4. Philharmonisches Konzert
Anton Webern (1883 – 1945)
Passacaglia op. 1
Carl Reinecke (1824 – 1910)
Konzert für Flöte und Orchester D-Dur op. 283
1. Allegro molto moderato
2. Lento e mesto
3. Finale. Moderato
– Pause –
Johannes Brahms (1833 – 1897)
Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98
1. Allegro non troppo
2. Andante moderato
3. Allegro giocoso
4. Allegro energico e passionato – Più Allegro
Solistin: Zofia Neugebauer, Flöte
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
28. Februar, 01. & 02. März 2023, Stralsund
(Großes Haus)
Das Konzert am 02. März wird vom NDR live übertragen.
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Zofia Neugebauer, 1994 in Polen geboren, begann im Alter von fünf Jahren Klavier zu spielen, bevor sie als Zehnjährige zur Flöte wechselte. Bereits mit 13 Jahren hatte sie ihren ersten solistischen Auftritt mit dem Sinfonieorchester in Katowice.
Sie besuchte als Schülerin die Musikschule Breslau mit musikalischem Schwerpunkt, wo sie 2014 ihren Schulund Musikabschluss mit Auszeichnung machte. Nach dem Schulabschluss zog sie nach Basel, um bei dem renommierten Flötisten Felix Renggli an der Hochschule für Musik zu studieren, wo sie ihr Studium im Jahr 2016 mit Bestnote abschloss. Anschließend setzte sie ihr Studium in Basel fort, unterbrach dieses aber, da sie von 2017 bis 2019 als Mitglied der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker ausgewählt wurde.
Wichtige künstlerische Impulse holte sie sich in dieser Zeit bei Mathieu Dufour. Von 2019 bis 2021 war sie Soloflötistin im Luzerner Sinfonieorchester. Als Solistin tritt sie regelmäßig mit Orchestern wie dem Gürzenich-Orchester Köln, der Camerata Zürich, dem Folkwang Kammerorchester oder dem Verbier Festival Chamber Orchestra auf. Außerdem spielt sie im Sinfonieorchester Basel Soloflöte.
Zofia Neugebauer ist Stipendiatin des polnischen Kulturministeriums, der Mozartgesellschaft Dortmund und der Villa Musica. Sie nahm erfolgreich an zahlreichen internationalen Wettbewerben in Europa teil. Außerdem war sie zu Gast bei renommierten Musikfestivals, darunter das Verbier Festival, die Gezeitenkonzerte, der Bad Kissinger Sommer sowie die Dresdner Musikfestspiele.
Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.
Verehrtes Konzertpublikum!
Sollte ich dem heutigen Konzertprogramm einen Übertitel geben müssen, würde ich es „Zusammenhänge“ nennen oder vielleicht den philosophischen Begriff vom „Gleichzeitigen des Ungleichzeitigen“ aufgreifen: Die drei Werke des Abends sind untereinander verbunden, ohne dass dies bei einer ersten Betrachtung des Programms ins Auge fallen würde.
Als der junge Anton Webern für sein Opus 1 die aus dem Barock stammende Technik der Passacaglia wählte, knüpfte er damit an den letzten Satz der 4. Sinfonie von Johannes Brahms an. Berücksichtigt man die große Bedeutung, die Brahms für die Komponisten der später sogenannten Zweiten Wiener Schule, zu der Webern zählt, hatte, so ist es durchaus sinnfällig, dass Webern hier elf Jahre nach Brahms’ Tod an dessen letzten sinfonischen Satz anknüpft, auch wenn das Resultat aktuelle Entwicklungen reflektiert und eher der Klangwelt Gustav Mahlers nahesteht. Brahms und Webern (und nach ihnen unter anderen Alban Berg und Benjamin Britten) dürften gleichermaßen fasziniert gewesen sein von den Möglichkeiten, die die Passacaglia einem modernen Kom-
ponisten bietet: Sie fordert eine große Strenge in der Organisation des musikalischen Materials, lässt aber gleichermaßen Spielraum für eine expressive Entfaltung und ist darüber hinaus ein sinnfälliger Rückbezug auf die Musik des Barock, ohne notwendigerweise in einem neobarocken Idiom geschrieben sein zu müssen.
