LA CENERENTOLA –ASCHENPUTTEL
Oper von Gioachino Rossini
Oper von Gioachino Rossini
Dramma giocoso in zwei Akten von Gioachino Rossini Libretto von Jacopo Ferretti
in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Uraufführung am 25. Januar 1817 im Teatro Valle, Rom
Premiere in Stralsund am 6. Mai 2023
Aufführungsdauer: ca. 3 Stunden, Pause nach dem 1. Akt
Aufführungsrechte: Kritische Ausgabe herausgegeben von Alberto Zedda.
Bühnenrechte © CASA RICORDI S.R.L., Mailand
Angelina, genannt „Aschenputtel“, Don Magnificos Stieftochter Pihla Terttunen
Clorinda, die ältere der beiden Stiefschwestern Franziska Ringe
Tisbe, die jüngere der beiden Stiefschwestern Emma McDermott*
Don Ramiro, Fürst von Salerno
Don Magnifico, Baron von Montefiascone
Bryan Lopez Gonzalez
Jovan Koščica
Dandini, Don Ramiros Kammerdiener Alexandru Constantinescu
Alidoro, Philosoph, Don Ramiros Lehrer Thomas Rettensteiner
Herren des Opernchores des Theaters Vorpommern
Philharmonisches Orchester Vorpommern
*Mitglied des Opernchores des Theaters Vorpommern
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne & Kostüme
Licht
Alexander Mayer
Inda Buschmann
Caroline Stauch
Marcus Kröner
Chor Csaba Grünfelder
Dramaturgie
Musikalische Assistenz
Stephanie Langenberg
David Behnke, David Grant, David Wishart, Maximilian Zimmermann
Regieassistenz & Abendspielleitung
Inspizienz
Übertitel & Übertitelinspizienz
Malu Gurgel
Lisa Henningsohn
Inda Buschmann, Stephanie Langenberg, Ole Klepin, Lasse Riedl
Regiehospitanz
Marja Schubert
Ausstattungsleiterin: Eva Humburg / Technischer Direktor: Christof Schaaf / Beleuchtungseinrichtung: Marcus Kröner
Bühnentechnische Einrichtung: Michael Maluche / Toneinrichtung: Hagen Währ / Leitung Bühnentechnik: Robert Nicolaus, Michael Schmidt / Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann / Leitung Ton: Daniel Kelm / Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch, Christian Porm / Bühne & Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg / Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann, Kristin Loleit / Schlosserei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister / Malsaal: Anja Miranowitsch, Fernando Casas Garcia, Sven Greiner / Dekoration: Frank Metzner / Kostüm & Werkstätten: Leiter der Kostümabteilung: Peter Plaschek Gewandmeisterinnen: Ramona Jahl, Annegret Päßler, Tatiana Tarwitz / Modisterei: Elke Kricheldorf / Ankleiderinnen: Ute Schröder, Petra Westphal / Leiterin der Maskenabteilung: Andrea Steinbrück, Antje Kwiatkowski (Stv.)
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Vielen Dank.
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen.
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„Die Herzensgüte ziert das Leben, indem sie alle Widersprüche löst, das Verworrene entwirrt, das Schwierige leicht macht, das Düstere in Freude umwandelt.“
„Mein armes ‚Aschenputtel‘, eine nicht geplante Tochter und Arbeit weniger Tage, möchte, dass ich sie Ihnen empfehle, weil sie, nachdem sie aus der Herdasche herausgesprungen ist, einen Beschützer haben will, und sie weiß, dass sie keinen besseren finden könnte, als einen von Ihnen. Auf ihren Wunsch möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass es nicht als Fauxpas gewertet werden sollte, wenn sie nicht in Gesellschaft eines Magiers auftritt, der Zauberkunststücke vollbringt, oder einer sprechenden Katze, und beim Ball keinen Pantoffel verliert, wie auf der französischen Bühne oder in einem großen italienischen Theater (sondern stattdessen einen Armreifen hergibt); entscheidend war vielmehr, was im Teatro Valle szenisch möglich ist, und die Rücksicht auf den guten Geschmack des römischen Publikums, das nicht auf der Bühne dargestellt sehen will, was es in einer Geschichte, die am Kaminfeuer erzählt wird, unterhaltsam findet. Die Überstürztheit, mit der der Stoff gewählt und dramatisiert werden musste, damit er, Stück für Stück in Verse gebracht, dem Maestro vorgelegt werden konnte, hat vielleicht die Möglichkeit eingeschränkt, einige der üblichen Fehler von Buffa-Libretti zu vermeiden. Aber was könnte Ihr Wohlwollen und Ihre Erfahrung nicht alles verzeihen? Mein ‚Aschenputtel‘ bittet schließlich, dass Sie als gute Beschützer den wenigen, die es nicht wissen, mitteilen, dass sie die Stieftochter und nicht die Tochter des Don Magnifico ist, und deshalb etwas älter sein kann als die beiden Schwestern, und dass einer meiner Hauptgründe, diesen Stoff zu wählen, gerade die naiv-gütige Ausstrahlung war, die einer der wesentlichen Charakterzüge der tüchtigen Frau Giorgi [der Sängerin der Uraufführung] darstellt – eben jener Charakterzug wurde bei ‚Aschenputtel‘ belohnt.
