, um auf die Klimakatastrophe hinzuweisen. Auch er sieht sich genötigt: Das Nichtstun des Staates zwinge auf die Strasse. Es sei ihm bewusst gewesen, was ihm durch den zivilen Ungehorsam blühe: dieser Prozess. Aber Nichthandeln berge mehr Risiken. Unabhängig vom Urteil werde er den Saal als unschuldiger Mensch verlassen, er werde die Sache notfalls bis nach Strassburg tragen.

Sein Verteidiger verweist auf die «Affäre Harris». Die Rechtsprechung des EGMR müsse zwingend beachtet werden. Und: Gleiches sei gleich zu behandeln. Um nichts anderes als diese juristische Selbstverständlichkeit sei es Harris gegangen. Es gehe um Rechtssicherheit, alles andere sei Willkür.

Die Stimmung im voll besetzten Gerichtssaal ist geladen, als der Richter das Urteil verkündet: Schuldig. Für ihn steht fest, dass der Aktivist Verkehrsteilnehmer*innen genötigt hat. Daran ändere auch das «berechtigte Interesse» der Aktion nichts, so der Richter. Die Versammlungsund die Meinungsäusserungsfreiheit gälten nicht schrankenlos. Mit solchen Aktionen würden die Rechte anderer eingeschränkt, einige Verkehrsteilnehmer*innen hätten einen Umweg fahren müssen oder seien im Stau stecken geblieben.

Der Richter verhängt die von der Staatsanwaltschaft verlangte Geldstrafe: 15 Tagessätze à 90 Franken, bedingt, bei einer Probezeit von zwei Jahren. «Trotzdem alles Gute.»

Surprise 546/23 5 ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Vor Gericht
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Ein Stein in Davos

Sport ist für mich wichtig, er gibt mir die Motivation, die ich brauche. Früher war ich selber im Street Soccer Team, heute, weil ich einen kaputten Fuss habe, verfolge ich den Sport eher vom Sofa aus. 2016 war ich an der Street Soccer WM in Glasgow, das war ein wunderbares Erlebnis. Das Training und die Spiele haben mein Verhalten geändert, früher war ich eher laut, was an den Verkaufsorten nicht gerne gesehen wird, danach bin ruhiger geworden. Der Einfluss des sportlichen Erfolgs machte mich stark.

Wenn ich eine schlechte Phase im Verkauf habe, gehe ich in meine Heimat in Davos, an den Davosersee, dort hat es einen bestimmten weisslichen Stein, der für mich eine Bedeutung hat. Da schreibe ich jeweils sechs schlechte Sachen auf, die ich an mir finde, und die sechs Dinge, die ich erreichen will.

Davos hat mir einst das Leben gerettet. Ich hatte Probleme mit dem Atmen, Lungenprobleme. Da bin ich zu meiner Grossmutter nach Davos gereist, sie hat mich schön warm eingepackt und auf den Balkon gesetzt, damit ich die Herbstsonne geniessen konnte. Sie hatte schlechte Beine und konnte eigentlich nicht mehr so gut gehen. Trotzdem sind wir zusammen um den See gegangen, sie mit einem Kinderwagen, an dem sie sich festhalten konnte. So lernte sie langsam wieder gehen, sogar ohne Stock, obwohl die Ärzte ihr gesagt hatten, sie würde nie mehr normal gehen können. Sie lebte im vierten Stock ohne Lift, sie musste einfach die Treppen hinauf und hinunter.

Davos ist für mich immer noch sehr wichtig. Als ich 2020 meinen Fuss operieren lassen musste, war ich nach

dem Spital wohnungslos und lebte im Hotel Dischma, das früher dem Präsidenten des Eishockey-Clubs gehört hatte. Von da aus fuhr ich jeden Tag nach Chur. Fünf Tage vor Ostern fand ich ein Studio in Chur, wo ich jetzt wohne. Wie oft in meinem Leben findet sich irgendwann doch noch eine Lösung. Seit drei Jahren lebe ich nun dort, aber leider wird bald saniert, und ich muss wieder etwas Neues suchen. Das wird wieder eine spannende Sache, denn in meinem Fall ist das nicht so einfach. Doch davon ein nächstes Mal.

RUEDI KÄLIN, 64, verkauft Surprise in Zürich und Chur. Er ist ehemaliger Surprise Stadtführer. Er musste diese Aufgabe aufgeben, weil er wegen Diabetes seinen Fuss fast verloren hat.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 546/23 ILLUSTRATION: ANNALISA ROMPIETTI

Die Erwerbstätigenlücke

Seit geraumer Zeit gehen in der Schweiz mehr Menschen in Rente als junge Erwerbstätige in den Arbeitsmarkt eintreten. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren weiter zuspitzen. So werden dieses Jahr rund 104 000 Personen das Referenzalter der AHV erreichen, in fünf Jahren werden es 130 000 sein, die den Arbeitsmarkt verlassen. Auf der anderen Seite werden dieses Jahr rund 87 000 Personen 20 Jahre alt und gehören so zu den Menschen im erwerbsfähigen Alter. Fünf Jahre später werden es mit einer Kohorte von rund 84 000 etwas weniger junge Erwachsene sein. In der kommenden Dekade werden der Wirtschaft also, konservativ geschätzt, im Schnitt Jahr für Jahr zwischen 30 000 und 50 000 Erwerbstätige fehlen. Schaffen die Unternehmen oder der Staat weiter Stellen, wird die Erwerbstätigenlücke noch grösser.

Verfolgt werden unterschiedliche Strategien, um dieser Schieflage auf dem Arbeitsmarkt zu entkommen. Naheliegend ist, diese Diskrepanz durch die Zuwanderung von Arbeitskräften aufzufangen. Im Moment gelingt es der Schweiz sogar, sehr gut qualifizierte Erwerbstätige aus dem Ausland zu gewinnen. Doch die Frage stellt sich, wie lange dies zu überschaubaren Kosten noch möglich sein wird. Denn praktisch alle Länder, aus denen die Arbeitsmigrant*innen stammen, stecken im gleichen demografischen Dilemma.

Darum versuchen Politik und Wirtschaft, mehr Erwerbsarbeit aus den vorhandenen Arbeitskräften herauszuholen, so etwa durch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Karriere und Betreuung der jüngeren und älteren Familienangehörigen

oder durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Auch dieser Strategie sind jedoch Grenzen gesetzt, es hapert bei der Vereinbarkeit. Die Kita­Plätze sind noch immer für viele zu teuer und die steuerlichen Regelungen bestrafen einen zusätzlichen Verdienst. Zudem wird die Lebensarbeitszeit eher kürzer denn länger, selbst wenn es gelingt, das Rentenalter zu erhöhen, wie dies unlängst für die Frauen in der Schweiz durchgesetzt wurde. Dieser «Gewinn» an Arbeitsjahren wird durch die längeren Ausbildungszeiten überkompensiert.

Ein dritter Weg besteht darin, Asylsuchende sowie anerkannte Geflüchtete als zukünftige Arbeitskräfte wahrzunehmen. Die Integrationsagenda des Bundes weist den Weg. Bis sich diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt entfalten können, dauert es allerdings noch ein paar Jahre. Schneller könnte es gehen, wenn der Status S, der für die Geflüchteten aus der Ukraine aktiviert wurde, auf alle Betroffenen ausgedehnt würde. So wäre die Aufnahme einer Erwerbsarbeit sofort möglich.

Schliesslich zeichnet sich eine vierte Strategievariante ab, die dank der fortschreitenden Digitalisierung immer weitere Kreise zieht. Wir alle werden zu «Prosument*innen» umfunktioniert. Wer von Firmen oder vom Staat eine Dienstleistung konsumieren will, muss diese selbst produzieren – unbezahlt. Man denke an das Frühstücksbuffet zur Selbstbedienung, den elektronischen Antrag auf Prämienverbilligung, die unbediente Tankstelle oder an das Selbststudium an den Hochschulen.

Surprise 546/23 7 Ausländer*innen Schweizer*innen 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 1999 1998 1997 1996 1966 1965 1964 1963 1962 1961 1960 1959 1958 1957 84 474 84 176 84 331 83 997 86 278 86 834 92 891 94 066 97 108 100 703 104 710 133 705 133 489 134 641 129 595 123 899 118 077 113 870 109 494 104 259 100 634
Jahrgang INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BFS (2023) : BEVÖLKERUNGSSTATISTIK Die Sozialzahl
Anzahl Personen
Die Gesamtzahl der Personen in der Schweiz nach Jahrgang. Stand 31.12.21 PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Die Strassen von Nora

Obdachlosigkeit Ich habe eine Schwester. Die Strassen haben sie verschluckt, sind ihr eine neue Heimat geworden. Und ich habe nichts tun können.

TEXT ANONYM (NAME DER REDAKTION BEKANNT) ILLUSTRATIONEN PRISKA WENGER

Als Nora noch jung war, sind ihre Augen oft in die Ferne geschweift. Sie war eine Träumerin. Mein Träumerlein. Wir Schwestern taten vieles zusammen. Herrlich war das, diese Leichtigkeit. Ein grosses Haus, ein riesiger Garten. Wir einander nah und vertraut. Und das Leben noch frisch zu entdecken, einer weissen Leinwand gleich.

Ihre Haare waren aus weichem Goldgelb, sie fielen wie weiche Sanddünen über ihren magischen, oft zerstreuten Ausdruck im Gesicht, ihre grünen Augen – Smaragde ferner Geheimnisse, funkelnd. Ihre Stimme verschwand in den Räumen, war leise, schüchtern, zaghaft.

Wir erfanden als Kinder gemeinsam Geschichten, bewegten uns in eigenen Welten. Wo Steine sprechen konnten und gleichzeitig Häuser waren. Wo wir spielten, wir seien Rentner, die Beeren pflückten und dabei lustig über die Welt herumpolterten. Wir verstellten dann unsere Stimmen in die Tiefe. In diesen Welten gab es Aufgaben, bei denen man weit hüpfen musste oder tief tauchen können. Und ich liebte Nora, wie ich sie noch heute liebe. Unsere Fantasie war immer mit Humor durchtränkt. Wir lachten viel.

Manchmal lachte ich sie auch aus. Wenn sie sich nicht traute zu telefonieren, oder wenn sie mich fragte, wie man denn eine SMS schriebe. Für mich ging das alles einfach so, ganz ohne zu überlegen. Nora konnte Stunden darüber sinnieren, warum jemand so und nicht anders reagiert hatte. Oder warum eine Person nicht wie erwartet gegrüsst hatte. Sogar, warum die andere Person einen roten Pulli anhatte – immer wenn sie diese traf. Das konnte doch kein Zufall sein!

Überall in allen Ecken lauerten Details mit Bedeutungen, Verheissungen – Gefahren? Alles hatte in irgendeiner Weise immer auch mit ihr selbst zu tun. Diese zauberhafte Welt schien ihr überallhin zu folgen, sie zu beschützen oder zu ängstigen. Erst viel später realisierte ich, dass diese Dinge und Welten, die Interaktionen und die Träume in Noras Kindheit einen so anderen Anstrich gehabt hatten.

