Schwere Geburt
Wer als Asylsuchende in der Schweiz ein Kind erwartet, hat es nicht leicht.
Seite 8
Asyl
Strassenmagazin Nr. 554 14. bis 27. Juli 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–
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Sozialwerke
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BEGLEITUNG UND BERATUNG
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STRASSENCHOR
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Solidaritätsgeste
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Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl
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Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung
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Expertenrolle Job
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STRASSENMAGAZIN
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Perspektivenwechsel
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Kultur
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Bild: Marc Bachmann
Editorial
Kein Zugang
Als wir davon erfuhren, dass schwangere Asylsuchende in der Schweiz mit vielen Hindernissen zu kämpfen haben, wussten wir: Das wird keine leichte Geschichte werden. Dabei sind es weniger die migrationspolitischen Hürden, die ratlos machen. Sondern die menschliche Dimension:
Eigentlich sind diese Frauen, wie es heisst, «guter Hoffnung», sie dürften also voller Zuversicht sein. Die Realität ist aber oft eine andere, ihre Schwangerschaft wird begleitet von Sorge, Angst und Unsicherheit – sei es, weil sie ihren Arzt nicht frei wählen dürfen. Oder weil sie nicht Deutsch sprechen und vor, während und nach der Geburt keine Übersetzer*innen zugegen sind. Was wird unternommen, um diesen Frauen zu helfen? Die Antwort darauf lesen Sie ab Seite 8.
Auch in diesem Heft: der fünfte und letzte Teil unserer Serie zur Digitalisierung. Zu Beginn hatten wir uns mit dem oft zitierten Versprechen auseinandergesetzt, die Digitalisierung trage zur Demokrati
sierung der Gesellschaft bei. In der Folge stellte sich heraus, dass dem mitnichten nur so ist: Überwachung, Eingriffe in die Privatsphäre, Diskriminierung und Ausgrenzung gehören zu den Kehrseiten der Digitalisierung. Jetzt zum Schluss wollten wir herausfinden, ob es möglich wäre, die Digitalisierung inklusiver zu gestalten. Dabei hat sich herausgestellt: Wenn wir wollten, könnten wir das. Wir haben ein paar Vorschläge parat, ab Seite 8.
Sowohl die Serie zur Digitalisierung als auch die Recherche über schwangere Asylsuchende sind aufwendig – und könnten in dieser Art nicht umgesetzt werden ohne den Surprise Recherchefonds, den wir letztes Jahr lanciert haben (surprise.ngo/recherchefonds) und der genau das ermöglichen soll: die grossen Themen in grossen Geschichten zu erzählen.
PETRUS Redaktor
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KLAUS
4 Aufgelesen 5 Na? Gut! Weniger Arbeit, gleicher Lohn 5 Vor Gericht Nachsitzen vor Gericht 6 Verkäufer*innenkolumne Flasche oder Brunnen 7 Die Sozialzahl Schlechtwetterentschädigung 8 Asyl Prekäre Schwangerschaft 16 Digitalisierung Weltuntergang oder Paradies? 22 Literatur Im Schreibprozess 24 Kino Ganz nah dran 25 Buch Alles spricht 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Basel, Schifflände 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Internationales Verkäufer*innenPorträt «Ich lebe von der Hand in den Mund» TITELBILD: DINAH WERNLI
Auf g elesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Erschreckende Zahlen
8 167 986 Menschen flohen seit Kriegsbeginn aus der Ukraine. 1 107 112 Andere flüchteten insgesamt seit 2014 über das Mittelmeer, seitdem retteten Hilfsorganisationen nach eigenen Angaben mehr als 140 000 Menschen in Seenot; 26 334 Menschen starben im Mittelmeer. Allein in diesem Jahr kamen 604 Menschen bei der Überfahrt ums Leben, so viele wie seit 2017 nicht mehr. Die Zahlen stammen vom Mai 2023.
Millionen
Menschen flüchteten seit 2014 übers Mittelmeer.
Null Akzeptanz
Die Antidiskriminierungsstelle und die ExtremismusPräventionsstelle Steiermark bieten gemeinsam die App «BanHate» an, um Fälle von Hass-Postings und HateCrimes zu melden. Dadurch soll es auch einfacher werden, Radikalisierungsprozesse sowie Hassverbrechen aufzuklären. Die App ist europaweit die erste dieser Art und kann kostenlos runtergeladen werden.
Vergessener Konflikt
Seit 20 Jahren toben Kämpfe im südsudanischen Darfur. Allein zwischen 2003 und 2008 sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 250 000 und 400 000 Menschen umgekommen. Die Gründe für die Auseinandersetzungen sind vielfältig, sie reichen von ethnischen Spannungen bis hin zu wirtschaftlichen Unruhen. Entsprechend stehen sich immer wieder unterschiedliche Konfliktparteien gegenüber. Zuletzt kam es Mitte April 2023 zu heftigen Kämpfen zwischen der sudanesischen Armee und paramilitärischen Gruppierungen. UNHCR rechnet bis Herbst mit einer Million Geflüchteter.
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1.1
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Weniger Arbeit, gleicher Lohn
Die Pflegeinitiative, die im November 2021 angenommen wurde und Juli 2023 noch nicht umgesetzt ist, hinkt dem Spital Wetzikon im Zürcher Oberland hinterher. Seine Pflegenden können pro Jahr an 24 zusätzlichen Tagen frei nehmen. Denn seit gut einem Jahr arbeiten die 260 Pflegenden zehn Prozent weniger –statt 42 Stunden pro Woche für eine Vollzeitstelle nur 37,8 Stunden – und erhalten dafür den gleichen Lohn wie vorher.
Mit dem Versuch hatte die Spitalleitung auf die vielen Abgänge in den zwei vorangegangenen Jahren reagiert – 17 Prozent der Pflegenden auf der Intensivstation hatten gekündigt, auf dem Notfall fast 35 Prozent. Die Arbeitsbelastung war hoch, körperliche und psychische Beschwerden waren verbreitet. Also stellte das Spital Wetzikon vor gut einem Jahr zusätzlich 26 VollzeitPflegende ein. Diese Mehrausgaben würden laut einer Sprecherin des Spitals nicht als Kosten, sondern als Investition gesehen, wie die UniaZeitung Work schreibt. Doch: Mit den heutigen Tarifen lasse sich dieses Model auf Dauer nicht finanzieren, relativierte die Sprecherin mit Blick Richtung Politik die ansonsten ziemlich gute Bilanz.
Seit der Reduktion der Arbeitszeit, die vorerst bis Ende Jahr bestehen bleibt, haben weniger Pflegende gekündigt, auch waren weniger krank. Zudem erhält das Spital nun mehr Bewerbungen und muss weniger häufig auf Temporärkräfte zurückgreifen. Zuvor erhielt das Spital auf Stelleninserate teilweise keine einzige Bewerbung. LEA
Vor Gericht
Nachsitzen vor Gericht
«Gerechtigkeit erhöhet das Volk» steht am Bezirksgericht Bülach quer über den Eingang. Genau das verlangt auch der Kläger, ein 34-jähriger Kosovare. Er hat zwei Polizeibeamt*innen angezeigt, die ihn vor drei Jahren frühmorgens aus dem Bett geklingelt haben und in seine Wohnung eingedrungen sind. Wobei es nicht einmal um ihn ging: Die Polizei suchte seinen Bruder.
Der war vier Tage zuvor auf einem Motorrad bei einer Geschwindigkeitsübertretung erwischt worden. Zwar hatte die Polizei sowohl eine gültige Laser-Messung als auch ein Video der Fahrt und sogar ein Geständnis. Nun wollte man zusätzlich die Fahrtenschreiber-App auf dem Mobiltelefon des Töfffahrers auswerten. Auch besagtes Handy hatten die Behörden bereits beschlagnahmt – was aber fehlte, war der Code. Diesen wollten die beiden Polizist*innen an jenem Morgen beschaffen.
Warum sie ihn beim Kläger im vorliegenden Fall vermuteten, ist unklar. Der Polizei hatte sein Bruder gesagt, dass er bei seiner Freundin wohne – sein Anwalt hatte auch deren Nummer und hätte ihn jederzeit kontaktieren können. Bezüglich der Gewaltanwendung lüge der Kläger, der eine Beamte habe ihn zwar gestreift, als er die Wohnung betrat, aber nicht an der Hand gepackt, den Arm auf den Rücken gedreht und ihn an die Wand gedrückt.
von der Polizei, hat er dem zuständigen Einzelrichter zuvor gesagt. Nicht nur wegen dem Vorfall selbst. Als er die Anzeige machen wollte, habe man ihn ausgelacht. Einen ganzen Tag lang klapperte er die Posten ab – erst im vierten Anlauf klappte es.
Enttäuschend ist auch das Schweigen der Polizist*innen während der Verhandlung. Das Aussageverweigerungsrecht gilt zwar auch für sie – doch wünschte man sich mehr von ihnen als schmallippige Verweise auf Aussagen bei der Staatsanwaltschaft.
Stattdessen lassen sie ihre Rechtsvertreter eine Auswahlsendung juristischer Abwehrsalven abfeuern. Erstens brauchte man keinen Durchsuchungsbefehl, weil es ja a) gar keine Hausdurchsuchung im eigentlichen Sinn gewesen sei, und b) selbst wenn, dann habe es die besagte Anordnung der Staatsanwaltschaft gegeben, c) gemäss Polizeiverordnung in diesem Fall gar keine nötig gewesen wäre und d) Gefahrenverzug gegeben war – also eine Sachlage, bei der ein Schaden eingetreten wäre oder Beweismittel verloren gegangen wäre. Konkret: Der Bruder des Beschuldigten hätte die Daten in der App via Cloud löschen können.
Damit können sie den Einzelrichter nicht überzeugen. «Sie haben doch eine Polizeiausbildung!», sagt er zu den beiden. Die Beamt*innen hätten wissen müssen, dass die Voraussetzungen für das Betreten der Wohnung nicht gegeben waren. Er spricht die beiden des Amtsmissbrauchs und Hausfriedensbruchs und den einen Beamten wegen Tätlichkeiten schuldig –keine Bagatellen, wie der Richter anfügt. Vielleicht haben sie die Lektion nun verstanden.
An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.
Dem Geschädigten, der den Prozess in den Zuschauerrängen mitverfolgt, fällt es sichtlich schwer, den Ausführungen der Verteidigung zuzuhören. Er sei enttäuscht
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.
Verkäufer*innenkolumne
Flasche oder Brunnen
Wir alle brauchen jeden Tag Wasser zum Trinken, damit wir überhaupt leben können. Doch welches Wasser trinken wir – ich meine, welches trinken Sie?
Trinken Sie selbst Wasser aus dem Hahn oder aus der Flasche? Wenn aus der Flasche: welches? Ich finde: Diese Vio, Römerquelle, Bonaqa, Valser, Pure life, Eva, Vittel, Evian, Natural Spring Water, Nestlé-Vera, San Pellegrino sind auch nur Wasser und kosten viel. Die Firmen Nestlé, Coca-Cola, Pepsi und Danone verdienen sich eine goldene Nase damit und lassen andere Menschen an Durst sterben. Diese Konzerne pumpen ein Allgemeingut ab, verkaufen es in Flaschen an die Bevölkerung zurück und schaffen sich damit an einigen Orten der Welt das Monopol auf Wasser.
Und wie sieht es bei uns aus? Warum geben viele Leute so viel Geld aus für Flaschenwasser? Werbung und Marketing beeinflussen. Das Flaschenwasser wird mit Lastwagen weit herumgekarrt und
muss auch verpackt werden. Die Schweiz ist ein Wasserschloss, trotzdem importieren wir pro Jahr so viel Wasser wie das Volumen des Pfäffikersees. Als ich im Jahr 2012 von den Verbrechen der Coca-Cola-Company erfuhr, habe ich mich entschieden, sie zu boykottieren.
Wasser aus der Leitung ist so gut wie gratis. Am Brunnen ist es ganz gratis. Seit ich aufgehört habe, Getränke zu kaufen, ist mir bewusst geworden, wie viele Brunnen mit Trinkwasser sich in meiner Umgebung befinden. Egal, wo ich bin. Als ich an der Talstation der Stanserhorn-Bahn war, wollte ein Angestellter gerade das Tor zum Brunnen schliessen, als ich fragte, ob ich noch kurz trinken dürfe. Natürlich durfte ich. Der Mann wies auch zu Recht darauf hin, dass dieser Brunnen das bessere Wasser habe als jedes «Fläschlizüüg». Auch wenn ich mit dem Strassenfussball spielen gehe, kaufe ich keine Getränke mehr. Ich weiss, wo der nächste Brunnen steht. Auch an meinem Verkaufsstandort in Oerlikon
gibt es zwei Brunnen, einen am Marktplatz und einen bei der Post. In Winterthur Veltheim, wo ich wohne, stehen vierzehn Brunnen in nächster Nähe. Die Quartierzeitung hat sogar mal einen Wettbewerb dazu gemacht. Das Wissen darum, wie unsauber die Geschäfte der grossen Getränkekonzerne sind, hat mich dem Brunnenwasser nähergebracht. Plötzlich achte ich darauf, wo überall Brunnen mit Trinkwasser stehen.