Brahms und Carl Reinecke entstammten derselben Generation und kannten sich persönlich gut. Reinecke war 35 Jahre lang Gewandhauskapellmeister in Leipzig und begegnete in dieser Funktion Brahms mehr als ein Dutzend Mal: sei es, dass er das Gewandhausorchester dirigierte, wenn Brahms seine Klavierkonzerte in Leipzig spielte, sei es, dass Brahms in einem ansonsten von Reinecke geleiteten Konzert ein eigenes Werk selbst dirigierte – darunter 1886 auch die 4. Sinfonie. Reinecke war selbst auch ein profilierter Komponist, der heute zu den vergessenen Meistern der Romantik zählt. Wir haben im Oktober 2018 hier bereits sein Harfenkonzert aufgeführt und lassen nun das nicht minder klangvolle Flötenkonzert folgen.
Und Webern und Reinecke? Die Passacaglia des 24-jährigen Webern und das Flötenkonzert des 84-jährigen Reinecke stammen aus demselben Jahr (und sind zufällig sogar tonal verbunden). Damit erlauben sie einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt der Musikgeschichte, die immer wieder Überraschungen bereithält und Programmzusammenstellungen sinnvoll erscheinen lässt, die man ursprünglich nicht für möglich gehalten hätte! Ihr
Florian CsizmadiaAnton Webern: Passacaglia op. 1
Anton Webern
Dies schrieb Anton Webern in einem Brief an die befreundete Hildegard Jone am 6. August 1928. Klarheit, Reduktion, Konzentration auf das Wesentliche. Diese Merkmale sollten zu Maximen seines Werkes und somit prägend für Weberns Stil werden. Und auch Arnold Schönberg attestierte seinem nur neun Jahre jüngeren Schüler die bemerkenswerte Fähigkeit: Webern könne in einem Seufzer einen ganzen Roman ausdrücken. Was zu sagen ist, wird gesagt. Nicht mehr und nicht weniger. Die Folge dieser radikalen Verdichtung, der Eindampfung des Materials, rhythmischer und motivischer Prägnanz ist wohl die Tatsache, dass Weberns Werke allesamt recht kurz sind. Sowohl in seinem umfangreichen Frühwerk als auch unter seinen Werken, die er selbst mit Opuszahlen versehen hat, 31 an der Zahl, findet man nur wenige Kompositionen, die über eine Spieldauer von circa zwölf Minuten hinausgehen.
Mit einer Spieldauer von circa zehn Minuten liegt die Passacaglia op. 1 im guten Schnitt aller seiner Orchesterwerke. Am 4. November 1908 vom Orchester des Tonkünstlervereins in Wien unter der Leitung des Komponisten selbst uraufgeführt, bekundet sie Weberns Abschluss seiner Studien bei Arnold Schönberg. Doch ist sie mehr als bloß das „Gesellenstück“ eines 24-Jährigen, offenbart sie sich vielmehr als Meisterwerk, das Weberns künstlerischen
Anspruch im Kern zum Ausdruck bringt. Dies zeigt sich bereits im Umgang mit der Besetzung, die vom Umfang her der spätromantischen Tradition folgt: Er fordert neben Streichern zwölf Holz- und elf Blechbläser, Pauke, Triangel, Tamtam, Becken, Große Trommel und Harfe. Außergewöhnlich ist hier nicht die üppige Besetzung als solche. Vielmehr besteht Weberns Meisterschaft und Einzigartigkeit in der Art der Behandlung des Instrumentariums: namentlich in seiner kammermusikalischen Faktur zur Unterstützung der anzustrebenden Konzentration der Gedanken. Die Satztechnik der Passacaglia (span. „pasar“ und „calle“ = die Straße überqueren) bot Webern ein geeignetes Terrain, auf dem er seine Ideen entwickeln konnte: Ursprünglich ein spanisches Gitarrenstück im Dreiertakt, im 16. Jahrhundert dann ein langsamer Hoftanz, hatte sich die Passacaglia in der Zeit des Barock zu einem eigenständigen Instrumentalwerk ausgebildet, das sich vor allem in der Klavier- und Orgelmusik großer Beliebtheit erfreute. Über einer vier- oder achttaktigen immer wiederkehrenden Bassfigur, dem Ostinato, entfaltet sich das musikalische Geschehen.