Meine Brüder! Ich weiß, wie mittelmäßig meine Verse sind, die ich nicht überarbeiten konnte, aber ich habe das Glück, dass ich sie dem modernen Prometheus der Harmonie anvertrauen kann, der es fertigbringen wird, sie mit dem Sonnenfunken zum Glühen zu bringen.“
Die selbstverliebten Töchter des verarmten Don Magnifico sind stets mit ihrem Aussehen und ihrer Garderobe beschäftigt, während sie ihre Stiefschwester Angelina, die sie abfällig nur „Aschenputtel“ nennen, wie eine Dienerin behandeln.
Ein Bettler erscheint und bittet um eine milde Gabe. Es ist der verkleidete Alidoro, der Lehrer des Prinzen Ramiro, der die Damen des Hauses im Auftrag seines Herrn auskundschaften soll und auf die Probe stellt. Von den Schwestern Clorinda und Tisbe abgewiesen, erfährt er, welch großes Herz Angelina hat, die als einzige gut zu ihm ist. Don Ramiro, der mit seinem Kammerdiener Dandini die Kleider und auch die Rolle getauscht hat, sucht im Hause Don Magnificos nach dem Mädchen, von dem Alidoro ihm berichtet hat, doch er trifft nur auf Angelina und fühlt sich magisch von ihr angezogen.
Diener künden das persönliche Erscheinen des Prinzen an, der heiraten möchte und alle jungen Damen zu einem Fest einlädt, um eine passende Braut zu finden und das Erbe seines Vaters nicht zu verlieren. Dandini gefällt sich sichtlich in seiner neuen Rolle, die ihm alle abkaufen.
Aufgeregt wecken die Schwestern ihren Vater aus dem Schlaf. Don Magnifico ist hellauf begeistert und sieht sich schon als prinzlicher Schwiegervater in spe. Nur bei Angelina ist die Stimmung gedämpft, denn als sie darum bittet, mit zum Ball gehen zu dürfen, wird sie schroff abgewiesen. Sogar Alidoros Hinweis, dass es laut Register drei Töchter im Hause Don Magnificos geben müsse, kann nichts bewirken, da Angelinas Stiefvater kaltherzig erklärt, dass die dritte Tochter gestorben sei. Als alle zum Fest aufbrechen, kümmert sich Alidoro um Angelina, verspricht ihr, dass sich ihr Schicksal zum Guten wenden werde und bringt sie angemessen gekleidet zum Fest des Prinzen, auf dem sich schon alle prächtig amüsieren. Dandini wird von den beiden Schwestern umschwärmt und stellt diese im Auftrag Don Ramiros auf den Prüfstand. Das Erscheinen einer unbekannten Dame löst bei allen Erstaunen und bei manchen Entsetzen aus, da sich ihre Ähnlichkeit mit Angelina nicht verleugnen lässt. Verwirrt begibt sich die Gesellschaft zu Tisch.