Ach ja: Es ist übrigens interessant, dass gekauftes Flaschenwasser Namen trägt wie Natural Spring Water, Pure Life oder Bonaqa. Die Natürlichkeit muss daherbehauptet werden. Am Brunnen um die Ecke ist das nicht nötig.
MICHAEL HOFER, 43, verkauft Surprise in Zürich Oerlikon. Er empfiehlt den Schweizer Dokumentarfilm «Bottled Life – Nestlés Geschäfte mit dem Wasser», der auf Play Suisse gestreamt werden kann.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
6 Surprise 554/23 ILLUSTRATION: ANDRI GOTSCH
Die Zukunft der Schlechtwetterentschädigung
Die Arbeitslosenversicherung kennt im Wesentlichen vier Formen von Leistungen: die Arbeitslosenentschädigung, die Kurzarbeitsentschädigung, die Schlechtwetterentschädigung und die Insolvenzentschädigung. Verlieren Erwerbstätige die Möglichkeit, gegen Lohn zu arbeiten, erhalten sie eine dieser Unterstützungsleistungen. Die mit grossem Abstand wichtigste materielle Hilfe sind die Taggelder der Arbeitslosenentschädigung. 2021 beliefen sich diese Leistungen auf einen Betrag von 6,3 Milliarden Schweizer Franken. Doch unerwartete Ereignisse können die anderen Unterstützungsleistungen in den Vordergrund rücken. So erreichte während der Pandemie die Kurzarbeitsentschädigung grosse Bedeutung. 2021 wurden dafür weitere 5,6 Milliarden Schweizer Franken an Arbeitskräfte ausbezahlt, die nicht mehr zum angestammten Beschäftigungsgrad erwerbstätig sein konnten. Mit dem raschen Ausbau dieses Instrumentes konnten viele Haushalte vor der Verarmung geschützt werden. Hingegen fristet bis heute die Schlechtwetterentschädigung mit Ausgaben von gerade mal 24 Millionen im Jahr 2021 ein absolutes Mauerblümchendasein. Doch das könnte sich in der von Jahr zu Jahr sich verschärfenden Klimakrise bald ändern.
«Die Schlechtwetterentschädigung leistet einen angemessenen Lohnersatz für wetterbedingte Arbeitsausfälle für Arbeitnehmende in bestimmten Erwerbszweigen», ist auf der Webseite des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO zu lesen.
Doch was heisst «angemessen», was «wetterbedingt», und welche Erwerbszweige sind gemeint? Die Schlechtwetterentschädigung deckt nach einer kurzen Karenzfrist 80 Prozent des entgangenen Lohns ab. Eine Kürzung auf 70 Prozent für Personen ohne Unterhaltspflichten, wie dies bei der Arbeitslosenentschädigung der Fall ist, gibt es hier nicht. Dabei ist ein Arbeitsausfall dann wetterbedingt, wenn infolge der schlechten Witterung die Fortführung der Arbeit trotz genügender Schutzvorkehrungen technisch unmöglich ist, wirtschaftlich unvertretbar ist oder den Arbeitnehmenden nicht zugemutet werden kann. Anträge auf Schlechtwetterentschädigung können zum Beispiel Firmen aus dem Hoch und Tiefbau, dem Geleise und Freileitungsbau, dem Landschaftsgartenbau oder der Berufsfischerei stellen.
Mit Blick auf die Klimakrise wird es eine Reform der Schlechtwetterentschädigung brauchen. Schlechtwetter heisst dann nicht mehr nur starker Niederschlag oder Kälte, sondern wird auch Wetterlagen mit starker Hitze abdecken müssen. Angemessen kann sich dann nicht mehr nur auf die 80 Prozent des entgangenen Lohns beziehen, sondern muss, wie das bei der Kurzarbeitsentschädigung geschehen ist, eine Untergrenze festlegen, um ein Absinken unter die Armutsgrenze und einen zusätzlichen Bezug von Sozialhilfe zu vermeiden. Schliesslich muss der Bundesrat die Liste der Erwerbszweige ergänzen. Es gibt weitere Berufsgruppen, die «draussen» arbeiten. Zu denken ist etwa an weite Teile der Gastronomie, an die Strassenreinigung oder Landwirtschaft.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Arbeitslosenentschädigung Kurzarbeitentschädigung Schlechtwetterentschädigung
Insolvenzentschädigung
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12 INFOGRAFIK: BODARA QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN (2023) : SCHWEIZERISCHE SOZIALVERSICHERUNGSSTATISTIK 2022, S. 102. Die Sozialzahl
6334 5648 24
Ausgaben für Entschädigungsleistungen der Arbeitslosenversicherung 2021 (Ausgaben in Mio. CHF)
(Un)guter Hoffnung
Asyl Wer in der Schweiz ein Kind erwartet, hat das Privileg einer adäquaten Versorgung. Es sei denn, die Schwangere ist eine Asylsuchende.
TEXT NAOMI GREGORIS ILLUSTRATIONEN DINAH WERNLI
DIE MUTTER
«Komm rein!» Zaynab hält die Tür zu ihrer geräumigen Wohnung in einem Basler Vorort auf. Ein langes dunkelblaues Sofa steht an der Wand, davor ein Tisch und ein ausgeschalteter Fernseher. Aus den anderen Zimmern ist lauter Jubel zu hören. Ihre Tochter, sagt Zaynab und deutet auf das Sofa. «Setz dich doch.» Sie ruft ihren Mann Hussein, der mit einem Glas Wasser aus der Küche kommt und sich dazusetzt. Dann fangen sie an zu erzählen.
Zaynab und Hussein lernten sich in Somalia kennen und hatten zwei Kinder, bevor Zaynab 2008 mit dem zweiten in die Schweiz flüchtete. Das erste Kind liess sie bei der Mutter zurück. Hussein kam nach, schaffte es aber nur bis Italien. Für Zaynab folgten Stationen in Allschwil und Frenkendorf, in engen, kalten Zimmern in Asylunterkünften, die sie mit anderen teilen musste. Hussein führte in Italien informell kleine Jobs aus und stieg an den Wochenenden in den Zug, um bei seiner Frau zu sein. Er versuchte, sich unauffällig zu verhalten, lernte, welche Uhrzeiten günstig waren, um nicht vom Grenzschutz abgefangen zu werden. Bald wurde Zaynab schwanger mit dem dritten Kind. Sie fürchtete sich vor der ersten Schwangerschaftskontrolle, wünschte sich, eine Frau würde sie untersuchen. «Aber ich durfte nicht wählen.» Der Gynäkologe wurde ihr zugewiesen, die Möglichkeit, sich jemand anderes zu suchen, stand nicht im Raum.
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Eine schwangere asylsuchende Frau untersteht in der Schweiz (wie alle Asylsuchenden ab dem Punkt der vorläufigen Annahme) dem Krankenversicherungsobligatorium. Das heisst: Sie hat während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett dieselben Rechte auf gesundheitliche Versorgung wie eine Schweizer Frau. Theoretisch. Denn «Gesundheitliche Versorgung» ist ein breit auslegbarer Begriff. Für asylsuchende Frauen bedeutet er das Minimum an nötiger medizinischer Begleitung. Ein Minimum, das hier, bei dieser ersten Kontrolle durch den Gynäkologen, für Zaynab deutlich fühlbar wird.
Denn wäre Zaynab Schweizerin, könnte sie sich eine Gynäkologin suchen; in der Schweiz haben alle das Recht auf freie Ärzt*innenwahl. Für eine Asylsuchende gilt dieses Recht offenbar nicht. Stattdessen hat Zaynab: das Recht auf einen Wunsch. «Frauen und Mädchen aus dem Asylbereich haben ein Anrecht darauf, den Wunsch zu äussern, von weiblichem Gesundheitspersonal untersucht (...) zu werden», schreibt das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte 2019 in einem Bericht.
Zaynab wünschte sich eine Gynäkologin, unter anderem, weil sie, wie 98 Prozent der Frauen in Somalia, beschnitten ist. Die Scham darüber holt sie heute noch manchmal ein, auch wenn sie mittlerweile häufig in Wut umgeschlagen ist. Über ihre Mutter, ihre Tanten und Schwestern in Somalia, die es weiterhin zulassen, dass die Mädchen in der Familie beschnitten werden. Was dort auf taube Ohren stösst, ist für Zaynab und Hussein in der Schweiz zu einem wichtigen Ehrenamt geworden: Sie klären Familien aus afrikanischen Ländern über die Folgen der Mädchenbeschneidung auf, richten Infoanlässe aus und organisieren Treffen. Zaynab und Hussein gehören nicht zu denen, die stumm Dinge über sich ergehen lassen. Zumindest nicht mehr.
Die ersten beiden Geburten in Somalia waren nicht gut, sagt Zaynab. Aber diese dritte Schwangerschaft sei besser gewesen, trotz der tiefen Eisenwerte und der Schwangerschaftsdiabetes, die Zaynab entwickelte. Sie war froh um die Dolmetscherin vom Roten Kreuz. Als die Wehen losgingen, war Hussein glücklicherweise gerade im Land. Sie fuhren ins Bruderholzspital, die Geburt dauerte lange und endete mit einem Dammschnitt. Im Rückblick war es ok, sagt Zaynab. Aber Hussein hätte sich mehr Informationen gewünscht, mehr Möglichkeiten zur Mitsprache. Gerade als es um diesen Dammschnitt ging, den man plötzlich sehr schnell machen wollte. «Ich konnte nur danebenstehen und zustimmen. Ich wusste, dass wir oder Zaynab das Recht hätten, zu widersprechen. Aber was bringt uns dieses Recht, wenn wir kaum verstehen, was sie uns sagen?»
Eine Geburt ist unvorhersehbar, das Machtgefälle zwischen Ärzt*innen und Gebärenden im Spital immer vorhanden. Auch Schweizerinnen berichten von Eingriffen, die sie überrumpelten oder wo zu wenig Konsens herrschte. Andere wiederum erleben bestärkende, schöne Geburten. In Zaynabs Fall geht es aber um etwas anderes. Eine Frau, die die Kultur und Sprache des Landes versteht, gebärt aus einer anderen Ausgangslage heraus als eine, die diese Privilegien nicht hat.
Nach ein paar Tagen durfte Zaynab nach Hause, zurück in die Asylunterkunft in Frenkendorf, wo sie sich mit einer eritreischen Frau mit zwei Kindern ein Zimmer teilte. Ein Vorhang trennte die beiden, aber es kam trotzdem zu Streit. Einmal habe die Mitbewohnerin in ihrer Wut eine Gabel über den Vorhang geworfen, weil ihr Zaynabs Baby zu laut schrie. Das Wochenbett war entsprechend anstrengend, besonders auch, weil Hussein nach fünf Wochen wieder nach Italien musste, um in einem Minijob Geld zu verdienen. Zaynab blieb alleine mit den zwei Kindern zurück. Als sie nach ein paar Monaten von einer Einzimmerwohnung in der Nähe hörte, meldete sie sich beim Vermieter und zog um. Nach mehr als zwei Jahren auf der Flucht und in Provisorien hatte sie endlich einen eigenen Raum für sich und ihre Familie gefunden.
Zaynab würde noch dreimal schwanger werden, und mit jedem Mal wurden die Geburten besser. Sie suchte sich eine familienbegleitende Hebamme über das Rote Kreuz und gebar mit ihrem Gynäkologen, zu dem sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Mittlerweile wohnen sie in einer grossen Wohnung, Hussein durfte von Italien in die Schweiz ziehen, er arbeitet als Koch, und seit 2015
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beziehen sie keine Sozialgelder mehr. Ihr fünftes, jüngstes Kind ist jetzt ein paar Monate alt. Die Tochter bringt es im Laufe des Gesprächs ins Wohnzimmer, wo Zaynab es stillt. Es seien jetzt aber genug Kinder, sagt sie, ihre Stimme klingt bestimmt.
DIE POLITIK
Am 9. Juni 2016 reichte die SPNationalrätin Yvonne Feri ein Postulat zur «Analyse der Situation von Flüchtlingsfrauen» ein. Es geht darin um die Frage, ob geflüchteten Frauen in der Schweiz genug Unterstützung und Schutz –etwa durch sensible Unterbringung in den Asylzentren –geboten wird. Das Postulat wurde 2017 vom Nationalrat angenommen, worauf das Staatssekretariat für Migration (SEM) sowie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SODK) eine Analyse der Situation auf Bundesebene durchführten.