Ungeschützt im Erwachsenendasein

Das Leben holte Nora ein. Allzu bald, allzu hart. Sie fiel aus ihrer Zauberwelt in die Kälte einer für sie wenig greifbaren Realität. Die Lehre. Die Weiterbildung. Das Studium. Es prasselten so viele Eindrücke wie nie zuvor unkontrolliert auf ihre heile Insel des Aufwachsens und machten sich dort breit. Sie schwamm noch eine Weile in einer düsteren Suppe von Reizüberflutung. Bis es zu viel war. Die Fantasie fing an, Grenzen zu überschreiten. Fing an, fremde Farben in ihren Alltag zu malen. Das schon beengende Klopfen ihres Herzens zu befeuern. Zwei Jobs, ein Freund, ein Studium. Alles zu viel. Wo waren die Felsen der Kindheit, des Gehaltenseins, wo war der Sinn der Wunderwelten geblieben?

Ich begleitete meine Schwester, meine Schwester begleitete mich. Wir gaben uns gegenseitig Halt im Nichtverstehen der Welt. Fragten gegenseitig nach dem Sinn, dem Sinn von allem. Wir spielten Klavier. Sie spielte den Rhythmus und überliess mir die Melodie. Ich sang schräg, wie ein Spatz, der Nachtigall spielt. Es klang wohl wunderlich. Immer weniger konnte Nora anderen Menschen begeg­

nen. Jeder Kontakt wurde allmählich zur Qual. Bis sie schliesslich ganz allein in ihrem Zimmer hockte. Die Jobs hatte sie aufgegeben, den Freund verlassen, das Studium pausiert. Zurückflüchtend in Welten, die nicht mehr waren. Die nie mehr kämen. Was kam, waren Melancholie, Trauer, Depression. Jeder Schritt wog Tonnen. Das Aufstehen verschob sich in den Nachmittag hinein. Das Essen schmeckte für sie wie Plastik. Die Guetzli verloren ihre Schokoladennote. Am Klavier sass sie noch und spielte mal den Marsch der Zwerge, mal den Trauermarsch. Ich wohnte damals im gleichen Haus, wo wir aufgewachsen waren, und hörte die Töne wie einen dunklen Schauer durch die Wände fahren. Die Klänge weckten die Geister in ihr. Sie schrien die Ungerechtigkeit, die sie angesichts ihres inneren Wandels empfand, in die Leere, in die Stille. Später zog sich Nora Kopfhörer an, um zu spielen und so alles ganz nach innen zu ziehen. Ihren letzten Ausdruck der Welt zu entziehen.

Unsere Eltern wussten nicht so recht, was tun. Nora wollte sich nicht freiwillig helfen lassen. Sie machte unser christliches Aufwachsen verantwortlich für ihren Zustand. Und wenn eine erwachsene Person sich nicht selbst verletzt und auch andere nicht gefährdet – dann, sagt das Gesetz, kann man nichts tun. Und so taten meine Eltern nichts, weil das Gesetz es so wollte. Auch ich tat nichts, weil ich etwas anderes nie gelernt hatte. Aber ich fing an, wie Nora in mich hineinzuschreien.

Nora schloss alles aus. Die letzten Besuche waren meine. Sie lehnte alles ab, sie verfluchte die Eltern, mich, unsere anderen Geschwister. Ich sah, wie sie litt. Ich litt mit. Doch ich hatte nie gelernt zu handeln. Dann kam die Beerdigung einer ihrer Freundinnen. Sie sagte mir, es sei ihre letzte Freundin gewesen. Alle Kontakte waren verpackt in irgendeine schwere Wolke in einer ihrer Welten, die nun anstelle der echten immer mehr Macht gewannen. Sie überrumpelten sie. Sagten ihr, da gebe es Böses. Es wolle ihr an Hals und Kragen. Nach dem Leben trachten. Es sog sie ein, zerkaute sie. Ihre Haare zerzaust, fettig. Ihre Pupillen fahrig, die Weiten rufend.

Dann ass Nora nichts mehr. Sie vergass mehr und mehr, das Leben zu fühlen, wahrzunehmen. Sie hatte aufgegeben. Sollte doch kommen, was komme … Ein Krankenwagen kam. Ich hatte ihn gerufen. Immerhin: In dieser Verzweiflung rief ich nach Hilfe. Ich rief für mich und ich rief für Nora und ich schrie für meine ganze Familie. Der Krankenwagen trug sie zur Endstation – so fühlte ich – der Psychiatrie Königsfelden in Windisch. Ein Jahr hatte Nora daheim gekämpft. Sie hinterliess ein grosses Loch in einem moderigen Zimmer, in welchem sie gehaust, gehasst, geweint und geschrien hatte.

Ich rief in der Klinik an. «Die Ärzte sind alles böse Menschen», warnte sie mich. Doch sie kämpfte nicht mehr. Medikamentenvoll aufgedunsen traf ich sie einige Monate später wieder. Menschenunwürdig. Dahindarbend.

«Ich musste das hier nähen», sagte sie zu mir und zeigte auf ein Schiff, aufgestickt auf ihrem T­Shirt. Das war nach ihrem Aufenthalt. Sie sass, bodenlos, in ihrer neuen Wohnung. Am Ende der Schweiz, an der Grenze zu Liechtenstein. Als wäre ihr die Flucht gelungen. Aber nur

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fast. Da fand ich sie. Verstört, ängstlich, misstrauisch. Und ich hatte noch immer nicht gelernt zu handeln und sie am Arm hochzuziehen. Nach oben, wo es ihr wieder besser ginge. Und wie sähe es da eigentlich aus, da oben? Und wie kann man jemandem helfen, die niemandem vertraut? Ich besuchte sie wenig.

Dann schlug das Schicksal nochmal fester zu. Nora hatte ihre Medikamente selbst abgesetzt. Wurde beurlaubt auf der Arbeit, die sie erst gerade angefangen hatte. Krankheitshalber. Sie erzählte mir, sie sei mit dem Velo von zuhause bis nach Zürich gefahren. Sie wisse nicht, wie sie so schnell hatte fahren können, das sei doch nicht normal. Immer wieder lachte sie, unheimlich. Und dort in Zürich gebe es Menschen auf der Strasse, die noch nett seien. Zum ersten Mal habe sie erfahren, dass sie sich im Sozialen, im Zusammensein aufgehoben fühlte. Sie würde auch gerne auf der Strasse leben.

«Die Medikamente zerstören das Gehirn»

Nora schnitt ihre Haare. Ihr Gesicht war noch immer so unglaublich schön. Die Augen tiefgrün und wirr. Ihr Körper verstellt von den inneren Strapazen. Sie wollte weit weg sein. War in immer wiederkehrenden Denkkreiseln gefangen. Ich versuchte da hineinzukommen. Es drehte in meinem Kopf weiter. Den Magen drehte es auch. Wenn ich, lange auf sie einredend, versuchte, sie davon zu überzeugen, dass es sich zu leben lohne, und ihr die Schönwetterseiten predigte, kam sie mit vehementer Stimme zurück auf ihre ursprünglichen, grauen Aussagen. Immer wieder und immer wieder.

Ein anderes Mal, als ich sie besuchte, sagte sie: «Ich will nach Israel reisen, nach Golgatha und dort in alle Ecken pissen, als Rebellion gegen dieses blöde Christentum. Mich aus der Schweiz abmelden. Ich hätte einen Therapieplatz, aber wenn ich die Medikamente nicht nehme, dann kann ich nicht in diese Institution. Aber die Medikamente zerstören das Gehirn.» Sie ergänzte schleppend: «Ich spüre, wie es kocht. Meine Gedanken kochen. Alle Ärzte sind böse. Alle. Alle.» Die Worte hallten nach im gleichgültigen Weiss der Wände ihrer Zweizimmerwohnung.

Ich liess Nora ziehen. Nach Israel. Und mit ihrer Abreise kroch die Ohnmacht zurück. «Pass auf dich auf. Willst du wirklich fliegen?», hatte ich noch gesagt. «Ich will ihr alle Freiheiten geben. Ich will sehen, dass sie lebt und sich freut und dass ihre Tränen Freudentränen sind. Nicht diese bitteren Tropfen, rasend über ihre Wangen. Ich will Nora. Ich will meine Schwester zurück», schrie es in mein Inneres hinein.

Sie flog nach Israel. Oder auch nicht. Darüber weiss ich nicht viel. Später erzählte sie mir, sie sei im Ausland gewesen. Dort habe sie eine ältere Frau überfallen. Sie sei jetzt kriminell.

Nora kam noch einige Male ins Haus ihrer anderen Schwester. Die war mittlerweile verheiratet, stand fest im Leben. Sie wollte auch keine Hilfe von ihr annehmen. «Ich lebe jetzt auf der Strasse und das ist jetzt mein Lifestyle», soll sie gesagt haben. Sie bestrafte uns alle, band unsere Hände, die helfen wollten. Aber da sei noch etwas in ihrem Blick gewesen. War es Schalk, war da doch noch ein

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«Wann kommst du zu mir wohnen?», fragte ich sie und wusste schon, es ist aussichtslos.
NORAS SCHWESTER

kleines Leuchten von Rebellion, Sturheit und Eigenheit geblieben? Abends zog sie immer wieder ab, blieb nie über Nacht. Für uns, ihre Familie, gab es kein Zwingen, es gab nur Ohnmacht. Schon wieder diese Ohnmacht, die uns mit dem Glauben in die Wiege gelegt worden war. Und wenn es kalt war, schauderte uns die Kälte im Wissen um diejenige auf Noras Strassen. Sie erfasste unsere Körper, rieb unsere Gedanken noch lange mit kaltem Schnee ein.

Einmal traf ich Nora in Zürich, als ich auf dem Weg zur Arbeit auf mein Tram wartete. Sie lag an der Haltestelle am Bahnhofquai. Auf einer Isomatte, eingepackt in alles Mögliche und doch frierend. So lag sie, dass sie jeder sehen konnte. Mein Herz tat einen Sprung. Ich hockte mich hin und berührte den Boden. «Wann kommst du zu mir wohnen?», fragte ich sie und wusste schon, es ist aussichtslos. Ich hoffte insgeheim, dass sie nicht kommen möchte. Und schämte mich dafür. Aber nie schämte ich mich für sie. Sie lag neben mir, während ich in der Hocke

sass, und war meine Schwester Nora. Und ich liebte sie, wie ich sie immer schon geliebt hatte.

Von da unten aus drehte sich der Winkel meines Blickes und ich war wieder klein. Klein in dieser grossen Stadt der hohen reichen Türme. Von herzlosen nach den Wolken kratzenden Fingern aus Grau, die dort oben wohl im Himmel des Erfolges auch das Glück zu finden hofften. Und wir waren klein und naiv und standen der Welt bettelnd gegenüber und hofften so sehr, sie würde uns für einmal Liebe schenken.

Ich müsse zur Arbeit, sagte ich. «Ich hoffe, du magst dich melden», hauchte ich hilflos und wusste, sie würde es nicht tun. Ich liess ihr meine Mütze da.