Don Magnifico sieht seine Chancen auf eine prunkvolle Zukunft schwinden und verdeutlicht seinen Töchtern einmal mehr, wie dringend eine von ihnen Prinzessin werden müsse. Indessen gesteht Angelina dem (falschen) Prinzen, der ihr Avancen macht, dass sie in dessen vermeintlichen Kammerdiener verliebt sei. Dieser, der das Gespräch belauscht hat, tritt glücklich aus seinem Versteck hervor. Angelina schenkt ihm ein Armband und sagt ihm, er solle sie suchen. Er werde sie daran erkennen, dass sie das gleiche Armband trage. Don Ramiro verkündet den Dienern sogleich seinen Aufbruch und bereitet dem Verkleidungsspiel ein Ende. Don Magnifico stellt Dandini alsdann zur Rede, denn er möchte endlich wissen, für welche Braut sich der Prinz entschieden habe, woraufhin ihm der Kammerdiener seine wahre Identität enthüllt.
Don Magnifico und seine Töchter reisen wütend ab und finden Angelina zu Hause an ihrem gewohnten Platz vor. Da treffen Don Ramiro und Dandini ein. Don Ramiro erkennt Angelina an ihrem Armband als die geheimnisvolle Schöne des Balls wieder und macht ihr vor aller Augen einen Heiratsantrag. Angelina, die nun begreift, dass ihre Liebe von Anfang an ungeahnt dem Prinzen galt, kann ihr Glück kaum fassen. Großmütig verzeiht sie ihrer Stieffamilie die Hartherzigkeit.
Clorinda und Tisbe, die nun erkennen, dass sie die ganze Zeit einem falschen Ideal nachgeeifert haben, geben ihre Maskerade auf und finden zu sich selbst. Es kann Hochzeit gefeiert werden.
„Liebe ist der Grund der Möglichkeit der Magie.“
„... die menschlichste aller großen Komödien ...“
Sie ist witzig, brillant, aber zugleich auch sehr tiefschichtig und dadurch bewegend. Sie hat mit uns zu tun und rührt unser Herz:
„La Cenerentola“ ist Rossinis 20. Oper. Ende Januar 1817 in Rom im Teatro della Valle uraufgeführt (der Komponist wurde im folgenden Monat 25 Jahre alt), fügt sie sich glanzvoll in die Reihe der Höhepunkte der Rossini-Opern ein: „Tancredi“, „L’italiana in Algeri“, „Il turco in Italia“, „Elisabetta“ und kurz zuvor „Il barbiere di Siviglia“ – das waren die Werke, die er bereits geschrieben hatte, während von „La gazza ladra“ bis hin zu „Guillaume Tell“ noch viele weitere Opern folgen sollten. Dass er mit nur 37 Jahren aufgehört hatte, für die Bühne zu komponieren bzw. ab und an noch ein geistliches Werk schrieb, wie z. B. die „Petite messe solennelle“, wurde ihm lange zum Vorwurf gemacht. Was hätte er, der zu Lebzeiten eine so große Popularität besaß wie Michael Jackson, noch alles hervorbringen können?
Rossini war nicht nur ein Viel-, sondern auch ein Schnellschreiber. Wenngleich das eine das andere bedingen mochte, so war die Produktivität vor allem dem italienischen Opernbetrieb der Zeit geschuldet, da es üblich war, überwiegend zeitgenössische Werke aufzuführen. Daher war es auch selbstverständlich, dass Komponisten Eigenplagiate ihrer Werke anfertigten, wenn sie unter Hochdruck Arbeiten fertigstellen mussten. Überdies war es die einzige Möglichkeit, gelungene Nummern aus weniger erfolgreichen Opernaufführungen über die Zeit zu retten und noch einmal einem neuen Publikum vorzustellen. Und so ging Rossini auch an die Ausarbeitung seiner „Cenerentola“ heran, zumal die Arbeitszeit hier aufgrund diverser Umstände wahrlich extrem kurz gewesen war. Die Ideenfindung des Stoffes allein erwies sich als eine schwierige Geburt:
Bereits Ende Februar 1816, kurz nach den ersten Aufführungen vom „Barbier“, hatte Rossini schon den Vertrag zu der Oper unterzeichnet, die zur Eröffnung der Karnevalssaison 1816/17 präsentiert werden sollte – doch das zunächst vorgesehene Libretto von Gaetano Rossi stieß bei der Zensurbehörde auf Widerstand. Den Text umzuschreiben war keine Option, sondern es musste ein gänzlich neuer Stoff her –und Jacopo Ferretti kam ins Spiel. Es war mittlerweile zwei Tage vor Weihnachten im Jahr 1816, alle Ideen taugten nichts, sie waren zu ernst, zu kostspielig oder nicht passend für die vorgesehenen Sänger, als der Librettist in einem Gespräch mit Rossini, dem Impresario und dem kirchlichen Zensor circa 30 alternative Themen vorschlug, bis die Entscheidung endlich fiel, wie Ferretti in seinen Memoiren festhielt:
„Ich wurde müde, Vorschläge zu machen, und murmelte im Halbschlaf mitten beim Gähnen: ‚Cinderella‘. Rossini, der ins Bett geklettert war, um besser überlegen zu können, setzte sich gerade auf … ‚Würden Sie den Mut haben, mir eine Cinderella zu schreiben?‘ Ich meinerseits fragte ihn: ‚Würden Sie den Mut haben, sie zu komponieren?‘ Er: ‚Wann kann ich einen Entwurf haben?‘ Ich: ‚Wenn ich nicht einschlafe, morgen früh.‘ Rossini: ‚Gute Nacht!‘ Er wickelte sich in seine Bettdecke ein, streckte seine Glieder aus und schlief, wie die Götter bei Homer, friedlich ein. Ich trank noch ein Glas Tee ... und rannte nach Hause. Dort ersetzte guter Mokka den Jamaika-Tee. Ich lief mit gekreuzten Armen hin und her und kreuz und quer in meinem Schlafzim-
mer, und als Gott es so wollte und ich das Bild vor mir sah, schrieb ich den Entwurf zu ‚La Cenerentola‘ nieder. Am nächsten Tag sandte ich ihn zu Rossini. Er war mit ihm zufrieden.“
Dass die Premiere von „La Cenerentola“ trotz der knappen Produktionszeit am 25. Januar 1817 doch noch stattfand, ist im Wesentlichen drei Umständen zu verdanken: erstens Rossinis Nutzung eigener Zitate aus früheren Kompositionen. Zweitens hatte Rossini einen „Ghostwriter“, Luca Agolini, der einige wenige Nummern komponierte, und schließlich drittens: ließ sich Rossini regelmäßig von einer Muse küssen – wohl auch im wahrsten Sinne des Wortes. Die Rede ist von der Primadonna Geltrude Righetti-Giorgi: „Wenn Sie mich allein lassen“, sagte er oft, „lässt mich meine Eingebung im Stich, und dann habe ich keine Stütze mehr.“
Ferretti gibt an, dass er das Libretto in nur 22 Tagen geschrieben habe, während Rossini 24 Tage für die Komposition benötigte. Freilich wurde eine Arie, sobald sie fertig war, direkt kopiert und von den Sängern musikalisch und szenisch einstudiert, während Rossini die nächsten Nummern vorbereitete, was dem Ensemble eine hohe Kooperations- und Lernbereitschaft abverlangte.
Entsprechend nervös waren alle, als sich zum ersten Mal der Vorhang hob. Die Sänger fühlten sich nicht sicher in ihren Partien, das Werk war ihnen zu schwierig; außerdem befürchtete man eine Verschwörung von Rossinis Gegnern. In einem zeitgenössischen Kommentar heißt es: „Außer dem Maestro … schlug das Herz aller an dem Melodramma Teilnehmenden an diesem verhängnisvollen Abend schnell, und der Todesschweiß tropfte von ihren blassen Stirnen.“ Einige Solisten waren gesundheitlich angeschlagen und viele Nummern wurden ausgepfiffen. Rossini, der nach dem Uraufführungseklat vom „Barbier“ mit weitaus Schlimmerem gerechnet hatte, äußerte sich Ferretti gegenüber erstaunlich gelassen:
„Dummköpfe! Bevor der Karneval vorbei ist, wird man [die Oper] lieben ... Es wird kein Jahr vergehen, bis man sie von Lilibeo bis Dora singen wird, und in zwei Jahren wird man sie in Frankreich gernhaben und in England wunderbar finden. Die Impresari werden um sie kämpfen und noch mehr die Prime Donne.“ Schon zwölf Tage nach der Uraufführung wurde die Belcanto-Oper in den Zeitungen gerühmt und bis zum Ende der Spielzeit mindestens 20-mal aufgeführt.