Für die kantonale Ebene beauftragten sie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) mit einer Studie. Darin wurden Leitungs und Betreuungspersonen in den kantonalen Unterkünften, medizinisches Erstversorgungspersonal und spezialisierte Fachpersonen in fünf ausgewählten Kantonen befragt. Asylsuchende sowie junge Frauen gehörten nicht zu den Befragten – Gründe dafür wurden keine genannt. Die Lage in den kantonal betriebenen Notunterkünften und Ausschaffungsgefängnissen wurde nicht untersucht.
2019 erschienen die Berichte zur Erfüllung des Postulates. Nur derjenige des SKMR bezog sich auch auf geflüchtete Frauen vor und nach der Geburt. Die erhobenen Missstände sind vielfältig, grob lassen sie sich in fünf Kategorien unterteilen:
1. Unterbringung: Es gibt keine Unterbringungskonzepte oder Räumlichkeiten für vulnerable Gruppen, zu denen auch Schwangere oder Frauen mit kleinen Kindern gehören. Oft fehlen geschlechtergetrennte Sanitäranlagen oder separate Zimmer für Mütter mit Neugeborenen. Frauen, die eben erst geboren haben, verfügen somit oft über keinen Ort, wo sie sich erholen oder in Ruhe stillen können. «Viele Frauen und Mädchen fühlen sich in den Unterkünften subjektiv nicht sicher, und es kommt dort immer wieder zu Übergriffen und Gewalttaten», schreibt das SKMR im Bericht. Für die Kantone bestehen keinerlei rechtlich bindende Bestimmungen zur gendersensiblen Unterbringung von Asylsuchenden.
2. Fachpersonal: Frauen haben in den Unterkünften keinen systematischen Zugang zu weiblichen An
sprechpartnerinnen, weder wenn es um die Betreuung noch um die medizinische Versorgung oder Sicherheit geht. Die obligaten Schwangerschaftsuntersuchungen finden im Spital statt. Für Triage und medizinische Betreuung in den Bundesasylzentren und Kollektivunterkünften ist medizinisches Personal zuständig, das nicht ausreichend zum Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit sensibilisiert ist. Hebammen und Gynäkolog*innen gehören in der Regel nicht zum Personal.
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3. Informationen: Vor allem in kleinen Kantonen haben Frauen keine Wahlfreiheit, was die perinatale Versorgung angeht (Schwangerschaftsbegleitung, Geburtsvorbereitung, Geburt, Wochenbett, Nachsorge). Es fehlen spezialisierte Kurse, die Angebote sind überlastet oder schwer zugänglich. Die Wege sind oft lang, Fahrtkosten werden keine übernommen, es gibt keine geregelte Kinderbetreuung. Frauen und Mädchen aus dem Asylbereich werden kaum systematisch über sexuelle und reproduktive Gesundheit, ihre sexuellen Rechte und diesbezügliche spezialisierte Angebote informiert. Dasselbe gilt für medizinische Behandlungssettings, wodurch es immer wieder zu Behandlungen ohne Einwilligungserklärung kommt, auch während der Geburt.
4. Sprache: In den Unterkünften und in der medizinischen Erstversorgung gibt es keine oder kaum Dolmetschdienste. Im stationären Bereich dürfen seit 2019 Kosten für Übersetzungs und Dolmetschdienste, die für die Durchführung einer Behandlung erforderlich sind, über die Krankenversicherung abgerechnet werden. Für Geburten gilt das nicht.
5. Mentale Gesundheit. Im Wochenbett fehlen Screenings auf psychische Erkrankungen, obwohl bekannt ist, dass solche gerade bei gewaltbetroffenen Frauen aus dem Asylbereich gehäuft auftreten. Nach dem Wochenbett fehlen oftmals nachfolgende Angebote, weshalb viele Mütter auf ihr persönliches Netzwerk zurückgeworfen werden und bei dessen Fehlen unter Isolation leiden. Wegen mangelhafter Triage oder Übergängen zwischen Bundeszentren, kantonalen Unterkünften und der Unterbringung in Gemeinden gehen die Daten von Frauen mit Unterstützungsbedarf oft verloren, was dazu führt, dass Betroffene keine nachfolgende medizinische Unterstützung bekommen.
Ein 6. Punkt, der in Studien immer wieder zur Sprache kommt, steht nicht in den Berichten: Gesundheitsdossiers. In den Asylzentren hat zwar jede Person ein medizinisches Dossier, geführt vom Pflegefachpersonal vor Ort. Aber ein extern behandelnder Arzt, zum Beispiel ein Gynäkologe in einem Spital, teilt aus Vertraulichkeitsgründen sein Patient*innendossier nicht mit dem Pflegefachpersonal in den Asylzentren. Dossiers aus dem Aufnahmeland, etwa Italien, sind oft unauffindbar, weil die Frauen sie aus Angst vor Konsequenzen entsorgt haben. Medizinische Informationen zu einer bestehenden Schwangerschaft sind also oftmals nicht vorhanden, und wenn doch, dann meist nur in der Frage «Schwanger: Ja – Nein».
Das SKMR empfiehlt in seinem Bericht die Bereitstellung von finanziellen Ressourcen für von weiblichen Personen durchgeführte transkulturelle Dolmetschdienste, ein Konzept für gendersensible Unterbringung, eine Gewährleistung weiblicher Ansprechpersonen, Schulung von Personal und Ausbau von geburts und wochenbettspezifischen Angeboten. Bisher passiert ist: nichts. Im 32seitigen Konzept des Bundesrates kommt das Wort «Schwangerschaft» viermal vor, immer in Kombination
mit den Eintrittsfragen wie «Sind Sie schwanger?». Massnahmen, die spezifisch für Frauen vor und nach der Geburt gelten, sind nicht vorgesehen.
Dasselbe gilt für den Bericht, den das Staatssekretariat für Migration 2021 zur Umsetzung der Massnahmen publizierte. 2019 erklärte die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) in einer Medienmitteilung, dass man zusammen mit Fachpersonen der Kantone und Gemeinden ein Merkblatt mit praktischen Leitlinien zur gendersensiblen Unterbringung und zur Identifikation von traumatisierten Personen erarbeite. Der Leitfaden ist bis heute nicht erschienen. Auf Anfrage heisst es bei der SODK, man verfüge momentan nicht über die Ressourcen, um in der Umsetzung des Postulats voranzukommen. Es sei nicht vorgesehen, die Bedürfnisse von schwangeren Frauen speziell zu berücksichtigen, aber im Allgemeinen würden Schwangere wie andere vulnerable Personen zur Anspruchsgruppe dieses Leitfadens gehören. Kurz: Das Thema bleibt auf der Strecke, die Leidtragenden sind die Frauen.
DIE WISSENSCHAFT
Während die Mühlen von Behörden und Politik langsam mahlen, gibt es in der Wissenschaft klare Worte für die Situation: «Trotz der günstigen rechtlichen Voraussetzungen haben asylsuchende Frauen in der Schweiz keine adäquate Versorgung», heisst es 2021 in einem Artikel der Fachzeitschrift Public Health Forum.
Schwangere geflüchtete Frauen, schreiben die Autor*innen, stehen unter einem hohen Risiko für psychische Belastungen. Der unsichere Aufenthaltsstatus und die schwierigen Wohnbedingungen bilden einen direkten Zusammenhang mit der Gesundheit und Geburtserfahrung der Frau. Asylsuchende Frauen haben höhere Raten von Frühgeburten, Totgeburten, Kaiserschnitten, Schwangerschaftsabbrüchen und postpartalen Depressionen. Frauen, die die Sprache und Kultur des Aufnahmelandes nicht kennen, trauen sich weniger, eines der spärlichen Angebote in Anspruch zu nehmen, die ihnen eine Stütze sein könnten. Ein niedriger sozioökonomischer Status, Sprachbarrieren, ein relativ kurzer Aufenthalt im Aufnahmeland und ein später Beginn der Schwangerschaftsvorsorge erhöhen die mütterliche Morbidität im Vergleich zu anderen Migrantinnen und der einheimischen Bevölkerung.
Um bedarfsgerechte Ansätze zu entwickeln, so die Autor*innen, brauche es eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sichtweise der Betroffenen. Derzeit läuft an der Berner Fachhochschule die partizipative Studie REFPER; sie untersucht, welche Bedeutung geflüchtete Frauen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zuschreiben, welche Bedürfnisse sie diesbezüglich haben und welche Erfahrungen sie im schweizerischen Gesundheitssystem machen.
Die Forschung zeigt: Versorgung geht Hand in Hand mit Gesundheit. Stimmt die Versorgung nicht, sind auch die gesundheitlichen Rechte nicht gewährleistet. Aber
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wenn Politik und Behörden diesen Frauen nicht helfen, wer dann? Die Antwort lautet: Andere, vorwiegend gratis arbeitende Frauen.
DIE HEBAMMEN Vor einem Asylzentrum einer Schweizer
Grossstadt steht Sandra M. Sie ist Teil einer Gruppe von freischaffenden Hebammen, die asylsuchende Frauen während Schwangerschaft und Wochenbett im Asylzentrum begleitet. Sie bringen den Frauen Essen, das sie aus Hygienegründen selbst nicht auf ihre Zimmer nehmen dürfen, nährende Dinge wie Trockenfrüchte und Nüsse, geben Geburtsvorbereitungskurse, klären auf. Die Wochenbettbesuche können sie abrechnen lassen, bei komplikationsreichen Schwangerschaften manchmal auch Besuche während der Schwangerschaft. Aber ein grosser Teil ihrer Arbeit geschieht ehrenamtlich. «Es ist übel», sagt Sandra M., während sie den kleinen Innenhof entlangläuft. Platzmangel, schlechtes Essen, fehlende Ressourcen – die Liste ist lang. «Die Pflegefachpersonen hier
geben alles», sagt sie, das Engagement sei riesig. «Aber es reicht einfach nicht.» Die Wöchnerin, die Sandra M. heute besucht, ist 21 Jahre alt und kommt aus dem Iran. Nennen wir sie Mina. Seit sechs Jahren ist Mina auf der Flucht, ohne Familie oder Bekannte. In Griechenland hat sie ihren Freund kennengelernt und wurde von ihm schwanger. Vor zwei Monaten hat Mina Zwillinge geboren, ein Kaiserschnitt. Ihr gehe es nicht besonders gut, sagt Sandra M., sie vermutet eine postpartale Depression.
Minas Freund steht vor der Treppe zum Einzelzimmer, das sie als ausserordentliche Massnahme zugewiesen erhielten. Ihre Zwillinge wurden in der 28. Woche geboren, die kleine Familie gilt somit als vulnerabel, mit Anrecht auf einen eigenen Raum. Die meisten Wöchnerinnen teilen das Zimmer mit einer anderen Familie. Schwangere mit bis zu fünf weiteren Frauen.
«Es geht ihr gar nicht gut», sagt Minas Freund leise. Er wisse nicht, wie weiter, sie habe die ganze Nacht geweint. Sandra M. nickt. Wünscht sie sich einen stationären Aufenthalt im Spital? «Ja, das wäre gut», sagt der Freund. Er verabschiedet sich, weil er einen Termin bei einem An
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walt hat. Er will herausfinden, wie viel Zeit sie noch haben, bevor seine kleine Familie möglicherweise ausgeschafft wird. Nach der Geburt gibt es in der Schweiz keine rechtlich geregelte Schutzfrist. Die Angst ist gross, im Zentrum trifft es gerade viele Menschen. Sie müssen zurück ins Aufnahmeland, er hat die Geschichten mitbekommen.
Im Zimmer liegt Mina neben ihren schlafenden Zwillingen. Das Zimmer ist eng und stickig, ein grosses Kajütenbett steht an der Wand, überall sind Tücher und Babykleidung zum Trocknen aufgehängt. Aus einem kleinen Fenster dringt Licht herein, draussen ist eine Backsteinmauer zu sehen. Mina wirkt müde, abgekämpft. Leise berichtet sie von der Impfung, die ihre Babys bekommen haben. «Und wie geht es dir?», fragt Sandra M. Weine Mina viel, habe sie schlimme Gedanken? Mina nickt. «Nicht gut.» Sie erzählt, wie sie einmal mehr als zwei Stunden schlafen konnte. «Bis sie gekommen sind.» Die vom Asylzentrum, um das Zimmer zu durchsuchen. Das machen sie ein mehrmals die Woche. Um nachzuprüfen, ob man nichts hereingeschmuggelt habe. Sie schaut auf ihre Hände, sagt, sie wolle raus. «Soll ich im Spital anrufen?», fragt Sandra, die Stimme ruhig, mitfühlend. Mina nickt.