„Ich verstehe unter ‚Kunst‘ die Fähigkeit, einen Gedanken in die klarste, einfachste, das heißt ‚fasslichste‘ Form zu bringen.“
Für eine Aufführung in Düsseldorf (1922) verfasste Webern eine Werkbeschreibung seines Opus 1: „Die Streicher pizzikieren unisono das Hauptthema. Es folgen 23 Variationen und eine durchführungsartige Coda. Die erste Variation bringt die grundlegende Harmonisierung des Hauptthemas und ein Gegenthema. Damit sind die beiden Grundgestalten des Stückes gegeben. Alles, was folgt, ist von diesen abgeleitet. […]“ Doch wer Webern kennt, hat nun freilich keine Komposition in barocker Manier zu erwarten. Das, was das Werk zusammenhält und auch für den Hörer erkennbar ist, ist seine achttaktige Gliederung, doch wird der Hörer Mühe haben, das Hauptthema im Verlauf durch alle Variationen hindurch herauszuhören, da sich das Thema nicht immer im Bass befindet, sondern auf die Lagen anderer Stimmgruppen verteilt wird. Hier kann nur eine gründliche Analyse der Noten behilflich sein, um zu erörtern, wo Webern das Hauptthema „versteckt“. Was die Wahl der Tonart betrifft, so lässt sich zwar im Thema und in den meisten Variationen d-Moll ausfindig machen, doch deuten chromatische Alterationen darauf hin, dass bereits hier in diesem frühen Werk von einer für Webern typischen und von ihm auch so bezeichneten „schwebenden Tonalität“ gesprochen werden kann. Hinzu kommt, dass er statt des traditionellen Dreiermetrums den Zweivierteltakt wählte. Weberns Passacaglia ist eine Komposition des Übergangs, Endpunkt und Neuanfang zugleich – und in der Idee der Verknüpfung alter Formen mit fortschrittlichen Kompositionsprinzipien Brahms’ künstlerischem Anspruch und namentlich dessen Passacaglia am Ende seiner 4. Sinfonie nicht ganz unähnlich.
Der Rezensent Adolf Aber bringt es in seinem 1922 in der Zeitschrift „Die Musikwelt“ erschienenen Artikel auf den Punkt:
„[In Weberns Opus 1 wird] ein Problem gestellt und auf das Glücklichste gelöst [...], das Problem nämlich, wie man mit äußerster Formenstrenge modernste Harmonik mit allen ihren letzten Verfeinerungen und Übergängen verbinden kann, und wie man auch bei Verwendung eines großen Orchesters nicht den Verlockungen neudeutscher Koloristik zu verfallen braucht und sich peinlichste musikalische Sauberkeit bewahrt. Diese Aufgabe hat Anton von Webern ausgezeichnet gelöst, und man wird in Zukunft der Arbeit dieses SchönbergSchülers zweifellos stets große Aufmerksamkeit zuwenden.“
Carl Reinecke: Flötenkonzert D-Dur op. 283
„Erfreulicher […] ist mir jedoch, dass ich noch Kraft und Lust zum Schaffen habe, und dass meine neuesten Werke nicht den Stempel der Greisenhaftigkeit tragen, wie mir aufrichtige Menschen versicherten. Dennoch wird die musikalische Welt sie ziemlich unbeachtet lassen, weil ich nicht mit der Zeit fortgeschritten bin. Mit voller Überzeugung bin ich aber meinen bisherigen Kunstanschauungen treu geblieben, weil ich den Wegen, die die modernen Komponisten wandeln, nicht folgen kann und mag, da sie meiner Ansicht nach zu keinem schönen Ziele führen, und ich die sogenannten Errungenschaften derselben nicht als Fortschritte betrachte, vielmehr glaube ich, dass sie der wahren Kunst nicht zum Heile dienen können. […]“