Die Ursprünge von „Aschenbrödel“, einem der beliebtesten Märchen, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Vermutlich ist es eine orientalische Geschichte, genauer gesagt, eine chinesische, worauf zwei Details hindeuten: zum einen der aus einem kostbaren und seltenen Material gefertigte Pantoffel und zum anderen der kleine Fuß der Titelheldin, in China Zeichen außergewöhnlicher Schönheit und gleichzeitig starker erotischer Anziehungskraft. Die erste uns bekannte und schriftlich festgelegte Version von „Aschenbrödel“ stammt tatsächlich aus China und datiert aus dem 9. Jahrhundert v. Chr.
Mit der Zeit hat sich das Märchen immer wieder verändert und weiterentwickelt; überall auf der Welt wird es anders erzählt. Folklorespezialisten haben etwa 300 Varianten des Stoffes ausfindig machen können! Die bekannteste Fassung ist die des französischen Schriftstellers Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert, die auch uns geläufig ist. Es ist die Version mit der grausamen Stiefmutter, der Fee als Patin, dem Kürbiswagen, der von Mäusen gezogen wird, und dem berühmten Pantöffelchen – eine sehr weibliche Version des Märchens, mit einem starken Anteil an romantischer Fantastik. Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti waren sich jedoch einig, dass sie sich weniger an dem altbekannten Kindermärchen orientieren als vielmehr eine Erzählung schaffen wollten, die von allen magischen und fantastischen Momenten befreit ist. Und so griffen sie auf ältere Opernlibretti zurück, an deren dramaturgischem Aufbau und Figurenpersonal sie sich orientierten, wonach die 1810 in Paris uraufgeführte Oper „Cendrillon“ von Nicolò Isouard und insbesondere die Aschenputtel-Oper „Agatina o La virtù premiata“ von Stefano Pavesi, uraufgeführt 1814 in Mailand, als direkte Vorlagen dienten.
„Ist dies ein Märchen oder nur ein Lustspiel?“ A
Als der Dichter Théophile Gautier später eine Aufführung von Rossinis „Cenerentola“ in Paris erlebte, war er entsetzt, denn das vielleicht zentralste Element, das für jede Aschenputtel-Erzählung charakteristisch ist, war auch verschwunden: „Ist Cendrillons niedlicher, kleiner Pantoffel, der für ihren winzigen Fuß immer noch zu groß ist, nicht eine poetische, originelle Erfindung? Nun, können Sie sich vorstellen, dass in der ‚Cenerentola‘ von dem Pantoffel überhaupt nicht die Rede ist? ‚Cendrillon‘ ohne Pantoffel, o Himmel! Niemals haben die Librettoschreiber ihre italienische Unbekümmertheit weitergetrieben. Ein Märchen von Perrault zu nehmen, sein bestes, und ausgerechnet die zauberhafte Besonderheit, das sinnreiche, hübsche Detail wegzulassen! – An seine Stelle tritt ein gewöhnlicher Armreif […].“
Für diese Änderung gab es mit Sicherheit gleich mehrere Gründe. In einer Zeit, als Röcke bis zum Boden reichten, war es nicht nur unschicklich, auf der Bühne beschuhte – und erst recht unbeschuhte – Füße zu zeigen, weil sie gewisse erotische Fantasien wecken könnten, so dass die Zensur hier ein Veto einlegte. Hinzu kam, dass die Schuhprobe in Ferrettis Libretto sowieso redundant und fast lächerlich gewirkt hätte, denn Ramiro und Angelina haben ein solches Erkennungszeichen gar nicht nötig: Mit der Suche nach dem zweiten Armreif vergewissert sich Ramiro lediglich, dass die schöne Unbekannte auf dem Fest dasselbe Mädchen ist wie die Dienstmagd im Hause Don Magnificos; denn dort ist er Angelina zum ersten Mal begegnet, er lernte sie in Lumpen kennen, nicht erst auf dem Ball. Und auch Angelina verliebt sich ja in den vermeintlichen Diener, denn erst viel später erfährt sie, dass er eigentlich der Prinz ist. Ungeachtet von Stand und Status folgen beide Liebenden von Beginn an ihrem Herzen. Wahre Liebe durchdringt alle Hindernisse und überwindet selbst gesellschaftliche Grenzen.