Sandra M. hat auf der stationären Abteilung des Spitals der Stadt angerufen. «In einer Woche darfst du einchecken.» Sie lächelt. Mina knetet ihre Hände. «Ok», sagt sie. Sie hat Angst, ausgeschafft zu werden, 21 Jahre, Mutter von acht Wochen alten Zwillingen, pausenlos traurig.
Es sei nicht einfach, sagt Sandra M. später vor dem Ausgang des Zentrums, dieses Zurechtkommen in beiden Welten. Sie hat selbst ein Kind, wohnt in der Stadt mit ihrem Freund, knapp 15 Minuten entfernt. Dazwischen eine Kluft.
DER KURS
Es ist Dienstagabend. In einem Kursraum des Universitätsspitals
Basel (USB) stehen ein paar Frauen und plaudern. Neben ihnen sind acht Stühle in einem Kreis angeordnet, dahinter ein Flipboard mit Fragen auf laminierten Blättern: Wann muss ich ins Spital? Was wünsche ich mir für die Geburt? Wer kommt mit? Danielle B. spricht mit der ruhigen Resolutheit, wie sie nur Hebammen haben. «Ich glaube, wir sind für heute vollzählig.» Sie bittet alle, auf den Stühlen Platz zu nehmen. Eigentlich sind es sechs Teilnehmerinnen, aber eine kommt heute nicht, sie muss arbeiten, eine andere kann wegen Schwangerschaftskomplikationen nicht dabei sein. Danielle B. schaut in die Runde. Eine Somalierin, eine Ukrainerin, eine Marokkanerin und eine Syrerin sind anwesend. Dazu zwei interkulturelle Dolmetscherinnen vom HEKS – Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz. «Wie geht es euch?», fragt Danielle B. und die Frauen nicken. Ganz gut. Sie sind unterschiedlich weit in der Schwangerschaft und haben alle denselben Wunsch: vaginal zu gebären, möglichst komplikationsfrei.
Die Kurse werden seit 2018 von der Frauenklinik des USB organisiert und angeboten. Sie sind nach dem lizenzierten Konzept des Vereins Mamamundo aufgebaut, der fremdsprachigen Frauen Zugang zu Geburtsvorbereitungskursen ermöglicht und in Studien immer wieder als BestPracticeProjekt genannt wird.
Die Frauen werden in einem intimen Rahmen über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett informiert und haben die Gelegenheit, sich mit anderen Schwangeren auszutauschen. Zudem lernen sie das Schweizer Gesundheitssystem, lokale Versorgungsstrukturen und ihre Rechte kennen. Ein wichtiger Teil des Kurses ist auch, sich mit gezielten Körperübungen zu entspannen und auf die Geburt vorzubereiten und das Vertrauen in den eigenen Körper zu stärken. Die Krankenkasse bezahlt 150 Franken, die restlichen 30 Franken müssen die Teilnehmerinnen selbst zahlen oder die Sozialhilfe übernimmt den Betrag. Da dieser Beitrag die Gesamtkosten nicht deckt, werden die Kurse finanziell vom USB gemeinsam mit kantonalen Stellen getragen: Fachstelle Integration und Antirassismus im Rahmen des kantonalen Integrationsprogramms BaselStadt, Gesundheitsförderung Baselland sowie Prävention BaselStadt im Rahmen der kantonalen Aktionsprogramme (KAP) von Gesundheitsförderung Schweiz. Heute geht es um praktische Fragen rund um die Geburt. Nach einer kurzen Aufwärmsequenz fragt Danielle
B. die Teilnehmerinnen, auf welche Weise in ihrem Land geboren wird. «Es gibt zwei Möglichkeiten», sagt die Frau aus der Ukraine. «Entweder du bist reich. Dann gebärst du wie in der Schweiz. Kein Problem. Für die restlichen 90 Prozent sieht die Realität aber anders aus.» Sie berich
tet von Schmier und Lohngeld für Ärzte, Geld für Medikamente und Zusatzkosten bei Komplikationen oder Kaiserschnitt. Eine Geburt koste zwei Gehälter, mindestens. Hinzu kommt der Zustand der Strassen. «Eine Katastrophe», sagt die Ukrainerin. Bis zu 100 Kilometer müsse man auf kaputtem Asphalt zurücklegen, um ins nächste Spital zu kommen.
Die anderen nicken. In ihren Ländern laufe es ähnlich ab. Bei den Frauen aus den arabischen Ländern dürfen die Männer nicht bei der Geburt dabei sein – und wollen es oft auch nicht. Die Arbeit einer Hebamme ist nicht allen geläufig, bei den meisten nehmen Ärzte die Geburten vor. Hausgeburten gibt es kaum, nur die Somalierin berichtet davon. Sie hat eine diagnostizierte Präklampsie, eine Erkrankung, die mit Bluthochdruck einhergeht und zu Krampfanfällen und verfrühten, schweren Geburtsverläufen führen kann. «In meiner Heimat würde ich bei der Geburt wahrscheinlich sterben», sagt sie.
Die Frauen hätten meist wenig Fragen zur Geburt, sagt Danielle. Aber die Angst, nicht verstanden zu werden, bekomme sie mit. Sie sei ein Stück weit nachvollziehbar, schliesslich gebe es beim Gebären keine Dolmetscherinnen, die einem über längere Zeit beistehen können. Aus diesem Grund werden an der Frauenklinik bereits bei den Schwangerschaftskontrollen professionelle Dolmetscherinnen beigezogen, falls keine ausreichende Kommunikation möglich ist. Während der Geburt kann im Unispital Basel für kurze Gespräche ein TelefonDolmetschdienst in Anspruch genommen werden. Die Kosten übernimmt das Spital.
Nach einer Entspannungsmassage und einer Pause geht Danielle mit den Teilnehmerinnen die Fragen auf dem Flipchart durch. Als es darum geht, wer zur Geburt kommen wird, sagt die Frau aus Somalia, dass sie alleine gebären will. «Sicher? Und niemand kommt mit?», fragt Danielle nach. Die Somalierin verneint. «Das ist total ok», erwidert Danielle aufmunternd. Sie geht affirmativ und pragmatisch mit den Wünschen der Frauen um. «Es ist wichtig, dass ihr für euch einsteht. Das könnt ihr selbst, oder auch eure Begleitung.»
Nach den zwei Stunden bleiben die Frauen noch kurz beisammen und plaudern. Oksana will noch etwas loswerden, es sei wichtig. «Schreib bitte», übersetzt die Dolmetscherin, «dass ich den Menschen hier sehr dankbar bin. Euer Land hat mein Leben gerettet und mir ein Kind geschenkt. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Als dieser Kurs anfing, hatte ich Angst und wollte einen Kaiserschnitt. Aber jetzt», sie zeigt auf Danielle, «versuche ich es auf dem anderen Weg.»
Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde über den Surprise Recherchefonds finanziert. surprise.ngo/recherchefonds
Hintergründe im Podcast: Simon Berginz spricht mit Naomi Gregoris über die Hintergründe ihrer Recherche. surprise.ngo/talk
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Serie: Digitalisierung In einer fünfteiligen Serie machen wir uns auf die Spur der Gräben, welche die Dig italisierung schafft.
Weltuntergang oder Paradies?
Der Kurs der Digitalisierung ist nicht vorgegeben. Wir haben es in der Hand, mitzusteuern und dafür zu sorgen, dass das Digitale nicht exklusiv bleibt.
Die Digitalisierung wird uns als Chance verkauft: Sie verspricht die Demokratisierung des Wissens, den Austausch über die Grenzen von Nationen und Sprachen hinweg, sie bietet Bequemlichkeit und Effizienz. So starteten wir vor einigen Wochen in diese Serie über die schöne neue digitale Welt. Wir wollten herausfinden, wer auf diese Reise mitgenommen wird und wer nicht – und ob sie wirklich hält, was ihre Werber*innen versprechen.
Schnell wurde klar, dass die Digitalisierung eine ganze Liste von Gefahren im Gepäck mitschleppt: Überwachung, Eingriffe in die Privatsphäre, Ausgrenzung oder Diskriminierung. Lauter Risiken, die sehr ungleich in der Gesellschaft verteilt sind. Denn: Wer schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, arm oder schlecht gebildet ist, findet sich schnell auf der «falschen» Seite des digitalen Grabens (siehe Surprise 548/23). Dort, wo Digitalisierung vor allem Überforderung und Ausschluss bedeutet. Diesen Menschen bleibt die schillernde Welt des vernetzten Lebens und die Leichtigkeit, alles mit einem Fingerwisch zu erledigen, verwehrt. Also stellten wir uns die Frage: Wie lassen sich diese Menschen dennoch mitnehmen? Denn die analoge Welt ist eine aussterbende: Bargeld, Ticketautomaten und menschliche Kontakte am Schalter fallen immer weiter reichenden Rationalisierungsmassnahmen zum Opfer.
Die Digitalisierung schliesst aber nicht nur aus und lässt alle zurück, die «nicht spuren». Sie zementiert auch bestehende Machtverhältnisse und unterdrückt jene, die ohnehin nicht auf der Sonnenseite leben (siehe Surprise 553/23). Mit ihren tausenden Augen, gierigen Datenspeichern und endlosen Vernetzungsmöglichkeiten analysiert und überwacht sie das Leben von uns allen. Das Resultat: Grundrechte, Privatsphäre oder das Recht auf Selbstbestimmung vor allem von Ausländer*innen und Migrant*innen werden mit Füssen getreten – alles unter dem Deckmantel der Sicherheit.
Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermö glicht. 5.18
Gibt es denn gar keine Hoffnung, dass die Digitalisierung auch Gleichberechtigung und Fairness bringen kann? Dass sie etwas zum Guten in der Welt beiträgt?
Wir fragen bei Estelle Pannatier nach. Die 28-Jährige ist politische Anthropologin und arbeitet bei AlgorithmWatch Schweiz. Sie untersucht die Einflüsse von algorithmischen Systemen auf uns und unsere Gesellschaft. «Digitale Technologien sind soziale und technische Konstrukte», erklärt sie. «Als solche fliessen unsere Werte in diese ein. Sie sind von Menschen erdacht, entwickelt und eingesetzt.» Mit anderen Worten: Wenn wir bloss wollten, könnten wir die digitale Welt durchaus so gestalten, dass sie für alle da ist. «Wir müssen aber aufpassen, dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, sonst reproduzieren wir einfach die bestehende Ungleichheit oder verschärfen sie sogar», warnt Pannatier. Das bedeutet: Wir sollten darauf achten, dass bestehende Diskriminierungen nicht einfach reproduziert werden, wenn zum Beispiel Algorithmen Lebensläufe und Bewerbungen auf ihre Eignung hin prüfen (siehe Surprise 552/23). Dass in der Vergangenheit mehr Männer eingestellt wurden, bedeutet ja nicht, dass das auch in Zukunft so sein muss. Gerade in diesem Bewusstseinswandel sieht Pannatier auch das Positive. Die Debatte über die ver-
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TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ ILLUSTRATIONEN TIMO LENZEN
Mrd.
Menschen waren im April 2023 mit dem Internet verbunden.
schiedenen Seiten der Digitalisierung rücke bestehende Machtgefüge in den Blick. Wenn wir uns mit den negativen Folgen von digitaler Überwachung, wilder Datensammlung oder den Vorurteilen in Algorithmen beschäftigen, merken wir gleichzeitig auch, «wo wir als Gesellschaft aktuell stehen und wo wir in der Vergangenheit waren». Wenn wir uns mit der Diskriminierung von Gesichtserkennung auseinandersetzen – die mit weissen Männern zum Beispiel besser zurechtkommt als mit Frauen oder PoC (People of Colour, wird als Selbstbezeichnung von vielen rassifiziert gelesenen Menschen verwendet) –, so wirft das auch ein Schlaglicht auf den alltäglichen Rassismus. Ein Rassismus, der gänzlich analog ist. «So lädt die Digitalisierung auch ein, uns zu fragen, ob wir so weitermachen wollen», sagt Pannatier.
Das hört sich gut an. «Leider liegt der Fokus aber noch zu oft ausschliesslich auf Effizienzsteigerung und technologiegetriebener Innovation», relativiert Pannatier sogleich. «Im schnellen Wandel wird zu selten auf die Konsequenzen für alle Menschen geschaut.» Entsprechend fordert sie, dass in der Bewertung der Digitalisierung viel mehr ökologische und soziale Aspekte hervorgehoben werden müssten. «Das Ziel muss eine Entwicklung sein, die für Menschen, Individuen und die Gesellschaft Gutes schafft – und nicht bloss Profite für wenige.»