Carl ReineckeDer im Jahr 1824 geborene Carl Reinecke hatte zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn Mendelssohn und Schumann persönlich kennengelernt und fühlte sich ihnen und damit der romantischen Tradition ein Leben lang verpflichtet. Mit 36 Jahren wurde Reinecke zum Kapellmeister am Leipziger Gewandhaus ernannt und erhielt eine Professur für Komposition am örtlichen Konservatorium, wo er bis zur Emeritierung 1902 seine Erfahrungen weitergab – so zählten beispielsweise Janáček und Grieg zu seinen Schülern. Überblickt man das Œuvre des Mannes, der gemäß den Worten keines Geringeren als Tschaikowskij in Deutschland nicht nur den Ruf eines „ausgezeichneten Musikers“, „talentvollen Komponisten“ sowie „erfahrenen Dirigenten“ genoss, so staunt man nicht schlecht: Seine ebenso zahlreichen wie vielseitigen Arbeiten umfassen Vokalkompositionen, Klavier- und Kammermusik bis hin zu Konzerten für diverse Soloinstrumente und Bühnenwerke. Oftmals gingen ihr kompositorisch-künstlerischer Anspruch und ihr pädagogisches Interesse Hand in Hand, was sich bisweilen darin zeigte, dass Reinecke Stücke für seine Schüler komponierte, die sie förderten, herausforderten und sich spieltechnisch weiterentwickeln ließen. Auf seinem Terrain, in der Musik, kannte er sich aus und selbstredend war er über die kompositorischen Bestrebungen der jüngeren Kollegen bzw. der heranwachsenden Künstlergeneration im Bilde. Statt sich von neuen Ideen inspirieren zu lassen, entschied er sich aus Geschmacksgründen und aufgrund seiner Erfahrung für die Fortführung der Tradition, mit der er aufgewachsen war. Vor diesem Hintergrund kann man es ihm auch nicht verdenken, dass er mit seinen Kompositionen keine musikalischen Ex-
perimente wagte, nicht in jungen Jahren – und noch weniger im hohen Alter. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war die Schwelle zur Moderne, doch Reinecke überschritt sie bewusst nicht. Und nur so ist zu erklären, dass ein Werk wie Weberns Passacaglia op. 1, das radikal neue Wege betritt, und ein so romantisch geprägtes Flötenkonzert wie das des 84-jährigen Reinecke im selben Jahr entstehen konnten.
Reinecke hatte das Flötenkonzert D-Dur op. 283, übrigens das letzte Solokonzert, das er vor seinem Tod im Jahr 1910 schreiben sollte, vermutlich im Oktober, spätestens im November 1908 vollendet. Im Erstdruck der Notenausgabe, die zunächst nur den Klavierauszug und die Solostimme enthielt, wird der Flötist Maximilian Schwedler als Widmungsträger des Werkes genannt. Schwedler war noch während Reineckes Zeit als Kapellmeister am Gewandhaus als Soloflötist engagiert worden und erhielt 1908 eine Professur am Konservatorium zugesprochen. Der Name Schwedler ist zumindest unter Fachleuten ein Begriff. Dieser ist nämlich dafür bekannt, dass er sich stets für die Weiterentwicklung seines Instrumentes einsetzte, um klangliche und spieltechnische Verbesserungen zu erzielen: Ausgehend von der BöhmFlöte hatte er gemeinsam mit dem Erfurter Flötenbauer Wilhelm Kruspe 1885 ein verbessertes konisches Modell geschaffen, auf dem Schwedler im Februar 1886 übrigens unter dem Dirigat von Brahms die Leipziger Erstaufführung von dessen Vierter Sinfonie spielte. Brahms soll in einer Probe zu Schwedler ans Pult getreten sein, um ihm für den Vortrag der Variation im letzten Satz aufs Freundlichste zu danken.