Stephanie Langenberg„Die Kunst, die geringsten Gradationen auszudrücken, den Ton aufs Feinste abzuteilen, unmerkliche Verschiedenheiten fühlbar zu machen, [...], die Geschicklichkeit in den Appoggiaturen, Passagen, Trillern, Kadenzen [...] sind daher lauter Wunder des italienischen Himmels, die von wenigen noch lebenden Sängern vortrefflich in Ausübung gebracht werden.“
„La Cenerentola“ ist ein Schlüsselwerk in Rossinis Opernschaffen, fokussierte sich der Komponist doch in kaum einem Bühnenwerk stärker auf seine Kernkompetenz, den musikalischen Faden nie abreißen zu lassen, ganz gleich, welche vertrackten Wendungen die Bühnenhandlung nimmt. In „La Cenerentola“ schnurrt Rossinis musikalischer Motor von der ersten bis zur letzten Minute und treibt die Beteiligten in den jeweiligen Ensembles und Finali bis an die Grenzen des Sing- und Spielbaren, an den Rand des szenischen Wahnsinns. Dabei ist es bemerkenswert, dass Rossini in der „Cenerentola“ – entgegen seiner sonst üblichen Schreibpraxis und trotz enormen zeitlichen Drucks – nur wenige musikalische Anleihen bei anderen Opern machte. Somit erscheint die Textur dieses Werkes durchweg frisch und originell. Und doch ist es „typischer Rossini“, den das Publikum hier erlebt, voller Witz und Virtuosität. In dem Bestreben, durch genaue Notation sämtlicher Verzierungen dem musikalischen Wildwuchs in der Praxis des Belcantogesanges des 19. Jahrhunderts Einhalt zu gebieten, rettete Rossini die äußerst tempo- und wortreiche „Italianità“ seiner Zeit in die kommenden Jahrhunderte hinüber, sodass wir in der Lage sind, den Genuss, den Geschwätzigkeit in ihrer virtuosesten Form bereiten kann, körperlich nachzuempfinden. Dies gilt für beide Seiten – die ausführende ebenso wie die rezipierende. Der virtuosen Künstlichkeit der solistischen Koloraturen stellt Rossini dabei den puren Irrsinn in den Ensembles gegenüber, in denen meist nicht nur die Sprache, sondern zugleich auch der Sinn in einem gnadenlos mitreißenden musikalischen Orkan verwirbelt wird. Ein rein instrumentales Bühnengewitter droht da fast zu verblassen, wäre es nicht von der gleichen dynamischen Präzision und Verve durchdrungen wie die gesamte Oper, die – einmal angelaufen – ungebremst knapp drei Stunden lang auf ihr Finale zusteuert und erst am letzten Doppelstrich Halt macht.
Katja PfeiferMit dem Bedürfnis, geliebt und gesehen zu werden, kommen wir auf die Welt. Diese menschlichen Grundbedürfnisse offenbaren sich im Genre des Märchens und machen es gerade heute wieder zu einem reizvollen und wichtigen Stoff. Ob Jung oder Alt, Märchen erfreuen sich aktuell großer Beliebtheit, man muss nur auf Netflix und Co. schauen, um zu sehen, wie viele Historien-/Kostümfilme und -serien es momentan wieder gibt. Hier knüpft meine Inszenierung von „La Cenerentola“ an. Rossini und Ferretti haben das Märchen „Aschenputtel“ von seinen magischen Elementen wie den Tauben befreit und uns damit eine moderne Märchenoper hinterlassen, die ganz ohne Zauberkunst auskommt. Angelina ist eine der (Märchen)figuren, deren Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung zunächst nicht erfüllt wird. Sie wird aus ihrer Familie ausgeschlossen. Ihre Sehnsucht nach einem Leben voller Wertschätzung teilen wir als Zuschauende.