Kein Stein mehr auf dem anderen Wie gelingt das in einer Welt, die sich rasend entwickelt und von den spektakulären Versprechungen der Industrie vereinnahmt ist? Gerade jetzt, da die sogenannte generative Künstliche Intelligenz – also Programme, die innert Sekunden aus bestehenden Daten völlig neue und kreative Inhalte erstellen können – unsere Welt radikal verändern könnte, lohnt sich ein Blick zurück.
Die transformative Kraft und Geschwindigkeit der Digitalisierung lässt sich mit einer rasanten Pickup-Fahrt vergleichen. Wer am Steuer sitzt, gibt die Richtung vor. Diejenigen auf der Ladefläche müssen sich festhalten –oder sie werden in der nächsten Kurve einfach abgeworfen. Mit jedem sogenannten «iPhone-Moment» nimmt der digitale Pickup dabei weiter an Fahrt auf. Solche Zäsuren unterteilen die Welt in ein Davor und ein Danach –ein Schritt zurück ist kaum mehr möglich. Wie eben 2007, als Apple-CEO Steve Jobs der Welt das erste iPhone präsentierte. Damit legte er zugleich den Grundstein für die
Digitale Meilensteine
Entwicklung der Nutzer*innenzahlen des Internets weltweit
digitale Vernetzung aus der Hosentasche. Dass wir heute an der Migros-Kasse mit Twint bezahlen, unsere Beziehungen über Tinder und Bumble aufgleisen und per Videochat mit unseren Liebsten und Verwandten über tausende Kilometer verbunden bleiben, sind alles Folgen dieses Moments – nicht nur negative.
Und es ist natürlich nicht der einzige transformative Moment in der Geschichte der Digitalisierung – von denen jeder mit je eigenen Grautönen versehen ist. 1999 leiteten Filesharing-Dienste und die grossflächige Verbreitung von mp3-Dateien einen Umbruch der Musik- und Unterhaltungsindustrie ein. Wir tummelten uns auf Plattformen, um «Millenium» von Backstreet Boys oder das Debutalbum von Gorillaz herunterzuladen. Dass sich unsere Geräte dabei ab und zu einen Virus einfingen, war ein unvermeidbarer Kollateralschaden. Zwei Jahre später kam der erste iPod auf den Markt – und damit die Möglichkeit, die gesamte Musik-Bibliothek inklusive allenfalls peinlicher Vergnügen digital mit sich zu tragen. Das CD-Gestell ist seither vielerorts nur noch Dekoration –und Spotify und Netflix gehören heute zu den umsatzstärksten Digitalunternehmen.
2001 startete Wikipedia ihren Dienst – und ermöglichte allen im Internet verbundenen Menschen beinahe uneingeschränkten Zugriff auf Wissen. Wie man konkretes Wissen findet, gleiste Google 1998 mit seiner Suchmaschine auf. Im Gepäck trug Wikipedia auch das Versprechen einer Demokratisierung des Wissens. Nie war es einfacher, Gesagtes, Gesehenes und Gehörtes auf Wahrheit zu überprüfen. Schon drei Jahre später wurde die Idee des digitalen «sozialen Netzwerks» geboren. Was früher ein loses Netz aus Freundschaften, Bekannten und Familien war – geknüpft an Geburtstagsfesten, in Schulklassen oder auf der Arbeit –, transformierte sich mit Facebook in ein digitales Archiv von «Friends», «Likes», Ferien- und Partybildern.
Im Schlepptau verwandelte 2009 WhatsApp unsere tägliche Kommunikation und die Vorstellung, was es bedeutet, miteinander verbunden zu sein. Nur zwei Jahre später befeuerten soziale Netzwerke massgeblich die ägyptische Revolution und andere Graswurzelbewegungen wie Occupy.
Es war ein weiterer «iPhone-Moment», der in seiner Ambiguität besticht: Demokratische Bewegungen sind heute ohne digitale Tools kaum mehr denkbar. Gleichzei-
1999
Individuelle Nutzer*innen in % der Bevölkerung Schätzung 2022
Filesharing führt zu einer radikalen Transformation der Unterhaltungsindustrie, die in den heutigen Streamingdiensten mündet.
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1985 1990 1995 2000
1983
Das Internet wird geboren.
tig hinterlassen sie Spuren im Netz und bieten mehr oder weniger autoritären Staaten die Möglichkeit, mit Überwachung und digitaler Repression Gegensteuer zu geben. Kein Wunder, versuchen Staaten die heute standardmässige Verschlüsselung von WhatsApp-Nachrichten bereits wieder zu untergraben – sei es mit Spionageprogrammen wie Pegasus oder mit der Verwässerung von Verschlüsselung. Und die Freude und Möglichkeiten des Vernetztseins werden immer wieder durch den Druck getrübt, ständig online zu sein. Von den Gefahren durch Fake News, die nicht nur in den sozialen Medien ihre Runden drehen, brauchen wir nicht extra zu sprechen.
Mit dem Beginn der Pandemie nahm die Digitalisierung des täglichen Lebens 2020 vor allem in digital gut vernetzten Ländern wie der Schweiz massiv an Fahrt auf: Videochats, Homeoffice und QR-Codes wurden zum Kitt, der uns in der Isolation und darüber hinaus zusammenhielt. Doch sie zeigten auch, was uns fehlt, wenn wir uns nur noch über viereckige Fenster und eine stockend übertragene Stimme austauschen. Die Geschwindigkeit, mit der gesellschaftliche Prozesse digitalisiert wurden, liess nochmals viele von der Ladefläche unseres digitalen Pickups purzeln – ohne dass man ihnen zuhörte oder sie wahrnahm.
2011
2022
Generative KI-Modelle zeigen, wie einfach sich viele kreative Arbeiten künstlich erledigen lassen und führen zu Angst vor Jobverlust und dem Verwischen der Wirklichkeit.
2020
Mit der Covid-19-Pandemie intensiviert sich die Digitalisierung des täglichen Lebens, aber sie hilft in der sozialen Isolation auch gegen Einsamkeit und Ausgrenzung.
2016
Die Arbeit von Cambridge Analytica verdeutlicht, wie unsere Daten zur Beeinflussung demokratischer Prozesse genutzt werden können.
2009
Mit WhatsApp wird unsere tägliche Kommunikation digital und breit verfügbar. Doch wir hinterlassen damit auch immer mehr digitale Spuren im Netz.
2001
Erster iPod
Wikipedia leitet die sogenannte Demokratisierung von Wissen ein.
2007
2013
Edward Snowden macht die Gefahren durch staatliche Überwachung des digitalen Raums bewusst und betont damit die Wichtigkeit von digitalen Grundrechten und Privatsphäre.
2011
Die Ägyptische Revolution und Occupy Bewegungen werden massgeblich durch digitale Plattformen und soziale Netzwerke geprägt.
Das erste iPhone erlaubt es, die digitale Welt in der Hosentasche zu tragen und immer vernetzt zu sein – aber auch immer online verfügbar sein zu müssen.
2004
Facebook erfindet das «soziale Netzwerk» neu und legt gleichzeitig den Grundstein für Filterblasen und die Verbreitung von Fake News.
Surprise 554/23 19 20 0 in % 40 60 80 2005 2010 2015 2020
Ägyptische Revolution Occupy Bewegung
QUELLE: INTERNATIONAL TELECOMMUNICATION UNION ( ITU ) WORLD TELECOMMUNICATION/ICT INDICATORS DATABASE Europa und Zentralasien Welt SubSahara Afrika
181 ZB
an digitalen Daten werden 2025 pro Jahr anfallen. 2010 waren es noch 2 Zetabytes pro Jahr.
Und eben jetzt, 2023, schlagen wir uns bereits mit den Gefahren der nächsten digitalen Entwicklung herum. Generative KI-Modelle wie ChatGPT oder Midjourney schreiben in Windeseile hübsche Texte und erstellen knallige Bilder. Aber sie drohen auch unsere Wirklichkeit mit künstlichen Inhalten zu fluten, sodass wir die Übersicht komplett verlieren. So gross ist die Angst, dass selbst die grössten Treiber wie Elon Musk, Bill Gates oder Sam Altmann – der CEO von OpenAI, welches ChatGPT entwickelt – vor dem Weltuntergang durch künstliche Intelligenz warnen. Ob sie das aus Eigeninteresse oder aufrichtiger Sorge tun, sei dahingestellt.
Mit Vollgas — oder doch nicht?
Es brennt die Frage auf der Zunge: Ist das jetzt gut oder schlecht? Sollen wir die Digitalisierung verteufeln oder sie wie eine Prophetin begrüssen? «Es kommt halt darauf an, mit welcher Brille wir die Entwicklung anschauen», sagt Pannatier. Das zeige sich in den «iPhone-Momenten» genauso wie im Kleinen: Sie verweist auf die Geschichte des Sans-Papier Ackson, der von der Digitalisierung zugleich ausgeschlossen wird und von ihr profitiert (siehe Surprise 550/23). «Die Digitalisierung hat positive und negative Aspekte. Es gibt Hoffnungen und Chancen der Vernetzung, der Meinungsfreiheit, der Menschenrechte und der Demokratie. Und gleichzeitig wissen wir um die schädlichen Konsequenzen.»
Es wäre einfach, die Digitalisierung rundum zu verdammen: Weil sie andere ausschliesst, weil sie die Welt mit Hass und Unwahrheiten überflutet, weil sie uns zwingt, ständig im digitalen Karussell mitzufahren. Gleichzeitig lässt sie sich nicht aufhalten. Und wer würde schon gerne auf die praktische Fahrplanauskunft in der SBB-App verzichten? Oder auf die Kartendienste, die uns zuverlässig auch in den entlegensten Winkel oder in das beste Kaffee der fremden Stadt lotsen? «Als Gesellschaft ist es unsere Aufgabe, dass wir uns überlegen, wo wir welche Systeme zu welchen Zwecken einsetzen wollen, dass wir die Schäden und Gefahren identifizieren und minimieren und gleichzeitig Alternativen gestalten, von denen alle profitieren», resümiert Pannatier.
Ganz ähnlich sieht es auch Jean-Daniel Strub. Der 48-jährige Ethiker und SP-Politiker befasst sich mit seiner Firma ethix die komplexen Fragen, die sich im Rahmen von Innovation und Digitalisierung stellen. Ich frage ihn, was denn eine faire Digitalisierung bedeuten würde –eine, von der wirklich alle profitieren würden. «Sie beruht
auf dem Prinzip der Gerechtigkeit und der Transparenz», sagt er. Gerade wenn es um Fragen der Exklusion gehe –mangels digitaler Teilhabe zum Beispiel –, beinhalte das auch einen Auftrag an den Teil der Gesellschaft, der von den neuen Technologien profitiert. «Aus der Ungleichheit resultieren Ansprüche an die Allgemeinheit», sagt Strub. Das bedeute unter anderem eine ethische Forderung nach einem Ausgleich, wenn manche von uns vom sinnbildlichen Pickup geschleudert werden. Die Gesellschaft sollte ihnen helfen, wieder aufzusteigen, Sicherheitsgurte anbieten und vielleicht einen Gang herunter schalten.
Ist das Internet nicht mehr für alle da? In der ersten Folge der Serie kam der Internetpionier Vint Cerf zu Wort, der dieses Ziel mit all seinen Hürden formulierte (Surprise 548/23). Und wahrscheinlich werden wir auch durch die Digitalisierung keine Gleichheit erreichen, denn auch digitale Tools werden immer in einem Machtkontext geschaffen, finanziert und verbreitet. Erstaunlicherweise schöpft Estelle Pannatier gerade hier auch Hoffnung –Hoffnung, dass unser Kurs nicht bloss von den Konzernen und deren Interessen bestimmt wird. «Es gibt aktuell eine Tendenz, dass Staaten wieder mehr Verantwortung für Technologien und deren Einsatz übernehmen – wie etwa die Digitalpolitik in der EU», sagt sie. «Das bedeutet auch, dass dies der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion über Werte ist.» Zumindest im demokratisch regierten Teil der Welt, in dem wir zu unserem Glück leben.
Also sollten wir darüber diskutieren, wie wir dafür sorgen können, dass die digitale Welt wirklich für alle da ist – was auch bedeutet, jenen Gehör zu geben, die noch nicht wie wild nach links und recht «swipen», mit der Virtual-Reality-Brille im Metaverse rumgurken oder an der nächsten revolutionären App basteln. Und wenn wir uns die Unterschiede ehrlich vor Augen führen, schärft sich auch der Blick auf die Gefahr der Normierung: Dass uns die Digitalisierung alle in den gleichen Strom zwängt, statt die Vielfalt der Lebensweisen zu feiern. «Die Fehlannahme, dass Digitalisierung den Pluralismus und die Vielfalt automatisch fördert, ist leider weit verbreitet», sagt Strub. Dabei ist zu oft das Gegenteil der Fall: Nur was normiert ist, was dem Durchschnitt entspricht, lässt sich digital gut verarbeiten. Was hingegen aus der Reihe tanzt, fällt auf und wird ausgemerzt. «Es besteht die Gefahr, dass es weniger Toleranz für Phänomene und Verhaltensweisen gibt, die zwischen Stuhl und Bank fallen.»