Ein paar Jahre später hatte Schwedler ein weiteres verbessertes Flötenmodell entwickelt und es ist denkbar, dass er sich für dieses Instrument eine Komposition wünschte, um es der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die genauen Entstehungshintergründe des Opus 283 sind allerdings ungewiss. Wie aus sämtlichen Notenmanuskripten hervorgeht, in denen Schwedler handschriftliche Eintragungen, wie z. B. Vortragsbezeichnungen und Atemzeichen vorgenommen hat, ging die Arbeit zwischen Komponist und Solist Hand in Hand. Eine wünschenswerte Symbiose für eine perfekte Werkgenese. Mit drei Tutti-Akkorden eröffnet das Orchester den ersten Satz (Allegro molto moderato) , bevor die Flöte wie von oben einzuschweben scheint. Alsdann erklingt in den Streichern das Thema, das durch eine lyrisch anmutende Melodie im Sechsachteltakt bestimmt ist. „Wie träumend“ spinnt das Soloinstrument den Gedanken fort, der im Dialog mit dem Tutti eine stete Weiterentwicklung erfährt. Der Mittelsatz (Lento e mesto) steht in h-Moll und wirkt im Vergleich zu dem zuvor Erklungenen DDur weniger unbeschwert, obwohl die Melodien ebenso ineinanderfließen. Die Leichtigkeit ist einem schwermütig-ernsten Tonfall gewichen, welche auch dann nicht zurückkehrt, als der Satz ruhig in H-Dur schließt. Lebhafter gestaltet sich das Finale (Moderato) , dessen kurze, schwungvolle Orchestereinleitung aufhorchen lässt, deren Melodie im Dreivierteltakt durch Punktierungen gekennzeichnet ist. Alsdann steigt die Flöte in den Dialog mit dem Tutti ein, der bisweilen energisch-dramatische Züge annimmt. Wie in den zuvor erklungenen Sätzen bieten sich dem Soloinstrument auch hier genügend Möglichkeiten zu
brillieren, ohne dabei das Augenmerk auf reine Virtuosität zu richten. Solokadenzen bleiben bewusst ausgespart. Die Uraufführung des Flötenkonzerts fand am 15. März 1909 im Rahmen des Frühjahrskonzerts des Leipziger Männergesangvereins Konkordia im großen Festsaal des Zoologischen Gartens statt: „Der bekannte Leipziger Flötenvirtuos Maximilian Schwedler, erster Flötist des Gewandhausorchesters und Lehrer am Leipziger Konservatorium, trug ein ihm gewidmetes Flötenkonzert eines der neuesten Werke des Altmeisters Carl Reinecke vor“, schreibt ein zeitgenössischer Rezensent. Und weiter: „Es ist ein sehr dankbares, dem spielerischen Charakter des Instrumentes fein entgegenkommendes Werk, das Herr Schwedler mit schönem, breitem Ton in der Kantilene und mit wahrhaft virtuoser Glätte in der Figuristik brillant vortrug.“
Dass das Augenmerk in dieser Besprechung auf dem Solisten lag, hatte seinen Grund: Das Flötenkonzert erklang nämlich nicht in der Orchesterfassung, sondern einzig mit Klavierbegleitung. Die Uraufführung mit Orchester folgte dann ein knappes halbes Jahr später: am 4. September 1909 in London mit dem Queen’s Hall Orchestra unter der Leitung von Henry Wood und Albert Fransella als Solisten im Rahmen der Promenadenkonzerte.
Wie Reinecke prophezeite, sind viele seiner Werke – mit Ausnahme ein paar weniger großer Kompositionen –heute in Vergessenheit geraten. In letzter Zeit erklingen sie jedoch wieder vermehrt in den Konzertsälen, um sie nicht gänzlich im Dornröschenschlaf versinken zu lassen.
„Der Nestor der heute unter uns wirkenden Komponisten übergibt den Vertretern der gediegenen Flöte-Virtuosität in dem vorliegenden dreisätzigen Werke eine ebenso anziehende als wertvolle Arbeit. Reinecke bewährt sich in diesem Konzert aufs Neue wieder als trefflicher Künstler, der das gesamte Gebiet der musikalischen Kunst in allen Einzelheiten beherrscht. Am bedeutendsten erscheint hier der zweite auf der Grundlage eines rhythmisch-interessanten Bassmotivs stehende Satz […] Die melodisch anziehende, fließend gehaltene Kantilene wird dem Solisten reichen Erfolg eintragen, auch der erste Satz mit seinem schönen zweiten Thema, wie das dankbar gehaltene an die Gunst der Zuhörer appellierende Finale besitzt viele Vorzüge. Ein wesentliches Moment fällt im ganzen Werk auf die Behandlung des Orchesters, das, außer in den Tutti-Sätzen, selten mehr als begleitend auftritt. Voraussichtlich wird das Maximilian Schwedler zugeeignete Konzert sich reicher Berücksichtigung seitens der ersten Flöte-Virtuosen zu erfreuen haben.“