In Rossinis „Cenerentola“ gibt es eine geschichtlich spannende Änderung zum klassischen Märchen. Der Prinz ist als Diener verkleidet und Angelina verliebt sich in ihn. Nicht der „Prinz“ ist ihr wichtig, sondern die wirkliche Begegnung mit einem Menschen, der sie erkennt. In der Oper wird viel über ihre „Innocenza“ gesprochen. Wir übersetzen das nicht als Unschuld im Sinne von naiv oder jungfräulich, sondern im Sinne von authentisch. Sie „performt“ nicht die ganze Zeit ein Ich. Sie zeigt sich in ihrer Unsicherheit und in ihren Wünschen. Und da trifft sie auf Ramiro, den Prinzen, der von seiner Außenwelt durch den Status definiert wird und scheinbar nur durch diesen als Mensch an Wert gewinnt. Auch er sehnt sich danach, gesehen zu werden als der, der er ist. Denn Macht verleiht vielleicht in äußeren Dingen Sicherheit, aber nicht in Bezug auf die Fragilität des Menschseins. So treffen zwei Suchende und Sehende aufeinander und verlieben sich.
Die eitlen Schwestern und der selbstverliebte Vater verwechseln Liebe mit Status und versuchen letzteren ohne Rücksicht auf Verluste zu erreichen und negieren sich dabei selbst. Dieser Kampf um Aufmerksamkeit hat sich durch die sozialen Medien in unserer Zeit noch verstärkt.
Aber diese Charaktere behandelt die Inszenierung nicht nur als lustige BuffaFiguren. Sie entwickeln sich im Laufe der Oper. Erst macht das Spiel mit der Schönheit Spaß, in dem Bedürfnis den Prinzen zu gewinnen führt es sie ins Absurde und Dumme, und am Ende erkennen sie, dass ihre Maskerade sinnlos war. Damit ebnet sich ein Weg zur Selbsterkenntnis.
Den großen Spaß bieten Don Ramiro und Dandini, die in vertauschten Rollen agieren und die Eitelkeiten entlarven. Mit viel Freude hebeln sie die Mechanismen aus, die die Gier nach Status kennzeichnen. Und Alidoro, der weise Diener, Rossinis Taubenersatz, ist unser Theaterleiter, er führt mit Unterstützung des Chores durch die Welt des Märchens und legt auch ihre Mechanismen offen. So schließt sich der Kreis in einem Happy End – und wir können berührt, nachdenklich und glücklich nach Hause gehen. Dafür brauchen wir die Märchen.
Inda BuschmannRegenbogenparty
Theaterball mit Preisverleihung
Ich will’s dem blauen Himmel sagen, Ich will’s der dunklen Nacht vertrau’n, Ich will’s als frohe Botschaft tragen
Auf Bergeshöh’n, durch Heid’ und Au’n. Die ganze Welt soll Zeuge sein: Ja, du bist mein! Und ewig mein!
In meinem Herzen sollst du leben, Sollst haben, was sein Liebstes ist, Du sollst, von Lieb’ und Lust umgeben, Ganz fühlen, dass du glücklich bist! Schließ’ mich in deine Arme ein! Ja, du bist mein! Und ewig mein!
Herausgeber:
Theater Vorpommern GmbH, Stralsund – Greifswald – Putbus, Spielzeit 2022/23
Geschäftsführung:
Ralf Dörnen, Intendant
Peter van Slooten, Verwaltungsdirektor
Impressum
Redaktion: Stephanie Langenberg
Gestaltung: giraffentoast
Literaturnachweise: Sofern nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den Texten um Originalbeiträge für dieses Programmheft von Inda Buschmann (S. 18/19), Katja Pfeifer (S. 17) und Stephanie Langenberg (S. 8-14) unter Verwendung u. a. folgender Quellen: Gier, Albert: „Zauber der Liebe“. Nachwort im Textbuch von Rossinis „Cenerentola“ mit einer deutschen Übersetzung von Sylvia Tschörner, Stuttgart 2010; Programmbuch zu „La Ceneretola“ der Oper Zürich, 1994/95, Wiederaufnahme 2022/23.
Bildnachweise: Titelfoto: Peter van Heesen. Coverfoto „La Cenerentola“ mit Pihla Terttunen und Bryan Lopez Gonzalez. Alle übrigen Fotos im Heft sind Szenenfotos der Produktion, aufgenommen bei den Komplettproben am 27.04. und 03.03.23, © Peter van Heesen.