Funkstille. Nora liess uns zappeln. Drei Monate warteten wir – innen hoffend, aussen frierend. Dann ein Anruf aus Spanien. Barcelona. Man habe sie verwahrlost auf der Strasse aufgelesen. Aufgelesen, als wäre sie eine überreife Frucht.

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Auf den Tellern am Nebentisch werden Kalbfleischvögel, Polenta und Ofentomaten zerschnitten (16 Franken, halbe Portion 12.50) und Gnocchi mit Gorgonzolasauce, Romanesco oder Pastinaken auf die Gabel geladen (14 und 11 Franken). Gianni R. zerknüllt die Plastikverpackung, auf der ein rotes «50 %» klebt, und beisst vom Sandwich ab. Rushhour im Restaurant eines Altersheims, wo auch Angestellte aus den nahen Büros und Logistiklagern ihre Mittagspause verbringen. Das Sandwich hat er am Abend zuvor im Migrolino gekauft (3.50 statt 7 Franken). Wenn er Lust auf etwas Warmes habe, sagt er, esse er manchmal ein Menü. Einfach nicht jeden Tag.

Im Wohnzimmer von Tashi und Sonam T. düst der zweieinhalbjährige Kelsang zum Altar und will zugreifen. Schalen mit

Datteln, Mandeln und Rosinen. «Erst morgen», stoppt ihn seine Mutter, am nächsten Tag steht das tibetische Neujahr Losar an. Dann geht sie in die Küche und nimmt ein Viererpack Fruchtjoghurt aus dem Kühlschrank, ein Doppelpack Naturjoghurt, ein Glas Pesto, zeigt im Gemüsefach einen Blumenkohl und Karotten. All das hat sie vor dem Mittag im Quartierzentrum Gäbelbach geholt, einer von vier Orten, wo Tischlein deck dich in der Stadt Bern Lebensmittel abgibt. «Und die Butter», sie hält ein Glas in die Höhe, «habe ich selbst gemacht, aus Joghurt von der Abgabestelle.»

Der Mann im Altersheim-Restaurant würde am liebsten nicht mehr um Hilfe fragen. Das Paar mit Kind wäre froh, wenn es öfter als einmal pro Woche zur Lebensmittelabgabe könnte. Sie möchten anonym

bleiben und heissen in Wirklichkeit anders. Gianni R., 46, aus Burgdorf und Tashi, 43, und Sonam T., 45, aus Bern verdienen nicht genug Geld, um sich ohne die Unterstützung anderer ernähren zu können. Manchmal bekommen sie Migros-Gutscheine, von der Heilsarmee oder der Sans-Papiers-Beratungsstelle, und werden unterstützt von der Caritas oder der Kirche. Was in der Schweiz für viele selbstverständlich ist, ist für sie unvorstellbar: Einkaufen, ohne den Preis auf 10 Rappen genau zu studieren.

Am Abend vorher habe er Fünf-EierTeigwaren gekocht, erzählt Gianni am Tisch zwischen Sandwich-Bissen. Sie waren zusammen mit Reis, Zucker oder Knoblauch in einer Einkaufstasche, die er von der Heilsarmee erhalten hatte. Damit

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konnte er knapp eine Woche überbrücken. Bei der Heilsarmee hatte er sich Anfang Februar gemeldet, weil sein Budget im Januar noch knapper als normalerweise war. Zahnarzt- und weitere Rechnungen waren fällig. Und das Leben wurde teurer.

Montags bis mittwochs arbeitet Gianni, gelernter Bäcker-Konditor, im Lager einer Logistikfirma. Diese zahlt ihm 2200 Franken aus, einen Teuerungsausgleich erhält er nicht. Freitag und Samstag arbeitet er als Hauswart und kommt so insgesamt auf 2500 Franken. Sind die Fixkosten gedeckt – neben Miete, Krankenkasse und Steuern auch Rückzahlungen von Schulden –, bleiben ihm 400 bis 500 Franken. Davon, er überlegt kurz, gibt er 150 bis 200 Franken für Essen aus. 5 bis knapp 7 Franken am Tag.

Tashi würde gerne arbeiten, erzählt sie am Esstisch im Wohnzimmer, doch ohne geregelten Aufenthaltsstatus und damit ohne Arbeitsbewilligung ist ihr das Risiko, entdeckt und ausgewiesen zu werden, zu hoch. Nothilfe von 300 Franken bekommt sie keine. Sonam, der eine Aufenthaltsbewilligung B hat, arbeitet 90 Prozent als Pflegehelfer in einem Spital und verdient netto knapp 3700 Franken, plus die Kin-

derzulage von 230 Franken. Frei verfügen kann die Familie über 800 Franken. Für Essen, sagt Sonam, geben sie 500 bis 600 Franken aus.

Wo ist es am günstigsten?

Ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt, berechnete das Bundesamt für Statistik, hatte 2020 ein Einkommen von 6789 Franken und gab für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke 641 Franken aus. Das Fünftel der Bevölkerung mit weniger als 4530 Franken Einkommen gab dafür deutlich weniger aus, nämlich nur 409 Franken. Das entspricht aber 13,1 Prozent ihres Einkommens, beim Durchschnitt sind es nur 6,6 Prozent.

«Er», Tashi blickt zu ihrem Mann, der Kelsang gerade eine Banane öffnet, «greift beim Einkaufen zu, ohne sich zu achten. Dann ist spätestens am 20. des Monats kein Geld mehr da.» Sonam muss lachen, ja, sie habe recht. «Wenn Tashi Tomaten einkaufen geht», sagt er, «und die Aktion eines Produkts entdeckt, das wir bald brauchen werden, kauft sie es.» Sie geht nicht in einen Laden. Sie geht in die Migros, den Coop, Lidl, Aldi, Denner, Alima, in asiatische Läden, in die Landi, in den Cari -

tas-Markt und vergleicht: Was ist wo am günstigsten? «Ich kann mir Zeit nehmen, ich muss ja nicht zur Arbeit», sagt Tashi.

Am Donnerstag gibt es im Coop oft Ein-Franken-Angebote, am Montag in der Migros. Ein Kilo Zitronen für 1 Franken, 500 Gramm Bohnen für 1.95 statt 2.95 Franken. Fünf Kilo Ruchmehl aus der Landi für 6.95 Franken. Das günstige Rindfleisch von Alima oder das M-Budget-Poulet. Nur für Kelsang kaufen sie «besseres Fleisch», sagt Sonam. Öl sowie Waschmittel, Shampoo oder Seife lässt sich Tashi von einer Basler Freundin mitbringen, wenn diese Einkäufe in Deutschland macht.

Mindestens einmal pro Woche, sagt Gianni, mache er einen «guten Einkauf», der für mehrere Tage reicht. Brot, Milch, Salat, Eier. Auch mal zwei, drei Äpfel oder Bananen. Manchmal bäckt er eine Zwetschgenwähe. Fertiggerichte kauft er dann, «wenn ich nicht gross kochen will». Spaghetti mit Sauce von Aldi für 2.79 Franken, eine Tiefkühlpizza für 4 Franken. Oder ein Thai-Curry aus dem Denner für 4.50 Franken. Lebensmittel zu kaufen, die über das reine Grundbedürfnis hinausgingen, sagt Gianni, läge nicht drin.

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ILLUSTRATIONEN: BODARA

Lieber als über Essen und Geld spricht er über Musik, über Rock und Old School HipHop, über Vasco Rossi, Gianna Nannini oder Litfiba. Er spielt Gitarre und schreibt Songtexte, meistens ernste, manchmal humorvolle. «Zytumstellig», heisst einer. «Verwirrig». «Wie chani glücklecher wärde?»

Gemüse bekommt der zweite Mani Matter, wie seine Freund*innen ihn nennen, aus dem eigenen Garten, den er mit einem Freund gemeinsam bewirtschaftet. Bald wird er wieder die Erde lockern, pflanzen, wässern, Unkraut jäten und schliesslich ernten. Salat, Lauch, Kohlrabi, Fenchel, Erdbeerminze, Basilikum, Thymian. Mehr, als er essen kann. Und so verschenkt er Gemüse an Freund*innen und Bekannte. Manche geben ihm Trinkgeld; schliesslich, sagen sie, stecke Arbeit drin.

Früher habe er, sagt Gianni, mit Freund*innen ab und an in einem Restaurant gegessen. Heute holt er sich manchmal einen Kebab oder geht in den McDonald’s. Sonam und Tashi waren vor sechs Jahren einmal im Boky, einem chinesischen Restaurant, das inzwischen geschlossen hat. Ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt gibt im Monat 285 Franken in Restaurants, Cafés, Bars, Take-aways und Kantinen aus.

Kein Geld, keine Wahl Wie sozioökonomischer Status und Ernährung strukturell zusammenhängen, dazu gibt es in der Schweiz kaum Forschung. In Deutschland ist von «Ernährungsarmut» die Rede, wenn mangelndes Geld zu einer unausgewogenen und damit ungesunden Ernährung führt. Sowie zu

TOP DEALS

sozialem Ausschluss, wenn das Geld fehlt, um Freund*innen zum Essen einladen oder ein Restaurant besuchen zu können. Haushalte, die mit wenig Geld auskommen müssen, schreibt die Heinrich-Böll-Stiftung 2021 in einer Analyse, kauften häufig weniger oder qualitativ schlechtere Lebensmittel ein. Gemäss Studien ist die Vielfalt von Lebensmitteln in armen Haushalten deutlich geringer, und günstige, sättigende Lebensmittel würden gegenüber Gemüse und Früchten bevorzugt.

Kelsang, nun mit einem Apfel in den Händen – «Seine vierte Frucht heute!», sagt Sonam –, bekommt neuerdings von einer Freundin der Familie Früchte geschenkt. «Wenn ich die Früchte selbst kaufen müsste, hätte ich nichts mehr übrig für Unvorhergesehenes», sagt Tashi. «Heute, am 20., liegen noch 70 Franken auf Sonams Konto, das muss bis zum 25. reichen.»

Tashi ist eine von 31 400 Menschen, die bei 149 Abgabestellen und 3700 Freiwilligen von Tischlein deck dich gratis Lebensmittel abholen. Diese bezieht Tischlein deck dich von rund 1000 Produktspender*innen aus Landwirtschaft, Industrie, Gross- und Detailhandel. Und darauf sind immer mehr Menschen angewiesen. 2022 verteilte der 1999 gegründete, rein spendenfinanzierte Verein fast 16 Prozent mehr Lebensmittel als 2021. Auch die 22 Caritas-Märkte – wo Menschen, die am oder unter dem Existenzminimum leben, Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beziehen oder eine Schuldensanierung machen, Lebensmittel vergünstigt kaufen können – spürten 2022 eine höhere Nachfrage, vor allem von Geflüchteten, Working Poor und älteren Menschen, der Umsatz stieg schweizweit um 22 Prozent. Und für die 2001 gegründete Schweizer Tafel war 2022 ein weiteres Rekordjahr. Seit der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und nun mit der Inflation ist die Nachfrage konstant 20 Prozent höher. Im vergangenen Jahr verteilte die Tafel 23 Prozent mehr Lebensmittel als 2021 an Gassenküchen, Notunterkünfte, Frauenhäuser, Obdachloseninstitutionen oder an Lebensmittelabgabestellen.