Rezension im „ Musikalischen Wochenblatt “ , Bd. 40, Nr. 38 (16.12.1909)
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98
„Ein paar Entr’actes aber liegen da – was man so zusammen gewöhnlich eine Sinfonie nennt. Unterwegs auf den Konzertfahrten mit den Meiningern habe ich mir oft mit Vergnügen ausgemalt, wie ich sie bei Euch hübsch und behaglich probierte, und das tue ich auch heute noch – wobei ich nebenbei denke, ob sie weiteres Publikum kriegen wird! Ich fürchte nämlich, sie schmeckt nach dem hiesigen Klima – die Kirschen werden nicht süß, die würdest Du nicht essen!“
Brahms in einem Brief an den befreundeten Dirigenten Hans von Bülow, im Sommer 1885
Zwei Sommer verbrachte Brahms in der chronisch verregneten Steiermark in einem Ort namens Mürzzuschlag. Dort erwanderte er sich nicht nur allmorgendlich einen der umliegenden Gipfel, sondern das raue Klima brachte es mit sich, dass er Zeit hatte, sich ausgiebig mit seiner neuen Komposition zu beschäftigen. So entstanden 1874 der erste und zweite Satz und 1875 schließlich zunächst der vierte und dann der dritte Satz seiner vierten und letzten Sinfonie. Mit mehreren seiner Freunde war der von Selbstzweifeln geplagte Komponist über die Entstehung des Werkes brieflich im Austausch – so auch mit seiner ehemaligen Schülerin Elisabeth, der Frau des Grazer Komponisten Heinrich von Herzogenberg, deren Meinung ihm stets wichtig war. Brahms war sich dessen bewusst, dass sein neues Werk aufgrund seines herben Charakters nicht gefallen könnte und schrieb: „[W]enn Ihnen also das Ding [die Sinfonie] nicht schmeckt, so genieren Sie sich nicht. Ich bin gar nicht begierig, eine schlechte Nr. 4 zu schreiben.“ Die Antwort kam prompt: „Man wird nicht müde, hineinzuhorchen und zu schauen auf die Fülle der über dieses Stück ausgestreuten geistreichen Züge, seltsamen Beleuchtungen rhythmischer, harmonischer und klanglicher Natur“, schrieb Frau von Herzogenberg und war ehrlich: „Es ist mir, als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre, als wenn nicht für jeden einfachen Liebhaber die Schönheiten alle offen da lägen, und als wäre es eine kleine Welt für die Klugen und Wissenden, an der das Volk, das im Dunkeln wandelt, nur einen schwachen Anteil haben könnte.“
Ihre Begeisterung hielt sich also in Grenzen. Und auch seine Wiener Freunde und Kollegen standen dem Werk eher
skeptisch gegenüber, als Brahms ihnen Mitte Oktober 1875 seine Sinfonie in der Fassung für zwei Klaviere zu vier Händen zusammen mit Ignaz Brüll in Friedrich Ehrbars Klaviersalon vortrug. Max Kalbeck schrieb in seiner Brahms-Biografie, dass er die ganze Zeit über das Gefühl hatte, „von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt“ zu werden und riet Brahms am nächsten Morgen, das Scherzo aus dem Werk zu streichen, das Finale als eigenständige Komposition herauszugeben und stattdessen zwei neue Sätze für die Sinfonie zu schreiben. Doch Brahms ging auf die Kritik nicht ein und verwies auf Beethovens „Eroica“, die, wie seine eigene Sinfonie, mit einem groß angelegten VariationsSatz schließt.
In Hans von Bülow hatte Brahms indes jemanden gefunden, dem sein neues Werk vorbehaltlos gefiel. Dieser studierte es dann auch in Anwesenheit des Komponisten mit der Meininger Hofkapelle ein. „Eben aus Probe zurück. Nr. IV riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Atmet beispiellose Energie von A bis Z“, schrieb Hans von Bülow an seinen Konzertagenten Hermann Wolff.