Digitalisierung: eine Serie in fünf Teilen
Teil 1: Der digitale Graben, Surprise Nr. 548
Teil 2: Fehlender Zugang, Surprise Nr. 550
Teil 3: Ungleiche Datensammlung, Surprise Nr. 552
Teil 4: Migration und Digitalisierung, Surprise Nr. 553
Teil 5: Blick in die Zukunft, Surprise Nr. 554
Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde über den Surprise Recherchefonds finanziert. surprise.ngo/recherchefonds
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Im Schreibprozess
Literatur Der Verein «Weiter Schreiben Schweiz» schafft Öffentlichkeit für Exil-Autor*innen. Und stellt damit die Frage, was nationale Literatur heute ausmacht.
TEXT DIANA FREI
«Weiter Schreiben Schweiz» ist ein Literaturportal für Exil-Autor*innen. Schon im Begriff «Exil» steckt eine Problematik, die das Projekt gerne aus der Welt geschafft hätte: dass hier lebende Autor*innen vor allem durch ihr Fremdsein definiert werden. Schliesslich sollen sie zu einem sichtbaren Teil der Schweizer Literaturszene werden.
Ana Sobral, künstlerische Leiterin von «Weiter Schreiben Schweiz» sagt: «Mit der Bezeichnung ‹Exilliteratur› schaffen wir einerseits eine Schublade. Anderseits ist sie strategisch wichtig. Momentan bekommen wir überhaupt nur
Zugang zum Literaturbetrieb, indem wir sagen: Diese Autor*innen bringen einen anderen Blick auf die Dinge, auf das Weltgeschehen mit.» Und dann gibt es noch ein Ziel: Gleichzeitig ein neues Verständnis einer nationalen –einer Schweizer – Literatur zu schaffen.
Um zu verstehen, dass das nicht so einfach möglich ist, muss man wissen, wo im Literaturbetrieb die grössten Hürden liegen: «Viele Verlage lassen sich in der Regel erst dann auf eine Übersetzung ein, wenn ein Text im Original bereits veröffentlicht wurde. Ohne diesen Schritt ist es fast unmöglich, in der Schweiz zu publizieren», sagt Sobral. Nun sind aber viele Texte der Autor*innen bei «Weiter Schreiben» deshalb nie publiziert worden, weil sie in den Herkunftsländern zensiert wurden. Das macht es schwierig, einen Verlag zu finden.
«Wir versuchen diese Hürde zu überwinden, indem wir Texte übersetzen und auf unserem Portal publizieren. Das sind oft Romanauszüge, Kurzgeschichten und Gedichte, damit die Verlage etwas in der Hand haben und das Potenzial sehen», sagt Sobral. Es sind Autor*innen
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BILD: AHMAD AL RAYYAN
«Weiter Schreiben Schweiz» arbeitet im Web mit eigens kuratierten Illustrationen. Ahmad Al Rayyan hat seinen Bachelor in Ölmalerei an der Fakultät für Bildende Künste in Damaskus gemacht und einen Master an der Hochschule der Künste in Bern draufgesetzt.
dabei, die seit zwanzig oder dreissig Jahren hier sind. Sie werden von der Diaspora gelesen, bleiben im Schweizer Literaturbetrieb aber unsichtbar. «Der afghanische Autor Azizullah Ima etwa lebt seit den späten 1980er-Jahren hier, hat eine enge Beziehung zur persischsprachigen Diaspora, wird auf internationale Festivals eingeladen, aber er wird in der Schweiz nicht übersetzt. Er hat eine eigene Website, auf der er seine Gedichte auf Persisch veröffentlicht.» Auch Autor Ravindran Pathmanathan aus Sri Lanka lebt seit dreissig Jahren in diesem Land, gänzlich unsichtbar in der Literaturszene. «Die Autor*innen üben in der Schweiz einen anderen Beruf aus, weil sie von ihrem Schreiben nicht leben könnten. Gleichzeitig sind sie als Autor*innen in ihren Communitys und in der jeweiligen Diaspora durchaus bekannt», sagt Sobral. «Das war für uns eine Überraschung: dass es im Bereich der Literatur kulturelle Parallelwelten gibt. Es zeigt, wie schwierig der Zugang zum Schweizer Literaturbetrieb ist.»
Zugang zum System
Um Teil von «Weiter Schreiben Schweiz» zu werden, müssen Autor*innen in ihren Herkunftsländern bereits professionell tätig gewesen sein. Der Name ist also Programm: Es geht darum, den beruflichen Wiedereinstieg zu ermöglichen – Autor*innen, die ihren Schreibprozess durch Flucht und Migration unterbrechen mussten, die Gelegenheit zu geben, weiter zu schreiben. Das Projekt wurde 2017 in Deutschland gegründet, seit zwei Jahren existiert es auch in der Schweiz.
Erstes Ziel ist, Texte ins Deutsche und Französische übersetzen zu lassen (in der Romandie unter dem Namen «Écrire encore Suisse») und sie sowohl in der Originalsprache als auch in der Übersetzung online aufzuschalten, sodass sie für Literaturhäuser, Festivals, Verlage einsehbar sind. Das andere sind Lesungen und Kollaborationen mit sogenannten Tandem-Partner*innen: Schreibenden, die hierzulande vernetzt sind in der Literaturszene. Es geht dabei nicht um ein Mentorat im herkömmlichen Sinn, sondern um den Zugang zum professionellen System.
Die Autor*innen bei «Weiter Schreiben» wurden nicht zwingend aufgrund ihrer literarischen Werke verfolgt. Und doch setzen sich die Schreibenden sehr reflektiert mit der Welt auseinander und macht sich damit auch angreifbar. In autoritären Regimen gefährden sich Autor*innen aufgrund ihrer Tätigkeit oder können sich in ihrem Schreiben nicht frei fühlen. Wobei die Freiheit im Exil für viele auch nicht unbelastet ist: Gerade wer politisch verfolgt wird und eben weiter schreibt, lebt auch in Deutschland oder der Schweiz nicht unbedingt in Sicherheit. «Die Autor*innen, mit denen wir arbeiten, sind sehr vorsichtig damit, was sie auf den Sozialen Medien teilen.» Die Geheimdienste ihrer Herkunftsländer haben in der Regel einen langen Arm, und es ist bekannt, dass sie auch in der Schweiz aktiv sind.
Trotzdem ist die literarische Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen, die Auseinandersetzung mit der Lage im eigenen Land für viele erst fern des Herkunftslandes möglich – und stösst damit im hiesigen Literaturbetrieb ganz neue Fragen an: Was bedeutet es, plötzlich so schreiben
zu können, wie man möchte? Was macht es mit einem selbst, mit dem eigenen Schreiben? Oder auch: Wie wirkt sich Zensur auf das Denken aus? «Es ist spürbar, dass sich die Debatten im Literaturbetrieb langsam verändern. Im Literaturhaus Zürich fand ein grosses Kolloquium statt, ‹Literaturen der Schweiz›. Der Fokus lag auf Autor*innen in der Schweiz, die in einer anderen Sprache schreiben. Wir können damit nicht mehr so umgehen wie bislang. Es herrschte Konsens in diesem Raum, dass wir neue Formate brauchen.»
Nun, es bricht etwas auf: Mit Hussein Mohammadi und Shukri Al Rayyan veröffentlichen die ersten zwei Autoren einen Roman auf Deutsch, der zuvor nicht in der Originalsprache erschienen ist. Das Buch des im Iran aufgewachsenen Mohammadi ist bereits im Handel, Al Rayyan wird folgen. «Das ist ein Novum», sagt Sobral. «Ein Roman, der zuerst auf Deutsch erscheint und aus afghanischer Perspektive erzählt. In diesem Fall müsste er nun erst noch in der Originalsprache publiziert werden, um auch die persische Sprachgemeinschaft zu erreichen. Wir erleben einen total neuen Prozess im Literaturbetrieb.»
Das ist auch ein Prozess, den die Schweiz durchlebt, der gesamte deutschsprachige Raum: Das Verständnis davon, was eine sogenannte nationale Literatur ausmacht, dehnt sich aus. «Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der die Nationalliteratur von Deutschland auf Deutsch geschrieben wird und die Schweizer Nationalliteratur auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Rumantsch», sagt Sobral. Und meint damit: Nicht nur die Sprachen, sondern auch das Potenzial der literarischen, postmigrantischen Schweiz wird um einiges reicher.
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«Weiter Schreiben Schweiz», Literaturportal weiterschreiben-schweiz.jetzt
«Die Autor*innen üben in der Schweiz einen anderen Beruf aus, weil sie von ihrem Schreiben nicht leben könnten.»
ANA SOBRAL
Ganz nah dran
Kino Der finnische Spielfilm von Teemu Nikki thematisiert Behinderung nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene, sondern auch konsequent mit formalen Entscheidungen.
TEXT JULIA RÜEGGER
Jaakko führt ein unspektakuläres, gleichförmiges Leben. Wacht er am Morgen auf, rattert erst mal eine weibliche Computerstimme die eingegangenen Anrufe und Nachrichten für ihn herunter, denn Jaakko ist wegen Multipler Sklerose erblindet. Ausserdem sitzt er im Rollstuhl. Sein Bewegungsradius ist äusserst klein und beschränkt sich auf seine – ausgerechnet mit DVDs vollgepackte – Wohnung mit Balkon. Auf diesem sitzt Jaakko allabendlich, während er stillschweigend seiner Nachbarin zuhört, die vom unteren Stockwerk aus über ihn herzieht. Aus der Eintönigkeit und sozialen Isolation holt ihn nur Sirpa (Marjaana Maiyala) heraus, eine Frau, die am anderen Ende Finnlands wohnt und aufgrund einer Vaskulitis-Erkrankung ähnlich eingeschränkt lebt wie Jaakko (Petri Poikolainen). Die beiden telefonieren mehrmals täglich und lauschen zusammen finnischer Popmusik, vor allem aber tauschen sie sich über ihre gemeinsame Leidenschaft für Filme aus. Jaakko hatte sich aus Gründen des Geschmacks standhaft geweigert, sich je auf James Camerons «Titanic» einzulassen, solange er noch sehend war – eine Tatsache, die zwischen Sirpa und ihm längst zum Running Gag geworden ist. (Er ist dafür überzeugter Fan des Horrorfilm-Regisseurs John Carpenter.)
Während die erste halbe Stunde des Spielfilms von Regisseur Teemu Nikki zeigt, wie sich Jaakkos Alltag zwischen Einschränkung und Selbstbestimmung gestaltet (in dem sich der einzige physische Kontakt auf die Besuche der Pflegerin beschränkt),
hebt ein plötzlicher Lottogewinn Jaakkos Leben auf einmal aus den Angeln. Hals über Kopf entscheidet er, zur tausend Kilometer entfernt lebenden Sirpa zu reisen, deren gesundheitliche Situation sich zunehmend verschlechtert. Dazu muss er sich lediglich auf die Hilfe von fünf Fremden an fünf Orten verlassen: von zuhause zum Taxi, vom Taxi zum Bahnhof, vom Bahnhof zum Zug, vom Zug zum Taxi und schliesslich vom Taxi zu ihr. Das sollte machbar sein, würde man meinen.
Aus der Perspektive des Blinden
Von dem Moment an, in dem Jaakko die vertraute Umgebung seiner Wohnung verlässt, wird der Film zunehmend zum Krimi. So wird ihm bereits am ersten Bahnhof der Rucksack gestohlen, und später im Zug fängt er mit der falschen Person ein Gespräch an. Anstatt beim Umsteigen von dem jungen Mann die erhoffte Hilfe zu erhalten, stiehlt dieser ihm sein Handy und fährt Jaakko kurzerhand auf ein verlassenes Gelände. Ein zweiter Mann kommt hinzu und Jaakko wird bedroht und misshandelt, damit er den PIN seiner Kreditkarte preisgibt. Dass diese gewaltvolle Szene aussergewöhnlich lang und wie der ganze Film mit viel Ruhe erzählt ist, macht sie umso bedrückender. Auch der Einsatz der Nahaufnahmen schafft eine geradezu körperliche Intensität, der man sich nicht entziehen kann. «Die Welt, die unsere Hauptfigur umgibt, ist unscharf und weich. Sein Gesicht und seine Hände
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Jaako (Petri Poikolainen) ist seiner Umgebung ausgeliefert, weil er nichts sieht.
sind die Bühne des Films», sagt Regisseur Nikki in einem Interview. Es war sein explizites Anliegen, einen Film aus der Perspektive einer blinden Person zu drehen. Diese radikale Einstellung fasziniert, auch wenn die Darstellung des kapuzentragenden, drogenabhängigen Entführers und seines Gangsterbosses sehr klischiert bleibt. Erst in den allerletzten Filmminuten trifft Jaakko, von seinen Peinigern endlich alleingelassen, auf eine freundlich gesinnte Person, die ihn bis vor Sirpas Haustür bringt. Diese Frau ist neben Jaakko selbst die einzige weitere Figur, deren Gesicht erkennbar wird. Logisch, denn sie lässt es ihn «sehen», will heissen: ertasten.