DauerhaftgesenktDauerhaftgesenkt

Solche Lebensmittelspenden kritisiert der deutsche Soziologe Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen als ambivalent. Spenden würden zwar kurzfristig helfen, um die Daseinsgrundlage der Betroffenen mit Nahrungsmitteln zu decken, sagt er im Interview mit dem Nürnberger Strassenmagazin «Strassenkreuzer». Struktu-

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rell ändere sich an der Armut aber nichts. Durch die «Armutsökonomie», wie Selke die Strukturen hinter den Lebensmittelabgabestellen nennt, sinke der Handlungsdruck des Staats; Armut werde nicht nachhaltig bekämpft. «Seit 30 Jahren sehen wir, dass Armut gar nicht so schlimm ist, weil es schliesslich die Tafeln gibt. Armut wird dadurch entskandalisiert und normalisiert», so Selke. Soziale Gerechtigkeit aus seiner Sicht würde bedeuten, selbstbestimmt konsumieren zu können.

Man könne die Armut zwar nicht bekämpfen, sie aber immerhin lindern. So tönt es bei Tischlein deck dich, der Schweizer Tafel wie auch bei Essen für Alle. Essen für Alle wurde während des Lockdowns im Frühling 2020 gegründet und verteilt samstags in Zürich und Schwyz Lebensmittel an 5000 Menschen. Gina Livnat vom Verein sagt: «Durch unsere Arbeit wird ein politisches Problem sichtbar.» Sabrina Munz von der Schweizer Tafel sagt: «Nichts tun und warten, ob der Staat reagiert, ist auch keine Lösung.» Tischlein deck dich, sagt Mina Dello Buono vom Verein, sei nicht primär aus dem Gedanken der Armutsbekämpfung entstanden, sondern aus der Idee, Lebensmittelabfälle zu vermeiden.

Recht auf Nahrung in Genf

Die Schweizer Ernährungsstrategie 2017–2024, die beim Innendepartement von Bundesrat Alain Berset (SP) angesiedelt ist, hat zum Ziel, dass alle Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status «in eigener Verantwortung einen gesunden Lebensstil pflegen» können. Wie soll ermöglicht werden, dass Menschen mit wenig Geld autonom entscheiden können, was sie einkaufen und essen wollen? Doris Schneeberger vom zuständigen Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen verweist auf eine Untersuchung von 2014 der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften in Zollikofen. Gemäss dieser ist eine ausgewogene und gesunde Ernährung zwar geringfügig teurer, doch auch mit kleinem Budget möglich (noch günstiger, halten die Autoren fest, wäre eine sehr unausgewogene Ernährung mit viel Teigwaren und Reis).

Projekte wie «GGGessen – gesund und günstig essen», «MigrantInnen leben gesund durch ausgewogene Ernährung und Bewegung» oder «Ernährung 60+» sollen, so Schneeberger, «die Ernährungskompetenzen der Bevölkerung» stärken. Im Kanton Genf will der Grand Conseil das Recht

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auf Nahrung in die Verfassung schreiben. Jeder Mensch soll vor Hunger geschützt sein und das Recht auf eine angemessene, also ausreichende und qualitativ gute Ernährung haben. Alle sollen Nahrung mit eigenen Mitteln und in Würde erhalten können. Wie Wohnen, Gesundheit oder Bildung, argumentieren die Initiant*innen von SP, Ensemble à Gauche, der Mitte und den Grünen, sollte auch die Ernährung im Zentrum öffentlichen Handelns stehen. Am 18. Juni wird die Bevölkerung darüber abstimmen.

Damit sie Ende des Monats genug zu essen haben, sagt Tashi, müsse sie gut rechnen und dürfe den Überblick nicht verlieren. Und meistens flattere auch noch eine Rechnung herein. Dann ruft Sonam Freund*innen an und fragt, ob sie ihnen 200 Franken leihen könnten.

Es gebe Tage, sagt Gianni R., und das passiere oft, da habe er nichts mehr zu essen und warte auf den Lohn. Einfach nichts essen, das möchte er nicht. Fasten würde seinem Körper nicht guttun. Er melde sich dann, so ungern er das tue, bei seiner Mutter oder bei Freunden. Die Schulden durch das geliehene Geld arbeitet er in der Freizeit ab, in der Hauswartung oder im Gartenbau der Freunde. «Ich habe mehrere Optionen, aber es ist ein Kampf.»

Wenn er wieder in eine Notsituation geraten sollte, habe es bei der Heilsarmee geheissen, solle er einfach kommen. «Wenn es nicht anders geht.» Zunächst will er seine Stunden als Hauswart erhöhen. Dann wäre sein Lohn ein wenig höher. Bevor er zurück zur Arbeit muss, sagt er: «Wir leben in der Schweiz, hier muss niemand verhungern, ich weiss.»

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Arme Lotti

Am Rand Geht Liselotte Krähenbühl auf den Strassen Berns betteln, macht sie sich klein und unscheinbar. Und doch sieht sie jede*r.

TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS

Lotti schlurft.

Lotti kaut im Leeren, wenn sie ihren Kiefer auf und ab bewegt, sie spitzt ihre Lippen, wenn sie am Tee nippt im Migros Restaurant an windigen Tagen.

Lotti geht von Kübel zu Kübel, sie kennt jeden, jeden.

Lotti sagt: «Spricht mich wer an, spiele ich die Verwirrte, die Dumme, die Alte, dann haben sie Mitleid und stecken mir ein paar Franken zu.»

Lotti sagt: «Ich bettle nicht.»

Lotti blickt finster, dabei sind es bloss ihre alten Augen, die nicht mehr wollen, verschwommen sind die Gesichter in der Ferne, verschwommen die Buchstaben ganz nah.

Lotti ist, wenn wundert das, oft allein.

Noch nie hat Lotti einen Schnaps probiert, nur Bier; «wie bitter dieses Gesöff doch ist!», sagt sie.

Lotti hat ein Portemonnaie aus buntem Stoff und mit einem goldfarbenen Metallverschluss.

Lotti mag keine Plastiktaschen; «sind sie verknittert, sehen sie aus wie bei einem Drögeler», sagt sie.

Lotti würde Lose rubbeln den ganzen Tag, hätte sie das Geld dafür; manchmal schaut sie anderen dabei zu und fiebert mit.

Lotti streicht beim Zeitungslesen mit ihrem fleckigen Zeigefinger den Zeilen entlang.

Lotti hat ein Handy ohne Abonnement.

Lotti sagt von sich: «Ich habe nicht viel, ich trage leichtes Gepäck.» Und sie schmunzelt dabei, amüsiert sich.

Immer im Herbst entfusselt Lotti ihre Winterkleider. Den alten, grauen Mantel mit den beiden Innentaschen, den mag sie sehr.

Lotti hat kurze, melierte Haare und ein kantiges Gesicht wie von einem knorrigen Männlein, und sie trägt braune Hosen und Blusen und dazu ihren grauen Mantel.

Lotti ist circa 1,65 Meter gross.

Lotti, wohnhaft in CH-3018 Bümpliz, lebt in einer 1,5-Zimmer-Wohnung, Sozialsiedlung, eng und lärmig ist es dort.

Lotti fährt mit dem Zug oder dem Postauto nur, wenn es sein muss, denn es läppert sich: Bern–Düdingen Dorf: 6.00 Fr.; Bern–Meikirch Käserei: 3.70; Bern–Schwarzenburg: 5.80.

Lotti heisst eigentlich Liselotte, ihr gefiele aber besser: Charlotte.

Lotti sagt: «Wie besessen schaue ich auf Preisschilder, schiele auf Aktionen, rechne den ganzen Tag rauf und runter, denke in Franken und Rappen, so ein Leben auch!»

Lotti sagt: «Ich hatte auch gute Zeiten, was denken Sie denn. Aber ich habe kein gutes Alter.»

Lottis liebstes Buch heisst: «Wer stirbt schon gerne unter Palmen», Teil 1 + 2, von Heinz G. Konsalik, erschienen im Hestia Verlag, Bayreuth 1972. (Es geht darin um Schiffbrüchige, die von einem Albatros gerettet werden.)

Lotti sagt: «Arm sein ist anstrengend.»

Liselotte Krähenbühl war nicht immer arm. Sie wuchs in Thun auf, behütet, ging dort zur Schule, machte eine Lehre bei der Post, hatte eine volle Stelle, ein gutes Gehalt, sie lernte Toni kennen, Schreiner, mit 23 wurde sie zum ersten Mal schwanger, insgesamt waren es drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter. Als der Jüngste in die Primarschule kam, begann Liselotte Krähenbühl wieder Teilzeit zu arbeiten, zuerst in einem Büro, später im Verkauf. Das fühlte sich gut an. Dann machte sich Toni, inzwischen Schreinermeister, mit einer anderen auf. Und Liselotte Krähenbühl, gerade vierzig geworden, stand mit den Kindern da. «Eine harte Zeit, ich musste rund um die Uhr arbeiten, auf einen grünen Zweig kam ich trotzdem nie», erinnert sich Liselotte Krähenbühl. Jahre später plagte sie eine Diskushernie, sie biss die Zähne zusammen und ging eine Weile krumm,

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300 000 Menschen
im Pensionsalter sind in der Schweiz mit ihren 8,8 Millionen Einwohner*innen von Armut bedroht.

Am Rand

Die Geschichte über Liselotte «Lotti» Krähenbühl ist Teil des neuen Buches von SurpriseRedaktor Klaus Petrus mit Fotografien und Texten von Menschen «am Rand» der Gesellschaft von Getriebenen, Eigensinnigen, Abgehängten und Unsichtbaren. Es ist im Buchhandel oder direkt beim Christoph Merian Verlag erhältlich: merianverlag.ch.

Klaus Petrus: Am Rand. Reportagen und Porträts. Christoph Merian Verlag 2023, CHF 29.-

aber dann musste sie sich operieren lassen, konnte wochenlang nicht arbeiten. Auf die Schmerzen folgten die Existenzängste. Erst schleichend, später im Galopp. Und Liselotte Krähenbühl kam der Gedanke: «Heute arm, immer arm!» Doch sie rappelte sich auf. Es reichte für fast nichts, aber es reichte. Bis zu ihrem 55. Geburtstag. Beim Fest am Thunersee, alle waren da, Familie und Freunde, ein froher Tag, riss sie, wie aus dem Nichts, ein Irgendetwas in ein russschwarzes Loch. Von da an ging alles in die Brüche, aber richtig.

Und Lotti weiss: Wer eingeladen wird, muss selber einladen, irgendwann. Doch dazu fehlt ihr das Geld. Und ein Zuhause, das sich zeigen lässt.