Der Kopfsatz (Allegro non troppo) präsentiert das elegisch-fließende, schwermütig-seufzende Hauptthema, das aus Terzen und Sexten besteht. Brahms beleuchtet es im weiteren Verlauf von allen Seiten, es wird verfremdet, rhythmisch verändert, umgeformt. Die Terz entpuppt sich als Keimzelle für den ersten Satz, der aufgrund des Prinzips der variativen Umformung die vorherrschende Grundstruktur des Sonatensatzes zu verwischen scheint. Der zweite Satz (Andante moderato) ist von der kontrastvollen Klangfarbendramaturgie zwischen dem bläserdo-
minierten Hauptthema und dem Seitenthema der Streicher geprägt. Die Tonart ist E-Dur, doch die Verwendung von kirchentonalen Elementen, wie z. B. der phrygischen Sekunde, verleiht diesem langsamen Satz archaische Züge mit einer beinahe schwebenden Stimmung. Es schließt sich der dritte Satz (Allegro giocoso) an, der die friedliche Stille durchbricht, mit der das Andante endete. Das an dieser Stelle üblicherweise zu findende Menuett oder Scherzo entpuppt sich als eine Art Humoreske in Sonatenform – und präsentiert damit Brahms’ individuellen Umgang mit der Tradition. Unbeschwerte Heiterkeit will sich trotz der Wahl der Tonart C-Dur allerdings kaum einstellen, da der kraftvolle Einsatz des Instrumentariums über die wenigen Idylle verbreitenden Momente wie ein Sturm hinwegfegt. Dem vierten Satz (Allegro energico e passionato – Più Allegro) liegt eine ostinate Bassfolge zugrunde, die Brahms dem Schlusschor der BachKantate BWV 150 „Nach dir, Herr, verlanget mich“ entlehnt und leicht verändert hat. In insgesamt 30 Variationen ergießt sich Brahms’ Einfallsreichtum immer neuer Melodien und Ideen über dem fast immer im Bass liegenden Passacaglia-Thema, wobei die Gesamtstruktur eine dreiteilige Form
aufweist. Schon vor langer
Zeit begann sich Brahms’ Faible für Variations-Sätze herauszukristallisieren: Bereits 1869, wenige Jahre vor der Entstehung seiner „Haydn-Variationen“, hatte Brahms konstatiert: „Bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich fast, beinahe, nur der Bass etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue. Über dem gegebenen Bass erfinde ich wirklich neu, ich
erfinde ihm neue Melodien, ich schaffe.“ Jahre später hat Arnold Schönberg das Prinzip der „entwickelnden Variation“ als ein Hauptmerkmal Brahms’scher Kompositionstechnik deklariert und in dem Komponisten den „Fortschrittlichen“ erkannt. Geradezu bemerkenswert, dass der Rückgriff auf alte Kompositionsmuster die Grundlage für die Techniken der modernen Künstler, namentlich der Komponisten der Zweiten Wiener Schule, bilden sollte!
Die Uraufführung der 4. Sinfonie fand am 25. Oktober 1885 im Herzoglichen Hoftheater Meiningen im Rahmen des 3. Abonnementskonzerts der Herzoglichen Hofkapelle „unter persönlicher Leitung des Meisters“ statt, wie das Originalprogramm mitteilte. Brahms entschied sich daraufhin, die Meininger Hofkapelle auf ihrer unmittelbar bevorstehenden Konzerttournee zu begleiten, wo er seine Vierte insgesamt neunmal in verschiedenen Städten Deutschlands und Hollands dirigierte.
Am 17. Januar 1886 folgte die Wiener Erstaufführung des Werkes mit Musikern des k. k. Hoforchesters unter der Leitung von Hans Richter. Eduard Hanslick berichtete nach dem Konzert, dass mehrfaches Hören dieser Sinfonie notwendig sei, um sie zu verstehen und konstatierte: „Auf den ersten Blick wird sie keinem ihren reichen Gedankenschatz erschließen, ihre keusche Schönheit enthüllen […].“ Brahms, der ewig Zweifelnde, hatte wohlwissend die Grenzen des Beethoven’schen Sinfonietypus überschritten und die Musik in eine neue Richtung gelenkt. Welche Bedeutung seine Vierte für die Nachwelt haben würde, konnten die Musiker und Kollegen zum Zeitpunkt der Entstehung nicht abschätzen – oder zumindest nur erahnen. Als Brahms, bereits schwer-
krank, am 7. März 1897 einer Wiener Aufführung seiner 4. Sinfonie durch Hans Richter beiwohnte, war dies sein letzter Konzertbesuch überhaupt. Von Publikum und Orchester wurde er mit Glückwünschen überhäuft – und Max Kalbeck notierte in seinem Tagebuch: „Es war wohl der größte Triumph, den Brahms in Wien erlebte.“
„[Die] neue Sinfonie ist […] ein Riesenwerk, von einer Größe der Konzeption und Erfindung, Genialität in der Formbehandlung, Periodenbau, von eminentem Schwung und Kraft, neu und originell und doch von A bis Z echter Brahms, mit einem Worte eine Bereicherung unserer Tonkunst.“
Richard Strauss, damals 2. Kapellmeister der Meininger Hofkapelle, in einem Brief an seinen Vater, im Herbst 1885
Weiterhin im Programm
5. Philharmonisches Konzert
29., 30. & 31.03. / 19.30 Uhr
Theater Stralsund: Großes Haus
6. Philharmonisches Konzert
18., 19. & 20.04. / 19.30 Uhr
Theater Stralsund: Großes Haus
6. Kammerkonzert
Werke von Beethoven, Mozart, von Call u. a.