Im Vergleich zu anderen Spielfilmen, die das Leben blinder und sehbehinderter Menschen in den Fokus rücken, überzeugt der Plot von «The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic» nur mässig. Im Grunde aber verhandelt der Film das Thema Abhängigkeit versus Selbstbestimmung: Dass die Hauptfigur sich nicht auf ein funktionierendes System verlassen kann, welches Menschen mit Behinderung selbständig durchs Leben kommen lässt, sagt viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die konsequent nah an Jaakkos Gesicht bleibende Kameraführung sowie die Aufmerksamkeit, die der Geräuschkulisse zukommt, macht sehende Personen beim Zuschauen manchmal unruhig, so ungewohnt ist das Fehlen jeglicher Totalen. Damit gelingt dem Film eine wertvolle und auch herausfordernde Seherfahrung und eine wichtige Inspiration für inklusives Filmschaffen. Die Anfangstitel übrigens kommen optisch als Braille-Schrift daher. Und am Schluss steht der Vermerk: «Die Story ist fiktiv, die Krankheit des Hauptdarstellers nicht. Petri Poikolainen ist durch Multiple Sklerose erblindet.»
«The Blind Man Who Did Not Want To See Titanic», Spielfilm, Regie: Teemu Nikki, mit Petri Poikolainen, Marjaana Maiyala u. a., FIN 2021, 82 Min. Läuft ab 13. Juli im Kino.
Alles spricht
Buch Die finnische Autorin Eeva-Liisa Manner öffnet aus der Sicht eines Kindes die Grenzen der Wirklichkeit.
So viele Autor*innen und ihre Werke verschwinden allzu rasch aus den Sortimenten. Die Halbwertszeit von Büchern wird immer kürzer. Das Anliegen des Berliner Guggolz-Verlags ist es, Werke durch Neuübersetzungen oder Neuauflagen wieder zugänglich zu machen. Es ergibt sich so manche Entdeckung. Eine davon ist die finnische Autorin und Übersetzerin Eeva-Liisa Manner (1921–1995), die 1944 mit einem Gedichtband debütierte. Obwohl vielfach ausgezeichnet, ist sie im deutschsprachigen Raum kaum bekannt.
Nun ist ihr erster Roman «Das Mädchen auf der Himmelsbrücke» von 1951 bei Guggolz erstmals auf Deutsch erschienen. Die Übersetzung von Maximilian Murmann zieht in Bann und macht die poetische Kraft des finnischen Originals spürbar. Eeva-Liisa Manner erzählt von der neunjährigen Leena, die weder ihre Mutter noch ihren Vater kennt und deshalb – wie die Autorin selbst – bei ihrer streng religiösen Grossmutter aufwächst. Weil Leena langsam ist und Regeln nicht versteht, ist sie eine Aussenseiterin in der Schule, in der die Mädchen «wie kleine Soldaten in Röcken» marschieren. Zudem leidet sie an Fallsucht, einer Krankheit, die die Grossmutter dem trunksüchtigen Vater anlastet. Trotz ihres Schicksals ist Leena nicht unglücklich. Denn sie hat eine besondere Gabe. Eine kindliche Sicht auf die Welt, durch die die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Diesseits und Jenseits fliessend wird. Ihr Denken und Fühlen sind magisch. Alle Dinge werden ihr lebendig. Selbst die Blumen auf den Tapeten, die duften, und die Vögel darauf, die Melodien in Leenas Kopf singen. Alles geht für Leena, die selbst ihre Traurigkeit in Schönheit verwandeln kann, ineinander über. Alles spricht. Die Bäume, das Licht, der Himmel, das Wasser – und die Musik von Bach, die sie in der kleinen Kirche zum ersten Mal hört, dort, wo die schmalste Strasse der Welt zur Himmelsbrücke wird. Die Begegnung mit Bach, mit der Ordensschwester Elisabet, der «Engelmutter», und dem blinden, sarkastisch-philosophischen Organisten Bruder Filemon wird zum Schlüsselerlebnis, bei dem sich Leena zum ersten Mal verstanden fühlt. Und es ist Filemon, der das Credo der Autorin auf den Punkt bringt, wenn er sagt, dass wir in dieser Welt, «in der anstelle einer magischen Ordnung eine logische Unordnung herrscht (…) in der Patsche sitzen». Eeva-Liisa Manner zeigt mit ihrer bildreichen, schwebend-lyrischen Sprache einen möglichen Ausweg aus dieser Patsche. Aus der Sicht eines Kindes, dessen Erfahrungen über die Grenzen der Wirklichkeit hinausgehen.
CHRISTOPHER ZIMMER
Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke. Roman. Guggolz Verlag 2022. CHF 33.90
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FOTO: ZVG
BILDER: ZVG
Veranstaltungen
Bern
«Anekdoten des Schicksals», Ausstellung, Fr, 28. Juli bis So, 7. Jan., Mi bis So, 10 bis 17 Uhr, Di bis 21 Uhr, Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 8-12. kunstmuseumbern.ch
34. Biennale in São Paulo als auch an der europäischen Biennale Manifesta 14 in Kosovo teil. DIF
Thun
«Reena Saini Kallat – Deep Rivers Run Quiet», Ausstellung, bis So, 3. Sept., Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch
Klar, die Sammlung eines Kunstmuseums ist eine schier unerschöpfliche Quelle an Geschichten. Und die Idee ist so naheliegend wie überraschend: Texte von namhaften Autor*innen vertiefen in der Sommerausstellung des Kunstmuseums Bern den erzählerischen Aspekt der Werke. Hier begegnen sich also bildende Künstler*innen – etwa Ferdinand Hodler, Albert Anker, Max Buri, Irène Zurkinden, Meret Oppenheim, Alice Bailly, Adolf Wölfli – und zeitgenössische Autor*innen: Eva Maria Leuenberger, Melinda Nadj Abonji, Dorothee Elmiger, Frédéric Zwicker und Friederike Kretzen. Letztere haben Texte verfasst, welche die ausgestellten Werke ergänzen und weiterdenken. Die Texte können gelesen oder per Digital Guide angehört werden. So ist die Ausstellung wie eine Sammlung von Erzählungen aufgebaut. «Das Geschichtenerzählen», schrieb Hannah Arendt einmal, «enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen.» Dabei ist eine Erzählung nicht reine Fantasie, sondern legt übersehene Aspekte der Vergangenheit offen. Oder kann sie gar umgestalten und so neuen Sinn schaffen. Die politische Funktion des Geschichtenerzählens besteht für Arendt darin, andere Perspektiven zu vermitteln. Der Ausstellungstitel übrigens ist der Erzählsammlung «Anecdotes of Destiny» (1958) der dänischen Autorin Isak Dinesen – auch bekannt als Karen Blixen – entnommen. Fast alle ihre Figuren schaffen es, ihre Notlagen durch das Geschichtenerzählen zu überwinden. DIF
St. Gallen
«Haris Epaminonda», Ausstellung, bis So, 14. Jan., Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Kunstmuseum
St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch
Zu Haris Epaminondas Werk gehören Collagen wie Skulpturen, Filme, Fotografien – und zunehmend vielschichtige Rauminstallationen. Eigentlich sind es eine Art begehbarer Collagen, zusammengesetzt aus Bildern, Filmen, Fotografien, Skulpturen und vorgefundenen Gegenständen. Mit den Collagen hatte ja auch alles angefangen: Epaminonda (geb. 1980 in Nikosia) verarbeitete zunächst vorwiegend Fotos aus französischen Illustrierten und Büchern der 1940er- bis 1960er-Jahre. Dann
begann sie das gefundene Fotomaterial wiederum zu fotografieren, und auch Filmmaterial schickt sie in einen leidenschaftlichen Verarbeitungsprozess, indem sie gern auf Super8 dreht, danach aber digital Filmloops montiert. Seit 2007 arbeitet die Künstlerin gemeinsam mit Daniel Gustav Cramer (geb. 1975 in Neuss) am fortlaufenden Projekt «Infinite Library» – einem stetig wachsenden Archiv von Büchern, die aus den Seiten gefundener Bücher neu gebunden werden. Haris Epaminonda ist ein Name, den man sich merken darf: 2012 war sie an der documenta 13 in Kassel dabei, 2019 erhielt sie an der 58. Biennale von Venedig den Silbernen Löwen als «vielversprechende junge Teilnehmerin der Internationalen Ausstellung» und letztes Jahr nahm sie sowohl an der
Reena Saini Kallat (geb. 1973 in Delhi) zählt zu den wichtigsten indischen Künstler*innen der Gegenwart. Sie beschäftigt sich unter anderem mit nationalen und geografischen Grenzen und fokussiert dabei auf geopolitische Konflikte und deren Auswirkungen. Ihre Arbeiten thematisieren insbesondere Konflikte um Wasser und die menschengemachte Wasserknappheit
Basel
«No Borders Klimacamp», 3. bis 13. Aug., Basel. climatejustice.ch/camp
in Grenzgebieten und Kulturlandschaften. Auch Flussläufe sind ein Thema, Grenze und Lebensader zugleich. Hier tritt die Ausstellung in Bern durch die unmittelbare Nähe in Dialog mit der Aare. Zudem zeigt Reena Saini Kallat, welche Konsequenzen die koloniale Geschichte für die Menschen in Grenzregionen hat, gerade in Pakistan und Indien. In Werkgruppen zum Thema Nationalstaat wiederum befasst sie sich mit den teilweise absurden Bedeutungen nationaler Symbole. Kallat untersucht sie am Beispiel miteinander in Konflikt stehender Nationalstaaten, wie Indien und Pakistan oder die USA und Mexiko. DIF
Ein Camp für Klimagerechtigkeit und eine menschenwürdige Migrationspolitik: Ziel ist es, sich zu vernetzen und gemeinsame Perspektiven zu erarbeiten. Es wird auch die Frage diskutiert: Wieso muss in Zusammenhang mit Klima über Migrationspolitik geredet werden? Grundsätzlich geht es wohl ganz generell darum, sich eine (für alle lebenden Wesen) gerechtere Welt zu denken. Und um die Tatsache, dass die hochmilitarisierten Grenzregimes zum einen Abertausende von Menschen gewaltsam zurückstossen, für die Grenzbefestigungen aber auch massiv in die Natur eingegriffen wird. Es entstehen «tote» Korridore, die den Kreislauf der Natur zerstören, den Bewegungsradius auch für Tiere einschränken. Umso zynischer, weil die Klimakrise immer stärker auch zum Fluchtgrund wird: Immer mehr Menschen weltweit verlieren ihre Lebensgrundlage aufgrund von Dürren und Überschwemmungen. Dann: die koloniale Ausbeutung. Der Globale Norden beutet nicht nur Menschen aus, sondern zerstört auf der Suche nach Ressourcen auch ganze Ökosysteme. Und dann noch Kopfrechnen: 2020 hat die Schweiz laut No Borders ein paar hundert Millionen in Fonds eingezahlt, die finanzielle Mittel für Menschen bereitstellen, welche unter den Auswirkungen der Klimakrise leiden. Ebenfalls ein paar hundert Millionen – ein paar mehr –investierte sie in die Militarisierung der Grenzen, schreibt «No Borders». Es ist im Grunde schon lange klar: Die Klimakrise bringt nicht zuletzt eine neue Dimension des ArmReich-Konflikts mit sich. DIF
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BILD(1): MERET OPPENHEIM © KUNSTMUSEUM BERN, LEGAT MERET OPPENHEIM 2023, PROLITTERIS, ZÜRICH, BILD(2): REENA SAINI KALLAT, SIAMESE TREES (PINE-ISCUS), 2018-2019 BILD(3): WILLIMANN/ARAI
Pörtner in Basel, Schifflände
Surprise-Standort: Schifflände
Einwohner*innen: 201 354
Sozialhilfequote in Prozent: 6,7
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 36,9
Teuerstes Hotel: Das Les Trois Rois an der Schifflände wurde 1681 erstmals erwähnt, im heutigen Stil 1844 erbaut.