Lotti geht nie an die Seniorentreffs im Quartier zu Klatsch und Kuchen, was soll sie denn da bloss reden?

Lotti sagt zu ihren Kindern: «Alles gut, sorgt euch nicht!» (Und zu mir: «Die meinen sowieso, im Alter sei man am liebsten daheim, schaue fern oder löse Rätsel, so ein Blödsinn auch.»)

Lotti sagt: «Schreiben Sie bloss nicht ‹arms Lotti›, schreiben Sie ‹arme Lotti›.»

Lotti möchte Sex; Sex, nicht kuscheln.

Manchmal sagt eine Bekannte zu Lotti: «Mach mit uns einen Ausflug nach Kandersteg, Liselotte» oder auch: «Wollen wir käffelen?». Dann hat sie für alles eine Ausrede parat: wieder einmal zu Besuch beim Sohn im Aargauischen, ein Arzttermin («nein, nein, nichts Ernstes»), mit den Enkeln in den Tierpark, zum Coiffeur, Nachbars Katzen hüten, fünf an der Zahl angeblich.

Lotti, Jahrgang 1952, ist Widder und Aszendent Waage; sie hat den Sinn fürs Schöne, sagen die Sterne.

Niemals geht Lotti schnurstracks auf die Mülleimer zu, sie umkreist sie, schleicht sich an sie heran, als wären

Jede siebte Person über 65 Jahre unterschreitet die Armutsgrenze von monatlich

CHF 2500 CHF 2279

Sie haben ein monatliches Einkommen von

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die Kübel ihre Beute und sie das Raubtier, blitzschnell und brandgefährlich.

Lotti geht ins Brockenhaus und tut so, als brauche sie nichts und als hätte sie von diesem genug und von anderem gar zu viel.

In der Stadt macht sich Lotti unsichtbar, sie kennt Wege und Orte, die es gar nicht gibt; dort steht sie still von Zeit zu Zeit, holt Atem, dann schwebt sie von neuem davon.

Lotti macht sich Notizen, wenn sie einkaufen geht, sie lässt sich nicht lumpen: zwei Putzmittel à 750 ml für insgesamt 6.95 Fr.; 100 Rechaudkerzen für 4.95; 5 Pack Petit-Beurre-Biskuits (total 1 kg) für 3.95; 700 g Tomatensauce Basilikum für 1.50; 500 g Spanische Nüsse für 2.95; 10 Wienerli für 6.50; Gemüse und Obst kauft sie in der Migros, dort auch: 1/2 kg Budget-Zwieback für 1.65 statt die normale Packung von 250 g für 3.20; 6 Himbeer-Joghurts im Pack, Aktion, für 2.40 statt 1 fruchtiges für 75 Rappen.

Lotti geht gern in den Wald, stellt sich zu den Bäumen, wirft ihnen einen Gruss zu.

Lotti war, wie gesagt, nicht immer arm.

Lotti mag (mit mir) nicht reden über: Scham, Krankheit, ihre beste Freundin, wie sie früher aussah, den ältesten Sohn, den Tod. («Und über Gott?», frage ich. «Gibt nicht viel zu sagen über den», meint sie. «Ein Plagöri.»)

Lotti sagt trotzdem: «Der Tod kann mich mal.»

Und über sich sagt Lotti: «Ich verlumpe und verdumme.»

Lotti hat Lippen so dünn wie ein dürrer Grashalm, in ihren Augen leuchtet Licht zu jeder Tageszeit.

Lotti mag rasierte Männer.

Lotti fürchtet sich vor der Grippe.

Lotti bügelt Taschentücher und denkt dabei an ihren Mann von einst, Toni Krähenbühl, Jg. 1946, Schreinermeister, Schürzenjäger, Pilzsammler, begraben auf dem Bremgartenfriedhof in Bern.

Lottis grösste Angst ist: Dass die Natur all das nicht mehr mitmacht, dass sie zurückschlägt, sozusagen.

Armut im Alter ist auch genderbedingt:

17,7 %

der Frauen über 65 Jahre müssen mit weniger als CHF 2279 pro Monat auskommen.

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Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Einsendeschluss ist der 11. April 2023. Wie drücken Ihnen die Daumen!

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Bei den Männern sind es

9,9 %

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Zum letzten Mal getanzt hat Lotti am 12.03.1998, es war die Hochzeit ihrer Tochter, der Tänzer ihr Schwager, «nicht besonders hell», sagt sie, «aber guter Schwung und fester Griff».

Lotti mag Vögel; als sie ein Mädchen war, drehte der Vater ihrem Kanarienvogel Hugo, er war schwer erkrankt, keuchte und trug kaum noch Federn am Leib, den Kopf um.

Fast alles, an das Lotti denkt den ganzen lieben Tag lang, denkt sie für sich. Sie sagt: «Ist nicht schlimm. Mein Leben ist ein kleines.»

Lotti kann herzhaft lachen über Welpen, die weder ein noch aus wissen mit diesem Leben, das noch auf sie zukommt.

Lotti sagt: «Im Rechnen war ich eine Kanone, Klassenbeste.»

Lotti findet Grosseltern peinlich, die sich mit ihren Enkeln aufführen wie Kinder mit Puppen; sie sagt: «Das gehört sich nicht.»

Lotti würde gerne jeden Tag die Zeitung lesen. (Das Jahresabonnement der Berner Zeitung BZ kostet 555 Fr.)

An ihrem Hochzeitstag, daran erinnert sich Lotti, dachte sie an einen anderen, an Ruedi, Klassenkamerad, Jugendschatz, Bauernsohn, schneidig und gierig, worüber sie bis heute mit niemandem sonst geredet hat, «aber das spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr», sagt sie, und trotzdem freut sich Lotti darüber, sie kichert und kneift ihre Augen zu.

Lotti fragt mich: «Mussten Sie auch schon unten durch?»

Und ein andermal fragt sie mich: «Wieso wollen Sie das alles wissen? Warum interessiert Sie das?»

Liselotte Krähenbühl hatte ich einige Mal am Berner Bahnhof gesehen, einmal war ich ihr gefolgt, heimlich, zugegeben, sie faszinierte mich, ihr Gang, die Art, wie sie die Mülleimer dieser Stadt umkreiste, irgendwann sprach ich sie an,

Fakt ist auch: Die Mehrheit der Personen im Rentenalter in der Schweiz ist vermögender als Leute im Erwerbsalter, jedes siebte Senior*innenpaar verfügt über ein Nettovermögen von mindestens

wir erzählten uns einiges, dann verlor ich sie aus den Augen (Liselotte Krähenbühl gehört zu diesen Menschen, die sich auflösen können in Nullkommanichts, dachte ich damals). Ich schrieb im Strassenmagazin Surprise (437/18) ein Porträt über sie, vergass sie zwischendurch, ich traf sie wieder, wir verabredeten uns auf einen Tee, ich brachte ihr meinen Artikel mit, den sie murmelnd las und am Ende mit den Worten kommentierte: «Aber da steht ja gar nichts über mich.» «Gut», sagte ich, «dann machen wir das noch einmal, und ich schreibe nur, was Sie sagen.» Frau Liselotte Krähenbühl amüsierte sich prächtig darüber und sagte als Erstes: «Schreiben Sie bloss nicht ‹arms Lotti›, schreiben Sie ‹arme Lotti›.»

Lotti sitzt auf dem Sofa und schlüpft aus ihren beigen Hausschuhen und krallt die Zehen zusammen und seufzt: «Die Gelenke, junger Mann!»

Lotti möchte in diesem Leben noch: nach Lourdes reisen (aus Nostalgie), regelmässig zum Frisör, ein Jahresabonnement der BZ, eine hübsche Wohnung mit Garten, falls möglich, eine Freundin, auf die Verlass ist, Sex, einen Internetanschluss, immer einen Schein zu viel in ihrem Portemonnaie aus Stoff, eine Brille, Aussehen egal, ein neues Besteck.

Und in einem anderen Leben möchte Lotti: ein Zuhause mit Menschen, die auch mal für ein Spässchen zu haben sind.

Lotti mag Kartoffelsalat.

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Surprise-Redaktor Klaus Petrus über dessen Neuerscheinung. surprise.ngo/talk

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«Ich wünschte mir, dass es nur um unsere Texte geht»

Lubna Abou Kheir ist syrische Autorin in der Schweiz, Ivna Žic hat sich ebenfalls als Schriftstellerin und Theatermacherin im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht. An der Lesung im Zürcher Sogar Theater kommen sie über ihre Arbeit ins Gespräch.

INTERVIEW DIANA FREI

Lubna Abou Kheir, Ivna Žic, Ihr gemeinsamer Gesprächsund Leseabend heisst: «Weil Groll am Scheideweg schön ist». Was hat es mit diesem Titel auf sich?

Lubna Abou Kheir: Ich habe diesen Satz am Anfang der Revolution in Damaskus geschrieben. Das war, als Assads Regime mit der vollen Gewalt gegen die Demonstrant*innen vorzugehen anfing. In diesem Moment dachte ich: Groll – es gibt keinen anderen Weg. Ich bin hier anerkannte Geflüchtete mit Ausweis B. Aber als Asylsuchende oder Geflüchtete haben wir keine Wahlmöglichkeiten. Es gibt keinen Scheideweg. Groll ist an sich natürlich überhaupt nicht schön, aber manchmal ist er der einzige Weg, damit sich Dinge verändern.

Lubna Abou Kheir, Sie sind vor sechs Jahren aus Syrien in die Schweiz gekommen. Ivna Žic, Sie sind in Zagreb geboren und in der Schweiz aufgewachsen. Sie sind literarisch eng verbunden mit der Geschichte Ex-Jugoslawiens. Wo würden Sie sagen, decken sich Erfahrungen und Themen, wo unterscheiden sie sich?

Ivna Žic: Das ist immer ein schwieriges Thema, weil Biografien und Vergangenheiten sich nie decken. Auch Lubnas und meine Geschichte könnten nicht unterschiedlicher sein. Wir treffen uns als Theatermacherinnen, als Autorinnen, als zwei junge Frauen in Europa, in der Schweiz, mit bestimmten politischen Anliegen. Ich würde sagen, wir treffen uns in der Gegenwart, im Jetzt. Aber natürlich kann man sagen, dass irgendetwas im Fremdsein hängenbleibt. Auch im Fremdsein in der Sprache, im Fremdsein in der Welt. In einer inneren Verortung, im Weitermachen, in der Hoffnung.

Abou Kheir: Was uns verbindet, ist die Fremde nicht nur in der Sprache, sondern die Fremde auf verschiedenen Ebenen. Aus meiner Perspektive, um an deine Idee anzuschliessen, Ivna, bedeutet Fremdsein Freiheit. Du darfst alles damit machen. Ich habe nichts, was mich hält. Ich kann wählen, welche Sprache ich spreche. Freiheit als philosophische Idee für mich als Autorin. Geht es allerdings um Gesetze, um Ausweise, bedeutet Fremdsein

vor allem eine Grenze. Ich für mich könnte mein Leben frei gestalten. Das Fremdsein wird zur Unfreiheit, weil der Staat entscheidet, dass meine Situation schwierig sein soll.