17.03. / 19.30 Uhr
Greifswald: Aula der Universität
18.03. / 19.30 Uhr
Theater Putbus
19.03. / 18.00 Uhr
Stralsund: Löwenscher Saal im Rathaus
7. Kammerkonzert
Werke von Schönberg, Debussy, Bernstein u. a.
06.04. / 19.30 Uhr
Greifswald: Aula der Universität
08.04. / 18.00 Uhr
Stralsund: Löwenscher Saal im Rathaus
Vorschau
5. Philharmonisches Konzert
Gustav Mahler
Johann Sebastian Bach: Ouvertüre (Orchestersuite) C-Dur BWV 1066
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5
Philharmonisches Orchester Vorpommern Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Konzerte
29., 30. & 31.03.2023, 19.30 Uhr, Stralsund (Großes Haus)
Herausgeber:
Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2022/23
Geschäftsführung:
Ralf Dörnen, Intendant
Peter van Slooten, Verwaltungsdirektor
Literaturnachweise:
Impressum
Redaktion: Stephanie Langenberg
Gestaltung: giraffentoast
Das Vorwort ist ein Originalbeitrag für dieses Heft von Dr. Florian Csizmadia. Bei den Texten zu den einzelnen Werken handelt es sich um Originalbeiträge für dieses Heft von Stephanie Langenberg unter Zuhilfenahme u.a. folgender Quellen: Beaujean, Alfred: Artikel „Passacaglia op. 1 von Anton Webern“, in: Harenberg Konzertführer, S. 939-940, Dortmund 1996; Hagestedt, Jens: Artikel „Empfundene Stimmungen, gehörte Klänge“, Programmheftbeitrag zu Weberns Passacaglia, Konzerte des NDR Sinfonieorchesters, 2008/09; Kube, Michael: Artikel „Strenge Form und Vielfalt der Gestalten“, Programmheftbeitrag zu Anton Weberns Passacaglia, Konzerte der Münchner Philharmoniker, 2022; Wiegandt, Matthias: Text im CD-Booklet: Carl Reinecke. Flute Concertos. Flute Sonatas. Tatjana Ruhland. Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Alexander Liebreich, cpo ohne Jahr; zum Flötenkonzert von Carl Reinecke, Wiese, Henrik: Vorwort zur Partitur von Carl Reineckes Flötenkonzert, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden u.a. 2003; Beaujean, Alfred: Artikel „4. Sinfonie von Johannes Brahms“, in: Harenberg Konzertführer, S. 150152, Dortmund 1996; Leibnitz, Thomas: Artikel „Ein Leben für die Variation. Johannes Brahms. 4. Sinfonie“, Programmheftbeitrag zur 4. Brahms-Sinfonie, Konzert der Münchner Philharmoniker, 2022; Pascall, Robert: Vorwort zur Partitur von Brahms 4. Sinfonie, Urtext der neuen Brahms-Gesamtausgabe, Breitkopf & Härtel 2012.
Bildnachweise:
S. 3: Zofia Neugebauer, Copyright Monika Lawrenz. Bei allen anderen Abbildungen im Heft handelt es sich um gemeinfreie Fotos von Pixabay und Wikipedia; S. 4/5: Wiener Hausfassaden mit Spiegelung, fotografiert von eluela31 (2017); S. 7: Wiener Hauptbahnhof, fotografiert von Juribub (2020); S. 8: Detailansicht einer Flöte, fotografiert von Schanin (2017); S. 11: Das „Zweite Gewandhaus“ Leipzig, Fotograf unbekannt, um 1900; S. 12: Kirschen mit Regentropfen, fotografiert von Khrom (2018); S. 15: Österreichische Landschaft, fotografiert von Julius_Silver (2020).
„Meine angeborene Art zu arbeiten ist bachisch!“