Auf den Apparaturen des steinernen Wetterhäuschens ist abzulesen, dass die Temperatur 26 Grad beträgt, bei 60 Prozent Luftfeuchtigkeit. Beim Limnigraphen, der den Stand des Rheines aufzeichnet, haben Spinnen ihre Netze gespannt.
Eine ältere Frau dirigiert eine noch ältere Frau auf die nahe Sitzbank und beschimpft jüngere Frauen, die auf dem Mäuerchen hocken und deren Schuhsohlen die Holzbank berühren. «Wir hätten auf die Ohren gekriegt, wenn wir das gemacht hätten», wettert sie. Von wem ist nicht klar, vielleicht gab es hier früher Ohrfeigenverteilbrigaden, die der Jugend ihre Flausen austrieben. Nichtsdestotrotz wirkt die junge Generation fröhlicher und entspannter als die gemassregelte.
Nicht ganz einfach herauszufinden scheint, ob und wann die Schiffe hier landen, verschiedene Tourist*innenGruppen stehen werweissend herum. Zu ihrer Kurzweil stehen zwei bunte Fernrohre zur Verfügung. Wer hindurchschaut, schaut durch eine Art Kaleidoskop, das die Aussicht in verschiedene Dreiecke unterteilt. Wie auf dem Infotäfelchen zu erfahren ist, soll diese Erfahrung den Horizont erweitern, ebenso können sich zwei Personen durch das Rohr betrachten und auf ganz neue Weise wahrnehmen, dreieckig irgendwie. Während ein Paar noch vor dem angeschlagenen Fahrplan diskutiert, kommt das Schiff angefahren und alle Fragen sind beantwortet. Die Einheimischen hingegen bevorzugen es, sich ohne Schiff den Fluss hinunterzutreiben lassen.
Es landen aber nicht nur Schiffe hier, diverse Tram- und Buslinien fahren in alle Richtungen, Velos kommen von überall, dazwischen Fussgänger*innen und Taxis, irgendwie kommen alle aneinander vorbei. Die Brücke wird von einer «Amazone, Pferd führend» bewacht, ein Tram ist speziell für einen Pferdesport-Event lackiert worden, der allerdings erst 2025 stattfindet. Ein anderes Tram ist als Federer-Express verkleidet. Am Haus der Brücke gegenüber ist der Lällekönig angebracht, der früher offenbar die Zunge herausstrecken und mit den Augen rollen konnte.
Zweifarbige Fahnen werben für die Art Basel, die Sponsorenbank gibt es zum Glück auch noch. Die Fahnen auf der Brücke werden eingeholt und durch jene von Schweizer Kantonen ersetzt, diese haben noch keine Sponsoren. Auf dem Steinsims sitzende Tauben werden abfotografiert. Eine Mutter drapiert ihr Kind vor die Blumentöpfe des nahegelegenen Brunnens, was bestimmt die schöneren Bilder ergibt.
Unten am Wasser, wo die Schiffe landen, essen die Leute zu Mittag oder halten eine kurze Siesta. An der Wand ist das Relief eines Tauziehers angebracht, der Kopf des muskelbepackten Nackten ist allerdings von den Tauben verunziert worden, denen jegliches Kunstverständnis abzugehen scheint.
Sieben Polizisten in gelben Leuchtwesten sind auf Patrouille, sie postieren sich bei der Buchhandlung und scheinen auf etwas zu warten, zwei betrachten ein parkiertes Velo, zwei weisen Tourist*innen den Weg, während ein weiterer die Gasse hinauf späht. Es liegt etwas in der Luft, Wolken ziehen auf. Das Thermometer steigt auf 27 Grad.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Tour de Suisse
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellscha . Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Gemeinnützige Frauen Aarau
Ref. Kirche, Ittigen
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
Benita Cantieni CANTIENICA®
Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
Breite-Apotheke, Basel
Spezialitätenrösterei derka ee, derka ee.ch
Boitel Weine, Fällanden
Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
Kaiser Software GmbH, Bern
InoSmart Consulting, Reinach BL
Maya-Recordings, Oberstammheim
Scherrer & Partner GmbH, Basel
BODYALARM – time for a massage
EVA näht: www.naehgut.ch
TopPharm Apotheke Paradeplatz
AnyWeb AG, Zürich
Cobra Software AG www.cobrasw.ch
Praxis Dietke Becker
Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich
InhouseControl AG, Ettingen
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?
Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.
Spendenkonto:
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Surprise, 4051 Basel
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag
Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
Kontakt: Caroline Walpen
Team Marketing, Fundraising & Kommunikation
GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN
Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.
Aktuell beschä igt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue beru iche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.
Einer von ihnen ist Negussie Weldai
«In meinem Alter und mit meiner Fluchtgeschichte habe ich schlechte Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Darum bin ich froh, bei Surprise eine Festanstellung gefunden zu haben. Hier verantworte ich etwa die He ausgabe oder übernehme diverse Übersetzungsarbeiten. Mit dieser Anstellung ging ein grosser Wunsch in Erfüllung: Meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können.»
Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.
Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.
Unterstützungsmöglichkeiten:
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½ Jahr CHF 2500.–
¼ Jahr CHF 1250.–
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#551: Unser Leben
«Hinters Licht geführt»
Wann immer «mein» Surprise-Verkäufer vor meinem Stamm-Supermarkt steht, schaue ich, ob ich das Heft, das er gerade in der Hand hält, schon habe – und wenn nicht, kaufe ich es immer. Ich achte dabei nicht auf das Ausgabe-Datum des Heftes, sondern auf das Titelbild. Nun habe ich kurz hintereinander zwei Hefte, beide mit sehr ansprechenden Frauenporträts auf dem Titel, gekauft. Der Zusammenhang beider Hefte mit dem 14. Juni war mir klar, doch dachte ich, die Redaktion
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114 Stricker*innen haben insgesamt 329 Fanschals für das Nationalteam des Surprise Strassenfussballs gefertigt. Wir sind berührt und danken ganz herzlich für diesen tatkräftigen Support. Unsere Strassenfussballer*innen haben die rot-weissen Schals mit Stolz nach Sacramento an den Homeless World Cup getragen und sie dort mit anderen Teams aus der ganzen Welt getauscht. Impressionen, Spieler*innen-Porträts und alle Spielresultate gibt es unter surprise.ngo/strassenfussball
JANOSCH MARTENS & MAX SCHMID, Surprise Strassenfussball
hätte eben zwei Hefte mit Stellungnahmen von Frauen gefüllt. Mit Erstaunen stellte ich dann fest, dass die Hefte innen identisch sind. Das hat mich etwas enttäuscht, zumal ich die Porträts der Frauen mit grossem Interesse gelesen hatte und gespannt war auf die zweite «Portion» – die es nun leider nicht gibt. Dies nur als Rückmeldung an die Redaktion mit der Empfehlung, in einem neuen Titelbild auch jeweils ein neues Heft zu verpacken, sonst fühlen die Käufer*innen sich eventuell etwas hinters Licht geführt.
MONIKA PFEIFFER, ohne Ort
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Andri Gotsch, Naomi Gregoris, Michael Hofer, Timo Lenzen, Sara Ristič, Julia Rüegger, Milica Terzić, Dinah Wernli, Florian Wüstholz
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Gestaltung und Bildredaktion
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Wir achten immer darauf, dass sich die unterschiedlichen Ausgaben optisch klar voneinander abheben. Das Konzept hinter den vier Titelblättern wurde auf Seite 3 im Editorial erklärt und war nicht als Trick, sondern als Symbol der Sichtbarkeit für möglichst viele Frauen und den Streik gemeint. Zur Wiedererkennbarkeit diente auch das lila Logo und der kleine lilafarbene «Streikausgabe»-Hinweis. Offenbar hat das jedoch nicht in allen Fällen funktioniert, dafür bitten wir um Verzeihung.
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Wir alle sind Surprise
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FOTO: MATTHIAS LEHMANN
«Ich lebe von der Hand in den Mund»
«Ich denke nicht gern an meine Kindheit zurück, denn sie war wirklich schrecklich. Ich wuchs zusammen mit meinem Bruder und meiner Schwester in Belgrad auf. Wir wurden von meiner Mutter ständig ausgenutzt, mussten auf der Strasse betteln gehen, manchmal auch stehlen. Der Vater war sehr gewalttätig, er hat meine Schwester missbraucht.
Nach der Grundschule lebte ich einige Jahre bei meiner Grossmutter in Pirot, einer kleinen Stadt im Südosten Serbiens. Das war gegen meinen Willen. Nachdem ich schon mit meinen Eltern durch die Hölle musste, hatte ich es auch bei meiner Grossmutter nicht gut; sie schlug mich und nutzte mich ebenfalls aus. Nach ihrem Tod kehrte ich nach Belgrad zu meinen Eltern zurück, was es nicht besser machte. So in etwa könnte man meine Kindheit zusammenfassen, die ich am liebsten vergessen würde.
Seit 2022 verkaufe ich in Belgrad die Strassenzeitung Liceulice. In der Nähe meines Standorts hat es ein Café, wo ich einkehre, wenn es kalt ist oder ich müde bin. Die Leute, die dort arbeiten, sind sehr nett, wir reden oft miteinander und ich betrachte sie als meine Freunde. Normalerweise bestelle ich dort einen Caffè Latte mit verschiedenen Geschmacksrichtungen.
Ich habe das Gymnasium in Pirot abgeschlossen und dann begonnen, alte Computer zu reparieren. Viel Geld kann ich dafür nicht verlangen, die meisten Leute kaufen heute einfach ein neues Gerät. Es bereitet mir aber viel Freude, anderen zu helfen. So war ich schon immer: Niemand muss mich um Hilfe bitten, auch brauche ich keine Gegenleistung –ich möchte einfach nur eine gute Tat vollbringen. Ich hoffe bloss, dass dies niemand ausnutzen wird.
Nach der Arbeit gehe ich nach Hause, sehe ein bisschen fern und lege mich dann hin. Leider bin ich oft allein und fühle mich einsam. Es ist nicht leicht, wenn niemand da ist, der einem zuhört. Habe ich Sorgen, so sage ich mir, dass es morgen vielleicht einfacher wird. Das Wichtigste im Leben ist, auf sich aufzupassen und seinen gesunden Menschenverstand nicht zu verlieren. Meine Zukunft kann ich nicht planen, ich lebe sozusagen von der Hand in den Mund. Und so mache ich einfach weiter und hoffe darauf, dass ich einmal Glück haben werde und mir noch etwas Schönes passieren wird.
Ich mag Hunde. Wenn man mit ihnen zusammen ist, verschwindet die ganze negative Energie, die man mit sich rumträgt. Eines Tages möchte ich selber einen Hund haben und mit ihm spazieren gehen, auch um meine Gefühle besser zu kontrollieren. Denn Gefühle sind wichtig, ich habe mich schon immer von ihnen leiten lassen. Wenn ich das
Gefühl habe, dass ich etwas nicht tun sollte, dann tue ich es auch nicht. Und umgekehrt, wenn ich bei einer Sache ein gutes Gefühl habe, dann versuche ich, sie durchzuziehen. Momentan habe ich das Gefühl, ich sollte aus Serbien wegziehen. Nur, wohin?
Wenn ich die Strassenzeitung verkaufe, habe ich Probleme, meine Körperbewegungen zu kontrollieren, denn ich zittere oft sehr stark. Das kommt aus meiner Kindheit, als ich bei meinen Eltern und der Grossmutter war und so viel Angst ausstehen musste. Ich hoffe bloss, dass sich die Leute auf der Strasse nicht vor mir fürchten, wenn sie das sehen, oder mich für verrückt halten. Ich möchte, dass sie wissen, dass ich keiner Seele etwas zuleide tun könnte.
Wenn ich mein jetziges Leben mit dem von früher vergleiche, geht es mir heute viel besser. Es gibt keine bösen Menschen mehr um mich herum, ich habe meine Ruhe und meinen Frieden. Das gibt mir Hoffnung.
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Verkäufer*innen-Porträt
FOTO: SARA RISTIČ
freundlicher Genehmigung
LICEULICE /
Djordje Ćelić, 26, verkauft in Belgrad die serbische Strassenzeitung Liceulice, er vertraut in schwierigen Momenten auf sein Bauchgefühl und möchte eines Tages einen Hund.
Mit
von
INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS
Aufgezeichnet von MILICA TERZIĆ
Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.
Ein Strassenmagazin kostet 6 Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.
Alle Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.
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Café Surprise – eine Tasse Solidarität
Zwei bezahlen, eine spendieren
Café Surprise ist ein anonym spendierter Kaffee, damit sich auch Menschen mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.
Bild: Ole Hopp Beteiligte Cafés oder bestelle die aktuelle Liste unter +41 61 564 90 90.
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