Das Politische und das (Familien-)Biografische finden in Ihren beiden Texten zusammen. Was macht Ihre Biografie mit Ihnen beim Schreiben, Ivna Žic? Können Sie das formulieren? Ich kann das schon formulieren, aber ich glaube, es ist sehr wichtig, dass nicht sofort Vergleiche gemacht werden. Lubnas Biografie hat nicht mit allen syrischen Biografien zu tun, genauso wie meine Biografie nicht mit allen kroatischen Biografien zu tun hat. Und es gibt viele Unterschiede, denn ich habe keine Fluchtgeschichte, keinen Kriegshintergrund. Das ist aber ein Setting, das oft auf mich projiziert wird. Deswegen bin ich da immer eher in der Abgrenzung als im Vergleich. Ganz individuell bin ich einfach ein Mensch, der sich grundsätzlich mit biografischem Material auseinandersetzt. Der sich viel mit Sprache und Vielsprachigkeit auseinandersetzt. Und nicht nur mit Sprachen als konkrete Sprachen, sondern auch als Erzählweisen. Was mich im Biografischen interessiert, ist, dass jede Generation für etwas steht. Aber auch mein Grossvater vertritt eine individuelle Geschichte innerhalb einer Generation innerhalb einer Zeit. Und die Frage ist: Wie hat er darüber erzählt? Wenn ich zum Beispiel eine Zweitweltkriegsgeneration beschreibe in einem Land, das eine Art Nazi-Regime hatte – nämlich Kroatien im Zweiten Weltkrieg – dann komme ich von dort zu weiteren Fragen wie: Hat mir die Schweiz darüber eigentlich etwas beigebracht?

Lubna Abou Kheir, «Weiter schreiben Schweiz» ist ein Portal für Exil-Autor*innen. Sehen Sie sich als Exil-Autorin? Und was wäre das denn?

Abou Kheir: Exil-Literatur ist ein Genre. Ich sehe mich nicht als Exil-Autorin. Aber weil es eine Entwicklung anstossen soll, und weil in der Welt Rassismus existiert, muss ich eine Exil-Autorin sein, damit ich weiterschreiben kann. Oder weiterarbeiten kann.

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Literatur Schriftsteller*innen aus dem Ausland können in der Schweiz oft nur innerhalb sp eziell geschaffener Formate weiterarbeiten. Dies reproduziert stetig den Fokus auf ihre Herkunft.

LUBNA ABOU KHEIR, Autorin und Schauspielerin aus Syrien. Sie studierte am «Higher Institute of Dramatic Art» in Damaskus, lebt und arbeitet seit 2016 in der Schweiz. Sie hat vier Stücke auf Deutsch geschrieben, «Gebrochenes Licht» und «Cheese Wars» (Theater Neumarkt Zürich). Sie schreibt auch Prosatexte, u. a. im Projekt «Weiter schreiben Schweiz». Preis als beste Schauspielerin 2022 am Amarcort Film Festival Rimini.

IVNA ŽIC, geboren 1986 in Zagreb, aufgewachsen in Zürich. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Giessen, Hamburg und Graz. Regisseurin und Dramatikerin u. a. am Theater Neumarkt, Schauspielhaus Wien, Theater Bremen und an den Münchner Kammerspielen.

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«Ich sehe mich nicht als ExilAutorin. Aber ich muss eine sein, damit ich weiterschreiben, weiterarbeiten kann. »
«Ich habe keine Fluchtgeschichte, keinen Kriegshintergrund. Das ist aber ein Setting, das oft auf mich projiziert wird.»
FOTO(1): KATHARINA MANOJLOVIC, FOTO(2): MAHAR AKRAA

Wenn ich als Autorin Lubna an ein Theater oder ein Magazin gelange, werde ich abgeblockt. Im Verständnis der Schweiz bin ich eine Geflüchtete und soll in dieser Rolle bleiben, ich kann nicht aus diesem Rahmen ausbrechen, den man mir zuweist. Aber ich will etwas zu den Generationen sagen, die sich auswechseln. Leute fragen: Was ist meine Kultur, was ist mein Hintergrund? Als etwas Starres. Aber Migration ist Bewegung, und diese schafft Zivilisation. Und Zivilisation braucht etwas anderes, als dass man Kulturen verteidigt.

Ein schöner Schluss. Oder gibt es noch etwas Wichtiges?

Abou Kheir: Ich würde gerne als Lubna einfach einmal die Chance haben, eine Lovestory zu schreiben, ohne dass ich mir die Kultur- und Sprachfrage stellen muss.

Žic: Für die Zukunft würde ich mir schon wünschen, dass es irgendwann vielleicht nur um die Texte von Lubna geht oder nur um die Texte von mir und weniger um diesen ganzen Metadiskurs: Warum schreiben wir so, und was macht unsere Biografie mit uns? In einer utopischen Welt würde ich mir wünschen, dass wir genau gleich wie ein Peter Stamm behandelt werden würden.

Ich habe mich nun tatsächlich nicht in bestimmte Texte vertieft. Sondern versucht, eine Vorschau auf eine Lesung mit Gespräch zu machen, die im Rahmen migrantischer Literatur unter dem Label «Weiter schreiben Schweiz» stattfindet.

Žic: Das ist ja in dem Rahmen auch erstmal ok so. Einerseits sind diese Gespräche wichtig, auch ein Format wie «Weiter schreiben». Es gibt immer eine Wichtigkeit – aber es gibt immer auch die Kehrseite davon. Und hoffentlich wird irgendwann die Kehrseite kleiner beziehungsweise zu einer grösseren Selbstverständlichkeit werden: Dass es hier nämlich um die Sichtbarkeit von Lite-

ratur geht. Von Texten also. Nicht von Biografien. Und bis dahin muss man diese halt immer wieder laut benennen und einfordern.

Ich merke aber schon, dass ich vor allem auf Ihre Herkunft und deren Auswirkung auf Ihr Schreiben fokussiert habe. Wie vermeiden wir Journalist*innen rassistische Stolperfallen?

Abou Kheir: Ich beschuldige niemanden des Rassismus. Das Wort Rassismus ist kein einfaches Wort. Ich sehe, dass wir es unbewusst täglich wiederholen, bis wir uns daran gewöhnt haben, und das ist offen gesagt gefährlich. Sie haben das Interview mit uns zum Thema «Asyl in der Schweiz» (siehe Text unten) geführt, und es ist ganz natürlich, dass Sie mich in dem Rahmen nach meiner arabischen Herkunft fragen. Den grossen Fehler sehe ich darin, dass wir in der Schweiz immer in der Rolle von Geflüchteten sind. Ich unterscheide zwischen strukturellem Rassismus, Diskriminierung und Hass. Struktureller Rassismus wird durch die Rahmenbedingungen von Gesetz und Staat geschaffen. Diskriminierung ist ein soziales Phänomen. Hass ist ein persönliches Gefühl, das wir nicht kontrollieren können. Aber ich fand es unnatürlich, Ivna nach ihrer Herkunft zu fragen, obwohl sie Schweizerin ist. Wir können Journalist*innen keinen Rassismus vorwerfen, wenn der literarische Kontext auf Diskriminierung basiert.

Žic: Ich stimme all dem zu. Ich denke, dass ein ernsthaftes Gespräch, ein öffentliches Gespräch dazu führen wird, eine solche Gesprächskultur zu ändern. Es waren ja in dem Sinn keine falschen Fragen. Es geht um die Frage nach dem Fokus, nach einer neuen Selbstverständlichkeit.

«Weil Groll am Scheideweg schön ist», Lesung und Gespräch mit Lubna Abou Kheir und Ivna Žic, auf Arabisch und Hochdeutsch, Mo, 20. März, Sogar Theater, Josefstrasse 106, Zürich. www.sogar.ch

Benennen ohne festzuschreiben

Die Vermittlun g von mi grantischer Literatur als solche ist (zurzeit noch) nöti g und wichti g . Trotzdem stellt sich die Frage: Wie soll man das tun, ohne Stereotypen zu reproduzieren?

TEXT DIANA FREI

Das Zürcher Sogar Theater widmet sich im März dem Thema «Asyl in der Schweiz». Die Frage stellt sich: Wie kann man migrantischen Themen eine Plattform geben, ohne die Akteur*innen – Autor*innen, Regie, Schauspieler*innen – auf ihr «Fremdsein» festzunageln? «Wir suchen bei jedem Projekt wieder neu nach dem richtigen Weg», sagt Ursina Greuel, künstlerische Leiterin des Sogar Theater. Seien es Theaterstücke, Lesungen oder Gesprächsreihen, es geht im Kern immer um Fragen nach Perspektive, Fokus, Rahmen: «Bei meiner Theaterproduktion ‹Nach Lampedusa – Wandererfantasien› erzählen wir zum Beispiel bewusst aus unserer eigenen Sicht und versuchen nicht etwa in die Rolle von Asylsuchenden zu schlüpfen. In der Podiumsdiskussion dagegen sprechen Asylsuchende über ihre Erfahrungen, aber der Gegenstand des Gesprächs ist nicht ihre Biografie, sondern das Schweizer Asylwesen.» Das Theater hat eine feste Zusammenarbeit mit dem Verein «Weiter schreiben Schweiz».

Dieser vernetzt Exil-Autor*innen mit der Schweizer Literaturszene, um hierzulande Publikationen zu erleichtern. Lubna Abou Kheir und Ivna Žic sind «Tandem-Partner*innen» in diesem Rahmen.

Ana Sobral, die künstlerische Leiterin von «Weiter schreiben Schweiz», sagt: «Die Frage, die im Raum steht, ist sehr wichtig, und wir befinden uns hier in einem echten Widerspruch. Um Projekte wie «Weiter schreiben Schweiz» zu finanzieren und Leser*innen zu gewinnen, muss man oft deren ‹Fremdheit› in den Vordergrund stellen. Kurzum, wir müssen genau den Rahmen bedienen, den wir vermeiden wollen. Andererseits wollen wir gerade deutlich machen, dass die Autor*innen ein fester Bestandteil der Schweizer Kultur sind. Das ist eine laufende Debatte, die auch in Symposien mit literarischen Institutionen diskutiert wurde. Es ist ein Widerspruch im System, und er offenbart die eigenen rassistischen und vorurteilsbeladenen Strukturen des Systems.»

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#Al_Hassake_Mädchen

«Weiter schreiben Schweiz» ist auch Publikationsplattform. Der abgedruckte Text von Lubna Abou Kheir ist auf Arabisch und Deutsch erschienen.

Guten Morgen, wenn du hörst oder liest diesen Text am Morgen.

Guten Abend, wenn du hörst oder liest diese Worte am Abend!

As-salamu alaykum passt immer und jederzeit.

Egal wann, kaum hat man’s gesagt, vermeidet man Schweigen und andere Turbulenzen.

Allgemein heisst as-salamu alaykum Hallo, wörtlich heisst es Frieden über dir oder Frieden für dich, peace on you or for you, und im Sinne meiner Poesie geniessen wir den Frieden.

Warum schreibe ich dieses Mal auf Mundart und nicht in Fus’ha? 1

Es ist sehr einfach, jemanden zu töten, aber die ganze Situation ist für mich zu komplex, um sie in Sätzen, Wörtern und Buchstaben in Fus’ha zu formulieren.

Aida ist ein Name, ein Mädchenname … oder der richtige komplette Name.

#Al_Hassake_Mädchen, ja, so heisst ein Hashtag.

Zwischen einer Nacht und einem Morgen ist sie ein Hashtag geworden.

Sie war ein Mädchen und jetzt ist sie ein Hashtag.

Ein dreizehn Jahre altes Mädchen wird von ihrer Familie oder ihrem Clan getötet.

Sie sagen, um ihre Ehre zu retten, weil sie ihren Cousin nicht heiraten will oder weil ihr Bruder gehört hat, wie sie mit dem anderen Mann telefoniert hat, oder weil … keine Ahnung, aus welchem blöden Grund sie getötet wurde.

Es ist wie immer: Ob es Gesetze gibt oder nicht, sie können nichts, ändern nichts, stoppen nichts.

Fast ihr ganzer Clan hat an ihrer Ermordung teilgenommen. Sie haben den Mord gefilmt und auf Facebook gepostet. Im Video sagen sie:

« », das heisst: «Allah …, Gott wird ihr und denen, die an ihrer Hand festhalten, keinen Erfolg schicken.»

Über welchen Erfolg reden sie? Erfolg nach dem Sterben? Aida hat niemanden gefunden, der ihre Hand festhalten will.

Ihre Familie hat sie ein Mal getötet, dann wurde sie in den Social Media tausend Male getötet.

Wir können weiter reden und reden: «Sei stark, bleib stark, steh alleine auf!» Wir können alle anderen feministischen Parolen dazu immer wieder aufsagen, aber: Das ist Unsinn!

Es gibt kein Aufstehen nach dem Sterben.

Wir Frauen sind nicht stark gegen die Waffe.

Das Thema ist einfacher, als wir denken: Wenn jemand eine Waffe trägt, darf er nach Belieben wen und wie er will erschiessen.

Und es gibt nichts Leckereres und Schöneres, als einen weichen und zarten Körper zu erschiessen.

Aida, ich weiss nicht, was soll ich dir sagen? Wenn ich dich vorher gekannt hätte, hätte ich dir gezeigt, wie du so tun kannst, als wärst du schon tot, bevor sie dich getötet haben.

Wie wir alle.

* (Lubna Abou Kheir schreibt ihre Texte parallel auf Deutsch und auf Arabisch.)

1 Fus’ha ist das Gegenstück zum Hochdeutschen, nur dass es auf Arabisch keine Einteilung in hoch und tief gibt.

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TEXT LUBNA ABOU KHEIR Die Texte werden bei «Weiter schreiben» zusammen mit ausgewählten passenden Werken publiziert, hier vom Künstler Oussama Diab.

Veranstaltungen

Zürich

«47. Schweizer Jugendfilmtage», Festival, Mi, 22. bis So, 26. März, blue Cinema Abaton und Zentralwäscherei. jugendfilmtage.ch

eigentlich aus? Ist es das weit ausladende Dach? Sind es die Geranien vor den Fenstern? Die geschnitzten Dachbalken? Oder ist das Chalet einfach ein Sinnbild der Sehnsucht nach alpiner Natur und somit eine Erfindung, ein Mythos? Die Ausstellung «Chalet» geht diese Fragen gründlich an und nähert sich dem Phänomen über die drei Schwerpunkte Sehnsucht, Kitsch und Baukultur. Sie zeigt, wie das Chalet zum romantischen Sehnsuchtsbild wurde, verfolgt den Weg des «Laubsägeli-Chalets» im Kleinformat zum Souvenir und zeigt aktuelle Neuinterpretationen des Chalet-Baustils. DIF

Aarau

konzipiert und an die Schweizer Gegebenheiten angepasst. Öffentliche Führungen am Sa, 25. März und So, 26. März. DIF

Lenzburg

«Natur. Und wir?», Ausstellung, bis So, 29. Okt., Di bis So, 9 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Stapferhaus, Bahnhofstrasse 49. stapferhaus.ch

Kernstück des Festivals ist der Wettbewerb: In fünf Kategorien werden insgesamt 43 Kurzfilme aus der Deutschschweiz, der Romandie und dem Tessin gezeigt. Junge Menschen eröffnen neue Perspektiven und erzählen von Hoffnungen und Sorgen, von Identitätsfindung, zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Erwachsenwerden. Eröffnungsfilm ist «Wenn die Möven wieder weiterziehen» von Ladina Staehelin Türkog lu und Larissa Bürgi, den Gewinnerinnen des «Klappe Auf!»-Pitchingwettbewerbs 2022. Der Fokus Griechenland zeigt soziopolitisches Kino aus junger Sicht, hier wird Coming of Age interpretiert als Prozess, seine Stimme zu finden und sie zu erheben. In der Jury sitzen Leute wie der Regisseur Christian Johannes Koch («Spagat») und die Tsüri-Redaktionsleiterin Rahel Bains, Workshops gibt es z. B. mit der Basler Filmemacherin Arami Ullón. DIF

Bern

«Rausch – Extase – Rush», Ausstellung, bis So, 13. August, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Bernisches Historisches Museum, Helvetiaplatz 5. bhm.ch

Sich zu berauschen ist ein menschliches Urbedürfnis. Aber das Historische Museum meint nicht nur Alkohol und andere Drogen. Bereits Kinder versetzen sich im Spiel auf der Drehschaukel in einen berauschenden Zustand, den Rausch kann man auch im Sport finden, in Musik, im Tanz oder in der Liebe. In der Spiritualität, der Kunst oder, ja klar, mithilfe psychoaktiver Substanzen. Die Faszination für euphorisierende Zustände ist ein Phänomen, das alle Epochen und Gesellschaften durchdringt. Die Ausstellung entstand unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Tabakpräventionsfonds, dem Bun-

desamt für Gesundheit und «Jugend und Medien», einem Board von 30 ausgewiesenen Fachpersonen sowie unter Einbezug von Jugendlichen. Letztere haben während eines Jahres wöchentlich die Ausstellungsinhalte und die Umsetzungen beurteilt. Jugendliche und Jugendgruppen sind denn auch an ausgewählten Freitagabenden während der «Rush Hour» eingeladen, bis 21 Uhr die Ausstellung zu besuchen und dabei mit Peers und Expert*innen ins Gespräch zu kommen. Es soll aufgeklärt, aber auch berauscht werden (ohne die Gesundheit zu schädigen). DIF

Bern

«Chalet. Sehnsucht, Kitsch und Baukultur», Ausstellung, bis Fr, 30. Juni, Mo bis Fr, 9 bis 18 Uhr, Eintritt frei, Schweizerische Nationalbibliothek, Hallwylstrasse 15, Bern.

Die Schweiz liebt ihre Chalets. Auch Tourist*innen (und die Schweizer TV-Werbung in der Weihnachtszeit) verbinden Feriennächte im Ski- und Wanderurlaub mit dem einladenden Charme dieser Gebäude. Nun, was macht ein Chalet

«Wir und die Andern. Vom Vorurteil zum Rassismus», Aktionswoche Aargau gegen Rassismus», Di, 21. März bis So, 2. Apr.2023, Di bis Fr, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa/ So 11 bis 17 Uhr, Stadtmuseum Aarau, Schlossplatz. stadtmuseum.ch/ wirunddieandern

Wer sind wir? Wer sind die Anderen? Was sind Stereotype und Vorurteile, was ist struktureller Rassismus? Was sagen Wissenschaft und Rechtsprechung dazu? Weil wir längst in einer postmigrantischen Gesellschaft leben, diese aber häufig genug ausblenden, regt diese Aktionswoche dazu an, uns mit dem auseinanderzusetzen, was wir als «Wir» bezeichnen und auf unterschiedliche Weise von den «Andern» abgrenzen. Es geht darum, Denkmuster zu hinterfragen und das Bewusstsein für die eigenen verinnerlichten Vorurteile zu schärfen. Die Ausstellung wurde vom Pariser Musée de l’Homme

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Wir finden Erholung in der Natur und uns selbst in der Wildnis. Wir verehren das Natürliche und sehnen uns nach unberührten Landschaften. Gleichzeitig suchen wir mit allen Mitteln der Technik nach Lösungen, um Viren, Wasser und Flammen in den Griff zu bekommen. Wir streiten darüber, wie dringend und auf welche Weise es die Natur zu retten gilt. Die Ausstellung geht vom kritischen Zustand der Natur aus und will zu einem neuen Blick auf sie führen. Sie fordert dazu auf, das eigene Verhältnis zur Natur zu entdecken und mitzureden, wohin die Reise gehen soll. Das könnte man vielleicht auch auf einem Spaziergang entlang der Aare oder beim Wandern in den Tessiner Hügeln tun; im Stapferhaus geschieht es, indem man in poetisch-verspielte Welten eintaucht. Und mit Spaziergängen, Konzert und Kräutersammeln: Programm online. DIF

hat es Platz für Sie. Inserieren Sie bereits ab CHF 550.–

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BILD(1): HUSSIES, FOKUS JUGENDFILLMTAGE, BILD(2): BERNISCHES HISTORISCHES MUSEUM, STEFAN WERMUTH, BILD(3): STAPFERHAUS/ANITA AFFENTRANGER
Hier

Pörtner in Münsingen

Surprise-Standort: Gemeindeverwaltung

Einwohner*innen: 13 054

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 12,3

Sozialhilfequote in Prozent: 2,8

Anzahl Vereine: 104

In Münsingen findet sich eine Schlosshalde, ein Schlossgut und eine Schlossstrasse, letztere führt, leicht zu erraten, zum Schloss Münsingen. Für den einstigen Sitz reicher und mächtiger Menschen ist es ein vergleichsweise bescheidenes Gebäude. Hierzulande stehen Oligarchen-Villen, die deutlich grösser und prächtiger sind. Dafür verfügen sie kaum über einen holzgedeckten Veloparkplatz, der historisch anmutet, was er natürlich nicht ist. Umgeben ist das Schloss von schönen alten Häusern, der ortsunkundige Laie glaubt einen sich anbahnenden Emmentalerhaus-Stil zu erahnen, Riegel- und Holzhäuser mit tief herabgezogenen Dächern. Im das Schloss umgebenden Park weiden jedoch keine Kühe, sondern Lamas, und im Hintergrund sind keine Berge, sondern ist eine Blocksiedlung zu sehen.

Sehr präsent ist die Jugendfachstelle, sie wirbt mit einer Jugend-App, ihr umfangreiches Monatsprogramm ist angeschlagen, weiter vorne, auf dem Dorfplatz, steht der stattliche Pavillon der Kinder- und Jugendfachstelle Aaretal; Jugendliche können als Hilfen im Alltag engagiert werden, was den Zusammenhalt der Generationen fördert.

Dass Münsingen im Umbruch ist, zeigt sich an dem Platz, auf dem der Pavillon steht. Er wird umgebaut, etwas verloren steht noch eine Art überdimensionierte Weihnachtslaterne herum, obwohl die Festtage längst vorbei sind. Verschiedene Plakate informieren zum Thema «Stadt werden – Dorf bleiben», eines davon spricht von der Quadratur des Kreis(els). Tatsächlich ist dieser nicht ganz übersichtlich, mit blauen Streifen versehen, deren Bedeutung sich

den Besucher*innen nicht gleich erschliesst. Darf, soll, kann man hier einfach die Strasse überqueren? Um zu schauen, wie es die Einheimischen tun, kann man vor dem Schaufenster der Boutique «Mannesach» verweilen. Hier wird die Frage «Bräutigam?» mit «Bräutigam!» beantwortet. Dahinter ist ein schwarzes Damenkleid ausgestellt, eine mit legerer Freizeitbekleidung ausgestattete männliche, gesichtslose Schaufensterpuppe dreht den Kopf nach ihm um. Weitere Damen- und Herrenmode gibt es in der Boutique Kaktus oder bei Schnyder Jeans&Tops, das mit dem Slogan «Wir haben Jeans für jedes Füdli» wirbt. Das klingt ungleich freundlicher als «für jeden Arsch», obwohl es eigentlich dasselbe bedeutet. Auf der Reklametafel ist zudem der Aushang für ein Country-Music-Festival im Schlossgut Münsingen angebracht, das im Frühling bereits zum 15. Mal stattfinden wird.

In einem Pavillon aus Holzriegeln und Glasscheiben sind Gehhilfen, Rollstühle und ein Spitalbett ausgestellt, daneben wurden alte Pizza-Kartons deponiert. Die Pizzeria befindet sich ein paar Häuser weiter, neben dem Bike Shop, in dem es auch Kaffee gäbe, wäre er nicht gerade geschossen. Die alten traditionellen Gebäude beherbergen durchaus moderne Geschäfte, etwa eine Handy- und Computerklinik. Vor den Wohnhäusern stehen Holzbänke und bauchige Mostflaschen, auf den gedeckten Gängen sind Velos zu erkennen. Auch ein Sonnenstudio gibt es, und das läuft wahrscheinlich nicht schlecht, solange das Wetter bleibt, wie es ist.

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse STEPHAN PÖRTNER

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Kaiser Software GmbH, Bern

InoSmart Consulting, Reinach BL

Maya-Recordings, Oberstammheim

Scherrer & Partner GmbH, Basel

BODYALARM – time for a massage

EVA näht: www.naehgut.ch

TopPharm Apotheke Paradeplatz

AnyWeb AG, Zürich

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Praxis Dietke Becker

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

InhouseControl AG, Ettingen

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

unterwegs GmbH, Aarau

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Tochter auf Zeit. Winterthur

Barth Real AG, Zürich

flowscope. B. & D. Steiner-Staub

Lebensraum Interlaken. Coaching & Therapie

Infopower GmbH, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Be Shaping the Future AG

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag

Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.

Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari

«Vor wenigen Jahren bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen –und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden.

Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»

Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.

Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

Unterstützungsmöglichkeiten:

1 Jahr CHF 5000.–

½ Jahr CHF 2500.–¼ Jahr CHF 1250.–

1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto:

Surprise, 4051 Basel

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Vermerk: Chance

Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90

info@surprise.ngo

oder surprise.ngo/spenden

T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 AB 500.– SIND SIE DABEI!
Herzlichen Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!

#544: Schamp ar unbe quem

«Getäuschte Erinnerung»

Carlo Knöpfel schreibt: «Das Risiko, einen oder gar beide Sitze im Bundesrat zu verlieren, besteht für die SPS nicht zum ersten Mal. Erinnert sei darum an die Drohung von Helmut Hubacher, einst mächtiger Präsident der SPS, der für diesen Fall voraussagte, dann würde die Bundespolitik für die anderen ‹schampar unbequem› werden.» Da täuscht Herrn Knöpfel die Erinnerung. Es war gerade umgekehrt. Nach der Wahl von Otto Stich anstelle der offiziellen Kandidatin Lilian Uchtenhagen 1983 wurde auf den 12.2.1984 ein Parteitag angesetzt. Die Parteileitung und auch Helmut Hubacher beantragten, die beiden SP-Sitze im Bundesrat aufzugeben und in die Opposition zu gehen. Der Parteitag, an dem auch ich teilnahm, entschied anders. Eine Mehrheit wollte im Bundesrat bleiben. Otto Stich war zwar nicht offizieller, aber er war und blieb wie Pierre Aubert ein SP-Bundesrat. Helmut Hubacher hielt fest, dieser demokratische Entscheid, im Bundesrat zu verbleiben, gelte. Er versprach aber, die SP werde in Zukunft eine schampar unbequeme Politik machen.

GEORG HASENFRATZ,

Olten

Da haben wir uns tatsächlich geirrt und bitten (gemeinsam mit Carlo Knöpfel) für die falsche Darstellung um Verzeihung. An der Grundaussage der Kolumne ändert dies nichts.

Imp ressum

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Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp)

Reporterin: Lea Stuber (lea)

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Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Oussama Diab, Ruben Hollinger, Ruedi Kälin, Lubna Abou Kheir, Annalisa Rompietti

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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Korri g endum #545

Formulierung falsch

Im Artikel über Jenische wurde vom «pseudowissenschaftlichen Fundament» des «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» gesprochen. Diese Formulierung ist insofern falsch, als Stammbaumforschung und Eugenik Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus dem Stand der damaligen wissenschaftlichen Forschung entsprachen, auch wenn diese heutigen Kriterien nicht mehr genügt und als unwissenschaftlich gilt.

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Surprise 546/23 29 Wir alle sind Surprise
A. d. Red.:
546/23

«Ich telefoniere täglich mit den Kindern»

«Ich komme aus einem kleinen Ort im Westen von Rumänien, Timișoara ist die nächstgelegene grosse Stadt. Von meinem Land kenne ich eigentlich fast nur diese Region, denn meine Familie hatte nie viel Geld. Ferien am Schwarzen Meer oder eine Reise in die Hauptstadt Bukarest, das lag nicht drin. Weil das Geld immer knapp war und es in Rumänien zu wenig Arbeit gab, entschieden meine Eltern irgendwann, mit mir und meinen beiden Schwestern nach Italien zu ziehen. Wir lebten einige Jahre in Genua, wo wir Mädchen zur Schule gingen. Bis heute spreche ich deshalb fliessend und gerne Italienisch. Leider zeigte sich aber mit der Zeit, dass mein Vater auch in Italien nicht genug Geld für die Familie verdienen konnte, und wir kehrten zurück nach Rumänien.

Mein Vater war so ein guter, lieber Mensch. Er hat alles für uns gemacht. Er wollte immer gut für die ganze Familie sorgen, für seine Töchter, seine Frau, seine Mutter, seine Enkel. Doch am Ende wurden die Sorgen und Probleme, die wir in Rumänien wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation hatten, zu viel für ihn. 2018 starb er an einem Herzinfarkt.

Zuhause in Rumänien habe ich drei Kinder im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren, zwei Buben und ein Mädchen; ich sorge ganz alleine für sie. Der Vater der Kinder hat uns vor vielen Jahren verlassen. Wir haben keinen Kontakt mehr zu ihm, ich weiss nicht, wo er ist. Als ich im Herbst 2020 über eine Kollegin in der Schweiz eine Stelle als Lagermitarbeiterin bei einem Online-Kleiderhändler angeboten bekam, liess ich die Kinder schweren Herzens bei meiner Mutter zurück und zog hierher.

Die Arbeit in der Corona-Zeit, wo so viel bestellt und wieder zurückgeschickt wurde, war extrem anstrengend. Nach zehn Monaten hatte ich solche Rückenschmerzen, dass ich ein paar Wochen pausieren und in die Physiotherapie gehen musste. Als ich schliesslich wieder einsteigen wollte, erhielt ich die Kündigung. Das war schlimm für mich, denn ich war ja in die Schweiz gekommen, um von hier aus meine Familie zu ernähren.

Zum Glück erzählte mir damals eine Freundin von Surprise. Ich meldete mich dort und konnte schon bald in Herzogenbuchsee, ganz in der Nähe von meinem Wohnort, mit dem Heftverkauf anfangen.

Wieder Geld verdienen, nicht mehr zuhause sitzen und ausserdem viele nette Menschen kennenlernen – das hat mein Leben ganz schnell wieder besser gemacht. Ich bin sehr dankbar für all die Kontakte zu den Leuten, die im Coop arbeiten, zu meiner

Kundschaft, aber auch zum Team von Surprise, das mir zum Beispiel schon bei der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder beim Lösen des Halbtax-Abonnements geholfen hat.

Obwohl mir der Verkauf von Surprise wirklich sehr viel gibt und hilft, suche ich natürlich nach wie vor eine Festanstellung. Mit einem besseren und regelmässigeren Einkommen könnte ich es mir öfter leisten, meine Kinder und meine Mutter in Rumänien zu besuchen. Ich habe sie seit mehr als einem halben Jahr nicht gesehen. Wobei, das stimmt nicht ganz, ich ‹sehe› sie beim Telefonieren fast jeden Tag auf dem Handy, was uns alle ein bisschen tröstet. Wäre ich wieder einmal zuhause, würde ich auch schauen, dass sich meine Mutter untersuchen lassen kann. Es geht ihr nicht gut, wir wissen nicht, was sie hat. Aber ohne Geld ist ein Arztbesuch in Rumänien schwierig, Behandlungen muss man immer gleich sofort bezahlen.

Ich bin zuversichtlich, dass ich bald wieder eine feste Arbeit habe, in einem Lager oder in der Produktion. In Rumänien habe ich in der Reinigung gearbeitet. Auch die Arbeit mit Kindern oder älteren Menschen gefällt mir, ich kann mich auf Deutsch auch schon recht gut verständigen. Früher, in Rumänien, hatte ich eine Zeitlang in der Schule Deutsch, das meiste habe ich jedoch in den letzten zwei Jahren hier gelernt. An einem Kiosk arbeiten, das wäre perfekt, dann hätte ich wie jetzt bei Surprise regelmässig Kundenkontakt.»

30 Surprise 546/23 Surp rise-Porträt
Der Arbeit wegen hat Nicoleta Cirpaci, 33, ihre Heimat Rumänien verlassen. Nun verkauft sie in Herzogenbuchsee Surprise und schaut von hier aus für ihre Kinder und ihre Mutter. Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN FOTO: RUBEN HOLLINGER

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

NEUE TOUR IN BERN

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER

NEUEN PERSPEKTIVE.

Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.

Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang

GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2023!

Surprise nimmt im Sommer 2023 mit zwei StrassenfussballNationalteams am Homeless World Cup in Kalifornien teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!

Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!

ACHTUNG, FERTIG, STRICKEN!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 4. Juni 2023 an: Surprise | Strassenfussball | Münzgasse 16 | CH-4051 Basel

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